Skip to main content

Full text of "Tell und Gessler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  lechnical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  fivm  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogXt  "watermark"  you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  and  hclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  rcach  ncw  audicnccs.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http: //books.  google  .com/l 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Uiheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  Tür  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  fürdieseZwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .coiril  durchsuchen. 


TELL  UND  GESSLER 

SAGE  UND  GESCHICHTE. 


i^üC.k 


<3fDN 


TELL  UND  GESSLER 


IN 


SAGE  UND  GESCHICHTE. 


J 


NACH  URKUNDLICHEN   QUELLEN 


VON 


RL.  ROCHHOLZ, 


PROFESSOR,   MITGLIED   DER  DEUTSCHEN  SPRACUGBSBLLSCHAFT   ZV  BERLIN, 

DBS    GELEHRTEN-AUSSCHUSSES  AM   GBRMAN.  MUSEUM  ZU  NÜRtfBERG,  DER  GBSCHICHTS* 

PORSCHENDEN  VBRBINB  IM  AARGAU,   ZV  ULM  UND   OBERSCHWABBN. 


4         . 


HEILBRONN, 

VERLAG  VON   GEBR.  HENNINGER. 

1877.    c  ,    . 


'\ 


Rechte  vorbehalten. 


•     • 


•  .  • 


•  •  •  • 

•  •       •  • 

•  ••  • 


•  • 


•  ••  •>  • 
-    *    •  ' 

•  •••  • 


•.^••/ 


k»   •■<  •  • 


•      «I 


k>    W   W  V 


VORWORT. 


Die  Namen  Teil  und  Gessler  sind  geschichtlich  unvereinbar ; 
denn  jener  bezeichnet  eine  schon  dem  frühesten  Mittelalter  be- 
kannte, über  Europa  hinausreichende  Mythe,  dieser  aber  erscheint 
erst  in  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  und  gehört  ledig- 
lich dem  Schweizerkanton  Aargau  an.  Hätte  es  nun  aber  dem 
Zufall  dennoch  einmal  beliebt  gehabt,  beide  Namen  zusammen  in 
die  Schweiz  zu  versetzen  und  sie  da  an  zwei  zeitgenössische 
Geschlechter  zu  vertheilen,  so  fiele  hier  gleichwohl  keinem  der 
beider!  diejenige  Rolle  zu ,  die  man  sie  geschichtlich  spielen 
lässt,  weil  ihrer  keiner  hier  jemals  der  politische  Gegner  des  an- 
dern oder  gar  dessen  Opfer  geworden  ist.  Dies  steht  nun  fest 
durch  eintausend  Urkunden  aus  der  Familiengeschichte  der  schweiz- 
erischen Gessler  und  eben  so  fest  dadurch,  dass  der  Name  dessen, 
der*  da  einen  Vogt  Gessler  erlegt  haben  solle,  auch  nicht  in 
einer  einzigen  Urkunde  verlautet.  Somit  wird  durch  die  Ge- 
schichtsforschung Gessler  aus  der  Tellensage  erlöst,  sowie  durch 
die  Sagenforschung  Teil  aus  dem  Gebiete  der  Geschichte  ausge- 
wiesen. Teil  wird  aus  dem  politischen  und  kirchlichen  Credo  ge- 
strichen,' Gessler  ebenso  aus  dem  historischen  Aberglauben  des 
Volkes  und  der  Lesewelt.  Und  ist  das  Schicksal  aller  schweiz- 
erischen Gessler  durch  ihre  Stammtafel  darin  sicher  gestellt,  dass 
ihrer  keiner   als   das    Schlachtopfer  eines  wirklichen  oder   eines 

loss  sogenannten  Teil  je  erscheint,  so  ist  die  widersinnige 
j  'Gärung  einer  Naturmythe  mit   einem  politischen  Abenteuer  ent- 

,eckt  und  die  bisherige  Zwillingsschaft  Tell-Gessler  hat  ein  Ende. 

1      Diese  bisher  verabsäumt '  gewesene  Seite  der  Untersuchung 
ird  in  vorliegendem  Werke  begonnen  und  beendigt.    Seine  erste 


'   \ 


VI  Vorwort. 

Hälfte  erforscht  die  Substanz  der  Teilensage,  gehört  der  ver- 
gleichenden Mythologie  an,  hat  von  diesem  Fache  gewürdigft  zu 
werden  und  begiebt  sich  darum  einer  eignen  Bevorwortung.  Ueber 
seine  zweite  Hälfte  hingegen,  welche  der  speciellen  Geschichts- 
forschung angehört  und  hiefür  eine  nicht  geringe  Anzahl  Urkunden 
erstmalig  zum  Vorschein  bringt,  sei  uns  eine  kurze  Notiz  ge- 
stattet. Dieser  Theil  ist  nemlich  zumeist  das  Ergebniss  eines  seit 
nun  vollen  vierzig  Jahren  andauernden  Studiums  der  an  unserm 
Wohnorte  aufgestellten  Zurlauben'schen  Handschriftensammlung. 
Ueber  ihren  Umfang  genüge  die  Bemerkung,  dass  schon  die  eine 
Abtheilung  der  Helvetischen  Stemmatographie  120  Foliobände, 
diejenige  der  Acta  Helvetica  ebenso  186,  die  der  Miscellanea 
IG  Folianten  stark  ist,  u.  s.  w.  Sie  stammt  her  von  dem  ge- 
lehrten General  Beat  Fidel  von  Zurlauben  aus  Zug,  f  1799,  den 
wegen  dieses  ausserordentlichen  Familienbesitzes  Joh.  v.  Müller 
den  König  der  Schweizergeschichte  zu  nennen  pflegte.  Ausser 
diesen  Handschriften  haben  wir  für  die  Geschichte  des  Gessler- 
geschlechtes  sämmtliche  Archive  des  Aargau's  (die  der  Klöster, 
Stifte,  Städte  und  des  Staates),  sodann  ebenso  die  Staatsarchive 
zu  Luzern  und  zu  Zürich  ausgebeutet  und  das  factische  Ergebniss 
unsrer  Fundstücke  in  vorliegendem  Werke  zur  übersichtlichen 
Darstellung  gebracht.  Die  gesammelten  Gessler-Urkunden  selbst, 
welche  von  1250  bis  1513  reichen,  also  var  Entstehung  der 
Schweizerbünde  beginnen  und  nach  dem  letzten  Kriege  der  Eid- 
genossen gegen  das  Reich  schliessen,  beabsichtigen  wir  in  einem 
besonderen  Bande  nachträglich  zu  veröffentlichen,  und  mit  ihnen 
möge  alsdann  hadern,  wem  es  etwa  missfiele,  dass  wir  uns 'zu 
ihrem  Organ  gemacht  haben. 


h. 


I 


INHALT. 


'  Erste  H&lfte. 

Der  Sagenkreis  von  Teil. 

S«ite 

I.  Die  Natunnythe  und  die  historisch  gewordene  Sage 3 

II.  Bogen  und  Pfeil.    Apfel,  Nuss,  Ring  und  Münze.    Freischützen  und 

Weitschüsse 20 

III.  Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  und  die  Sage  von  der  Ein- 
wanderung der  Schweizer  aus  Schweden 49 

IV.  Teilsagen  der  Inselschweden  und  Ehsten.    Sage  vom  Apfelschuss  und 

der  Tellenplatte  bei  Finnen  und  Lappen 83 

V.  Punker  und  Teil  als  Zauberschützen       95 

VI.  Die  Vogts-  und  Schlosssage  von  Schwanau  in  Schwyz 117 

VII,  Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Azenberge  125 

VIII.  Geschichte  der  drei  Tellskapellen 143 

1.  Die  Kapelle  zu  Bürglen  in  Uri 143 

2.  Die  Kapelle  auf  der  Tellenplatte  und  die  Sprungsage      .     .     .  159 
3»  Die  Kapelle  an  der  Hohlen  Gasse  bei  Küssnach 170 

IX.  Drei  Tellenlieder  von  1477,  1672  und  1633 180 

X.  Die  Tellenschauspiele  ^in  der  Schweiz  vor  Schiller 200 

1.  Das  Umerspiel    ••...... 208 

2.  Etter  Heini  von  Jak.  Ruoif 213 

3.  Henzi's  Grisler  und  Miferre's  Teil 230 

4.  Teilenschauspiele  von  Bodmer,  Zimmermann,  Petri  und  Ambühl  245 
XI.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname 270 

1.  Der   Mannsname    Teil   urkundlich   in   deutschen   und  fremden 
Sprachen 270 

2.  Urkundliche  Namensfälschungen   zur   Stütze    eines  historischen 
Wilhelm  Teil 275 

3.  1^  und  Däle,  die  Bergföhre 287 

4.  Teil,  der  Theil 290 

5.  Dali  und  Teil,  Thal  und  Bucht 291 

6.  TcU  der  Dümmling 302 


Vin  Inhalt. 

Zweite  Hälfte. 

Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Seite 

I.  Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  als  schweizer  Bauern,  Ritter, 

Landvögte  und  Mediatisirte,  von  den  Jahren  1250 — 15 13       .     .     .     .  313 

1.  Die  Gessler  von  Meienberg  1250 — 1369      , 313 

2.  Die  Gessler  von  Meienberg  und  Grüningen  1370 — 1403  .     .    .  332 

3.  Die  Gessler  von  Brunegg 345 

4.  Die  Gessler  seit  Eroberung  des  Aargaus.  141 5 355 

5.  Der  Gesslerischen  Erben  Fehde  gegen  die  Schweiz  1446 — 15 13  372 

II.  Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute 385 

III.  Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gesslerischen  Linien  .     .  401 

IV.  Konrad  Gesslers  apol^ryphe  Schweizerchronik 420 

V.  Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  hl.  Kümmemisskapelle     .     .     .  433 

VI.  Zwing-Uri 447 

VII.  Melchthals  Blendung 456 

VIII.  Gesslers  Hut  auf  der  Stange 463 

IX.  Bertha  die  Bruneggerin 479 

X.  Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385 484 


I. 


DER  SAGENKREIS  VON  TEIL 


Roch  holz,  Teil  und  Gessler. 


L 

Die  Naturmythe  und  die  historisch 

gew^ordene  Sage. 


Ich  wil  dir  guote  msere  sagen; 
Hin  sont  wir  den  winter  iagen. 

Vorstehender  Spruch  stammt  aus  dem  grossen  Spruchgedichte 
vom  Schachspiel,  das  Konrad  von  Ammenhausen  als  Leutpriester 
zu  Stein  a/Rh.,  Kanton  Schaffhausen,  im  Jahre  1337,  verfertigt  hat. 
Mit  der  Frühlingsverkündung  wird  hier  gleichzeitig  zum  Ausjagen 
des  Winters  aufgefordert  und  der  Kampf  der  zwei  Jahreszeiten  dar- 
gestellt, in  die  das  alte  Jahr  sich  theilte;  denn  unser  Sommer- 
beginn war  ehedem  schon  auf  den  Vorfrühling  angesetzt,  darnach 
nennt  man  am  Mittelrhein  den  ersten  Sonntag  im  März  den 
Sommertag  und  die  dabei  festlich  umsingenden  Kinder  die 
Sommerkinder.  Von  den  Fasten  an  bis  Pfingsten  begeht  unser 
Volk  Feste,  die  in  gleicher  Wiederkehr  entweder  den  Sieg  des 
Lichtes  über  das  Winterdunkel  darstellen  (Zweikampf  mit  dem 
Winter,  dem  Drachen,  dem  Bären,  dem  Wilden  Manne,  der 
Räuberbande,  dem  Landesfeinde),  oder  welche  die  Wiederver- 
einigung mit  der  geraubt  gewesenen  Geliebten  feiern  (Maibraut, 
Errettung  einer  Prinzessin,  Vermählung  eines  Götterpaares),  so 
dass  der  Frühling  bei  uns  entweder  als  streitbarer  oder  als  lieben- 
der Gott  auftritt  und  in  beiden  Fällen  der  siegreiche  bleibt.  Ge- 
meindeweise ,  in  festlichem  Waffenschmucke ,  zieht  da  Jung  und 
Alt  in  die  Wälder  hinaus,  dem  Frühling  entgegen,  »weckt  ihn 
hinter  den  Hecken,  holt  ihn  ein,  empfängt  ihn«  (wie  dies  alles 
das  Kinderlied  besagt),  und  führt  ihn  in  Gestalt  der  Maikönigin 
auf  dem  frischgehauenen  Wagen  bekränzt  ins  Dorf  zurück.    Gleich- 


!♦ 


A  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

zeitig  aber  vertreibt  man  den  Winter  mit  Waffengewalt,  schlägt 
ihn  in  die  Flucht,  nimmt  ihn  gefangen,  spricht  ihm  das  Urtheil, 
lässt  ihn  blenden  (»stecht  dem  Winter  die  Augen  aus!«),  in  den 
Bach  werfen,  in's  Loch  karren,  oder  in  Missgestalt  einer  zerfetzten 
Strohpuppe  verbrennen.  Der  Winter  hat  dabei  die  Rolle  des 
bärenstarken  Riesen,  aber  sein  dickhaariges  Fell  schützt  nicht  vor 
dem  Lichtgeöchoss  des  Frühlings,  der  ihn  mit  dem  Kinderbogen 
oder  mit  dem  Feuergewehr  verfolgt.  Jener  wohnt  verschanzt  in 
der  Schneeburg,  im  Felsenschlosse  oder  in  der  Räuberhöhle ;  alle 
erstürmt  und  bricht  der  Lenz.  Beide  sind  altmythische  Personifi- 
kationen der  beiden  sich  ewig  bekämpfenden  Jahreshälften.  Uralt 
und  gewaltig  an  Umfang  sind  die  Sagen  und  Bräuche,  die  sich  an 
diesen  Zweikampf  knüpfen;  doch  unser  hier  vorliegendes  Thema 
gebietet  Selbstbeschränkung,  und  da  dasselbe  zunächst  vom 
schweizerischen  Teil  handelt,  so  sollen  auch  nur  schweizerische 
Bräuche  es  erläutern  helfen,  solche,  in  denen  der  Winter  die  Rolle 
des  Burgvogtes  Gessler,  und  der  Sommer  die  des  Schützen  Teil 
spielt. 

In  verschiedenen  Dörfern  des  Kantons  Freiburg  und  des  Waat- 
landes  baute  man  für  den  ersten  Sonntag  im  Mai  ein  bretternes 
Schloss  und  umgab  es  mit  Wall  und  Graben.  Die  Knabenschaft, 
in  zwei  Haufen  getherlt,  bildete  dessen  Vertheidiger  und  Angreifer. 
Auf  ein  gegebenes  Zeichen  schritten  die  Belagerer  zum  Sturme, 
indem  sie  das  Lied  vom  Liebesschloss  anstimmten: 

Chiteau  d'amour,  te  veux-tu  pas  rendre? 
Veux-tu  rendre,  ou  tenir  beau? 

Die  Belagerer  trugen  zwar  Alle  Rosen  auf  dem  Hute,  ihre 
Piken  und  Hellebarden  hatten  statt  des  Eisens  nur  grüne  Zweige, 
und  dennoch  setzte  es  Verwundungen  und  Beinbrüche  ab,  wenn 
die  auf  dem  offnen  Umgang  der  Burg  stehenden  Vertheidiger  die 
Ersteigung  zu  hartnäckig  verwehrten.  Nach  einigen  Stunden  des 
Kampfes  legte  man  Feuer  ans  Schloss,  der  Tag  endigte  mit  Tanz 
und  Trinkgelage  und  die  gefangene  Besatzung  hatte  die  Zeche  zu 
bezahlen.  Die  Bemer  Regierung  untersagte  diese  Scheihkriege 
bei  5  Gl..  Busse ;  dieses  Verbot ,  das  schon  seit  1 543  bestand, 
wurde  indessen  in  abgelegenen  Ortschaften  nicht  beachtet,  und 
noch  zu  Anfang  des  (achtzehnten)  Jahrhunderts  ist  in  der  Nähe 
von  Echallens  das  Liebesschloss  wieder  erbaut  und  genommen 
worden  ohne  einen  widrigen  Zufall. 


I.  Die  Naturmythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  t- 

Angenehmer  und  weniger  gefährlich  wurde  derselbe  Frühlings- 
brauch in  der  Stadt  Freiburg  in  Uechtland  begangen.  Die  höl- 
zerne Frühlingsburg  wurde  auf  dem  grossen  Stadtplatze  aufge- 
baut, geschmückt  mit  hundertfältigen  Verzierungen  und  Devisen, 
ihre  Vertheidigung  war  den  schönsten  Mädchen  der  Stadt  und 
der  Umgegend  anvertraut.  In  Feierkleidern  schritt  die  Knaben- 
schaft zur  Berennung  des  Thurmes  und  der  offnen  Galerien.  Aber 
von  beiden  Seiten  gab's  keine  anderen  Waffen,  als  Sträusse, 
Kränze  und  Laubgewinde;  war  diese  Munition  erschöpft  und  in 
Thurm  und  Gang  Bresche  gelegt  mit  lauter  FrühlingsfüUe ,  so 
riefen  die  Trompeten  das  Zeichen  zur  Uebergabe,  und  das  Schloss 
pflanzte  die  weisse  Fahne  auf  Nun  begann  man  von  beiden  Seiten 
die  einzelnen  Artikel  der  Kapitulation  mit  schalkhafter  Genauig- 
keit festzusetzen.  Einer  der  Vertragspunkte  war  immer,  dass  jede 
der* gefangenen  Amazonen  sich  einen  der  Sieger  aussuche,  dem 
sie  das  Lösegeld  bezahle.  Sie  übergab  ihm  mit  einem  Kusse  die 
Rose  aus  ihrem  Haare.  Mit  dieser  Blume  geschmückt,  bestiegen 
die  Sieger  ihre  Rosse  und  durchritten  unter  Trompetenschall  die 
Strassen,  indessen  die  Frauen  in  ihrem  schönsten  Putze  in  den 
Fenstern  standen,  Rosenblätter  auf  den  Zug  hinabstreuten,  wohl- 
riechende Wasser  ausgössen.  So  ging  Alles  unter  den  Augen  der 
Väter  und   Mütter  vor,   die  gemessenste  Sitte  blieb  beobachtet. 

r 

Die    Nacht    schloss    mit   Illumination    und    Ball.  ^  Pierre   Bridel, 
Conservateur  Suisse  V,  425. 

Die  eben  erzählten  Festbräuche  stützen  sich  auf  eine  ältere, 
gemeindeutsche  Sitte.  Eine  auf  der  Wartburg  verwahrte  -alt- 
deutsche Tapetenstickerei,  abgebildet  im  Anzeiger  des  German. 
Museums  1870,  No.  3,  stellt  in  zwei  Bildgruppen  dar  i)  Maikönig 
und  Maikönigin  zum  Sturm  reitend  gegen  die  Winterburg,  2)  Ver- 
theidigung dieser  durch  den  gekrönten  pelztragenden  Winterkönig. 
Die  beiderseitigen  Waffen  sind  Blumen  und  Sommerlatten,  d.  h. 
Frühschösslinge.  Erklärende  Texte  zu  diesem  Bilde  hat  man  in 
Adalb.  Kellers  Altd,  Erzählungen,  wo  pag.  85  der  Mey  ein 
grosses  Turnier  in  die  Lande  entbietet  und  dazu  gewappnet. auf 
den  Plan  geritten  kommt: 

er  fiiert  in  seiner  hende 

ein  sp^r,  was  michel  lank  ^ 

und  was  eitel  vögelin  gesang. 
Doch   hier  zur  Stelle  soll  nur  das  dem  helvetischen  Boden 
angehörende   Material   verwendet  werden.      Darum   folgt  die  Er- 


6  •  I.   Der  Sagenkreis  von  TelL  .  ' 

Zählung  eines  geborenen  Schaffhausers,  welche  ihrem  Begebnisse 
nach  noch  dem  vierzehnten  Jahrhundert  angehört.  Geiler  von 
Kaisersberg  berichtet  aus  eigner  Anschauung  in  seinem  »Euangeli- 
buoch«,  Ausg.  V,  1404,  BL  2lb: 

Da  obnen  im  land,  zu  Keisersperg,  Künssen,  Amerschwiher 
vnd  wie  sie  dan  heissen,  es  ist  52  iar,  da  ich  es  sah:  da  machten 
sie  ein  bürg,  ein  bolwerk  von  beum^i  vnd  reiss,  ein  hoch  dirig, 
das  hiesse  ein  weihenachtburg.  So  kamen  dann  die  neben- 
stettlin  u.  dörfer  neben  vmbher  vnd  zugen  darfiir  vnd  gewunnen 
es  vnd  Schüssen  gegen  inen  mit  büchssen^von  papyr,  vnd  hatten 
pfeilu.  böltz  gemacht  von  ruobenschnitzen,  vnd  hetten  die  bauren 
also  ein  erbere  freud  mit  einander;  vnd  wan  es  vss  was,  so,  sassen 
sie  dann  zesammen  und  assen  u.  trunken  in  aller  zucht  u. 
erberkeit.  Das  was  ir  mumelspil.  Vnd  die  reichen  burgerss- 
kind  u.  die  edelen,  die  machtend  ein  sunderspil,  sie  richteten  auch 
vff  ein  weihnachthütt,  da  kamen  junkfrauwen  ü.  frauwen  u. 
wolten  es  gewinnen,  so  wurffen  sie  gegen  inen  hübsche  meylin 
u.  blüenüin  u.  zuckererbsen  u.  dessgleichen.  Das  ist  ir  mumel- 
spil u.  gat  in  erberkeit  zuo. 

Sieben  Burgen  des  Winters  müssen  nach  alt-indischem  Glauben 
gebrochen  werden ;  das  sind  die  sieben  von  Oktober  bis  Mai 
dauernden  Wintermonate;  und  mit  Pfeilen  müssen  sie  beschossen 
werden;  das  ist  nach  griechischer  Mythe  des  Regenbogen-Gottes 
ApoUon  Blitzpfeil ,  der  im  Winter  bei  dem  sagenhaften  Volke  der 
Hyperboreer  aufbewahrt  ist  und  im  Sommer  wieder  zum  Schützen- 
gotte  zurückkehrt.  Schwartz,  Volksglaube,  66.  So  rücken  auch 
an  der  Küste  von  Malabar  die  Eingebornen  zum  Frühlingsfeste 
gegen  einander  zu  Felde  und  beschiessen  sich  mit  hölzernen 
Pfeilen.  Dies  Scheingefecht  hat  schon  Fra  Paolino  beschrieben: 
Reise  nach  Ostindien,  übersetzt  von  Forster,  S.  362. 

Bei  uns  waren  die  Maispiele  die  Vorläufer  der  Schützen- 
feste, die  Maikönigin  wurde  darum  aus  jenen  in  diese  herüber 
versetzt.  Das  Pfingstfest  1285  feierten  die  Magdeburger  durch 
eine  ritterliche  Tafelrunde,  wobei  ein  Mädchen  dem  Sieger  zum 
Preise  gesetzt  war,  und  abermals  1387  hielten  sie  einen  grossen 
»Schützenhof«,  ein  Bogenschiessen  ab,  wobei  ein  Bürger  aus 
Aschersleben  das  Mädchen  gewann.  Freytag,  Bilder  II.  2,  S.  299. 
Nach  dieser  kurzen  Zwischenbemerkung  kann  die  Beschreibung 
der  schweizerischen  Frühlingsfeste  ununterbrochen  fortfahren. 

Der  Bauer  Jost  von  Brächershausen  berichtet  in  seiner  1653 


I.    Die  Natunnythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  j 

Über  den  Bauernkrieg  verfassten  Chronik:  Die  Dörfer  Wfningen 
und  Affoitern  im  bemischen  Emmenthale  hielten  zur  Maienzeit 
einen  Schimpfkrieg  ab  und  scharmuzierten  in  zwei  Reiter- 
geschwadern gegen  einander  auf  dem  Oberfelde.  Nach  dem 
Kampfe  zog  man  paar  um  paar,  je  ein  Wininger  und  ein  Affol- 
temer  beisammen,  ins  Dorf  zurück,  wurde  da  vom  Ammann  mit 
einer  Rede  bewillkommt  und  kostenfrei  bewirthet.  .  Ueber  acht 
Tage  nachher  ergieng  es  dann  zu  Affoitern  ebenso.  Melch.  Schuler, 
Sitt.  u.  Thaten  etc.  3,  367. 

Das  Wildemanns -Spiel  in  den  Dörfern  des  Oberwallis  liegt 
in  der  Hand  der  dortigen  Dorfknabenschaften  und  wird  um  die 
Fasnachtzeit  aufgeführt.  Kirchdorf  und  Ausdorf,  Ober-  und 
Unterviertel  parteit  sich  lange  und  ernsthaft  voraus,  wer  diesmal 
die  Rolle  des  Wilden  Mannes  vergeben,  die  Festpolizei  handhaben 
und  den  Gerichtshof  besetzen  daff.  Ist  man  hierüber  durch  Stim- 
menmehr einig  geworden,  so  wählt  eine  Partei  das  unzugänglichste 
Versteck  im  Bergwalde,  die  andere  sucht  es  mit  gleichem  Scharf- 
sinn schon  vor  der  Zeit  zu  entdecken.  Am  festgesetzten  Spiel- 
tage erscheint  der  gefürchtete  Wilde  Mann  unter  der  versammelten 
Menge  am  Dorfplatze,  ein  hohes  haariges  Ungethüm.  Von  Kopf 
bis  zu  den  Füssen  ist  es  in  die  Pelze  der  braunen  Bergschafe 
gewickelt,  fiir  die  Länge  des  Bartes  allein  hat  mancher  Geisbock 
das  Leben  lassen  müssen.  Plötzlich  bestiehlt  der  Wilde  einen  ins 
Staunen  verlornen  Zuschauer  und  entrinnt  behende  zu  Berge  in 
den  Schlupfwinkel.  Die  Hetze  beginnt.  Von  Parteigeschrei, 
Pistolenschüssen,  Spitzbubenpfeifen  durchschallt  der  Berg,  dass  die 
Tannen  ihre  Schneewipfel  schütteln.  ^Mehrere  male  wagt  sich  der 
Verfolgte  in  den  Gesichtskreis  der  Gegner,  beschleicht  Einzelne 
und  ringt  siegreich  mit  ihnen.  Von  der  Mehrzahl  überwältigt, 
wird  er  an  Händen  und  Füssen  gebunden  ins  Dorf  zurückgebracht. 
Von  einem  Gerüste  herab  verliest  ihm  das  Gericht  sein  Sünden- 
register (das  jedoch  andern,  wohlbekannten  Gemeinde -Sündern 
gilt)  und  verurtheilt  ihn  zum  Spiessruthenlaufen.  Er  ist  unter 
seinen  Schaf-  und  Ziegenfellen  schon  vorsorglich  ausgepolstert, 
um  nun  fünf-  bis  zehnmal  durch  die  Gasse  zu  laufen  und  gegen 
alle  Hiebe  von  Gerten  oder  Stricken  unempfindlich  zu  bleiben. 
Nach  der  Exekution  wird  er  unter  herzzerreissendem  Geheule  von 
den  Bütteln  ins  Gefängniss  abgeführt,  dies  ist  aber  für  heute  das 
Wirthshaus  mit  dem  Trinkgelage  für  Alle. 

Im  Bemerlande  pflegt  gleicher  Weise  um  dieselbe  Jahreszeit 


8  !•   I^er  Sagenkreis  von  TelL 

der  Moosmann,  Mieschma,  die  Ortschaften  zu  durchziehen,  ein  in 
Moos  und  Rinde  vermummter  Mann,  der  eine  junge  Tanne  hinter 
sich  drein  schleift.  Er  geht  trotz  aller  Winterkälte  in  blanken 
rothbebänderten  Hemdärmeln,  denn  er  ist  der  Bote  des  Sommers ; 
sein  haariger  Begleiter  aber  ist  der  zottige  Bär,  brummend  an  der 
Kette,  weil  er  ungern  jetzt  schon  sich  aus  dem  Winterschlafe  auf- 
geweckt sieht.  Beide  Figuren  künden  dem  Lande  den  Hirsmon- 
tag an,  dessen  alte  Begehung  einer  besondern  Schilderung  bedarf, 
bei  welcher  jedoch  alles  hierüber  sonst  schon  Bekannte  grund- 
sätzlich hier  weggelassen  bleibt. 

Die  Feier  des  Hirsmontags ,  die  in  der  luzemer  Landschaft 
Entlebuch  einst  ein  grosses  und  durch  Franz  Jos.  Stalder  (Frag- 
mente) ausführlich  beschriebenes  Volksfest  war,  hat  nun  dorten 
und  im  übrigen  Luzernerlande  gänzlich  aufgehört.  Es  war  da- 
selbst bis  zum  Jahre  1782  ununterbrochen  alljährlich  am  Montag, 
der  auf  den  Sonntag  der  Alten  Fasnacht  folgt,  begangen,  dann 
aber  durch  die  Obrigkeit  abgeschafft  worden,  weil  sich  dabei  die 
politische  Satire  der  Bauern  zu  unbotmässig  und  'unehrerbietig 
auszulassen  pflegte.  Nachdem  der,  berittene  Hirsmontagsbote 
einer  jeden  Kirchgemeinde  den  Absagebrief  verlesen-  und  den 
Tag  des  gegenseitigen  Kampfes  anberaumt  hatte,  rückte  Dorf 
gegen  Dorf  bis  zu  einer  Grenzmarke  sich  entgegen,  die  Ge- 
meindefahne, Spielleute  und  Trommler  voran.  Front  gegen  Front 
drückend,  suchten  sich  beide  Mannschaften  im  Chok  zu  durch- 
brechen, ein  Manöver,  das  der  Schwung  oder  Stoss  hiess.  Die 
siegende  Fronte  hiess  die  eidgenössische,  die  durchbrochene  die 
österreichische.  'Die  Entleoucher  behaupteten,  dies  Kriegsspiel 
werde  bei  ihnen  begangen  zum  Andenken  eines  Treffens  am 
Entlestutz,  nächst  der  Brücke  zwischen  Hasle  und  Entlebuch,  worin 
sie  gegen  die  Oesterreicher  das  Feld  behauptet  hätten.  Der  älteste 
Beschreiber  dieses  Festes  aber,  Pfarrer  F.  X.  Schnider  von  Warten- 
see, dessen  Geschichte  des  Entlebuchs  bis  zum  Jahre  1 782  reicht, 
bestreitet  dies  (Th.  2,  136),  weil  Oesterreicher  niemals  als  Feinde 
in  diese  Landschaft  gekommen  waren.  Man  bezog  daher  später 
den  Brauch  auf  einen  Kriegszug  der  sogenannten  Gugler,  die 
unter  Ingram  von  Coucy,  einem  Enkel  Herzog  Leopolds  L,  in  die 
Schweiz  einbrachen  und  1365  in  einzelnen  zerstreuten  Abtheilun- 
gen sowohl  im  Berner-  wie  im  Luzernerlande  geschlagen  wurden. 
Nach  dem  hohen  Kriegshute,  den  diese  Schaaren  trugen,  war 
auch  der  Gugelhut  des  Hirsmontagsboten  hochgestülpt  und  mit 


I.  Die  Nsiturmythe  und  die  historisdh  gewordene  Sage.  q 

Füttern  und  kleinen  Spiegeln  überdeckt.  Was  in  Entlebuch  der 
Hirsmontag  war,  hiess  im  Zugefrlande  der  Sprengmontag,  in  der 
Stadt  Luzern  der  Güdismontag,  beides  der  letzte  Montag  in  der 
Fasnacht,  als  an  welchem  man  die  Thaler  versprengt  und 
vergeudet.  In  der  Stadt  Luzern  hielt  man  diese  Feier  veran- 
lasst durch  die  Mordnacht  daselbst,  welche  von  den  Chronisten 
auf  den  29.  Juli  1333  angesetzt  und  von  den  luzerner  Historikern 
für  ein  Märchen  erklärt  wird.  Am  Festtage  erschienen  die  Mit- 
glieder der  städtischen  Schützengilde  als  Repräsentanten  der  ehe- 
maligen Adelszunft,  geharnischt  und  behelmt,  gefuhrt  vom  Öster- 
reicher Herzog,  in  dessen  Trabantengefolge  auch  die  Dirne  eine 
stehende  Rolle  hatte.*)  Sie  spielten  die  Partei,  welche  die  an- 
gebliche Mordnacht  angestiftet  haben  sollte.  Ihnen  gegenüber 
stand  die  Metzgerzunft,  in  Rotten  eingetheilt,  mit  Hauptleuten  und 
Fahnen,  und  unter  Zuzügern  aus  anderen  Zünften.  Jenje  führten 
zum  Abzeichen  die  Pfauenfeder,  diese  das  weisse  Kreuz.  Nach- 
dem man  zuvor  den  See  in  kriegerisch  ausgerüsteten  Schiffen 
unter  Mörser-  und  Musketenknall  befahren  und  die  Nachen  der 
österreichischen  Partei  überflügelt  hatte,  verfolgte  man  die  Ent- 
fliehenden ans  Land  und  erreichte  sie  an  der  Hofhalde,  wo  sie 
trotz  ihres  starrenden  Lanzenwaldes  abermals  geworfen  wurden. 
Der  Rückmarsch  gieng  auf  die  Zunftstuben  zu  Tanz  und  Schmaus. 
Auch  dieses  Fest  stockte  seit  dem  vorigen  Jahrhundert.  Dass 
dasselbe  ursprünglich  nicht  politischen,  sondern  sittengeschicht- 
lichen Ursprunges  gewesen  war,  erweist  die  Angabe  des  luzemer 
Chronisten  Diebold  Schilling:  »von  alter  har  ist  ein  jarlich  vas- 
nachtschimpf  zu  Lucern  gewäsen  uf  ein  geselschaft  und  trink- 
stuben,  genant  zum  Fritschi:  die  hand  ein'  strowinen  man  (Stroh- 
mann), den  sie  in  jrem  Harnasch,  mit  allen  geselschaften  der  statt, 
mit  eim  venli,  trummen ,  jarlich  uff  den  Schmutzigen  Donstag  jn- 
füerend.c  Dieser  Bruder  Fritschi  mit  seiner  Frau  entspricht,  wie 
sogleich  weiter  zu  melden  ist,  dem  Züricher  Kreidenglade  und 
dessen  Frau  Else,  die  daselbst  jährlich  ihren  Fasnachtseinzug 
hielten;  und  wie  bei  deren  Erscheinen  die  Zürcherknaben  bis 
zum  Jahre  1786  ihnen  in  Waffen  entgegen  zogen  und  sie  ge- 
fangen nahmen,  so  war  mit  dem  luzerner  Fritschi-Umzug  bis  zum 


*)  In  der  Festrechnung  von    1689    ist    sie    unter    den   Einzelausgaben    des 
Tages    zu    18   Schilling    Lohn    mit    aufgezählt.      Kas.    PfyfTer,    D.  Kant.  Luzern 

I»  317- 


lO  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Jahr^  17 12  eine  bürgerliche  Musterung  und  Hamischschau    ver- 
bunden gewesen.     Businger,  Luzern  und  Umgebung,  S.  82. 

Der  Züricher  'Hirsmontag  fiel  auf  den  ersten  Montag  nach 
Aschermittwoch.  Er  wurde  zu  Stadt  und  Land  mit  Lustbarkeiten, 
Jagdübungen  und  Kriegsspielen  begangen.  Man  gieng  maskirt  und 
nannte  dies  in  Böggen -Weise  laufen.  Die  Hauptkomödie  dabei 
bildeten  zwei  Strohfiguren,  der  Kreidenglade  und  sein  Weib  Else. 
Auf  ein  Rad  gebunden,  wurden  sie  von  der  bewaffneten  Jugend 
des  zunächst  Zürich  gelegnen  Dorfes  Wiedikon  an  das  Seeufer 
der  Stadt  gefahren,  um  hier  ins  Wasser  gestürzt  oder  auch  ver- 
brannt zu  werden.  Ihnen  kam  die  Stadtjugend,  gleichfalls  be- 
waffnet, vor  die  Thore  entgegen  gerückt  und  machte  ihnen  den 
Eintritt!  unter  grossem  Pulververbrauche  und  manchmal  so  hart- 
näckig streitig,  dass  man  noch  in  unsem  Tagen  alte  Stadtbürger 
sehen  konnte,  die  als  Jungen  damals  einäugig  geschossen  worden 
waren.  Derlei  hatte  ernstliche  Misshelligkeiten  zur  Folge  und  die 
Maskerade  wurde  obrigkeitlich  verboten.  Im  Neujahrsblatt  der 
Zürcher  Musikgesellschaft  vom  Jahre  1786  wird  dieser  verlornen 
Jugenderinnerung  also  nachgeklagt: 

Lustig  trollten  da  voran 
Auf  dem  bunten  Rade 
Else  und  ihr  stroh'ner  Mann, 
Meister  Kreidenglade. 
Abends  flammten  Freudenfeuer, 
Rauch  und  Funken  ungeheuer. 
,   Heut  zu  Tag  geht's  anders  her. 
Keine  Böggen  sieht  man  mehr, 
Eisens  Herrlichkeit  ist  aus, 
Kreidenglade  bleibt  zu  Haus. 

Man  begegnet  also  auch  hier  der  zum  Tode  bestimmten 
Strohpuppe  (in  Oberbaiern  »tiansl  und  Gretl«),  von  welcher  schon 
im  Jahre  1460  das  Missivenbuch  der  Stadt  Solothurn  berichtet: 
»Also  hat  sich  uf  gester  gemacht,  daz  die  jungen  gesellen  ein 
vasnachtspil  angefangen  und  einem  Schöbinman*)  ein  alt  zerrissen 
graw  kutten  angeleit  haben,  daran  menglich  ein  gefallen  genomen.« 
Soloth.  Wochenbl.  1846,  75.  Dieselben  Fasnachtspuppen  führte 
nach  alter  Berechtigung  das  Dorf  Geisboltsheim  jährlich  in   die 


*)  Schaub  ist  ein  Bündel  Stroh,  sc  hob  in  strohern. 


I.   Die  Naturmythe  und  die  historisch  gewordene    Sage.  I| 

Stadt  Strassburg,  sie  hiessen  da  der  Meier  Bertschi  und  das  Wilde 
Weib;  gleicherweise  hiess  auch  die  aargauische  Fasnachtsfigur: 
»Clewe  Bertschi,  auf  einem  Meierhof  bei  Aarau  gesessen,  ein 
wunderlicher  Speivogel«  (Spassvogel).*) 

Das  andere  Frühlingsfest  der  Stadt  Zürich  fällt  auf  den  ersten 
Montag  nach  der  Frühlings-Tag-  und  Nachtgleiche  und  heisst, 
weil  alsdann  die  Feierabendglocke  wieder  um  Sechse  geläutet  wird, 
das  Sechseläuten.  Seinen  Ursprung  verlegt  man  in  jene  Revo- 
lution  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  als  unter  Bürgermeister  Brun 
die  zwölf  untern  Zünfte  Zürichs  die  gleichen  Rechte  der  bevor- 
zugten Herrenzunft  der  ConstafTel  sich  errangen.  Darum  werden 
an  diesem  Abende  auf  allen  Zünften  zum  Rüden  und  Widder,  zur 
Wage  und  Safran  Mahlzeiten  und  Beglückwünschungsreden  abge- 
halten. Ehedem  sass  man  da  mit  epheubekränztem  Haupte,  trank 
die  ausgebrachten  Gesundheiten  knieend,  indem  man  sechs  Gläser 
auf  einem  Kredenzteller  hinter  einander  leerte,  den  Schaubecher 
kreisen  Hess  und  ihn  zum  Zeichen,  dass  er  rite  leergetrunken  sei, 
klirrend  über  die  Silberknöpfe  des  Wamses  strich.  Gehamischt 
durchzog  die  Metzgerzunft  die  Strassen,  eine  Löwenbüste,  den 
Eisengrim,  und  einen  Maskenbären  an  der  Kette  mit  sich  führend. 
Die  Bärenhaut^  hieng  dann  während  des  Schmauses  des  »Licht- 
bratens« zum  Fenster  heraus.  Auch  da  liefen  die  Jungen  in 
Böggen- Weise  von  Haus  zu  Haus,  läuteten  und  klopften  an  und 
empfiengen  Geschenke,  um  damit  Pulver  und  Brennmaterial  einzu- 
kaufen. Die  Mädchen,  Mareieli  genannt,  brachten  gruppenweise 
ein  Maibäumchen,  an  dessen  Wipfel  ein  Glöckchen  gezogen  wurde, 
vor  die  Häuser  und  sangen  unter  vielerlei  Knixen  das  Frühlings- 
lied  ab,  anfangend: 

Der  Sommer  ist  kommen,  und  das  ist  wahr, 
Es  grünet  jetzt  Alles  in  Laub  und  Gras. 

Abends  wurde  ein  Strohmann  mit  bemalten  Backen  und 
pulvergefiilltem  Bauche  auf  einem  Wägelchen  vor  die  Stadt  hinaus- 
gefahren, da  auf  einem  Reisighaufen  an  die  Frangerstange  ge- 
pflanzt und  Schlag  Sechse  angezündet.  Mit  zahllosen  Schwär- 
mern und  Raketen  fuhr  der  Butzenmann  in  die  Lüfte,  indess  die 
Pistolen  und  Kinderkanonen  hundertfältig  drein  krachten.     Dann 


*)  Flögel,  Geschichte  der  Hofnarren,  pag.  496,  citirt  obige  Stelle  aus  Pauli's 
Schimpf  und  Ernst. 


12  !•   Der  Sagenkreis  von  Teil. 

wurde  ums  Feuer  getanzt.  Im  Zusammenhange  mit  diesem  Brauche 
stand  gleichzeitig  der  andere,  dass  man  am  Auffahrtstage  die  ge- 
sammte  Schuljugend  zu  einem  Ausflug  auf  den  Gipfel  des  Uetli- 
berges  mitnahm  und  droben  bewirthen  Hess,  ein  städtisches  Her- 
kommen, welches  schon  von  Theodor  Collin  1557  ^^  Lateinversen 
besungen  worden  ist.  Seit  Beginn  der  zwanziger  Jahre  veranstal- 
ten die  Zünfte  zum  Sechseläuten  prunkhafte  Maskenzüge,  bei 
denen  die  Zahl  der  Mitwirkenden  bis  auf  die  Tausende  anwächst. 
Da  erscheinen  z.  B.  die  Seefischer  mit  einem  kolossalen  Fische, 
dessen  Bauch  an  zuckernen  Rechlingen  unerschöpflich  ist,  sie 
werden  im  Vorbeimarsche  an  die  Zuschauer  verschenkt.  Brode 
von  ähnlicher  Grösse  bringen  die  Bäcker  auf  Triumphwagen  ge- 
fahren und  streuen  einen  Regen  jener  Süssbretzen  aus,  genannt 
Simmelringe,  von  denen  es  heisst,  schon  Karl  der  Grosse  habe 
sie  zu  backen  der  hiesigen  Zunft  anbefohlen.  So  kommt  jede 
Gruppe  unter  eignem  Panner  und  mit  ihren  Spielleuten  einher,  die 
einen  in  alter  Kriegstracht  mit  Trommeln  und  Pfeifen,  die  andern 
als  Grenadiere  »der  alten  Garde« ;  schon  der  eine  Zug  dieser 
Grenadiere  allein  zählte  beim  Feste  im  Jahre  1830  volle  1700  Mann. 
Gehen  wir  nun  zu  den  bescheideneren  Festmitteln  über, 
welche  zur  selben  Zeit  die  Kleinstädter  und  Dorfgemeinden  auf- 
bieten. Im  oberen  Freiamte  des  Aargaues  kam  es  in  den  vierziger 
Jahren  noch  häufig  vor,  dass  sich  bei  fünf  Gemeinden  vereinigten, 
unx  den  Hirsmontag  mit  militairischem  Geräusche  begehen  zu 
können.  So  zogen  damals  die  dortigen  Dörfer  Merenschwanden, 
Jonen,  Muri-Wey,  Muri-Langdorf  und  Bünzen  gegen  einander  zu 
Felde  und  lieferten  sich  ein  Scheintreffen.  Da  schickte  man  sich 
vorher  reitende  Boten  zu,  welche  die  Glocken  des  Kirchthurmes 
oder  den  Geishirten  ausgeliefert  verlangten,,  oder  auf  andern  gleich* 
ehrenrührigen  Forderungen  bestanden.  Doch  die  chikanirte  Ge- 
meinde verweigert's  und  rüstet ;  von  ferne  her  entlehnt  man  Mörser 
und  Katzenköpfe  und  ergänzt  dieses  schwere  Geschütz  noch  durch 
Brunnenteuchel,  in  die  man  Gewehrläufe  steckt.  Mittlerweile 
werden  die  Unterhandlungen  in  solchem  Tone  fortgesetzt,  dass 
die  erst  nur  angenommene  Erbitterung  auf  beiden  Seiten  sich  in 
eine  wirkliche  zu  verwandeln  droht,  denn  jede  neue  Note  bringt 
neue  Sticheleien  und  treibt  die  Parlamentäre  zu  den  lächerlichsten 
Erklärungen.  So  wird  denn  die  Schlacht  unvermeidlich,  welche,- 
trotz  der  Holzsäbel  und  selbstgeschnitzten  Armbrust  der  Knaben- 
schaar,   von  soldatisch  geschulten  Männern  geführt,   oft  ein  ganz 


I.  Die  Natunnythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  Ij 

regelrecht  geleitetes  Manöver  ist.  Die  kapitulirende  Partei  darf 
zwar  mit  Waffen  und  klingendem  Spiel  abziehen,  allein  nur  des 
Weges  zum  Schmause  ins  Wirthshaus. 

Die  in  Oberdeutschland  und  der  Schweiz  auf  den  i.  Mai 
fallenden  Kinderfeste  tragen  den  alten  Namen  Ruthenzug. 
Unter  Trommel-  und  Pfeifenschall  wurde  die  Stadtjugend  in  die 
nächstgelegene  Waldung  geführt  zum  Hauen  der  Maienbäumchen 
und  kehrte,  nachdem  man  sich  den  Tag  über  mit  Wett-  und 
Räuberspielen  vergnügt  hatte,  in  Laub  gekleidet  und  frische 
Ruthen  geschultert  tragend,  des  Abends  nach  Hause.  Die  Ruthen 
wurden  dann  neben  jedem  Stadtbrunnen  aufgesteckt.  Wett- 
schiessen nach  einer  hölzernen  Gabelweihe,  Dätsch-schiessen  mit 
der  Armbrust  (so  in  Zürich),  Wettrennen  auf  dem  Schützenplatze 
mit  darauf  folgender  Preisvertheilung  u.  A.  knüpften  sich  freiwillig 
mit  an.  Der  Sommer-Empfang  stand  also  hier  im  Zusammenhange 
mit  den  wieder  fliessenden  Brunnquellen  und  den  darauf  gegrün- 
deten städtischen  Wasserrechten.  Darum  sind  die  Maifeste  auch 
Brunnenfeste.  In  Neustadt  a.  d.  Hard  in  der  Rheinpfalz  hatte 
ein  auf  diesen  Tag  eigens  gewählter  Obrist  sammt  seinen  Adju- 
tanten mit  geschwungenem  Säbel  den  Kinderzug  dreimal  um  den 
Marktbrunnen  zu  führen  (Bavaria  4.  Abthl.  2,  358),  und  denselben 
Zweck  hatte  ursprünglich  auch  das  Naumburger  Kirschenfest, 
sowie  der  andere  Brauch  gehabt,  Strohpuppen  ins  Wasser  zu 
werfen,  wie  nachher  noch  erhellen  wird.  Bei  Schulfesten  drängt 
sich  der  Pedantismus  mit  ein,  und  so  bekamen  denn  am  Ruthen- 
zuge die  Kinder  das  Geschäft,  im  Walde  jene  Plagmittel  sich  selbst 
zu  schneiden,  die  man  dann  das  Schuljahr  hindurch  verwünschte. 
So  geschah's  zu  Basel  am  sogenannten  Sommertag,  wo  nahezu 
gar  jeder  männliche  Einwohner  sich  in  einen  Trommler  verwan- 
delte und  die  Stadt  durchwirbelte.  Der  Kirchenhistoriker  K.  R. 
Hagenbach  von  Basel  hat  diese  Sitte  noch  mitgemacht  und  in 
einem  Trommelliede  bedichtet: 

Und  ist  nun  in  der  Fastennacht  / 

Der  faule  Lenz  noch  nicht  erwacht. 
So  fallen  wir  vor  Tag 
Rombom,  romboml  ihm  in  das  Reich 
Und  schlagen  ihm  den  »Morgenstreich«, 
Bis  er  es  hören  mag. 
In  der   Stadt  Winterthur  begieng    man    den    Zug    in    die 
Reckholdern;   auch  hiebei  galt  ein  Nützlichkeitszweck.     Unter 


JA  L   Der  Sagenkreis  von  Teil, 

Trommeln  und  Pfeifen  giengs  auf  die  altheidnische .  Opferstätte 
des  Limberges  hinaus,  und  hier  hatte  jeder  Knabe  eine  Tracht 
Wachholdersträuche  zu  hauen,  die  dann  das  Jahr  über  in  Schule 
und  Haus  zum  unentbehrlichen  Räucherwerk  dienten.  Troll,  Ge- 
schichte V.  Winterthur  2,  63.  In  Ravensburg  und  Augsburg,  wo  das 
Kinderfest  gleichfalls  Ruthenzug  heisst,  sucht  man  dessen  ersten  An- 
lass  in  der  Pestzeit  des  Schwarzen  Todes,  1348,  wie  dieselbe  Pest 
auch  als  Entstehungsgrund  des  Münchner  Scheflflertanzes  ange- 
geben wird ;  in  bairisch  Aichach  heisst  dasselbe  der  Ritten  und  die 
Rüden  und  wird  auf  die  Schwedenzeit  zurück  datirt.     In  Dinkels- 

•  buhl  und  Nördlingen  galt  hiefiir  der  Name  Die  Stabe.  Wie  wenig 
die  hiebei  versuchten  historischen  Erklärungen  zureichen,  erweist 
die  Schwarze  Prozession  zu  Evreux,  abgehalten  daselbst  schon 
im  zwölften  Jahrhundert  am  schwarzen  Sonntag,  d.  i.  Sonntag  vor 
Judica,  der  eine  Woche  vor  Lätare  fällt.  Anfänglich  hatten  hier 
die  Domherren,  nachmals  die  Kaplane  und  Chorschüler  am  i.  Mai 
im  nahen  Walde  Zweige  zur  Verzierung  der  Domaltäre  zu  hauen. 
Sitte  war  es  dabei,  dass  die  aus  dem  Walde  Heimkehrenden  den 
Leuten  Kleie  ins  Gesicht  warfen,  während  die  Domherren  über 
den 'Gewölben  der  Kirche  Kegel  schoben,  mit  diesem  Gepolter  etwa 
an  die  Frühlingsgewitter  mahnend.  Flögel,  Geschichte  des  Gro- 
teskkomischen, 170.  Der  gleiche  Sonntag  Lätare  oder  Mittfasten, 
auf  Mitte  der  Fastenzeit  fallend,  heisst  in  früher  slavisch  gewesenen 
Landstrichen,  aber  auch  am  Main  und  Neckar,  der  Todtensonntag, 
und  das  Werfen  der  Strohpuppe  ins  Wasser  ist  da  das  Tod- 
austragen. Die  mit  der  Puppe  umziehenden  Kinder  singen  oder 
sagen  den  Wettstreit  zwischen  Sommer  und  Winter,  worin  hervor- 
gehoben ist,  wie  der  letztere  am  Zaune  weht,  im  Wasser  schwimmt, 
den  Strudel  sucht.-  Der  epheubekränzte  Frühlingsherr  wirft  schliess- 
lich den  Pelzmärtel  oder  Strohwittwer  ins  Wasser,  die  Nachbar- 

-  orte  aber  wollen  ihn  nicht  über  die  Grenze  lassen  und  werden 
drum  mit  jenen  Kindern  handgemein.  In  deutsch  .Mähren  ge- 
schieht dies  zum  Andenken  an  »die  Vertreibung  der  Mongolen« ; 
in  böhmisch  Schönfeld  wird  »der.Türk  hinter  die  Stadt  gejagt«, 
in  katholischen  Orten  der  alte  Judas  verbrannt,  in  protestantischen 
der  Papst.  Luther  und  Matthesius  parodierten  hiefür  den  alten 
Kinderspruch  also: 

Nun  treiben  wir  den  'Papst  hinaus, 

Durch  unsre  Stadt  zum  Thor  hinaus,  u.  s.  w. 


I,  Die  Natürmythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  Ig 

Wenn  die  Kinder  zu  Naumburg  jährlich  am  28.  Juli  auf  die 
Vogelwiese  ziehen,  um  hier  das  Kirschenfest  zu  begehen,  so  heisst 
ihr  Festruf  das  Hussrufen  und  das  Schlagwort :  Victoria,  Hussiten- 
sieg.  Es  ist  aber  durch  Lepsius,  Kl.  Schriften  i,  205  geschicht- 
lich durchaus  festgestellt,  dass  Naumburg  niemals  eine  hussitische 
Belagerung,  weder  unter  Prokopius,  noch  unter  einem  andern 
Bandenführer  zu  bestehen  gehabt  hat,  dass  dagegen  das  dortige 
Kinderfest  schon  über  300  Jahre  in  den  Rechnungen  der  Raths- 
Icämmerei  erscheint  und  da  zuweilen  den  Namen  Fontaneuniy  also 
Brunnenfest  trägt.  Mit  demselben  Hussrufen  bezeichnet  man  in 
fränkischen  und  schwäbischen  Landschaften  die  Feierabendglocke, 
weim  sie  die  Abendzeit,  wo  Alles  »zu  Haus  sein  soll«,  im  Früh- 
jahre um  eine  Tagesstunde  später  ankündet.  Eben  dieses  Huss- 
Einläuten  heisst  daher  in  der  fränkischen  Stadt  Eichstädt  der 
Hu  SS -aus.  Sax,  Geschichte  des  Hochstifts  Eichstädt  1857,  S.  54 
u.  136.  Somit  bezeichnet  hier  der  vermeintliche  Name  jenes  grau- 
samen Feindes  der  Deutschen  nichts  anderes  als  einen  Festtermin. 
Ganz  dasselbe  Wortmissverständniss  und  fälschliche  Umdeuten 
auf  geschichtliche  Ereignisse  liegt  nachfolgenden  Erzählungen  zu 
Grunde.  Wenn  man  zu  Zofingen  jährlich  am  Vorabend  des 
16.  Novembers  die  Mordnacht  feierte,  d.  h.  einen  angeblichen 
feindlichen  Ueberfall  gegen  diese  Stadt,  der  durch  Kinder  ver- 
eitelt worden  sein  soll,  so  durchschritten  die  Weibel  in  der  Stadt- 
farbe mit  Fackeln  die  Strassen  und  riefen  in  jedem  Stadtviertel 
feierlich:  Dohargäterld.  h.  dahergeht  er;  und  Alt  und  Jung, 
sich  ihnen  nachdrängend  und  Lichtlein  in  ausgehöhlten  Rüben 
tragend,  schrie  darauf  einstimmig :  Salat,  Salat!  Man  erklärt  nun, 
den  ersten  Ruf  hätten  jene  Kinder  ausgestossen,  welche  den  ersten 
<ier  Verschworenen  nächtlich  über  die  Stadtmauern  herein  steigen 
gesehen,  und  das  andere  Schlagwort  Salat  sei  eine  kindische  Ver- 
drehung für  Soldat.  Die  Zofinger  Mordnacht  kann  geschichtlich 
nicht  nachgewiesen  werden,  und  um  so  weniger  Sinn  hat  also 
auch  diese  Worterklärung.  Da  aber  der  Mai  im  Walde  aufgesucht, 
persönlich  eingeholt  und  empfangen  wird,  da  der  Wächter  und 
Stadttrompeter  auf  dem  Thurme  schon  beim  Amtseide  schwören 
xnuss:  »zu  wachen,  bis  der  Tag  dahar  gät,  und  den  anzublasen 
mit  sechs  gesatzten  stucken«*),  so  ist  beim  Zofinger  Feste  Er, 
der  daher  geht,    das  anwandernde  himmlische  Wesen,  der  Früh- 


*)  Rathsbuch  der  Stadt  Bjugg  vom  Jahre  1493,  Hds. 


iß  I.   Der  Sagenkreis  von  Teil. 

ling  selbst,  wie  die  noch  lebende  Redensart  zeigt,  der  Frühling 
geht  ins  Land.  Ihn  erwartend,  steckt  man  in  jede  hohle  Rübe 
ein  Kinderlichtlein  und  ruft  den  neu  beginnenden  Pflanzenwuchs 
mit  dem  Namen  Salat  aus.  Im  Städtchen  Stein  am  Rhein  (Kanton 
Schaflfhausen)  hatte  bis  vor  einigen  Jahren  der  letzte  Stundenruf  des 
Nachtwächters  zu  lauten :  No  e  Wili,  nur*  noch  ein  Weilchen,  und 
jeder  Steiner  wurde  von  den  Ortsnachbam  mit  diesem  Namen 
gehänselt.  Die  zunächstliegende  Erklärung,  dass  mit  dem  plötz- 
lichen Anbrechen  des  Tages  die  letzte  kleine  Weile  der  Nacht 
schwinde,  schien  dem  Bürgerstolze  zu  ordinär  und  man  erfand 
sich  folgendes  Märchen.  Der  zum  Untergang  des  Städtleins  Stein 
verschworne  schwäbische  Adel  stand  zum  nächtlichen  Ueberfalle 
bereit  am  dortigen  Welschen  Thörlein.  Eiher  der  Mitverschwomen 
befragte  einen  vorfrühe  des  Weges  kommenden  Bäckergesellen,  ob 
es  an  der  Zeit  sei,  und  dieser,  den  Plan  durchschauend,  antwortete 
im  Tone  des  Einverständnisses:  No  e  Wili.  Ueber  diesen  Auf- 
schub verrann  der  vorbestimmte  Moment,  der  Feind  musste  ab- 
ziehen, der  mitverschwome  Bürgermeister  wurde  überfuhrt  und  im 
Rheine  ertränkt. 

Wie  sehr  frühe  schon  der  Sinn  des  Naturfestes  verloren  gieng 
und  dieses  darum  in  so  mancher  Orts-  und  Landessage  auf  eine 
alte  Kriegsbegebenheit  bezogen  worden  ist,  dies  hat  Uhland,  Ge- 
schichte der  Dichtung  und  Sage  3,  221  umfassend  nachgewiesen. 
Nur  eine  Stelle  aus  dieser  reichen  Abhandlung  sei  hier  angeführt, 
diejenige,  welche  Aimoin  im  sechsten  Jahrhundert  aus  den  Ge- 
schichten des  fränkischen  Königshauses  erzählt.  Fredegund  rückt 
dem  Lager  Childeberts,  der  mit  Heeresmacht  in  ihr  Reich  einge- 
brochen, in  früher  Morgenstunde  so  entgegen,  dass  sie  selbst, 
ihren  Säugling  Chlotar  in  den  Armen  haltend,  vorausgeht,  indess 
ihre  Krieger  mit  Baumzweigen  in  der  Hand  Und  klingenden  Schellen 
am  Halse  der  Pferde  aus  dem  Walde  hervorziehen.  Ein  feindlicher 
Wächter,  in  der  Dämmerung  ausschauend,  ruft  seinem  Gesellen 
zu:  Was  ist  das  für  ein  Wald,  den  ich  dort  stehen  sehe,  wo 
gestern  Abend  nicht  einmal  Gebüsch  war  ?  Der  Andere  hält  den 
Fragenden  für  weintrunken  und  glaubt  die  Schellen  der  im  Walde 
weidenden  Rosse  zu  hören.  Da  lassen  jene  die  Laubzweige  fallen, 
der  Wald  steht  entblättert,  aber  dicht  mit  Stämmen  schimmernder 
Speere,  jäher  Schreck  kommt  über  die  Feinde,  aus  dem  Schlafe: 
werden  sie  zu  blutiger  Schlacht  erweckt,  was  nicht  entrinnen 
kann,  fällt  unter  dem  Schwerte.  ^ 


I.  Die  Naturmythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  ly 

Es  ist  aus  der  Tragödie  Macbeth  allbekannt,  wie  dorten  auf 
gleiche  Weise  der  Wald  von  Bimam  nach  Dunsinnane  gerückt 
kommt  und  damit  des  Helden  Schicksal  besiegelt  ist.  Gleicher- 
weise wird  nach  einer  Sage  aus  Oberhessen  ein  König  in  seinem 
Schlosse  vom  König  Grünewald  lange  belagert,  widersteht  aber 
muthig  im  Vertrauen  auf  die  wunderbaren  Gaben  seiner  einzigen 
Tochter.  Da  sieht  diese  auf  einmal  bei  Anbruch  des  Maientages 
das  feindliche  Heer  heranziehen  mit  grünen  Bäumen,  sieht,  dass 
Alles  verloren  ist  und  ruft : 

Vater,  gebt  euch  gefangen, 

Der  grüne  Wald  kommt  gegangen! 

In  diesen  letzterwähnten  Maitagszügen  liegen  mythisches  und 
sagengeschichtliches  Element,  Naturmythus,  Sage  »und  historisch 
gewordne  Sage  noch  so  enge  beisammen,  wie  im  Neste  die  Brut- 
eier. Und  so  gehören  sie  zu  Dritt  in  die  Frühzeit  unseres  Volkes, 
gleichwie  die  einzelne  Frühlingsfeier  örtlich  schon  auf  Lichtmess 
(2.  Februar)  verlegt  wird,  wo  nach  ^der  Volksmeinung  die  Lerchen 
anfangen  zu  singen.  Sie  weisen  zugleich  auf  die  bewegte  Periode 
zurück,  wo  ein  Zustand  von  Kämpfen,  Zügen  und  Eroberungen  vor- 
geherrscht hatte  und  ein  friedlich  sesshaftes  Leben  erst  im  Beginnen 
war.  Sie  feiern  selbst  den  Maifrieden  kriegerisch  und  beziehen 
den  Ursprung  des  Festes  auf  vorangegangene  Kriegs-  und  Be- 
freiungsgeschichten, weil  neben  dem  Pfluge  des  Landmanns  stets 
noch  der  Spiess  hieng.  Daher  in  der  einen  Hälfte  des  Festes: 
Harnischlaufen,  Perchtenlaufen,  Posterlilaufen,  Umzüge  der  beil- 
tragenden Metzgerzunft  mit  Schlachtruf  und  Mordiogeschrei, 
Schützenmanöver,  Ringkampf  und  Knabengefechte ;  in  der  andern 
Hälfte :  Stab-  und  Kranztragen,  Auswerfen  von  Schaubroden,  von 
Bretzeln  und  Funkenlcüchlein,  Fackelzüge,  Höhenfeuer  und  Zunft- 
schmäuse.  Die  Volkslust  Hess  es  sich  dabei  nicht  nehmen,  die 
nur  im  Glauben  umziehenden  Götter  sammt  den  ihnen  geheiligten 
Thieren  in  Vermummungen  nachzubilden.  Der  Maiwagen  für  die 
Flurgöttin  wurde  frisch  gezimmert,  der  Schimmelreiter  ritt  ein, 
der  Wilde  Mann  führte  den  Bäreii  an  der  Kette  mit,  der  Stroh- 
mann schwamm  den  Strom  hinab,  der  pulvergefüllte  Butzenmann 
sprang  in  die  Lüfte,  und  wo  kein  Drache  mehr  zu  erlegen  war, 
da  schlupfte  der  Maskenbär  aus  dem  Winterpelze  und  hieng  diesen 
als  Trophäe  zum  Fenster  der  Zunftstube  hinaus:  lauter  sinn- 
bildliche Einkleidungen  des   einen  Gedankens,   dass  der  Sommer 

Rochholz,  Teil  und  G«ssler.  2 


lg  I.  Der  Sagenkreis  von  Teil. 

den  Winter,  der  Maigraf  den  Reifriesen,  der  Hirte  den  Landvogt 
erlegt  hat. 

Wem  nun  sollte  es  beifallen,  in  diesen  kühnen  Spielen  der 
freischaffenden  Volksphantasie  wirklich  historische  Begebenheiten 
sehen  zu  wollen?  Gliche  ein  solcher  nicht  jenen  Leuten,  die  an 
J.  Grimm,  den  Verfasser  der  deutschen  Mythologie,  im  Ernst  die 
Frage  stellten,  ob  die  heidnischen  Götter  wirklich  dagewesen 
seien?  Er  erwiderte:  mir  graut  darauf  zu  antworten.  Gesin- 
nungen sind  mächtiger  als  blosse  Thatsachen.  Der  gewaltigste 
Einzelheld  wird  sich  in  der  Ueberlieferung  stets  nach  der  Gesin- 
nung gestalten-,  die  in  einem  Volke  lebt,  die  Lebensansicht,  die 
sich  durch  Jahrhunderte  bildet,  überwältigt  jede  einzelne  Thatsache 
und  gestaltet  sie  nach  sich.*)  Zudem  ist  die  Landessage  älter 
als  die  Landesgeschichte.  Jene  ist  das  vom  ganzen  Volke  gleich- 
massig  Gewusste  und  mit  religiöser  Liebe  Geglaubte.  Diese  ist 
nur  Einzelwissen,  auf  gelehrtem  Wege  erworben,  durch  Schriften 
vererbt,  kritisch  angezweifelt,  erweitert  und  berichtigt.  Je  heller 
die  Geschichte  wird,  um  so  dämmeriger  wird  die  Sage,  je  mehr 
jene  zum  Wissen  wird,  um  so  weniger  Gläubige  zählt  diese.  Ja 
die  Sage  flüchtet  sich  zuletzt  sogar  in  das  Lager  ihrer  Gegnerin, 
gleichsam  wie  auf  Gnade  und  Ungnade,  und  sonderbarer  Weise 
geschieht  es  alsdann,  dass  ihr  von  der  Geschichte  das  Leben  erst 
geschenkt  wird.  Alsdann  wird  so  lange  an  ihrer  Ausgleichung 
mit  der  Geschichte  gearbeitet,  dass  die  Sage  darüber  entweder 
sterben  oder  den  Schein  der  Historie  annehmen  muss,  und  nun  erst 
gewinnt  sie  an  historischer  Glaubwürdigkeit  unverdient  so  viel, 
als  sie  an  religiösem  Inhalte  hat  einbüssen  müssen. 

Die  schweizerische  Tellenmythe  hat  alle  diese  Wege  durchge- 
macht ;  dennoch  hat  sie  der  geschichtliche  Verstand  niemals  ernst- 
lich in  seinen  Begriff  aufzunehmen  vermocht;  und  dies  gilt 
nicht  etwa  von  den  Bestreitern  der  Sage,  sondern  von  deren  Gläu- 
bigen. Der  luzerner  Professor  Zimmermann  hatte  in  reinster 
vaterländischer  Begeisterung  sein  Schauspiel  Teil  verfasst  (Basel 
1777);  dennoch  muss  sein  Teil  unmittelbar  nach  dem  Apfel- 
schusse diese  unväterliche  Wagethat  selbst  verdammen  und  aus- 
rufen: »Die  Nachwelt  wird  es  nicht  glauben  können,  sie  hat  recht!« 
Aehnlich  ist  das  Urtheil  seines  Landsmannes  Heinr.  Geizer: 
»Wäre  der  Apfelschuss  wahr,  so  hätte  Gessler  ein  Ungeheuer  und 


♦)  Uhland,  Gesch.  d.  Dicht,  u.  Sage,  i,  135. 


I.    Die  Naturmythe  und  die  historisch  gewordene  Sage.  IQ 

Teil  ein  Wahnsinniger  sein  müssen.  Alle  Züge  des  Ereignisses 
spielen  in  das  Land  der  Wunder.  Gelingen  in  Allem,  was  der 
Held  unternimmt!  Er  vollbringt  glücklich  den  Apfelschuss;  er 
allein  rettet  das  Schiff  im  Sturm;  er  allein  hindert  es  mit  einem 
Stoss  an  der  Landung ;  er  erlegt  ungefährdet  den  Tyrannen.  Dass 
alle  diese  Züge,  von  denen  ein  jeder  einzeln  schon  des  Aufallen- 
den und  Wunderbaren  genug  hat,  sich  noch  so  rasch  folgen,  dass 
sie  so  in  ein  einziges  Drama  verknüpft  sind:  das  verräth  für 
Jeden,  der  vertraut  ist  mit  der  Eigenthümlichkeit  der  Sagenbil- 
dung, dass  hier  ebenfalls  die  Hand  der  Sage  gewaltet  habe,  dass 
sie  vielleicht  Vorfälle,  die  ursprünglich  gar  nicht  zusammen  ge- 
hörten, die  in  verschiedenen  Zeiten  und  an  andern  Orten  ge- 
schahen, hier  in  ein  einziges  Gemälde  zusammen  gereiht  hat.«*) 
Wäre  dies  nicht  ein  unter  grossem  Vorbehalt  ausgesprochenes 
Wort  eines  strenggläubigen  Theologen  und  zugleich  patriotischen 
Teilengläubigen,  so  stände  es  nicht  hier  mit  angeführt;  es  liegt  in 
demselben  mit  eine  Ahnung  von  dem  Entwicklungsgange 
der  Sage.  Ueber  ihren  Sinn  und  Gehalt  dagegen  haben  nur 
solche  Geister  ein  bleibendes  Urtheil  abzugeben,  an  deren  Wiege 
Sage  und  Dichtkunst  zusammen  gestanden  haben.  Nicht  bei 
Schiller  kann  ein  solches  Urtheil  gesucht  werden,  weU  sein  Schau- 
spiel Teil  noch  durchaus  in  Abhängigkeit  von  Tschudi's  und  Joh. 
V.  Müller's  Auffassung  concipirt  ist;  dagegen  von  Uhland,  der 
über  das  Vermögen  der  Kunstdarstellung,  wie  über  ein  Gesammt- 
wissen  deutscher  Forschung  mit  unabhängigem  Geiste  verfügte. 
Nach  den  Worten  seiner  Romanze  »Tell's  Tode  sieht  der  Dichter 
in  der  Sage  keinen  wirklichen,  sondern  einen  in  jedem  Frühjahre 
sich  erneuenden  Naturvorgang: 

Euch  stellt,  ihr  Alpensöhne, 
Mit  jedem  neuen  Jahr 
Des  Eises  Bruch  vom  Föhne 
Den  Kampf  der  Freiheit  dar. 


*)  Die  drei  letzten  Jahrhunderte  der  Schweiz.-Gesch.     1838.     I,  25, 
Die  zwei  ersten  Jahrhunderte  der  Schweiz.-Gesch.     1840.     p.   14. 


2» 


IL 


Bogen  und  Pfeil.     Apfel,   Nuss,   Ring  und 
Münze.    Freischützen  und  Weitschüsse. 


Stein  und  Holz,  überall  vorhanden  und  mühelos  sich  dar- 
bietend, dient  im  Urzustände  des  Menschen  als  erstes  WafFen- 
material  und  prägt  sich  darum  in  den  ältesten  Benennungen  der 
Waffe  ab.  Der  Feuerstein  und  das  in  den  Holzgriff  gefasste 
Steinschwert  heisst  dem  Germanen  der  Sachs  und  wird  des 
Stammgottes  und  des  Volkes  gemeinsamer  Name;  der  scharfe 
funkenträchtige  Kiesel,  der  Fl  ins,  verwandelt  sich  in  des  Gewitter- 
gottes Hand  zum  Donnerkeil  und  Blitzhammer  und  dient  ebenso 
dem  Krieger  zur  Pfeil-  und  Lanzenspitze.  Die  ältesten  Pfeilklingen, 
sowohl  in  den  nordischen  Gräbern,  wie  die  auf  dem  Schlachtfelde 
von  Marathon  ausgegrabenen,  sind  gleich  denen  der  wilden  Indianer : 
Feuerstein,  Jaspis,  Obsidian.  Auf  jenes  älteste  Menschengeschlecht, 
das  sich  selbst  ein  stein-entsprungenes  nannte,  folgte  das  baum- 
entsprungene, welches  sich  seine  Wurf-  und  Schusswaffen  aus  den 
Waldbäumen  schnitzte.  Der  Germane  benennt  daher  den  glatten 
Ger  Esche;  den  leichten,  mit  Bast  gebundenen  Schild  Linde; 
den  kurzen  Handbogen  Ulme  und  Eibe  (älmr  und  yr).  Die 
Eib  und  der  Eibenschütz  hiessen  der  Handbogen  und  der  Bogen- 
schütze. MüUenhoff,  Runenlehre  1852,  S.  60.  In  den  durch 
W.  Menzel  untersuchten  Alemannengräbern  von  würtembergisch 
Oberlupfen  (Bezirks  Tuttlingen)  haben  sich  in  den  Todtenbäumen 
Holzbogen  und  Pfeilschäfte  mit  vorgefunden.  Zeitschrift  des 
Würtemb.  Alterth.- Vereins  1847. 


2.    Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nnss,  Ri&g  u.  Münze.    Freischützen  etc.       2I 

Der  Name  Bogen  leitet  ab  von  biegen  und  bezeichnet  die 
gekrümmte  Form  der  Waffe.  Alle  seine  Einzeltheile  tragen 
deutsche  Namen:  Sehne,  Schnur,  Strang,  Nuss.  Die  Armbrust 
ist  erst  späterer  Entstehung  und  ihr  Name  eine  kecke  Um- 
<leutschung  aus  dem  lateinischen  arcubalista.  Gleichfalls  aus  dem 
lateinischen  pilum  stammt  der  Name  Pfeil ;  doch  statt  dessen  einer 
fremden  stehen  sechs  andere  echt-deutsche  Benennungen  zu  Gebote: 
Strahl,  Zein,  Feife,  Flein,  Oer,  Bolz.  Auch  Fitschenpfeil  kommt 
noch  vor  und  bezeichnet  im  Knabenspiele  den,  ohne  Bogen, 
mittels  Widerhakens  aus  freier  Hand  geschnellten  Pfeil.  Der  Flitz 
hat  unter  Andern  dem  Flitzbogenleist,  einer  Gesellschaft  in  der 
Stadt  Bern,  den  Namen  gegeben.  Bern.-Taschenb.  1854  u.  1857, 
S.  79 — 161.  Die  Feife  ist  der  befiederte,  Zein  der  unbefiederte 
Pfeilschaft.  Fleiner  hiessen  im  Mittelalter  die  Pfeilschifter.  *) 
Altdichterische,  episch  umschreibende  Namen  von  Bogen  und  Pfeil 
stehen  bereits  aufgereiht  in  der  Edda ;  indess  jegliche  Cultursprache 
ist  reich  an  solchen.  Der  Araber  theilt  den  Pfeil  in  24  Grade, 
welche  abtheilungsweise  selbst  wieder  verschieden  benannt  sind; 
fiir  die  Sehne  hat  er  9,  für  deren  Handhabung  27  Ausdrücke, 
und  gar  188  für  die  verschiedenen  Eigenschaften  der  zehn  ver- 
schiedenen Pfeilarten.  Hammer-Purgstall,  Ueber  Bogen  und  Pfeil, 
Abhandl.  der  Wiener  Akad.  d.  Wissensch.,  März  1851.  Sultan 
Murat  IV.,  selbst  als  Pfeilschütze  berühmt,  hatte  die  Einwohner 
Konstantinopels  in   600  Zünfte  getheilt;   bei  seinen  pomphaften 


*)  Conrad  Fliner,  dictus  pileator.  Aeltercs  Jahrzeitbuch  der  Aarauer  Leutkirche 
von  1350.,  fol.  430,  460.  August  Fleiner,  Stadtrath  zu  Aarau  1870,  stammt  aus 
Schweigern  in  der  schwäbischen  Grafschaft  Neipperg.  Sein  Geschlechtswappen 
trägt  einen  zwischen  zwei  Sternen  schräg  gestellten  Pfeil,  Die  Fleiner  von  Alten- 
burg bei  Kannstatt,  stehen  dorten  in  Grundbesitze  urkundlich  seit  1306  u.  1390. 
Mone,  Oberrhein.  Zeitschr.  V,  95,  und  XV,  358. 

Der  altsächsische  Ortsname  Flenithi  leitet  ab  von  fldn,  jaculum.  J.  Grimm, 
KU  Schriften  II,  15.  Die  Aufständischen  im  schwäb.  Bauernkriege  hielten  1525 
den  .  ersten  Rechtstag  zu  Böckhingen,  den  andern  darauf  zu  Flein,  wie  der 
Reimspruch  besagt: 

Sie  waren  All  fröhlich  bey  dem  wein, 
legten  einen  andern  tag  gen  Flein. 

Senkenberg,  Selecta  Juris  et  Hist.,  tom.  III,  685.  —  1344,  26.  März  verkauft 
Rüdiger  der  Schenke,  Edelknecht  und  Schultheiss  zu  Brugg  im  Aargau,  dem 
Kloster  Wettingen  das  Gut  im  Banne  zu  Bozen,  das  er  ererbt  hat  von  seiner 
Muhme  Margarete  Fleiningin,  um  34  Pfund  5  Schill.  Zofinger  Währung.  Des 
Amtes  Schenkenberg  Dokumentenbuch,  pag.  263.    Aargauer-Staatsarchiv,  lit.  y,  40. 


22  I»    J^er  Sagenkreis  von  Teil. 

.Festaufzügen  erschienen  dann  der  Reihe  nach  die  Bogenmacher, 
die  Armbrustmacher,  die  Pfeilschifter,  die  Bogenringmacher,  die 
Bogenschiessmeister,  die  Bogenschützen,  die  Armbrustschützen,  als 
ebenso  viele  Zünfte,  jede  unter  ihrem  Schutzheiligen.  Aehnliche 
Vorliebe  zur  Waffe  wird  einzelnen  deutschen  Kaisem  nacherzählt. 
Kaiser  Friedrich  I.  war  ein  tüchtiger  Bogenschütze,  wie  er  denn 
bei  der  Belagerung  von  Mailand  eigenhändig  einen  Werkpfeil  in 
die  Stadt  schoss.  In  den  Holzschnitten  Burgmayers  zum  Weiss- 
kunig  erscheint  Kaiser  Max  I.  abgebildet,  wie  er  unter  seinen 
Gespielen  als  Bogenspanner  steht,  dann  nach  der  Scheibe  schiesst 
und  einem  vor  ihm  auffliegenden  Vogel  einen  Hakenpfeil  vom 
orientalischen  Bogen  nachsendet. 

Zur  Einleitung  eines  Gefechtes  ward,  wie  heute  mit  Kanonen, 
so  in  der  Vorzeit  mit  Schuss-  und  Wurfwaffen  gestritten.  >Da 
begannen  die  Bogen  zu  schnattern  wie  die  Störche  im  Nestec, 
sagt  hierüber  Wolfram  von  Eschenbach  im  Gedichte  Willehalm 
.375,  IG.  Als  im  Jahre  354  Constantius  mit  dem  Heere  bei  Basel 
über  den  Rhein  setzen  wollte,  um  die  drüben  stehenden  Alemannen 
anzugreifen,  sandten  diese  einen  solchen  Pfeilhagel  herüber,  dass 
die  Römer  die  Schiffbrücke  nicht  zu  Stande  bringen  konnten. 
Amian.  Marcellin.  XIV,  10. 

Vergiftete  Pfeile  werden  frühzeitig  erwähnt;  Gregor  von 
Tours  n,  pag.  64,  spricht  von  solchen  mit  giftigen  Pflanzensäften 
bestrichen,  die  den  Tod  zur  Folge  hatten,  wenn  sie  nur  die  Ober- 
fläche der  Haut  ritzten,  und  die  Lex  Bajuvariorum  enthält  eine 
besondere  gesetzliche  Bestimmung  dagegen.*) 

Herör  hiess  in  Skandinavien  der  Kriegspfeil,*'*)  den  der 
Heerführer  zum  Zeichen  seiner  Gewalt  nach  allen  Him^lel^ 
gegenden  ausschickte,  wenn  ein  Feind  ins  Land  einbrach;  damit 
war  allem  Volke  entboten,  sich  in  Waffen  zu  versammeln.  Bei- 
spiele solcher  Aufgebote  finden  sich  m  den  skandinavischen  Sagen 
zahlreich;  sie  waren  dem  Orient  gleichfalls  nicht  fremd.  Der 
Prophet  Elisa  lässt  von  König  Joas  Bogen  und  Pfeil  herbei- 
bringen, durchs  offne  Fenster  gegen  Aufgang  der  Sonne  einen 
Pfeil  abschiessen  und  spricht:  Das  ist  ein  Pfeil  des  Heils  gegen 


*)  Si  qnis  tum  toxicata  sagitta  alicui  sanguinem  fuderit,  cum  XII.  solle 
componat,   eo  quod  in  unwan  est»    Tit.  2,  cap.  6. 

**)  sagitta  circumlata,  convocandi  exercitus  causa.  Biöm  Lexic,  s.  v.  B( 
et  Herör. 


2.    Bogen  u.  Pfeil.  .  Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.     Freischützen  etc.       23 

Syrien,  du  wirst  die  Syrer  schlagen  bis  sie  aufgerieben  sind. 
Schlage  nun  die  Erde  mit  dem  Geschosse!  Der  König  that's, 
nahm  die  Pfeile  und  schlug  dreimal.  Hättest  du,  sprach  hierauf 
zürnend  der  Prophet,  fünf  oder  sechsmal  geschlagen,  so  hättest 
du  die  Syrer  bis  zur  Vertilgung  besiegt,  nun  aber  wirst  du  sie 
dreimal  schlagen.  2  Könige,  13.  Der  Krieg  gegen  Syrien  wird 
also  durch  einen  nach  Morgen  abgeschossenen  Pfeil  angekündet; 
das  Uebrige  ist  hier  altjüdische  Belomantie,  Pfeilzauberei,  auf 
welche  gegenwärtiges  Thema  erst  am  Schlüsse  zu  reden  kommt. 
Der  Vater  Seldschuks,  des  Gründers  der  türkischen  Seldschuken- 
Dynastie,  war  Jakak,  d.  h.  ein  starker  Bogen.  Als  sein  Sohn 
Anslan  an  Mahmud  von  Gasna,  den  Eroberer  Indiens,  abgesandt 
und  von  diesem  befragt  worden,  mit  wie  viel  Mann  er  ins  Feld 
rücken  könne,  hielt  der  Befragte  seinen  Bogen  und  zwei  Pfeile  in 
der  Hand.  Da  nahm  er  den  einen  Pfeil  in  die  Rechte  und  sprach : 
Wenn  ich  diesen  in  unsere  Gestüte  sende,  so  erscheinen  hundert- 
tausend Mann  zu  Pferde,  und  sende  ich  diesen  in  meiner  Linken 
ins  Gebirge,  so  sitzen  fiinfzigtausend  Reiter  auf. 

Auf  diesen  kurzen  Umriss  darf  sich  die  Geschichte  vom  Alter 
und  Gebrauch  des  Bogens  und  Pfeiles  hier  beschränken,  aus  der 
Einfachheit  der  Schutz-  und  Trutzwaffe  folgt  auch  die  gemeinsame 
Uebereinstimmung  in  deren  Benennung,  Handhabung  und  Werth- 
schätzung.  Wird  hingegen  dieser  primitivsten  Waffe  ein  über- 
irdisches Vermögen  beigelegt,  führt  sie  ein  Gott  oder  Stammheld, 
in  dessen  Hand  sie  zu  überweltlicher  Grösse  und  Wirkung  an- 
wächst ;  spannt  er  statt  des  Bogens  das  ganze  Firmament  in  einen 
Halbkreis  zusammen  und  legt  auf  diesen  den  femhintreffenden, 
nie  versagenden  Pfeil  des  Blitzes;  stimmen  sodann  in  dieser 
gigantischen  Vorstellung  alle  Völker  überein,  so  dass  hierin  deren 
älteste  Sage  noch  der  scheinbar  jüngsten  gleicht,  so  muss  gleich- 
wohl auch  diesen  fast  zahllosen  Schützensagen  dieselbe  einfache 
Naturanschauung  zu  Grunde  gelegen  haben  und  eben  damit 
Ursache  der  Sagen-Gleichartigkeit  geworden  sein.  Denn  der  noch 
in  den  engen  Schranken  der  Sinnlichkeit  denkende  Naturmensch 
pflegt  eine  Naturerscheinung  als  eine  persönliche  Handlung  auf- 
zufassen und  gelangt  auf'  diesem  Wege  überall  zu  demselben 
Resultate,  zum  Naturmythus.  Von  diesem  Vorgange  im  frühesten 
menschlichen  Vorstellungsvermögen  giebt  die  Sprache  ein  aus- 
reichendes Zeugniss.  Der  Sonnenstrahl,  der  Blitz  und  der  Pfeil 
heissen  in  unserer  Sprache   zusammen  gleichnamig  der  Strahl. 


24  ^'     ^sr  Sagenkreis  von  Teil. 

Selbst  die  kleinen  Kristallstücke,  die  im  Hochgebirge  überall  und 
tausendfaltig  den  Boden  bedecken,  gelten  im  Bemer-Oberlande 
für  Splitter  niedergegangener  Donnerstrahlen  und  heissen  Strahl. 
Bem.-Taschenbuch  1855,  121.  Gottes  Pfeil  ist  der  Blitzstrahl, 
den  er  vom  gespannten  Regenbogen  abschiesst.  Wenn  in  dem 
indischen  Rig-Veda  der  Fromme  seine  Morgenspende  dem  grossen 
Vater  Dyaus  (Zeus,  deutsch  Zio)  bietet,  erzittert  er  »in  Ehrfurcht 
vor  dem  Schützen,  der  von  seinem  mächtigen  Bogen  den  hellen 
Pfeil  absendet.«  Ebenso  heisst  es  biblisch  vom  Regenbogen,  er 
sei  Jehovahs  Bogen,  gespannt  zum  Zeichen,  dass  die  Welt  vor 
der  Wiederkehr  der  Sündfluth  bewahrt  bleibe;  aber  »er  hat  seinen 
Bogen  gespannt  und  zielet  und  hat  darauf  gelegt  tödtliche  Ge- 
schosse, seine  Pfeile  hat  er  zugerichtet,  zu  verderben.«  Psalm  7, 
Vers  12 — 14.  Zufolge  der  Veden  und  des  Mahabharata  ergreift 
Indras  Bogen  uhd  Pfeil  gegen  den  Vritras,  und  der  Regenbogen 
heisst  Indrayudha,  Indraswaffe.  Kuhn  in  Haupts  Zeitschr.  5,  488. 
Der  altindische  Gewittergott  Rudra  fuhrt  gleichfalls  Bogen  und  Pfeil. 
Beides  fuhrt  auch  der  griechische  Eros,  weil  er  als  Sohn  des 
Zephyros  und  der  Iris  aus  einer  Sturmgottheit  heraus  erst  zum 
Liebesgotte  sich  entwickelt  hat.  Schwartz,  Urspr.  der  Myth.  175 
und  215.  Der  Pfeil  galt  als  ein  Sonnenstrahl,  welcher  zugleich 
belebt  und  versengt;  oder  als  ein  Blitzstrahl,  der  zugleich  die 
Luft  reinigt  und  Lebendes  vernichtet ;  er  wurde  daher  den  Sturm- 
und den  Lichtgottheiten  gleichmässig  zugetheilt.  In  der  33. 
Orphischen  Hymne  wird  Helios  als  Sonnengott  zubenannt:  »der 
Lichtbringer  und  Pfeilschütze,  der  vom  unendlichen  Aether  herab- 
scHaut  mit  allsehendem  Auge  bis  in  die  Tiefe  der  Erdwurzeln.« 
Dieser  treffende  Blick  des  Sonnenauges  wird  zum  femhinzielenden 
Auge  des  Bogenschützen.  ApoUon  schiesst  dem  Ephialtes  das 
linke  Auge  aus;  tödtet  der  Niobe  Töchter  und  Söhne;  ist  der 
Pythonswürger;  besitzt  die  Herakles-Pfeile,  ohne  welche  Troja* 
nicht  erobert  werden  kann;  schiesst  von  den  Klippen  von  Thera 
mit  seinem  Bogen  ins  Meer  und  scheucht  so,  den  Argonauten  zu 
Liebe,  Sturm  und  Finsterniss  vom  Himmel.  Im  Winter  wird  sein 
Pfeil  bei  den  Hyperboreern  aufbewahrt,  im  Sommer  kehrt  er 
wieder  zu  Apollon  zurück.  Er  ist  schon  bei  Homer  Vorsteher 
der  Schützengilde,  an  seinem  Festtage  wird  eine  Hekatombe  ge- 
opfert und  dann  das  Wettschiessen  angehoben  (Od.  21,  267).  An 
diesem  seinem  Weihetage,  da  eben  Ithakas  Edle  in  seinem  Haine 
versammelt  sind,  bedient  er  sich,  um  das  Werk  der  Rache  gegen 


2.     Bogen  u.  Pfeil.    Apfel,  Nuss,  Ring  u«  Münze.    Freischützen  etc.       25 

•die  Frevler  vollführen  zu  lassen,    des   Schützen   Odyßseus,    und 
dieser  beginnt  den  entscheidenden  Bogenkampf  (Od.  22,  7) : 

Jetzo  ein  anderes  Ziel,  das  noch  kein  Schütze  getroffen, 

Wähl'  ich  mir,    ob  ich  es  treff'  und  Ruhm  mir  gewähret  ApoUon. 

Dies  ist  der  Gott,  der  den  solarischen  Bogen  spannt,  bald 
als  Sonnen-,  bald  als  Donnergott,  bald  belebend,  bald  vernichtend, 
wie  der  Regenbogen  selbst,  welcher  im  Winter  ohne,  im  Sommer 
mit  Blitzpfeilen  sich  zeigt;  es  ist  der  stürmische  Grewittergott, 
jener  Bogenschütze,  welcher  unter  den  zwölf  Himmelszeichen  als 
herbstliches  Sternbild  erscheint.  »Immer  erhält  das  Aeusserliche 
in  Bild  und  Attribut  im  Leben  jede  Anwendung,  die  ihm  an- 
gemessen scheint  und  zur  Erweiterung  der  Gewalt  eines  Gottes 
natürlicherweise  sich  darbietet.«  Welcker,  Griech.  Götterl.  i,  542. 
Zürnt  der  Gott,  so  versendet  er  die  Pfeile  der  Pest  und  des 
Sonnenstichs  (Ilias  i,  55).  Ebenso  5.  Mos.  32,  23:  Ich  will  alles 
Unglück  über  sie  häufen,  ich  will  alle  meine  Pfeile  in  sie  schiessen. 
Die  Araber  stellten  sich  die  Einflüsse  der  sieben  Planeten  als  eben 
so  viele  Pfeile  vor,  mit  denen  das  Schicksal  nach  'den  Menschen 
ziele,  laut  folgendem  Spruche:  »Die  Erde  ist  eine  Scheibe,  der 
Mensch  ist  das  Ziel,  die  Sphären  sind  der  Bogen,  die  Himmels- 
körper die  Pfeile,  und  der  Schütze  ist  Gott.c  Das  Bild  Abrahams 
mit  sieben  Pfeilen,  als  Stellvertreters  der  sieben  Planeten,  war  zu 
Mekka  aufgestellt  gewesen,  bis  Mahommed  bei  Eroberung  des 
Ortes  es  sammt  den  übrigen  Idolen  umstürzen  Hess.  Liebrecht, 
Ausg.  des  Gervas.  Tilbur.,  S.  142.  Gleichwohl  ist  derselbe  Glaube 
bis  auf  die  Neuzeit  im  Morgen-  und  im  Abendlande  bemerkbar 
verblieben.  Die  heutigen  Mahommedaner  halten  brandig  aus- 
sehende Wunden  für  tödtliche  und  schreiben  sie  schwarzen  Geistern 
zu,  die  Gott  zur  Strafe  der  Menschen  mit  Bogen  und  Pfeil  aus- 
sende.   Unser  deutsches  Kirchenlied  singt: 

Der  bittre  Tod  mit  seinem  Pfeü 
Thut  nach  dem  Leben  schiessen, 
Er  schiesst  das  Leben  ab  in  Eil'. 

In  Hans  Sachsens  Comedi  von  Hecastus  (Ausg.  des  Stuttg. 
Lit.  Vereines,  Bd.  VI,  180)  tritt  der  Tod  herein,  spannt  seinen 
Bogen  und  spricht: 

Jetzt  ist  die  zeit,  das  ich  gewiss 
Mein  pfeyl  in  den  Hecastum  schis.^ 


26  I*     ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Thu  auf,  thu  auf  das  fenster  dein. 
Auf  dass  ich  schiess  mein  pfeU  hinein  1 
Hecastus:    Nun  mag  der  Todt  kommen  zu  mir 

Und  in  mich  schiessen  seinen  strall 
Ich  furcht  in  nichts  mehr  überal. 

Im  neugriechischen  Volksliede  schiesst  der  Todesgott  Charos 
einer  Jungfrau  den  Pfeil  ins  Herz.  Grimm,  Myth.  806.  In  Folge 
dieses  herrschenden  Glaubens  entstand  der  andere,  jenem  dämo- 
nischen Schusse  sei  vorzubeugen  durch  gesegnete  Waffen.  Man 
bediente  sich  darum  geweihter  Bogen  und  Pfeile.  In  Vintlers 
Blume  der  Tugend,  einem  Spruchgedichte  vom  Jahre  141 1  (Ab- 
druck in  Zingerle's  Tirolersitten  1857,  188)  heisst  es: 

dannoch  vindet  man  czu  diszer  vrist, 
die  czauberey  dannoch  pflegen, 
etleich  die  wellen  pheiU  aussegen. 

Die  Kirche  selbst  bemächtigte  sich  in  eigennütziger  Weise 
dieses  Aberglaubens  und  fristete  ihn  bis  auf  unsere  Zeit.  *) 

Unter  den  pfeilführenden  Göttern  Skandinaviens  ist  Ullr 
genannt  Boga-As  und  hat  in  Ydalir  (Eibenthalen)  sich  seine  Halle 
gebaut.  Er  ist  ein  Mit-Odhin,  eine  Form  des  Sonnengottes. 
Hönir,  gleichfalls  ein  Sonnengott,  ist  nach  den  schiessenden 
Himmelsstrahlen  Pfeilkönig  zubenannt.  Heimdallr  ist  der  beste 
Schütze,  sieht  bei  Tag  und  Nacht  hundert  Rasten  weit  und  be- 
wacht die  Himmelsbrücke;  vor  Allen  endlich  gilt  Odhin,  dessen 
Rolle  zwischen  der  des  Sonnen-  und  Aethergottes,  und  derjenigen 
des  Wilden  Jägers  als  Sturm-  und  Gewittergottes  getheilt  ist 
Er  fuhrt  den  Todesspeer  Gungnir,  welcher  eine  Wurflanze  und 
zugleich  ein  Wunschpfeil  ist.  Wenn  er  ihn  über  eine  Schlachtreihe 
wirft,  so  müssen  alle  die  fallen,  über  die  er  hinweg  fliegt.  Einen 
solchen,    aus    blossem  Schilfrohre    gemachten,    schenkt   er  dem 


*)  Das  Manuale  Benedictionum^  Conjurationum,  Exorcismorum  etc,  ex  diversb 
ritualibus,  vom  Franciskaner  Friz,  Kempten  1737)  P^>  160  enthält  eine  Benedictio 
Sagittarum  S.  Sebastian!.  Indem  der  Priester  die  auf  den  Altar  gelegten  Pfeile 
segnet  und  mit  Weihwasser  besprengt,  betet  er:  Omnipotens  deus,  te  supplices 
exoramus,  ut  has  Sagittas,  quibus  domini  nostri,  in  cruce  pro  nobis  pendentis 
Signum,  et  imago  intemeratae  V.  Deiparae  Mariae,  et  S.  Sebastiani  Martyr.  im- 
pressa  est,  benedicere  et  sanctiücare  digneris,  ut  qui  has  secum  devote  gestaverint, 
vel  domi  asservaverint,  per  merita  Sanctissimae  V.  Mariae  et  per  intercessionem 
S.  Sebastiani  ab  omni  pestifera  lue,  ab  omni  morbo  contagioso  et  ab  omnibos 
inimicorum  insidiis  praeserventur  etc. 


2.    Bogen  u.  Pfeil.    Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.       27 

Schwedenkönig  Erich,  der  denselben  mit  dem  Ausruf:  Odhinn  a 
ydur  alla!  (Odhin  hat  euch  Alle)  über  das  feindliche  Heer  hin- 
schleudert und  dieses  dadurch  mit  Blindheit  schlägt.  Nachdem 
Odhin  den  Hadding  in  der  keilförmigen  Schlachtordnung  unter- 
wiesen hatte,  stellte  er  sich  hinter  die  Reihen,  zog  eine  Armbrust 
hervor,  die  erst  ganz  klein  schien,  aber  gespannt  immer  grösser 
wuchs,  legte  zehn  Pfeile  zugleich  auf  und  erlegte  damit  eben  so 
viele  Feinde.  Saxo  Gramm.  X,  479;  oder  I,  52  der  Müller*schen 
Ausgabe.  Dieser  Wurf  und  Schuss  ins  Blaue  hinaus  und  immer 
in  weiter  Feme  das  Ziel  sicher  treffend,  hat  sich  in  den  Rechts- 
alterthümern,  in  der  Kirchenlegende  und  in  den  Sagen  von  den 
Freischützen  fortgefristet,  von  denen  sogleich  zu  handeln  sein 
wird.  Aber  auch  deutsche  Göttinnen  haben,  ähnlich  der  griech. 
Artemis,  den  Pfeil  geführt.  Hertha  wurde  (nach  Arnkiel)  abgebildet, 
mit  der  Linken  eine  Korngarbe  fassend,  in  der  Rechten  Pfeile 
haltend.  Die  vielnamigen  drei  heiligen  Jungfrauen,  welche  kirchlich 
die  drei  Schwestern  Gwerbet,  Ainbet  und  Wilbet  heissen  und 
gar  mancherlei  alterthümliche  Kapellen  und  Weihaltäre  besitzen, 
sind  in  der  Kapelle  am  baierischen  Würmsee  also  dargestellt. 
Die  mittlere  der  Dreie  hält  Lorbeerzweig  und  Buch  in  den  Händen, 
die  linksstehende  Lorbeerzweig  und  einen  Pfeil,  die  rechtsstehende 
Lorbeer  und  Pfeil  in  der  einen,  und  gleichfalls  einen  Pfeil  in 
der  andern  Hand.  Ueber  ihnen  ist  das  Bild  eines  Bischofs 
angebracht,  der  ihnen  drei  Aepfel  darreicht;  etwa  der  bekannte 
Bischof  Nikolaus  von.  Myra.  Somit  tragen  die  drei  Jungfrauen 
drei  Pfeile  zu  jenen  ihnen  dargereichten  drei  Aepfeln,  welche  im 
Tellenmythus  das  älteste  Schussziel  sind.  Panzer,  Baier.  Sag.  i, 
S.  33.  Hiermit  wendet  sich  der  Gredanke  denjenigen  Sagen  zu, 
die  von  der  Landesbesitz-Ergreifung  erzählen,  welche  mittels  des 
Pfeilschusses  geschieht.  ^ 

Der  indische  Vischnu  verlangt  vom  Könige  das  Stück  Landes 
zwischen  dem  Berge  und  der  Stelle  gelegen,  bis  zu  welcher  er 
mit  dem  Pfeile  schiessen  werde,  und  gewinnt  damit  eine  ungeheure 
Strecke.  Die  altpersische  Sage  erzählt  von  Aresh,  dem  besten 
Bogenschützen,  dass  sein  gezeichneter  Pfeil  aus  Persien  vom  Berge 
Damarend  bis  an  den  Oxus  flog  und  hierdurch  die  Grenzen  des 
Reiches  bestimmte.  Grimm,  RA.  68.  Die  Heidenjungfrau  zu 
Glatz  hat  vom  Schlosse  herab  um  den  Besitz  des  Landes  mit 
ihrem  Bruder  um  die  Wette  geschossen.  Ihr  Pfeil  gieng  bis  zur 
grossen  Eisersdorfer  Linde,   die  so  alt  sein  soll  wie  der  Heiden- 


28  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

thurm  zu  Glatz.  Noch  im  Jahre  1625  hieng  der  Jungfrau  gell 
Haar,  etliche  mal  aufgeflochten  nach  der  Länge,  in  der  Schl< 
kirche  an  einem  Nagel,  dass  es  ein  grosser  Mann  mit  der  Hj 
erreichen  konnte.  Grimm  DS.  no.  318.  Als  zwischen  den  Siel 
bürgischen  Propstdorfem  und  ihren  Nachbarn  ein  Grenzstrt 
waltete,  ob  und  wie  weit  der  Propstdorfer  Bezirk  über  die  Kok( 
reiche,  verglich  man  sich  dahin,  die  Entscheidung  einem  Pfc 
Schüsse  zu  überlassen.  So  weit  die  Propstdorfer  von  ihrem 
meindethore  aus  einen  Pfeil  schiessen  könnten  der  Kokel  zu, 
weit  sollte  ihr  Bannkreis  gehen.  Nun  sandten  sie  ihre  jung< 
Knechte  in  den  Wald,  eine  Bogenstange  zu  holen.  Sie  richtetet 
einen  jungen  Eichbaum  zu  einer  solchen  zu,  schnitten  aus  gleichet 
Holze  einen  mächtigen  Pfeil,  spannten  dann  mit  gemeinsame 
Anstrengung  den  Riesenbogen,  legten  den  Pfeil  zurecht  uni 
schössen  dem  Flusse  zu.  Da  hätte  man  schauen  sollen,  wie  du 
Nachbarn  erstaunten,  als  sie  den  Pfeil  über  die  Kokel  hinübel 
immer  weiter  fliegen  und  immer  noch  kein  Ende  erreichen  sahei 
Endlich  sank  er,  weit  auf  dem  linken  Ufer,  und  seitdem  treil 
die  Heerde  der  Propstdorfer  herüber,  sie  brennen  ihre  Ziege 
daselbst  neben  der  Reichsstrasse,  alles  ohne  Grenzverletzung 
Müller,  Siebenbürg.  Sagen  no.  304.  Unter  dem  Hochaltare  d< 
Klosterkirche  zu  Prüm  in  der  Eifel  befinden  sich  zwei  Gemälde;  d« 
eine  stellt  einen  Ritter  vor,  der  auf  einem  Steine  sitzend,  umgebet 
von  Gemahlin  und  Gefolge,  einen  Pfeil  abschiesst ;  das  andere  det 
heiligen  Ansbald,  der  eben  vor  dem  Prümer  Hochaltare  das 
hält,  während  ihm  die  Engel  einen  Pfeil  zutragen.  Diesem  Gemäh 
liegt  folgende  Legende  zu  Grunde.  Nithart,  ein  fränkischer  Rittet 
hatte  von  seiner  Gemahlin  Erkanfriede  keine  Kinder  und  gelobte 
daher  demjenigen  Kloster  die  Vergabung  seiner  Güter,  in  dessen 
Nähe  der  Pfeil  hinflöge,  den  er  zu  diesem  Zwecke  abschösse. 
Nach  einem  Gebete  erstieg  er  einen  Stein  und  schoss  den  Pfeil, 
an  den  ein  die  fromme  Absicht  bekundender  Zettel  befestigt  war.*) 


*)  Einen  ähnlichen  Briefpfeil  lässt  die  Schweizersage  den  Heinrich  von  Hünen- 
berg abschiessen.  Der  Pfeil  fliegt  vom  Ufer  des  Zugersees  über  den  Thurm  und 
die  Letzimauer  des  Dorfes  Art  und  meldet  den  dahinter  aufgestellten  Schwyzer- 
truppen,  dass  der  anrückende  Herzog  Leopold  nicht  hier,  sondern  bei  Morgarten 
ins  Land  einbrechen  werde.  Hünenbergs  Pfeil  soll  seit  1740  im  Landesarchiv  zu 
Schwyz  aufbewahrt  gewesen  und  nachmals  während  der  französischen  Landes- 
besetzung verloren  gegangen  sein.  Zürcher-Neüjahrsbl.  der  Feuerwerker  181 7,  16. 
Dass  dies  eine  Sage  ist,  erhellt  unzweifelhaft  aus  dem  Chronisten  Vitoduranus,  dem 


2.     Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.       2Q 

Eben  stand- der  heilige  Abt  Ansbald  am  Altare  zu  Prüm;  Erigel 
nahmen  den  Pfeil  in  Empfang  und  Hessen  ihn  zu  Ansbalds  Füssen 
fallen;  so  nahm  er  die  neuen  Güter  für  sein  Kloster  in  Besitz, 
Schmitz,  Eiflersag.  2,  133.  Die  Angabe  dieser  Rechtssagen  weicht 
nicht  gerade  'weit  ab  von  dem  Grössenmaasse ,  das  die  alten 
Gesetze  aufstellen  für  die  Bestimmung  der  Weite  eines  Land- 
Erwerbes  oder  ein^r  Abmarchung  mittels  eines  dahin  gerichteten 
Pfeilschusses,  und  man  erfährt  aus  solchen  Satzungen,  dass  die 
angebliche  Schussweite  des  Teilenschusses,  welcher  zu  Altorf 
lokalisirt  ist,  nicht  verschieden  ist  von  der  Schussweite  des  alt- 
nord.  Pfeilschusses,  welche  auf  240  Faden  oder  Schritte  ermittelt 
ist.  Das  Recht  gestattete  dabei  ausdrücklich  Anwendung  auch 
künstlicher  Mittel.  So  bestimmt  im  Jahre  1325  die  Abtei  St, 
Trudpert  im  Schwarzwalde  die  Marken  des  Schlossbezirkes  von 
Scharfenstein  und  lässt  eine  derselben  vom  Schlosse  aufwärts 
zum  Walde  reichen  »so  verre,  so  ein  Armbrost  geschiessen  mag, 
das  ein  man  mit  zwein  Füssen  spannet.«  Mone,  Oberrhein^ 
Ztschr.  21,  443.  Ein  Nachklang  solcher  Rechtsüblichkeiten  hat 
noch  unsre  Zeit  erreicht.  Alle  drei  Jahre  fahren  Major  und  Ge- 
meinderath  der  Stadt  Cork  bis  an  die  äussere  Grenze  ihres  See- 
hafens und  ersterer  wirft  da  zum  Zeichen  der  Botmässigkeit, 
welche  die  Stadt  über  diesen  Meerestheil  ausübt,  einen  silbernen 
Pfeil  ins  Wasser.  Allg.  Augsb.  Ztg.  1853,  no.  280,  S.  4472. 
Unentscheidbare  Rechtsfälle  stellte  das  Alterthum  den  Göttern 
anheim  und  schoss,  indem  es  diese  zu  Zeugen  nahm,  Pfeile  gen 
Himmel.  Als  König  Dareios  erfuhr,  die  Athener  seien  es,  welche 
ihm  seine  Stadt  Sardis  eingenommen  und  verbrannt  hätten,  forderte 
er  seinen  Bogen,  legte  einen  Pfeil  auf  und  indem  er  ihn  in  die: 
Wolken  schoss,  sprach  er:  O  Zeus,  verleihe  mir  Rache  an  den 
Athenern  I  Herodot  5,  105.  Derselbe  Autor  berichtet  von  den 
Thrakern  (4,  94),  dass  sie  gegen  Donner  und  Blitz  in  den  Himmel 
schössen,  Gott  selbst  bedrohend;  und  zwei  neuere  Afrikareisende 
melden  uns'  denselben  Brauch  aus  den  von  ihnen  betretenen 
Negerreichen.  Bastian  (Afrikan.  Reis.  1859.  i,  204)  erzählt  aus 
der  Tradition,   dass  die  Zauberer  von  Mapongo  Pfeile  nach  dem 


Zeitgenossen  der  Schlacht  bei  Morgarten.  Der  Graf  von  Toggenburg,  sagt  er,, 
•habe  schon  ^vorher  zwischen  den  Waldstätten  und  dem  Herzoge  vergeblich  ver- 
mittelt, und  habe  erstere  alsdann  über  des  Herzogs  AngrifFsplan  in  Kenntniss- 
gesetzt: Praescientes  autem  Swicenses  per  revelationem  Comitis  (de  Toggenburg),, 
se  in  illa  parte  aggrediendos. 


jO  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Himmel  schössen,  um  Regen  zu  machen.  Werner  Munzinger 
(Sitten  und  Rechte  der  Bogos.  Winterthur  1859,  5)  berichtet  aus 
dem  Munde  der  heutigen  Abyssinier,  dass  sie  ein  riesenhaftes 
übermenschliches  Geschlecht  der  Vorzeit,  die  Rom  genannt,  für 
ihre  Ahnen  halten  und  noch  jetzt  in  Liedern  besingen.  Der  letzte 
dieser  Rom  sei  mit  Gott  verfeindet  gewesen  und  habe  darum 
seine  Lanze  gen  Himmel  geschleudert;  worauf  Gott  zur  Strafe 
einen  riesigen  Adler  sandte,  der  dem  Erfrechten  das  Kopffleisch 
zerfrass.  Legt  ein  Volk  den  Sitten  und  Bräuchen  seiner  eignen 
Vorfahren  solcherlei  entmenschte  Beweggründe  zur  Last,  wie  hier 
die  Neger  thun,  so  beweist  es  damit,  dass  seine  eignen  sittlichen 
Begriffe  noch  tiefer  gesunken  sind,  als  derer,  die  es  zu  tadeln 
oder  zu  verspotten  meint.*)  Mit  Unrecht  hat  man  derlei 
kriegerische  Sitten  ältester  Zeit  als  einen  religiösen  Frevel  an- 
gesehen; sie  sind  das  gerade  Gegentheil,  sie  drücken  die  Waffen- 
bereitschaft aus,  welche  der  gläubige  Mensch  seinem  leidenden 
Gott  symbolisch  entbietet.  So  war  es  Ritterbrauch  im  Mittelalter, 
bei  der  Predigt  vom  Leiden  Christi  oder  bei  der  Consecration  der 
Hostie  plötzlich  aufzustehen,  das  Schwert  halb  zu  ziehen  und 
dann  wieder  auf  die  Knie  nieder  zu  fallen. 

Noch  ist  es  ein  Frühlingsspiel  bei  unsrer  oberdeutschen 
Dorfjugend,  Haselschosse  auf  den  Weidenbogen  zu  legen  und  sie 
als  »Blitzpfeile  bis  über  das  Beckenhaus  hinüber  €  zu  verschiessen. 
Sie  sollen  das  lastende  Märzgewölke  durchbohren  und  der  Sonne 
den  Weg  bahnen,  dass  sie  die  Saaten  wieder  erwärme  und  den 
»Beckerwecken«  reifen  lasse.  Diesem  Jugendbrauche  nächst- 
verwandt ist  die  altnordische  Sage  vom  Oerwandil,  d.  h.  der  mit 
dem  Pfeil  Arbeitende,  und  wie  Uhland  (Mythus  von  Thorr)  erkannt 
hat :  der  aus  der  Saat  hervorstechende,  aufschiessende  Fruchtkeim. 
Den  Knaben  Oerwandil  hat  Thorr  über  die  Eisströme  im  Korbe 
getragen,  jener  aber  hat  eine  Zehe  hervorgestreckt  und  erfroren: 
Der  Fruchtkeim   hat  sich   all  zu  früh  hervorgewagt  und  muss  es 


*)  Prügelt  der  erzürnte  Congoneger  seinen  Fetisch,  und  die  eifersüchtige 
Andalusierin  ihren  Rosenkranz;  oder  wirft  der  durch  Unwetter  um  die  Wein- 
und  Kornernte  betrogene  Bauer  seinen  Schutzpatron  in  den  Dorfbach,  so  sind 
dies  Ausbrüche  barbarischer  Verkommenheit  und  Dummheit,   die  nicht  etwa  dem 

• 

ersten  elementaren  Beginne  eines  religiösen  Cultus  beizuzählen  sind,  sondern  bereits, 
an   dessen  letztem  Ende. stehen.    Daher  dann  jene  vielen  Kapellen-Legenden  vom 
Wildschützen,  der  in  die  consecrirte  Hostie  geschossen,  um  so  auf  Gottes  leiblichen 
Schaden  hin  ein  Freischütze  werden  zu  können. 


2.     Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.       31 

büssen.  Simrock,  Myth.  240.  Dasselbe  Missverständniss  herrschte 
schon  im  Heraklesmythus.  Als  Herakles,  heisst  es,  auf  seinem 
Abenteuerzuge  zum  Geryon  sich  von  den  heissen  Strahlen  des 
Helios  gequält  fühlte,  habe  er  zornig  seinen  Bogen  gegen  dien 
Lenker  des  Sonnenwagens  gespannt;  dem  Helios  aber  habe  dieser 
Muth  so  Wohlgefallen,  dass  er  dem  Helden  einen  Goldbecher  gab. 
Der  gütige  Sonnengott  verstand  und  gewährte  mithin  die  an  ihn 
gerichtete  Mahnung  des  verschmachtenden  Helden.  Eine  ähnliche 
Mahnung  des  sich  verlassen  glaubenden  Menschen  an  die  Gottheit 
liegt  in  dem  Schusse,  welchen  der  Freischütze  am  Sommer- 
Johannistage  in  die  Sonne  thut.  Dieser  Schuss  geschieht  zu  der 
vorbestimmten  Zeit,  da  das  Tagesgestirn  immer  höher  steigt,  er 
will  daher  dasselbe  zur  Unikehr  mahnen,  oder  er  sucht  den  feind- 
seligen  Drachendämon  zu  verscheuchen,  vor  dem  das  Gestirn  in 
den  höchsten  Himmel  hinein  zu  entweichen  scheint.  So  oft  es 
donnerte,  schössen  die  Gothen  Pfeile  in  die  Luft,  um  den  von 
Gregengöttern  bekriegten  Himmlischen  Beistand  zu  leisten;  ja  sie 
begannen  mit  schweren  Erzhämmern  ein  Donnergepolter,  um  dem 
Donnerer  droben  den  schreckenden  Schall  zu  vermehren.  Auch 
sie  wussten  wohl,  dass  man  dem  Himmel  nichts  abzutrotzen  ver- 
möge, daher  ihr  Sprichwort:  Man  soll  keinen  Spiess  gen  Himmel 
werfen,  damit  keine  Hellebarte  herabfalle.  Olaus  Magnus,  Histor. 
der  Mittnachtigen  Länder,  Hochteutsch  durch  Joh.  Bapt.  Fickler 
l(Basel  1567)  S.  91.  Wenn  man  gegen  das  Wetter  schiesst,  sagt 
unser  herrschender  Volksaberglaube,  so  wird  eben  die  Hexe  ge- 
troffen, welche  das  Wetter  herbei  gezaubert  hat.  Mone,  Anzeiger 
IV,  309.  Die  vollständige  Arglosigkeit  des  Schusses  nach  dem 
Jiimmel  wird  der  folgende  Mythus  vom  Apfelschuss  darthun,  da 
das  hierbei  erreichte  Schussziel  gleichfalls  ein  siderisches  ist. 

Als  das  in  den  ältesten  Schützensagen  gesteckte  Ziel  werden 
genannt:  Apfel,  Nuss,  Ring  und  Münze,  und  die  folgende  Er- 
klärung hat  darzulegen,  dass  diese  vier  Ziele  Licht-  und  Sonnen- 
symbole  sind. 

Ein  nach  Sonnenuntergang  häufig  entstehendes,  astförmig 
sich  auszackendes  Wolkengebilde  trägt  die  Namen  Adams-,  Abra- 
hams- und  Wetterbaum;  Anschauungen  und  Namtn,  welche  an 
die  germanische  Götteresche  Yggdrasill  erinnern.  Kuhn,  Nordd. 
Sagen,  S.  455.  Die  Früchte  dieses  Weltbaumes  sind  die  Himmels- 
gestime, jeden  Morgen  und  jede  Nacht  frischreifend  in  Gestalt  gol- 
dener Aepfel  und  Nüsse.  Göttin  Iduna  bewahrt  daher  die  unsterblich 


J2  ^    ^^'  Sagenkreis  von  TelL 

• 

machenden  Aepfel,  von  deren  Genuss  das  ewige  Leben  aller 
Asengötter  abhieng;  oder  Persephone  verfallt  dem  Gotte  der 
Unterwelt,  nachdem  sie  daselbst  vom  blossen  Kern  eines  Granat- 
apfels gekostet  hat.  Auf  antiken  Bildwerken  hält  Herakles  ge- 
wöhnlich drei  Aepfel  in  der  Hand.  Man  bezieht  dieselben  theils 
auf  die  drei  Jahreszeiten  der  älteren  Jahresrechnung ;  theils  auf  die 
von  ihm  wieder  gewonnenen  goldenen  Hesperidenäpfel,  Sinnbilder 
der  am  äussersten  Himmelsrande  aufleuchtenden  Nachtgestime, 
welche  von  den  Nachtdämonen  gänzlich  hinab  geschlungen  zu 
werden  stets  bedroht  scheinen.  Nachdem  daselbst  der  Heros 
den  hunderthäuptigen  Drachen  Ladon  (die  längste  Wintemacht) 
erlegt  hat,  stampft  er  auf  dem  Kampfplatze,  wo  er  gestanden, 
neben  dem  Apfelbaume  eine  Quelle  aus  dem  Boden,  so  dass  also 
hier  der  Baum  des  Lebens  neben  dem  Wasser  des  Lebens  oder 
dem  Jungbrunnen  steht  (Apollonius  von  Rhodus.  Menzel,  Vor- 
christi. Unsterblichkeits-Gl.).  Dass  der  Apfel  als  das  Sinnbild  der 
Sonne  und  zugleich  als  der  in  diesem  Gestirne  enthaltenen  Lebens- 
quelle gedacht  wird,  geht  aus  zahlreichen  Sagenzügen  hervor.  Im 
aargauer  Kinderspruche  von  den  Drei  Mareien  im  Goldnen 
Hause  (no.  273  des  Alemann.  Kinderl.)  heisst  es  von  ULFrau, 
der  Himmelskönigin: 

Si  sitzt  ennet  a  der  Wand, 

het  en  Oepfel  in  der  Hand, 

göht  durh-  ab  zu'n  Sunnehös 

und  16ht  die  heilig  Sunne-n-üs. 
Der  Apfel  ist  darum  die  Nahrung  der  Geisterwelt.  Der  Nix 
wirft  der  schönen  Agnese,  die  bei  ihm  im  See  gewohnt  hat,  indess 
sie  einmal  auf  Besuch  zu  den  Eltern  heimgegangen  ist,  mahnend^ 
einen  Apfel  zu,  damit  sie  zu  ihm  zurückkehre.  Hoffmann  von 
Fallersleben,  Schles.  Volksl.,  S.  4.  Die  Wilden  Männer  im  Gasteiner- 
thale  wohnten  in  einer  unzugänglichen  Höhle  der  Klamm, 
dennoch  standen  hier  in  dieser  Felswüste  Apfelbäume,  mit  deren 
Früchten  sie  nach  den  Vorbeiziehenden  scherzhaft  hinabwarfen, 
Grimm,  Myth.  520.  In  die  Zwergenhöhle  steigt  man  unter  einem 
Apfelbaume  hinab,  drunten  aber  scheint  die  Sonne  noch  schöner 
als  hier  oben,  und  Bäume  stehen  da,  die  einen  blühend,  die  anderen 
voll  glitzernder  Früchte.  Dem  Bauernmädchen,  das  solche  Aepfel 
in  der  Schürze  mit  hinauf  nimmt,  sind  sie  in  lauteres  Gold  ver- 
wandelt. Kuhn,  Nordd.  Sag.  no.  292.  Ein  Kind,  das  ein  Jahr 
lang  im  Berge  geweilt,  wird  von  der  Mutter  wiedergefunden  mit 


2.    Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.     Freischützen  etc.        m 

einen  Apfel  in  der  Hand  und  erzählt,  solche  habe  ihm  seitdem 
ein  Fräulein  alle  Tage  gebracht.  Panzer,  Baier.  Sag.  2,  S.  202. 
Während  der  Christmette,  also  bei  des  Heilands  Geburtsfeier, 
blühen  die  Apfelbäume  und  tragen  zugleich  schon  Früchte. 
Aargau.  Sag.  i,  no.  69. 

Apfel  und  Nuss  werden  zusammen  genannt  als  das  dem 
TrefTschützen  wechselweis  angewiesene  grössere  oder  kleinere 
Schussziel,  weil  diese  beiden  Früchte  schon  im  Göttermythus 
g^egenseitig  sich  vertreten  und  noch  immer  eine  gemeinschaftliche 
Beigabe  bei  unsern  Jahresfesten  sind.  Denn  beide  gelten  mit 
ihrem  verborgnen  Samenkern  als  Sinnbilder  des  winterlich  noch 
verschlossen  liegenden  Naturlebens,  des  noch  nicht  geborenen 
Sommers.  Darum  wird  Idun,  die  Göttin  der  Jugend,  mit  ihren 
Unsterblichkeitsäpfeln  bald  von  den  Riesen  entfuhrt,  bald  ver- 
wandelt dann  Loki  die  Entführte  in  eine  Nuss,  sich  selbst  in  einen 
Falken  und  trägt  sie  so  in  seinen  Klauen  wieder  in  den  Himmel 
zurück.  Nachdem  Rerir,  ein  Ahnherr  Sigurds,  lange  in  kinderloser 
Ehe  gelebt  hat,  sendet  der  Familiengott  Odhin  einen  Apfel,  nach 
dessen  Genuss  den  Gatten  der  Sohn  Völsung  zu  theil  wird. 
W,  Grimm,  HeldenS.  381.  Der  Römer  streute  die  Nuss  als 
Fruchtbarkeits-Symbol  bei  den  Cerealien,  Saturnalien  und  jeder 
Hochzeitsfeier  aus;  ebenso  hängt  die  Goldnuss  mit  dem  Apfel 
an  unserm  Weihnachtsbaume ;  freigebig  streuen  wir  Beide  aus  am 
Nikolausabend,  zu  Neujahr  und  an  der  Fasnacht, •  also  zur  Zeit 
der  Winter-Sonnenwende.  Da  wirft  man  ums  Loos  Welschnüsse 
und  Kastanien  ins  Kaminfeuer  und  schliesst  aus  ihrem  Knistern 
und  Krachen  auf  die  Erfüllung  eines  gehegten  Wunsches.  Weil 
die  Nuss  zugleich  ein  erotisches  Symbol  ist,  so  gewinnt  ein  Held 
die  Hand  der  Königstochter  durch  drei  Nüsse,  von  denen  die 
eine  die  Erde  mit  ihren  Blumen,  die  zweite  das  Meer  mit  seinen 
Schiffen,  die  dritte  den  Himmel  mit  seinen  Sternen  darstellt. 
Hahn,  Griech.  Märch.  no.  70.  Allein  nicht  bloss  dem  Liebes- 
;  schützen,  auch  dem  TrefTschützen  kommt  die  Nuss  zu,  deshalb 
wird  sie  am  Jahrestage  der  städtischen  Schützenzünfte  aus  den 
Fenstern  des  Zunfthauses  korbweise  auf  die  Knaben  herab- 
geschüttet. 

Wie  Apfel  und  Nuss  bald  auf  die  goldnen  Gestirne,  bald  auf 
die  Meteore  hindeuten,  die  in  Gestalt  feuriger  Kugeln  auf  feurigen 
Bahnen  den  Nachthimmel  durchkreuzen,  so  ist  das  weiter  folgende 
Schützenziel,  d  e  r  R  i  n  g ,  gleichfalls  ursprünglich  als  eine  Himmels- 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  3 


«•4  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

erscheinung  oder  Meteor   gedacht  gewesen.    Die  Finnen  hielten 
die  Sonne  für  eine  Feuermasse,  eingeschlossen  in  einen  Goldring. 
Castren,  Finn.   Myth. ,   Petersb.    1853,   56.     Als  ein  solcher  gilt 
unserm  Volke  der  Regenbogen;    der  grössere  und  energischere 
Farbenbogen  heisst  Himmelring,   ihn   macht  die  Jungfrau  Maria; 
der  an  Glsuiz   schwächere,    neben  dem  grossen  abgespiegelt,   hat 
allein  den  irdischen  Namen  Regenbogen,   ihn   macht  der  Teufel 
aus   Neid    der   Maria    nach.      Ein   Kinderspruch,    bei   Montanus 
Volksfeste  i,  88  warnt,  beide  Namen  nicht  zu  verwechseln: 
Sagt  man  »Regenbogen«, 
So  sagt  der  Teufel:  Ich  will's  mit  Dir  wögen! 
Sagt  ms^n  aber  Himmelring, 
So  spricht  Maria:  Du  bist  mein  Kindl 

Auch  in  Böhmen  darf  man  ihn  nicht  schlechthin  duAa  nennen, 
sondern  muss  sprechen  dosz  duha,  Gottes  Bogen.  Grohmann, 
Abergl.  aus  Böhm,  i,  no.  246.  Wenn  Gott  Indras  seine  Gewitter- 
pfeile versendet  hat,  stellt  er  den  Bogen  bei  Seite  und  zeigt  ihn 
den  Sterblichen  als  Regenbogen.  Bohlen,  Alt.-Indien,  i,  237. 
Allbekannt  ist  der  Glaube,  dass  der  Regenbogen  Geld  ausstreue, 
dass  an  seinem  Fusse  ein  Säckchen  Gold,  eine  Wanne  voll  Geld, 
einzelne  Münzen  liegen,  genannt  Attelspfennige  und  Regenbogen- 
schüsselein, und  eine  schöne  Verkörperung  dieser  Vorstellung 
ist  das  bekannte  Kindermärchen  die  Sternthaler.  Das  dem- 
selben zu  Grunde  liegende  Naturphänomen  ist  deutlich  geschildert 
in  Birlingers  Schwab.  Sag.  i,  no.  104:  Wenn  das  gespenstische 
Schlossweible  zu  Laufen  den  Leuten  Thaler  nachwarf^  so  Hessen 
diese  in  der  Luft  einen  strahlenden  langen  Schweif  zurück,  wie 
wenn  eine  Sternschnuppe  vom  Himmel  fallt. 

Noch  ist  eines  altmythischen  Schusszieles  zu  gedenken;  es 
schiesst  nemlich  der  altnordische  Örvarodd  im  Wettschusse  ein 
auf  den  Speerschaft  gestecktes  goldnes  Täfelchen  herunter, 
und  ebenso  der  norwegische  König  Olaf  eine  Schreibtafel 
dem  Neffen  Eindridi's  vom  Haupte.  So  lange  die  Edda'schen 
Götter  im  goldnen  Zeitalter  leben,  spielen  sie  zusammen  mit 
wundersamen  goldnen  Scheiben,  die  sich  im  Grase  finden,  und 
wenn  dann  nach  der  Götterdämmerung  die  verjüngten  Äsen  im 
mitverjüngten  Himmel  wieder  zusammen  sitzen,  so  finden  sich 
dieselben  goldnen  Tafeln  im  Grase  wieder  zum  Spiele  vor.  Unter 
diesen  Tafeln  sind  nicht  vermeintliche  Spielwürfel,  sondern  platte 
Metallscheiben   zu  verstehen,   die  auf  dem  Wurf  brette  nach  dem 


2.     Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.       35 

Ziele  geworfen,  in  der  Spielsprache  »geschossen«  werden.  Sie 
selbst  aber  sind  wiederum  nur  ein  Abbild  der  in  der  spielenden 
Hand  der  Götter  magisch  nach  festen  Zielen  fortgeschobenen, 
Goldscheiben  gleichenden  Gestirne.  Auf  die  Frage,  wie  heisst 
der  Mond,  wird  im  edda'schen  Liede  Alvissmal  geantwortet: 
»Mond  bei  den  Menschen,  Scheibe  bei  den  Göttern.«  Wie  ist 
man  überrascht,  dieselbe  unterscheidende  Benennung  heute  noch 
bei  uns  vorzufinden;  in  der  Glamer. Kindersprache  heisst  nemlich 
der  Mond:  's  Herrgotte-Liechtli ,  Scheibe  und  Schützenscheibe. 
Dieser  Name  kann  nur  aus  jenem  uralten  Volksspiele  stammen, 
das  sich  in  Ober-Alemannien  vom  schwäbischen  Ufer  des  Boden- 
sees an  bis  tief  in  die  rhätischen  und  schwyzer  Alpen  hinein  fort 
erhalten  hat.  Da  ist  es  nemlich  Fasnachtssitte,  dass  man  am 
»Funkentage«  eigens  geschnittene  Holzscheiben,  nachdem  man  sie 
am  offnen  Feuer  rasch  angeglüht  hat,  mittels  Schwungstäben  von 
Berg  zu  Thal  schlägt,  und  wirklich  gewährt  dieses  »Scheiben- 
schlagen«  unter  nächtlichem  Himmel,  wenn  die  kleinen  Räder 
wirbelnd  und  funkensprühend  in's  Thal  hinunter  rollen,  einen* 
Anblick,  der  an  Sternschnuppenschwärme,  an  fallende  Meteore 
oder  »schiessende«  Sterne  erinnert. 

Nachdem  nun  diese  Himmelskörper  der  Reihe  nach  als  alte 
Sinnbilder  eines  gigantischen  Schützen -Zieles  hier  aufgewiesen 
sind,  können  die  entsprechenden  Mythen  von  den  Weitschüssen 
des  Treffschützen  folgen  und  sich  selbst  erklären. 

Die  indischen  Pandschawas,  d.  h.  die  fünf  Götterbrüder, 
werben  zusammen  um  die  Hand  der  Königstochter  Draupati 
und  müssen  sich  deshalb  in  aufgegebenen  Kampfspielen  versuchen. 
Bruder  Arjuna,  der  treffliche  Bogenschütze,  durchschoss  mit  seinem 
Pfeile  das  anscheinend  unerreichbare  Ziel,  dass  es  herabfiel  auf 
die  Erde,  und  Angesichts  Aller  wählte  ihn  hierauf  die  Fürstin 
zum  Gemahl.  Arjuna  heisst  seitdem  der  Gott  der  Morgen- 
rot he,  und  alle  fünf  Brüder  zusammen  Bharaja's,  d.  h.  die 
Streiter.  Das  Maha-Bharata,  aus  dem  dieser  Zug  entnommen  ist, 
nennt  dabei  das  gesteckte  und  getroffne  Ziel  selbst  nicht;  dass 
es  jedoch  ein  Apfel  ist,  erhellt  aus  Arjuna's  empfangenem  Ehren- 
namen, sowie  aus  der  gleichnamigen  Erzählung  in  Tausend 
und  eine  Nacht  (übers,  v.  Weil)  Bd.  3,  499:  Um  den  Besitz 
des  kostbaren  Kleinods  eines  Apfels  lässt  der  König  seine  drei 
Prinzen  mit  Bogen  und  Pfeil  ein  Wettschiessen  halten,  und  der 
Gewinnende  bekommt  dabei  zugleich  die  Hand  der  Prinzessin. 

3* 


36  !•     I^^r  Sagenkreis  von  Teil. 

Der  persische  Dichter  Fand  Ucjdin  Attar,  geb.  11 19, 
f  1230  unserer  Zeitrechnung,  verfasste  um  1175  sein  Gedicht  über 
die  Sprache  der  Vögel,  und  erzählt  darin: 

Ein  König  hatte  einen  Lieblingssklaven,  diesem  legte  er 
einen  Apfel  auf  den  Kopf,  schoss  darnach  mit  Pfeilen  und 
spaltete  den  Apfel  stets,  der  Sklave  aber  war  während  dess 
vor  Furcht  krank. 
Dies  theilt  Th.  Benfey  in  den  Göttinger  Anzeigen  mit  1861,  6'jj 
und  bemerkt  dazu,  dass  dieser  Hauptzug  der  Tellsage,  der  hier 
um  II 70  literarisch  fixirt  erscheint,  nicht  von  Attär  erfunden,  son- 
dern im  Orient  älter  sei.  Es  lasse  sich  zwar  nicht  verkennen,  dass 
möglicher  Weise  an  verschiedenen  Orten,  unabhängig  von  einan- 
der, das  Schiessen  eines  Apfels  vom  Haupte  einer  geliebten  Person 
als  Charakteristikum  grösster  Schützenkunst  hingestellt  sein  könnte, 
wahrscheinlich  sei  es  jedoch  nicht,  und  nach  allen  Erfahrungen, 
welche  in  den  neuesten  leiten  im  Gebiete  der  Sagen-  und  Märchen- 
geschichte gemacht  worden,  sei  es  bei  weitem  eher  anzunehmen, 
dass  auch  diese  Anschauung  nur  an  Einem  Orte  ihre  sagenhafte 
Ausprägung  erhielt  und,  wo  sie  weiter  vorkomme,  entlehnt  sei. 
In  diesem  Falle  sei  aber  schwerlich  daran  zu  denken,  dass  der 
Orient  sie  vom  Occident  empfangen  habe,  sondern  wahrschein- 
licher das  Umgekehrte  anzunehmen.  J.  Grimm  berichtet  in 
Myth.  355:  In  einer  Handschrift  der  Casseler  Bibliothek,  eine 
Reise  in  die  Türkei  enthaltend,  sah  ich  einen  Schützen  abgebildet, 
der  nach  einem  Kinde  zielt,  auf  dessen  Kopfe  ein  Apfel  liegt. 

Von  hierj  gehen  wir  zur  Gestaltung  der  deutschen  Sage 
vom  Apfelschusse  über  und  geben  dabei  die  ältesten  nur  sum- 
marisch an,  weil  ihnen  ein  folgender  Abschnitt  besonders  vor- 
behalten ist. 

Wielands,  des  Heldenschmiedes,  jüngerer  Bruder  Ei  gel 
kommt  an  König  Nidungs  Hof  und  wird  als  ein  gerühmter  Bogen- 
schütze vom  Fürsten  aufgefordert,  dem  eignen  Söhnlein  einen  Apfel 
vom  Haupte  zu  schiessen.  Nur  ein  einziger  Schuss  soll  ihm  dazu 
gestattet  sein.  Eigel  nimmt  aber  drei  Pfeile  aus  dem  Köcher, 
legt  25weie  neben  sich,  schiesst  mit  dem  dritten  mitten  durch  den 
Apfel  und  antwortet  hernach  dem  fragenden  Könige,  die  beiden 
zurückbehaltenen  Pfeile  würden  ihm  selbst  gegolten  haben,  wenn 
der  erste  das  Kind  getroffen  hätte.  So  erzählte  man  ursprünglich 
in  Westfalen,  bis  die  Sage  nach  Schweden  und  Island  ge- 
tragen und  der  Vilkinasaga  einverleibt  worden  ist. 


2.   Bogen  u,  Pfeil.    Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.     Freischützen  etc.        37^, 

Die  dänische  Sage,  aufgezeichnet  von  Saxo  Grammaticus  (f  1203), 
berichtet,  wie  der  Kriegsmann  Toko,  auch  Palnatoki  genannt, 
seinem  eignen  Sohne  auf  den  ersten  Schuss  einen  Apfel  vom  Haupte 
geschossen  (im  Jahre  912).  Dazu  zwang  ihn  der  Dänenkönig  Harald 
Blauzahn,  welchem  der  Schütze  nach  geglücktem  Schusse  [die- 
selbe drohende  Antwort  ertheilt,  die  man  bereits  aus  Eigels  Munde 
kennt.  Nachmals  schoss  er  den  Tyrannen  im  Dickicht  eines 
Waldes  nieder. 

In  der  norwegischen  Sage  ist  statt  Harald  der  christliche 
König  Olaf  Tryggwason,  zubehannt  der  Heilige  (f  1030),  und 
statt  Eigel  oder  Toko  der  heidnische  Bogenschütze  Eindridi  ge- 
setzt. Eindridi  verspricht  dem  bekehrungseifrigen  König  Olaf, 
sich  taufen  zu  lassen,  wenn  ihn  der  König  in  drei  Künsten: 
Schwimmen,  Bogenschiessen  und  Messerwerfen,  überträfe.  'Da  Ein- 
dridi's  Stärke  im  Schiessen  bekannt  war,  so  bestimmte  der  König, 
dass  sie  vom  Haupte  eines  Knaben,  den  Eindridi  sehr  liebte,  eine 
Schachfigur,  nach  anderem  Berichte  hingegen  eine  Tafel  herab 
zu  schiessen  versuchen  sollten.  Man  Hess  um  des  Knaben  Stirne 
ein  Tuch  binden  und  von  zwei  Männern  an  den  Enden  festhalten, 
damit  er  nicht  zucke,  wenn  der  Pfeil  heranschwirre.  Der  König 
schoss  hierauf,  traf  zwischen  Kopf  und  Tafel,  ohne  das  Kind  zu 
verletzen.  Andere  aber  sagen,  er  habe  den  Knaben  gestreift,  so 
dass  dieser  blutete.  Eindridi  dagegen  unterliess  auf  Bitten  der 
Mutter  und  der  Schwester  den  Schuss  und  erklärte  sich  für  be- 
siegt.    Weinhold,  Altnordisches  Leben. 

Eine  andere  norwegische  Sage  schreibt  einen  ähnlichen  Befehl 
dem  Könige  Harald  Hardrade  Sigurdson  zu  (1047 — 66).  Dieser 
besuchte  einst  Aslak,  einen  reichen  Landmann  auf  der  Insel  Torg, 
und  forderte  dessen  Sohn  Heming  zum  Wettstreite  im  Bogen- 
schiessen heraus.  Als  er  sah,  dass  er  dem  Heming  in  dieser  Kunst 
nicht  gleichkomme,  zwang  er  ihn  bei  Verlust  des  Lebens,  dessen 
Bruder  Biörn  eine  Haselnuss  vom  Haupte  zu  schiessen.  Der  Schuss 
gelang.  Obwohl  hier  das  Bereithalten  eines  zweiten  Pfeiles  nicht 
erwähnt  wird,  so  ist  doch  nicht  undeutlich  darauf  angespielt,  indem 
Heming  den  König  bittet,  sich  an  Biörns  Seite  an^s  Ziel  zu  stellen, 
was  aber  jener  zu  thun  verweigerte.  Als  im  Jahre  1066  Harald 
einen  Einfall  in  England  machte,  stellte  sich  Heming  auf  die  Seite 
der  Engländer  und  bezeichnete  in  der  Schlacht  bei  Stamfordbridge 
durch  einen  abgeschossenen  Pfeil  den  König  so  genau,  dass  ein 
anderer  Schütze  denselben  erkannte  und  tödtlich  traf.    Alf.  Huber, 


38  I*     ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Die  Waldstätte  (i86i)  S.  117 — 18,  nach  den  Oldnard.  Sagar  und 
P.  E.  Müllers  Sagabibliothek  3,  359.  Vedel  Simonsons  Unter- 
suchung über  Jomsberg,  übersetzt  von  Giesebrecht.  Stettin  1827, 
S.  HO — 27. 

In  der  chronologischen  Reihenfolge,  welche  jedoch  auf  dem 
Gebiete  der  ausserzeitlichen  Mythe  von  selbst  pausirt,  würde  nun- 
mehr hier  der  Apfelschuss  des  Teil  zu  stehen  kommen.  Wir 
übergehen  ihn,  um  sogleich  die  holsteinische  Sage  folgen  zu  lassen. 

Henning  Wulf  hiess  der  reiche  Mann  im  Kirchspiele 
Wewelsflet  in  Stormarn,  der  1472  bei  einer  Empörung  der  Leute 
in  der  Marsch  gegen  König  Christiem  I.  deren  Anfuhrer  gewor- 
den war.  Geschlagen  und  [flüchtig,  verbarg  er  sich  in  einem 
Sumpfe,  wurde  hier  durch  seinen  Hund,  der  ihm  nachgelaufen 
war,  verrathen  und  vor  den  König  geführt.  Da  dieser  wusste, 
dass  Henning  vor  Allen  der  vortrefflichste  Schütze  sei,  liess  er 
dessen  einziges  Söhnlein  herbeibringen  und  befahl  dem  Vater 
höhnisch,  demselben  einen  Apfel  vom  Kopfe  zu  schiessen;  ge- 
länge es,  so  sollte  der  Empörer  frei  sein.  Henning  holte  seinen  ' 
Bogen,  legte  auf,  nahm  zugleich  einen  zweiten  Pfeil  zwischen  die 
Zähne  und  that  glücklich  den  Schuss.  Auf  des  Königs  Anfrage 
um  den  Zweck  des  zweiten  Pfeiles  erfolgte  die  uns ,  schon  be- 
kannte Drohungsformel.  Der  König  erklärte  ihn  in  die  Acht, 
Henning  musste  fliehen.  Sein  Land  ward  eingezogen,  heisst  das 
Königsland  und  muss  noch  bis  auf  diesen  Tag  schwere  Abgaben 
tragen.  Man  zeigt  auch  noch  das  Haus ,  wo  Henning  Wulf  ge- 
wohnt hat.  Eine  alte  Bildtafel  in  der  Kirche  zu  Wewelsflet  wird 
schon  im  Kirchenbuche  dieser  1 593  neu  erbauten  Kirche  erwähnt 
und  zeigt  auf  einem  freien  Platze  einen  Schützen  mit  abgespann- 
tem Bogen  stehend,  einen  Pfeil  quer  im  Munde  haltend.  In  einiger 
Entfernung  von  ihm  steht  ein  Knabe  mit  einem  von  einem  Pfeile 
durchbohrten  Apfel  auf  dem  Kopfe.  Ein  Wolf  oder  Hund  steht 
zwischen  dem  Schützen  und  dem  Knaben,  auf  ersteren  blickend. 
Dieselbe  Sage  ist  auch  zu  Nienbarstel,  Kirchspiel  Hohenwestedt 
in  Holstein,  localisirt  und  zwar  auf  der  Stätte  des  ehemaligen 
Schlosses.  Hier  musste  der  Schütze  vom  Kopfe  seines  Sohnes 
eine  Birne  herabschiessen.  Müllenhoff,  Schleswig-Holstein.  Sagen, 
Nr.  (ß\   Jahrbücher  von  Schleswig -Holstein  1860.  III,  3.  S.  444. 

Der  Schützenheros  Alt -Englands  ist  Robin  Ho  od,  der 
Freibeuter  und  Wildschütze.  Er  soll  vom  Ausgange  des  zwölften 
bis  in  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gelebt  haben.     Der 


2.  Bogen  u.  Pfeil.     Apifei»  Nuss,  Ring  u.  Münze.     Freischützen  etc.         jo 

Sherwood  Forest,   in  welchem  er  als  ein  Geächteter  mit  seiner 
Schaar  hauste,  bedeckte  einst  die  Grafschaft  Nottingham.     Er  so- 
wohl,  als  sein  Genosse  Little  John,  sollen  einen  Pfeil  eine  eng- 
lische Meile  weit  zu  schipssen  vermocht  haben.    Sein  Bogen  nebst 
Pfeilen  und  einer  seiner  Schuhe  wurden  noch  im  vorigen  Jahrhun- 
dert hergezeigt.     Der  Robin-Hoodstag  ist  der   i.  Mai  und   wird 
oder  wurde  mit  Armbrustschiessen,    Eierlauf,   Wettlauf,   Wettritt 
u.  s.  w.  gefeiert.     Ein  ungeheurer  Fels  im  Kirchspiele  von  Hali- 
fax heisst  Robin  Hoods  Pfenningstein,  mit  ihm  habe  er  nach  dem 
Ziele  geworfen.    Einen  andern  daselbst,  von  einigen  Tonnen  Last, 
habe  er  mit  dem  Spaten  bein>  Umgraben  auf  den  nächsten  Hügel 
gelegt ;    ein   Felsensitz   in  den  Kirkby  Crags   heisst   sein  Stuhl ; 
auch  eine  Quelle  bei  Nottingham  und  eine  Bucht  von  Yorkshire 
tragen  seinen  Namen.      In   der  Nähe   des   Klosters   Kirkleys    in 
Yorkshire,   dessen  Aebtissin   ihn  verrieth,    soll   er  begraben  sein. 
Ein  Edelmann  jener  Gegend    nahm  den  Grabstein  weg,   um   ihn 
zu  verbauen,    fand   ihn  aber  mehrere  Male  wieder  aus  dem  Bau 
geworfen,   bis   er  ihn   an   die  alte  Stelle   zurück  versetzte.      Um 
seines  Gesellen  Little  Johns  Grab  streiten  sich  England  und  Irland. 
A.  Kuhn,  in  Haupts  Zeitschrift  5,  472 — 494.      Der   Name  Hood 
und    Hooden  ist    weichere    Aussprache    für   Woden;    der   Name 
Robin  ist  Robert  der  Rothe;   Ruodperaht,  der  Glänzende,  ist  ein 
Beiname  Odhins. 

Eine  Verjüngung  dieser  alt- englischen  Weidmannssage  ist 
William  of  Cloudesly,  der  mit  Adam  Bei  und  Clym  of  the 
Clough  als  geächteter  Wilddieb  in  einem  Walde  bei  Carlisle  lebte, 
zuletzt  sich  unterwarf  und  auf  Bitten  der  Königin  begnadigt 
wurde.  Um  dem  Könige  einen  Beweis  seiner  Geschicklichkeit  zu 
geben,  erbot  er  sich  freiwillig,  seinem  eignen  siebenjährigen  Sohne 
auf  eine  Entfernung  von  120  Schritt  einen  Apfel  vom  Kopfe  zu 
schiessen,  thafs  und  wurde  dafür  in  die  königliche  Leibgarde  auf- 
genommen. Cloudesly's  Schuss  ist  sprichwörtlich  geworden  und 
findet  sich  in  Shakespeare  s  Werken  und  anderen  Schriften  Eng- 
lands häufig  erwähnt  (vgl.  Ideler,  Schuss  des  Teil,  S.  55  ff.).  Die 
'  Sage  selbst  liegt  in  einer  alt-englischen  Ballade  vor,  deren  drei 
Theile  682  Reimverse  halten:  Percy,  Reliques  of  ancient  English 
Poetry  I,  143  ff. 

Der  mythische  Serben held  Milosch  wirbt  um  die  La- 
teinerbraut in  der  Veste  Ledjan  und  gewinnt  sie  nach  der  be- 
standenen Probe,  dass  sein  Pfeilschuss  durch  einen  Ring  trifft  und 


^e  ^*    ^Cf  Sagenkreis  von  Teil. 

den  Apfel  dahinter  von  der  Lanzenspitze  herabschiesst.  Grerhard, 
Serb.  Volksl.  i,  S.  148. 

Das  ehstnische  Märchen  vom  Treffschützen  spielt  zwischen 
den  drei  Heldenbrüdem  Glückshand,  Scharfauge  und  Langbein, 
oder  ehstnisch  Pickjalg,  Osawkäp  und  Terawsilm.  Da  war  einer 
Königstochter  Hand  Demjenigen  zum  Lohn  versprochen,  der 
i)  die  schnellfussige  grosse  Elennkuh  einen  Tag  über  hüten  und 
bei  Sonnenuntergänge  wieder  in  den  Stall  zurückbringen  würde; 
2)  Abends  das  Burgthor  verriegeln  und  3)  einem  auf  hohem  Berge 
Stehenden  Manne  den  Apfel  aus  dem  Munde  schiessen  könnte, 
den  dieser  mit  den  Zähnen  am  Stengel  gefasst  hielt.  Das  erste 
Probestück  erforderte  Schnelligkeit,  denn  die  Elennkuh  durchlief 
den  Raum  von  Sonnenaufgang  bis  -Untergang  an  Einem  Tage. 
Beim  zweiten  war  Zauberei  im  Spiel;  denn  eine  Hexe  hatte  sich 
zum  obersten  Thorriegel  verwandelt,  und  war  der  Schliesser  mit- 
tels einer  Leiter  zum  Thorriegel  hinauf  gestiegen,  so  packte  dieser 
die  zugreifende  Hand  mit  riesiger  Kraft  und  Hess  den  armen 
Mann  bis  zum  nächsten  Morgen  baumeln,  wie  .einen  Klöppel  in 
der  Glocke.  Beim  dritten  Probestücke  galt's  Schützenkunst.  Da 
nun  je  ein  Einzelner  alle.dreie  bestehen  musste,  um  den  Preis  zu 
erringen,  so  verschafften  sich  die  Brüder  eine  gemeinsame  Staats- 
kleidung, erschienen  darin  der  Reihe  nach,  und  da  sie  als  Einer 
Mutter  Söhne  an  Miene  und  Gestalt  sich  sehr  ähnlich  waren,  so 
ward  der  Betrug  nicht  bemerkt.  Langbein  übernahm  am  ersten 
Tage  das  Hirtengeschäft,  schlang  der  Elennkuh  einen  tüchtigen 
Strick  um  den  Hals,  lief  ein  gutes  Stück  mit  ihr  um  die  Wette, 
und  als  er  sich  ausser  dem  Bereiche  der  nachschauenden  Blicke 
wusste,  schwang  er  sich  dem  Thiere  auf  den  Rücken  und  Hess 
sich  rittlings  den  Tag  über  schleppen.  Erst  Abends,  unweit  der 
Königsburg,  verliess  er  seinen  Sitz  und  führte  die  Widerspenstige 
in  den  Stall. 

Das  Pförtnergeschäft  übernahm  am  folgenden  Abende  Glücks- 
hand. Die  Bewandtniss  mit  dem  verzauberten  Thorriegel  war 
ihm  bekannt.  Daher  Hess  er  beim  Schmiede  eine  eiserne  Hand 
schmieden,  machte  sie  rothglühend  und  bestieg  dann  die  Leiter, 
um  den  Riegel  vorzuschieben.  Als  der  Hexenriegel  die  glühende 
Eisenhand  erfasste,  brüllte  er  laut  vor  Schmerz.  Da  hatte  im 
Augenblicke  Glückshand  den  Riegel  gestossen  und  das  Burg- 
thor war  verschlossen.  >. 

Am  dritten  Tage  kam  die  Reihe  an  Scharfauge  mit  dem 


2.  Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.        ai 

Meisterschusse.  Der  Apfelhalter  auf  dem  Berge  war  über  das 
Gelingen  der  beiden  Werke  erbost  und  suchte  dem  Schützen  die 
Arbeit  dadurch  zu  erschweren,  dass  er  jetzt  den  Apfel  nicht  mehr 
am  Stengel  zwischen  den  Zähnen  hielt,  sondern  bis  zur  Hälfte  in 
den  Mund  nahm.  Diese  Bosheit  half  ihm  aber  nichts.  Scharf- 
auge zielte  richtig,  sein  Pfeil  traf  den  Apfel  in  der  Mitte  und  riss 
dem  Manne  an  beiden  Mundwinkeln  noch  ein  Stück  Fleisch  mit 
fort.  Das  Glücksloos  machte  hierauf  den  Schützen  zum  Eidam 
des  Königs;  die  zwei  Brüder,  reichlich  beschenkt  für  ihre  Mit- 
wirkung, wanderten  in  die  Feme  und  versuchten  ihr  Glück  ander- 
wärts. —  Das  Inland.  Wochenschrift  für  Liv-,  Ehst-  und  Kur- 
land.   No.  39,  24.  Sept.  56,  S.  630. 

Die  bisher  angeführten  Beispiele  zeigen,  dass  die  Sage  vom 
Apfelschuss  in  folgenden  Ländern  und  zwar  schon  in  deren  Vor- 
zeit bekannt  gewesen  ist:  Indien,  Arabien,  Persien,  Westfalen, 
Island,  Dänemark,  Norwegen  (hier  ist  eine  Haselnuss,  eine  Schach- 
figur und  ein  Täfelchen  das  dreifache  Ziel),  Schweiz,  Holstein, 
England,  Serbien,  Ehstland.  An  der  blossen  Möglichkeit  des 
Factums  ist  durchaus  nicht  zu  zweifeln ;  unsere  Jetztzeit  sogar  weist 
mehrere  ganz  gleichnamige  Tellenschüsse  auf.  Erich  von  Schön- 
berg berichtet  in  seinem  Reisewerke,  Patmakhanda  i,  194,  von 
der  Schützenkunst  der  indischen  Shyks  und  der  Dalib-Singhs ;  der 
Reisende  Hess  je  vier  und  fünf  Orangen,  an  einen  Faden  befestigt, 
an  einen  Stab  frei  aufhängen  und  auf  eine  Entfernung  von  sechzig 
Schritt  mit  Pfeilen  darnach  schiessen;  Einem  gelang  es,  zwei 
Orangen  zu  treffen.  Hammer-Purgstall ,  Abhandl.  in  der  Wiener 
Akad.  d.  Wissensch.,  März  1851.  Aehnliches  erzählt  Th.  Bade's 
Buch  »der  Skalpjäger«  1857.  S.  91,  92;  da  schiesst  ein  Indianer 
mit  der  Büchse  einem  Indianermädchen  einen  Prärie-Kürbis  von  der 
Grösse  einer  Citrone  so  vom  Haupte,  dass  er  in  Stücke  fliegt, 
indess  die  Kugel  in  den,  Baum  fahrt,  an  welchem  das  Mädchen 
gelehnt  steht.  Pfannenschmid,  Der  mythische  Gehalt  der  Tellsage, 
1865,  S.  25.  Ein  Leineweber  in  der  Rheinpfalz  wurde  1853  vom 
Polizeigerichte  zu  Speier  »wegen  verbotenen  Schiessens«  zu  sieben 
Gulden  Geldstrafe  und  fünftägigem  Gefangnisse  verurtheilt,  weil 
er  seinem  Knaben  erst  ein  Blatt  Papier  aus  der  Hand  und  wieder- 
holt dann  eine  Kartoffel  (also  einen  »Erdapfel«)  vom  Kopfe  herab 
geschossen  hatte.  Der  letztere  Schuss  war  vor  Zeugen  geschehen 
und  des  Abends,   wobei  der  Knabe  der  Dunkelheit  wegen  eine 


42  !•  jDcr  Sagenkreis  von  Teil. 

Laterne  hatte  halten  müssen.  AUgem.  Augsb.  Ztg.  1853,  No.  82. 
Köln.  Ztg.  vom  24.  Jan.  1853.    Pfannenschmid  1.  c.  S.  25. 

Es  folgen  nun  solche  Treffschüsse,  deren  vorgeschriebenes 
Ziel  durch  einen  Thür-,  Arm-  oder  Fingerring  zu  gehen  hat;  sie 
gehören  nach  Hellas,  Indien,  Persien,  Skandinavien,  an  den  Mittel- 
rhein und  nach  Italien. 

Sarpedon,  ein  aus  Zeus'  Geschlechte  stammender  Heros, 
wurde  als  Kind  zum  Schussziele  hingestellt  und  ihm  ein  Ring  von 
der  Brust  geschossen,  eine  That,  welche  den  Erwerb  des  Lyrischen 
Königreiches  zur  Folge  hatte.  Eustathius,  Comment.  in  Homeri 
Iliad.  12,  Vers  lom 

Alexander  d.  Gr.  befiehlt  einem  berühmten  indischen 
Bogenschützen ,  mit  dem  Pfeile  durch  •  einen  kleinen  Ring  zu 
schiessen  und  lässt  ihn,  da  er  sich  des  Schusses  weigert,  zur  Hin- 
richtung abführen.  Da  der  Verurtheilte  im  Weggehen  äussert,, 
er  habe  den  Schuss  manche  Tage  nicht  mehr  geübt  und  deshalb 
des  Königs  Willen  jetzt  nicht  erfüllt,  um  nicht  fehlzuschiessen,  so 
begnadigte  ihn  der  König  sogleich  und  beschenkte  ihn  noch  oben- 
drein.    Nach  Arrian. 

Alkon  der  Kretenser  sieht,  wie  sein  Söhnlein  Phaleros 
von  einem  feindlichen  Drachen  überfallen  und  umstrickt  ist,, 
nimmt  Bogen  und  Pfeil,  zielt  »durch  die  Umringelungen«  und 
trifft  über  der  Scheitel  des  Knäbleins  in  den  Rachen 
des  Thieres.  Griech.  Anthologie.  Auf  diese  Mythe  bezieht  sich 
schon  Stephanius  in  seinen  Noten  zur  Tokosage,  Commentar  zu 
Saxo  Gramm.  184,  pag.  204. 

Ein  Perserkönig  trug  einen  kostbar  gesteinten  Fingerring  und 
liess  ihn  auf  der  Kuppel  des  Adhad  befestigen  mit  der  Weisung, 
wer  einen  Pfeil  durch  denselben  schösse,  dem  solle  das  Kleinod 
gehören.  Vierhundert  Schützen  versuchten  es.  Alle  fehlten.  In 
derselben  Zeit  schoss  ein  Knabe,  spielend  auf  dem  Dache  der 
Karawanserai,  Pfeile  nach  allen  Zufallsrichtungen  hin,  und  einen 
derselben  trieb  der  Ostwind  durch  den  Ring.  Derselbe -wurde 
ihm  ^  daher  auch  zugesprochen  und  noch  eine  grosse  Summe 
Geldes  dazu.  Hierauf  verbrannte  er  Bogen  und  Pfeil  und  ant- 
wortete den  darüber  Fragenden:  Damit  mein  erster  Ruhm  mir 
lebenslang  bleibe,  soll  dies  mein  erster  und  letzter  Schuss- sein. 
Sadi's  Rosengarten,  übers,  von  Graf  1861,  125.  Russische  Er- 
zählung in  Elisa  Kulmanns  SämmtL  Ged.  1857,  S.  680. 

Punker   von  Rorbach,   bei  Heidelberg,    schiesst   seinem 


2,  Bogen  u.  Pfeil.     Apfel,  Nuss,  Ring  «,  Münze.    Freischützen  etc.        ax 

Knäblein  auf  fürstlichen  Befehl  einen  Denar  von  der  Mütze, 
nai::hdem  er  einen  Ersatzpfeil  in's  GoUer  gesteckt  hat,  und  stösst, 
hierüber  befragt,  das  schon  bekannte  Drohwort  aus.  Dies  hat 
sich  im  Jahre  1420  begeben.  Derselbe  schiesst  dann  vom  Thore 
der  belagerten  Burg  Lindelbrunn  den  Ring  ab  und  hängt  ihn  an 
sein  eignes  Wohnhaus  zu  Rorbach.  Das  Weitere  hierüber  behan- 
delt der  nachfolgende  Abschnitt:  Teil  als  Zauberschütze.  Der 
Germane  sah  in  dem  am  Tempelthore  hangenden  Ringe  ein  Weih- 
stück des  hier  verehrten  Gottes,  darunl  berichtet  die  Atla-qvidha, 
Str.  31,  dass  man  auf  Ullr's  Tempelring,  »at  hringi  Ullar«,  Schwüre . 
abgelegt  habe.  Haupt,  Zeitschr.  8,  201.  Nach  der  schwedischen 
Sage  von  Oedmans  Bahuslän  224  erlegt  der  Gebirgschütze  Swen 
einen  weissen  Steinbock,  der  einen  Ring  um  den  Hals  trug,  ent- 
geht dabei  den  Verfolgungen  der  Berggeister  und  stiftet  hierauf 
seine  ganze  Jagdbeute  an  die  Kirche.  Der  Halsring  bildete  bis 
zum  Jahre  1732  den  Ring  an  der  Myklebyer  Kirchthüre  und  ist 
von  unbekanntem  Metall,  das  Bockshorn  verwahrte  man  in  der 
Torpkirche,  das  Fell  in  der  Langelandkirche.    Grimm,  Myth.  426. 

Ueber  die  in  der  Märchen-Literatur  auftretenden  Treff- 
schützen hat  R.  Köhler  1872  in  Brockhaus'  Kritischen  Anzeigen 
schätzbare  Mittheilungen  gegeben;  nachfolgendes  ist  denselben 
auszugsweise  entnommen. 

Die  Novella  dell  Fortunato  ist  1869  zu  Livorno  von  Giov. 
Papanti  nach  einem  Drucke  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert 
herausgegeben  worden.  Der  Inhalt  ist  folgender.  König  Ricardo 
hatte  sein  Reich  in  drei  Theile  getheilt  und  es  seinen  drei  hei- 
ratsfähigen Töchtern  übergeben  gehabt,  als  er  wider  Erwarten 
noch  eine  vierte  Tochter  bekam.  Da  nun  diese  heiraten  sollte, 
erklärte  sie,  wenn  sie  nicht,  wie  ihre  drei  Schwestern  einen  König 
zum  Manne  bekäme,  so  wolle  sie  nur  den  heiraten,  der  sie  im 
Wettlauf  besiege.  Verschiedene  ritterliche  Bewerber  traten  auf, 
jivurden  aber  besiegt  und  hingerichtet.  Denn  Prudentia  war  nicht 
bur  eine  ausserordentlich  schnelle  Läuferin,  sondern  sie  besass  auch 
ein  wunderbares  wohlriechendes  Wasser,  mit  dem  sie  die,  welche  ihr 
Im  Wettlaufe  nahe  kamen,  bespritzte,  so  dass  sie  ohnmächtig  hin- 
fielen. Da  kamen  drei  Gesellen  mit  wunderbaren  Eigenschaften 
an  den  Hof.  Der  Eine  hiess  Tiritirante  (Schiessdenschützen)  und 
schoss  mit  seinem  Bogen  drei  Meilen  weit,  ohne  das  Ziel  zu 
fehlen ;  der  Andere  hiess  Vedividante  (Guckhintenundvorn)  und 
sah   fünf  Meilen  weit;    der  Dritte   hiess  Coricorante  (Springmir- 


44  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

nichtnach)  und  lief  so  schnell  wie  ein  Vogel  fliegt.  Coricorantc 
unternahm  es,  mit  der  Königstochter  um  die  Wette  zu  laufen. 
Auch  ihn  bespritzte  sie  mit  dem  Wasser,'  und  er  fiel  ohnmächtig 
um.  Das  sah  aber  Vedividante  sofort  und  sagte  es  seinem 
Freunde  Tiritirante,  der  alsbald  einen  Pfeil  auf  Coricorante  abschoss, 
ihn  ohne  Verletzung  traf  und  dadurch  erweckte ;  so  dass  er  der  Kö- 
nigstochter nacheilte,  sie  überholte  und  vor  ihr  das  Ziel  erreichte. 

Man  vergleiche  Grimm,  K.-M.  No.  71;  Ey,  Harzmärchen- 
buch S.  116,  und  das  Märchen  »Belle-Belle  ou  le  Chevalier  For- 
tune« von  der  Gräfin  d'Aulnoy.  Auch  in  diesen  Märchen  kommt 
ein  Wettlauf  mit  einer  Königstochter  vor,  wobei  der  Läufer  ein- 
schläft, aber  durch  einen  Schuss  oder  Wurf  noch  zeitig  genug  er- 
weckt wird,  um  vor  der  Prinzessin  das  Ziel  zu  erreichen.  Bei 
Grimm  (K.-M.)  und  Ey  (Harzmärchen)  schläft  er  ein,  indem  er 
etwas  ausruhen  will,  da  er  einen  bedeutenden  Vorsprung  hat ;  bei 
der  Gräfin  d'Aulnoy  in  Folge  eines  Trankes,  den  ihm  die  Prin- 
zessin vor  Beginn  des  Laufes  gereicht  hat.  Bei  Grimm  gewahrt 
der  scharfsehende  Jäger,  dass  der  Läufer  schläft  und  weckt  ihn 
durch  einen  Schuss ;  bei  Ey  weckt  ihn  der  Starke  durch  einen 
Steinwurf,  nachdem  der  Scharfäugige  gesehen  hat,  dass  er  schläft; 
und  bei  der  Gräfin  d'Aulnoy  hört  Feinohr  den  Läufer  schnarchen 
und  der  Schütze  erweckt  ihn  durch  einen  Pfeilschuss.  In  Basile's 
Pentamerone  III,  8  wird  der  Läufer  Furgolo  (Blitz)  durch  einen 
Ring  mit  einem  Zauberstein  festgemacht,  bis  der  Armbrustschütze 
Cecadiritto  (Triflfgut)  ihm  den  magischen  Stein  vom  Fingerring 
schiesst.  Es  giebt  noch  andere  Märchen,  in  denen  ein  einge- 
schlafner  Läufer  durch  einen  weittreffenden  Schützen  oder  Schleu- 
derer erweckt  wird,  um  dann  binnen  einer  vorbestimmten  Frist  Etwas 
herbei  zu  holen. 

Von  hier  an  sollen  diejenigen  Treffschüsse  erzählt  werden, 
die  nicht  allein  durch  des  Pfeilschützen  Kunst,  sondern  mehr 
durch  das  magische  Vermögen  seiner  Zauberpfeile  gelingen.  Der 
indische  Schütze  Cabdavedhi  (sanskritisch  vedhi  ist  altnordisch 
veidhi.  Fang  und  Jagd)  braucht  nur  den  Gegenstand  zu  nennen, 
den  er  treffen  will.J  Kuhn,  Westf.  Sag.  i,.No.  376.  In  den  Ta- 
tarischen Heldensagen  (erzählt  von  Castren,  Die  Altai- Völkeri 
1857,  P^S-  215)  besitzt  Katai-Chan  einen  Goldpfeil,  der  lebend  ist,! 
über  sieben  Länder  fliegt  und  da  Alles  tödtet;  dann  kehrt  er  zum 
Schützen  zurück,  aber  weder  Eisen  noch  Stein  kann  ihn  im  Rück- 
laufe hemmen   und   er  wird   auch  in  der  Heimat  noch  die  Leute 


2.    Bogen  u.  Pfeil«    Apfel,  Nuss,  Ring  u.  Münze.    Freischützen  etc.        At 

niederschiessen ,  wenn  Katai-Chan  nicht  zuvor  unter  den  Huf 
seines  Lieblingsrosses  einen  Stein  gelegt  hat.  Drauf  stösst  der 
Pfeil  gegen  den  Huf,  prallt  neun  Klafter  zurück,  bleibt  liegen  und 
kann  wieder  in  den  Goldköcher  gethan  werden.  Des  finnischen 
Wäinämöinens  Bogen  geht  von  selbst  zu  Walde  auf's  Weidwerk. 
Schiefner,  Uebersetzung  der  Kalewala  15,  Vers  371.  Nach  dem 
altfranzösischen  Roman  des  Huon  von  Bordeaux  bedient  der 
jagende  Eibenkönig  Oberon  sich  eines  Pfeiles,  an  dem  augenblick- 
lich, wann  es  der  Eigner  will,  jegliches  Wild  steckt.  W.  Menzel, 
Odhin  S.  162.  Für  die  nordische  Erzählung  mit  demselben  Inhalte 
muss  hier  weiter  ausgeholt  werden. 

Der  Norweger  Kämpe  Odd  ist  unter  dem  Namen  Orvarodd 
berühmt  geworden ;  denn  ör,  Genitiv  örvar,  heisst  Pfeilspitze,  und 
jener  demnach  der  Pfeilodd.  Sein  Vater  war  Grimr  der  Lod- 
wangige  auf  Rafnista  in  Halogaland.  Sobald  Odd  laufen  konnte, 
liess  er  sich  von  allen  Leuten  Geschosse  machen  und  stopfte  sie 
in  den  Balg  eines  dreijährigen  schwarzen  Bockes,  woran  Hörner 
und  Klauen  gelassen  waren.  Das  war  sein  Köcher,  örvarmaelir. 
So  kam  er  ungekannt,  ganz  in  ein  Rindenkleid  gehülli:,  an  den 
Hof  König  Herrands  und  hiess  hier  bloss  der  Rindenmann  (naefra- 
madhr).  Obschon  er  sich  absichtlich  ungeschickt  stellte,  verrieth 
er  doch  auf  einer  Jagd  seine  Schützenkunst  und  nun  wetteten 
Sigurd  und  Siolf,  die  beiden  vornehmsten  und  als  Schützen  nam- 
haften Häuptlinge,  mit  Odds  Bankgenossen,  wer  von  ihnen  besser 
schiesse,  sie  oder  der  Rindenkerl.  Die  Zwei  setzten  einen  Ring 
iiron  einer  halben  Mark  ein,  Odds  Freunde  zwei  Ringe  von  gleicher 
Schwere.  Am  Morgen  nach  dem  Trinken  wird  vor  dem  Könige 
das  Schiessen  gehalten.  Sigurd  hat  den  ersten  Schuss;  sein  Pfeil 
fliegt  unendlich  weit,  und  wo  er  niederfällt,  schlagen  sie  einen 
Spiesschaft  ein,  auf  den  ein  goldnes  Täfelchen  gelegt  wird. 
Hierauf  schiesst  Siolf  die  Tafel  herunter.  Nun  tritt  Orvarodd  vor 
und  schiesst  den  ersten  Pfeil  bis  zur  Stange ;  den  zweiten  schnellt 
er  in  die  Luft,  und  als  er  herabfliegt,  fährt  er  mitten  in  die  Tafel 
und  heftet  sie  an  den  Schaft;  dann  nimmt  er  den  dritten  Pfeil 
und  jagt  ihn  so  weit,  dass  ihn  Keiner  wieder  sah.  So  gewann  er 
unter  allgemeiner  Beistimmung  das  Spiel.  (Weinhold^  Altnord. 
Leben  205.)  Der  Norweger  Ketil  Haeng  hatte  den  berühmtesten 
Bogenschützen  der  Finnen,  den  König  Gusi  besiegt,  erschossen 
und  die  ihn\  abgenommene  Beute  an  Odds  Vater  Grimr  (ein  Bei- 
name Odhins)   gegeben.     Darunter  waren  die   drei  Pfeile,  deren 


aQ  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. . 

Einzelname  Flog,  Hremsa  und  Fifa  war,  und  die  zusammen 
Gusisnaut,  Gusistod,  hiessen.  Es  waren  drei  von  den  Zwergen 
geschmiedete,  mit  Gold  ausgelegte  Zauberpfeile,  die,  nachdem 
sie  jedes  Ziel  erreicht  und  jeden  schussfesten  Mann  weggerafft 
hatten,  immer  wieder  zum  Eigner  zurückkehrten.  'Auf  den  kalten 
Inseln  des  weissen  Meeres  bekämpfte  Odd  mit  diesen  Pfeilen  die 
Riesen;  mit  einem  eigenhändig  im  Walde  gehauenen  Steuerruder 
erschlug  er  die  Strandräuber  und  Wikinger;  in  .  einem  Seiden- 
hemde, dessen  Zaubergewebe  gegen  Feuer  und  Wasser,  gegen 
Eisen  und  Hunger  schützte,  erschlug  er  die  Berserker,  die  den 
Schwertkampf  gegen  ihn  wagten.  So  lange  er  selbst  nicht  vor 
dem  Feinde  wich,  verlor  auch  das  Gewand  nicht  die  schirmende 
Kraft.  Nachdem  er  mit  seinem  Ruhme  die  weite  Welt  erfüllt 
hatte,  soll  er  nach  Jerusalem  gepilgert  und  ein  Christ  geworden 
sein.  Thorföus  fand  bei  Beruri-Odhri  in  Norwegen  noch  Örvar- 
Odds  Grabhügel.  7—  Russwurm,  Nord.  Sagen  322.  Wedderkop, 
Bilder  aus  dem  Norden  2,  39 — 58. 

Der  nächste  und  letzte  Schritt  von  der  blindlings  treffenden 
Zauberwaffe  fuhrt  zum  blinden  Treffschützen,  dessen  Geschichte 
das  Alte  Testament,  Alt-Indien,  die  Edda  und  die  deutsche  Sage 
kennen.  Mit  diesen  fatalistischen  Sagen  erreicht  der  vorliegende 
Abschnitt  sein  Ende. 

Der  Treffschuss   des   Blinden. 

Als  der  Brudermörder  Kain  aus  dem  Lande  flüchtet  und 
über  sein  Geschick  seufzt,  dass  ihn  nun  erschlagen  werde,  wer  ihn 
in  der  Fremde  finde,  tröstet  ihn  Gott  und  spricht:  Nein,  wer 
Kain  todtschlägt,  das  soll  siebenfältig  gerochen  werden.  Hierau 
wohnt  Kain  in  der  Fremde,  zeugt  mit  zwei  Weibern  Kinder, 
deren  fünftes  Lamech  ist,  und  spricht  zu  den  Seinigen:  Höret, 
was  ich  euch  sage :  Kain  soll  siebenmal,  Lamech  aber  siebenund- 
siqbzigmal  gerochen  werden. 

Gleichwohl  wird  dann  Kain  von  Lamech  selbst  erschlagen 
doch  warum  und  auf  welche  Weise  dies  geschehen,  dies  bleib 
im  Alten  Testament  gänzlich  verschwiegen.  Hierüber  giebt  nui 
eine  rabbinische  Säge  Auskunft,  welche  durch  Hieronymus  in  di< 
Glosse  gekommen  und  auch  Comestor  bekannt  gewesen  ist.  Sri 
wird  in  der  Deutschen  Historienbibel  (Ausg.  von  Th.  Mer» 
dorf  I,  S.  123)  also  erzählt: 

Nun  kund  Lamech  wol  schiessen  und  was  blind.     Do  fiii 


2.  Bogen  u.  Pfeil.  .  Apfel,  Nuss,  'Ring  u.  Münze.     Freischützen  etc.        47 

in  ain  kind,  das  sach  Kaym  hinder  oder  under  ainer  dicken 
weckolter-stüden  ligen,  da  hett  sich  Kaym  hinder  verborgen. 
Dahin  zaigt  im  das  kind,  wann  es  wolt  wenen,  es  war  ein  tier. 
Do  schoss  Lamech  in  die  stüden  vnd  ertovt  Kaym  unwissent. 
Do  Lamech  innen  ward,  dass  er  Kaym  ertovt  hett,  do  sprach  er 
zuo  sinen  frowen:  »ich  havn  ainen  Jüngling  unwissent  ertött,  der 
hiess  Kaym.  Die  ravch  ist  sybenvältig,  wann  ich  bin  der  sybend 
man  nach  im,  und  die  ravch  umb  die  sünd,  das  ich  Kaym  ertött 
jTiän,  Wirt  sybenzigvaltig].  Das  geschah  in  der  sündtfluot:  do 
verdurbent  die  sybentzig  geschlächt,  die  von  Lamech  kament. 

Zunächst  ist  man  hier  erinnert  an  den  vom  blinden  Hödur 
herbeigeführten  Tod  Baldurs.  Nach  der  Eddaischen  Erzählung 
fühlen  sich  die  Äsen  durch  böse  Träume  beunruhigt,  die  ihnen 
des  Jugendgottes  Baidur  Leben  zu  bedrohen  scheinen.  Die 
Göttermutter  beeidigt  darum  alle  Elemente  und  Dinge:  Steine, 
Pflanzen,  Erze,  Thiere,  Krankheiten,  dass  sie  sein  schonten. 
Hierauf  beruhigt,  spielten  die  Götter  mit  ihm,  schössen,  hieben 
und  warfen  nach  ihm,  und  was  sie  auch  thaten,  es  schadete  ihm 
nicht.  Nur  Hödur  spielte  nicht  und  blieb  ausserhalb  des  Kreises 
stehen,  denn  er  war  blind.  Da  fragte  ihn  Loki:  warum 
schiessest  du  nicht  nach  Baidur  und  erbietest  ihm  Ehre,  wie  alle 
Andern  thun?  und  jener  antwortete:  Weil  ich  nicht  sehe,  wo 
er  steht,  und  weil  ich  keine  Waffe  habe.  Da  wies  Loki  ihn  gegen 
Baidur,  gab  ihm  einen  Mistelzweig,  lenkte  des  Blinden  Hand, 
dieser  schoss  und  durchbohrte  mit  dem  schwachen  Reis  den  Gott, 
dass  er  leblos  hinstürzte.  Denn  damals,  als  alle  Dinge  schwuren, 
hatte  man  die  junge,  nur  im  Winter  wachsende  Mistelstaude  allein 
nicht  mit  in  Eid  genommen.  Obwohl  Hödur  unschuldig  an  der 
That  ist,  muss  hierauf  an  ihm  des  Gefallenen  jüngster  Bruder  so- 
gleich die  Blutrache  üben,  allein  dadurch  konnten  weder  die 
Götter  noch  die  Menschen  von  dem  letzten  Verderben  mehr  ge- 
rettet werden.  Alle  Äsen  alterten  von  Stund  an  und  der  unver- 
meidliche Untergang  der  Welt  nahte.  Die  Rolle,  die  in  der  Edda 
■dem  Blinden  zukommt,  ist  im  Nibelungenmythus  auf  den  Ein- 
äugigen übertragen,  und  wie  dorten  das  Mordwerkzeug  die  Mistel, 
so  ist  es  hier  der  Dorn.  Der  Nibelunge  Hagen  trägt  seinen 
Namen  vom  stechenden  Dorn  und  ist  einäugig,  er  hatte  das  rechte 
im  Zweikampfe  mit  Walthari  verloren.  Obschon  Siegfried  durch 
das  Bad  im  Drachenblute  unverwundbar  geworden  ist  bis  auf 
eine  kleine   geheime  Körperstelle,    so  weiss  Hagen  diese  gleich- 


a8  I«    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 


^ 


wohl  zu  erfragen  und   zu   treffen;    rücklings  von  Hagens  Speer 
durchschossen,  endet  Siegfried, 

Die  fünfte  Erzählung  des  Sanskrit-Romans  Vetala-pantscha- 
Vintschati  (übersetzt  von  Luber,  Görz  1875)  handelt  von  der 
Tochter  des  Ministers  Haridasa,  um  welche  drei  Brahmanen 
gleichzeitig  freien.  Ihrer  jedem  wird  erwiedert,  nur  einem  solchea 
könne  man  sie  vermählen,  der  im  Besitze  besonderer  Eigenschaf- 
ten ist.  Sogleich  will  ich  den  Beweis  liefern,  antwortete  der  erste 
Werber,  bestieg  mit  dem  Minister  einen  von  ihm  selbst  gemach- 
ten Wagen,  welcher  die  Eigenschaft  besass,  durch  die  Luft  zu 
fahren,  und  so  fuhren  sie  Beide  zur  Tochter  heim.  Hier  aber 
trafen  sie  schon  den  zweiten  Werber,  einen  Zauberer,  der  sich 
unsichtbar  machen  konnte,  und  dazu  den  dritten,  einen  Tschabda- 
vedhin ;  dies  bezeichnet  einen  Schützen,  welcher  den  zu  treffenden 
Gegenstand  gar  nicht  zu  sehen,  sondern  nur  die  Richtung  zu 
wissen  braucht,  nach  welcher  er  das  Geschoss  zu  senden  hat. 
Allein  während  nun  die  Drei  sich  um  das  Mädchen  stritten, 
war  dieses  über  Nacht  durch  einen  Dämon  auf  das  Vindhya- 
Gebirge  entführt.  Nun  nahm  der  Zauberer  seine  Kreide  und 
rechnete  den  Ort  im  Gebirge  heraus,  wohin  das  Mädchen  ent- 
führt war;  der  Schütze  fuhr  mit  dem  ersten  Werber  in  dessen 
durch  die  Lüfte  gehendem  Wagen  an  den  bestimmten  Platz  und 
erlegte  dorten  den  unsichtbaren  Dämon,  hob  das  Mädchen 
in's  Fuhrwerk  und  brachte  es  zurück. 

Der  rheinische  Ritter  von  Fürsteneck  ist  des  von  Saneck 
Gefangener  geworden  und  wird  beim  Gastmahl  hereingeschleppt, 
um  als  berühmter  Bogenschütze  dem  Sanecker  und  den  Gästen 
eine  Probe  zu  geben;  mit  verbundenen  Augen  soll  er  einen 
Silberbecher  von  der  Tafel  schiessen.  Der  Fürstenecker  legt  an 
und  erlegt  mit  dem  ersten  Pfeile  seinen  Feind.  Schreiber,  Rhein. 
Sagen  2,  No.  33. 


IIL 

Die  Eigil-  und   Tokosage  in  Skandinavien 
und   die  Sage  von  der  Einw^anderung  der 

SchAveizer  aus  Schw^eden. 


Die  Sage  von  Wieland  dem  Schmied  und  seinem  jüngeren 
Bruder  Eigel  reicht  in  das  höchste  Alterthum'  hinauf,  wie  das 
dem  sechsten  Jahrhundert  angehörende  eddische  Lied  Völundar- 
kvidha,  Lied  von  Schmied  Wieland,  und  die  unzweifelhaft  frühe 
Verbreitung  desselben  Mythus  unter  den  Angelsachsen  bezeugt. 
Wilh.  Grimm  und  Rassmann  (Deutsche  Heldensage  II,  212)  be- 
zweifeln daher  nicht,  dass  einst  ein  selbständiges  Wielands-Epos 
bestanden  habe,  von  welchem  jenes  eddische  Lied  und  die  Er- 
zählungen in  der  Vilkinasaga  nur  Ueberreste  sind  und  dessen 
Grundgedanke  sein  musste :  dass  Wielands  göttliche  Natur  durch 
sich  stets  steigernde  Missgeschicke  und  Misshandlungen  in  immer  wun- 
derbareren Kunstschöpfungen  allmählich  zur  Erscheinung  kommt. 
Der  deutsche  Ursprung  ergiebt  sich  —  so  erweist  Rassmann  — 
theils  aus  der  nach  Deutschland  hinweisenden  Heimat  der  Wielands- 
sage;  theils  daraus,  dass  ihre  in  der  eddischen  und  der  angel- 
sächsischen Bearbeitung  niedergelegten  Bestandtheile  sich  in  unsern- 
'  mittelhochdeutschen  Dichtungen  wiederfinden;  insbesondere  aber 
^us  der  Vilkina,  in  deren  Prologus  es  wörtlich  heisst:  »Diese  Saga 
ist  zusammengesetzt  nach  der  Erzählung  deutscher  Männer,  aber 
zum  Theil  aus  ihren  Liedern,  womit  man  vornehme  Männer  unter- 
halten soll  und  die  in  alter  Zeit  gedichtet  wurden,  gleich  nach 
den  Begebenheiten,  welche  in  dieser  Saga  erzählt  werden.  Und 
wenn  du  einen  Mann  aus  jeder  Burg  in  ganz  Sachsland  nimmst, 
so  werden  Alle  diese  Saga  auf  dieselbe  Weise  erzählen :   das  be- 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  4 


so 


I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 


wirken  aber  ihre  alten  Lieder.«  Abermals  Kapitel  394  beruft 
sich  sodann  der  Verfasser  bezüglich  des  Nibelungenkampfes  auf 
die  mündlich  empfangnen  Erzählungen  westfälischer  Männer  aus 
Soest,  welche  die  Stätten  noch  unzerstört  gesehen  haben,  wo 
sich  jener  Kampf  ereignete,  sowie  auf  Männer  aus  Münster  und 
Bremen,  deren  Berichte  sowohl  unter  einander,  als  auch  mit  jenen 
übereinstimmten :  »Auch  ist  das  meist  dem  gemäss,  was  alte  Lieder 
in  deutscher  Zunge  sagen,  welche  weise  Männer  über  die  grossen 
Begebenheiten,  die  sich  in  ihrem  Lande  zugetragen,  gedichtet 
haben.« 

Die  Wieland-Eigelsage ,  nach  dem  Berichte  der  Edda  und 
Vilkina  hier  in's  Kürzere  zusammen  gedrängt,  ist  folgenden 
Inhaltes : 

Wato,  in  dessen  Namen  derjenige  Wuotans,  und  in  dessen 
ursprünglichem  Wesen  auch  die  höhere  Gestalt  eines  Gottes  ver- 
borgen liegt,  der  das  erste  Seeboot  baut,  das  erste  Hom  erfindet 
und  der  Heilkunst  Meister  ist,  sinkt  in  der  Sage  zum  Riesensohne 
der  Meerminne  Wachilt  herab  und  lebt  mit  einem  Meerweibe  auf 
Seeland.  Einst  von  einer  langen  Fahrt  ermüdet,  hatte  er  sich 
am  Wege  niedergelegt  und  schlief  so  fest  und  lange,  dass  von 
seinem  Schnarchen  ein  starker  Regen  entstand.  Darüber  löste  sich 
oben  im  Berge  eine  Klippe  los  mit  Holz,  Gestein  und  Staub  und 
begrub  den  Riesen.  Er  hatte  mit  dem  Meerweibe  drei  Elfensöhne 
erzeugt:  Slagfidr  (der  Befiederte),  der  beste  in  der  Heilkunde; 
Wieland,  der  kunstreichste  Schmied;  Eigil,  der  berühmteste 
Bogenschütze.  Nach  Wild  jagend  kamen  die  Dreie  auf  ihren 
Schlittschuhen  in's  Wolfthal  gefahren,  blieben  da  und  bauten 
sich  am  Wolfsee  Häuser.  Eines  Morgens  früh,  als  sie  zum 
Wasser  giengen,  fanden  sie  am  Strande  drei  Jungfrauen,  die  sassen 
und  spannen  köstlichen  Lein.  Es  waren  drei  Schwestern,  krie- 
gerische Schwanenjungfrauen,  die  über  den  Schwarzwald  herge- 
flogen waren  und  ihre  Schwanenhemden  eben  abgelegt  hatten. 
Die  drei  Brüder  bemächtigten  sich  dieser  Gewänder,  dass  die 
Jungfrauen  nicht  entschweben  konnten,  führten  sie  heim  und  ver-, 
mahlten  sich  ihnen.  Slagfidr  nahm  die  Swanwit  (Schwanweiss), 
Wieland  die  AUwit  (Allwissende),  Eigel  die  Aelrun  (Alraun),  und 
so  waren  die  Dreie  mit  den  Gewändern  ihrer  Frauen  nun  selber 
des  Zauberfluges  mächtig.  Nachdem  sie  sieben  Jahre  einträchtig 
zusammen  gelebt,  begannen  im  achten  die  Frauen  zu  trauern  und 
nach   ihrer  Heimat    in  den  Schwarzwald  sich  zurück  zu  sehnen, 


3-    Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc,  5I 

im  neunten  entflohen  sie  den  Männern.  Nun  war  auch  diesen  die 
Halle  leer  und  freudenlos  und  sie  trennten  sich.  Eigil  fuhr  aus 
nach  Osten,  um  Aelrun,  und  Slagfidr  nach  Süden,  um  Swanwit 
-zu  suchen.  Wieland  aber,  im  Vertrauen,  dass  AUwit  ihn  nicht 
•gänzlich  verlassen  habe,  sondern  wieder  heimkehren  werde,,  ver- 
blieb in  Wolfsthalen ,  schmiedete  rothe  Goldringe  und  legte,  fun- 
Tcelndes  Edelgestein  hinein.  Die  Kunde  von  diesen  Kostbarkeiten 
drang  an  den  Hof  des  Schwedenkönigs  Nidung  (der  Neidische)  *), 
•er  Hess  den  Kunstschmied  im  Schlafe  überfallen,  fesseln  und  in 
die  Hofburg  schleppen,  um  die  Quelle  seines  Goldes  zu  erfahren. 
Auch  der  Schätze  bemächtigte  er  sich,  darunter  waren  sieben- 
hundert Goldspangen  an  Einer  Schnur,  das  Schwert  Miming, 
dessen  Schärfe  selbst  einen  auf  dem  Wasser  schwimmenden  WoU- 
ik)cken  zerschnitt,  und  ein  Ring  mit  dem  Siegstein,  durch  dessen 
Besitz  man  überall  siegte.  Der  Gefangene  hatte  von  nun  an  für  die 
fürstliche  Schatzkammer  zu  arbeiten,  als  aber  die  Königin  ob  dem 
Feuer  seines  Blickes  erschrak  und  Entweichungsplane  argwöhnte, 
liess  ihm  Nidung  die  Sehnen  der  Knöchel  lähmen,  er  musste  an 
Krücken  gehen  und  war  übel  gehalten.  Doch  dies  Elend  währt 
nur  so  lange ,  bis  er  sich  ein  goldnes  Fluggewand  zurecht  ge- 
schmiedet hat ;  alsdann  vergilt  er  das  Erlittene  mit  gleicher  Grau- 
samkeit. Die  habsüchtige  Königstochter  Bödwilde  lockte  er  mit 
einem  Ringe  heimlich  zu  sich,  bezechte  sie  mit  Meth  und  that  ihr 
Gewalt  an;  die  zwei  jungen  Königssöhne  liess  er  zusammen  in 
seine  Truhe  nach  dem  Geschmeide  schauen,  dann  schlug  er  über 
ihnen  den  Eisendeckel  zu,  dass  die  Köpfe  in  den  Kasten  roll- 
ten. Als  dies  Alles  geschehen  und  in  der  Stille  auch  Bruder 
Eigil  davon  benachrichtigt  war,  legte  Wieland  das  dädalische 
Flügelkleid  an,  schwang  sich  in  die  Luft,  flog  auf  den  höch- 
sten Schlossthurm,  höhnte  auf  Nidung  herab,  der  aussen  auf 
dem  Gesims  der  Halle  sass,  und  enthüllte  ihm  den  Tod  seiner 
Söhne.  In  diesem  Augenblicke  tritt  Eigil  in  den  S'chlosshof,  erhält 
Nidungs  Befehl,  den  entfliehenden  Bruder,  ehe  dieser  sich  vollends 
in  die  Wolken  erhebe,  zum  Schussziele  zu  nehmen,  und  zu  noch 
grösserer,  schon  voraus  verabredeter  Rache  gehen  die  Gebrüder 
darauf  ein.     Eigil  schiesst  nach- Wieland  und  trifft  mit  dem  Pfeile 


♦)  Nidudr,  König  von  Schweden,  nennt  ihn  die  Völundarkvidha ;  Nithhad 
heisst  er  in  der  angelsächsischen  Sage;  Nidung,  König  in  dem  Theile 
Jütlands,  der  jetzt  Thy  heisst,  nennt  ihn  die  dänische  Sage. 


4* 


C2  I-   "^^  Sagenkreis  von  Teil. 

in  eine  Blase,  die  Wieland  mit  dem  Blute  der  Königssöhne  gefüllt 
unter  dem  linken  Arme  verborgen  hat,  und  so  wird  der  grausame 
König  Augenzeuge,  wie  seiner  Kinder  Blut  zum  zweitenmale  fliesst^ 
er  erkrankt  und  stirbt  bald  darauf.  Wieland  flog  heim  nach  Seelands 

[Von  dieser  und  der  nun  nachfolgenden  Schuss-Scene  reden 
nur  die  Wilkina-  und  Niflunga-Sage ;  in  der  Edda  sind  die  beiden 
Scenen  übersehen.  Das  nun  folgende  Abenteuer  wird  in  -der 
Wilkinasage  vor  Wielands  Entweichung  angesetzt.] 

Inzwischen  über  des  Bruders  fortdauernde  Gefangenschaft  ins- 
geheim benachrichtigt,  erscheint  Eigil  an  Nidungs  Hofe.  Er  wird 
dem  Anscheine  nach  zwar  wohlaufgenommen,  denn  sein  Ruhm, 
den  er  vor  Allen  voraus  hatte,  dass  er  mit  dem  Handbogen 
besser  als  irgend  Jemand  anders  schiesse,  ist  hier  wohlbekannt; 
allein  er  muss  beschwören,  des  Bruders  Schmach  nicht  rächen  zu 
wollen,  und  hat  alsbald  eine  Probe  seiner  Bogenfertigkeit  abzu- 
legen. Damit  dabei  seinem  Uebermuthe  vorgebeugt  sei,  soll  er 
seinem  dreijährigen  Knäblein  Orendel*)  einen  Apfel  abschiessen, 
und  diesen  legt  Nidung  eigenhändig  auf  des  Kindes  Kopf.  Der 
Schütze  soll  weder  zur  Linken  noch  zur  Rechten,  noch  über  das 
Haupt  weg,  sondern  allein  nach  dem  Apfel  zielen  und  nur  einen 
einzigen  Pfeil  abschiessen,  nicht  mehr.  Den  Knaben  zu  treffen, 
war  ihm  nicht  verboten,  weil  man  wohl  wusste,  dass  er  es  schon 
von  selbst  vermeiden  würde.  Eigil  verweigert  erst  den  Schuss, 
unterzieht  sich  aber,  als  ihm  die  am  Bruder  voUzpgne  Strafe  an- 
gedroht wird.  Doch  nahm  er  nun  drei  Pfeile  aus  dem  Köcher, 
befiederte  sie,  legte  den  einen  an  die  Sehne  und  schoss  mitten  in 
den  Apfel,  so  dass  der  Pfeil  die  Hälfte  mit  sich  hinwegriss  und 
Alles  zusammen  auf  die  Erde  fiel.  Dieser  Meisterschuss  ist 
lange  hochgepriesen  worden,  auch  der  König  bewunderte  ihn  sehr, 
Eigil  war  fortan  berühmt  vor  allen  Männern  und  hiess  Eigil  der 


*)  Altnordisch  örvandill,  ahd.  Aruwentil  leitet  ab  von  Ör,  sagitta, 
und  Yon  wanda,  elaborare,  mit  angehängtem  Suffix  il,  el.  Der  Name  besagt: 
Pfeilwinder,  Pfeilarbeiter,  und  weist  auf  die  waffenschmiedende  Thätigkeit  der 
Elfen,  deren  Pfeil  das  Elfengeschoss  heisst.  Das  Kind  Örwandill  wird  von 
Gott  Thorr  über  das  Wendelmeer  im  Tragkorbe  herüber  gebracht;  beim  Durch- 
waten des  Sundes  schaut  des  Kindes  Fuss  zum  Korbe  hervor  und  eine  Fusszehe 
erfriert  in  der  Nachtkälte.  Thorr  bricht  sie  ab  und  wirft  sie  an  den  Himmel, 
wo  sie  zum  leuchtenden  Gestirne  wird,  das  wir  den  Daumen  nennen  am  Stem- 
bilde  des  Wagens.  Auch  im  Angelsächsischen  bezeichnet  earendel  ein  glänzen* 
des  Gestirn. 


3.   Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  53 

Schütze,  »Örrunar  Egil«.  Doch  Nidung  richtete  bald  die  Frage 
an  ihn,  wozu  er  sich  die  beiden  andern  Pfeile  zum  ersten  befiedert 
habe,  da  ihm  doch  nur  verstattet  worden,  einen  zu  verschiessen. 
Eigil  antwortete:  Herr,  ich  will  nicht  gegen  euch  lügen;  wenn 
ich  den  Knaben  mit  dem  ersten  getroffen  hätte,  so  waren  euch 
•diese  beiden  zugedacht!  Die  Umstehenden  dachten,  er  habe  wie 
-ein  Biedermann  gesprochen,  auch  der  König  nahm  es  gut  auf  und 
reihte  ihn  unter  seine  Mannschaft  ein. 

Die  Eigilsage  kam  nach  dem  ausdrücklichen  Beridite  der 
Vilkinasage  zuerst  aus  dem  Munde  deutscher  Männer  aus  Münster, 
Soest  und  Biremen  in  Form  von  Liedern  und  Erzählungen  an 
reisende  Skandinavier,  wurde  von  diesen  gegen  Mitte  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  aufgezeichnet  und  gieng  späterhin  in  dieser 
altnordischen  Fassung*)  wieder  nach  Deutschland  zurück;  daher  die 
gewöhnliche  Meinung,^  die  Eigil-  und  Wielandssage  sei  skandina- 
vischen Ursprunges.  Ihre  frühere  Deutschheit  wird  jedoch  ausser 
den  schon  Eingangs  gezeigten  Gründen,  noch  durch  viele  Hun- 
derte altgeschichtlicher  Orts-  und  Personennamen  erwiesen,  unter 
-denen  im  Nachfolgenden  nur  diejenigen  angeführt  stehen,  denen 
wir  bei  unsern  eignen  Urkundenstudien  begegnet  sind.  Nicht 
bloss  die  Wielande  und  Eigilone,  auch  der  heute  befremdlicher 
lautende  Name  der  Geschlechter  Orendel  treten  in  oberdeutschen 
Urkunden  frühzeitig  und  reichlich  hervor. 

Der  altdeutsche  Mannsname  Agilo  stammt  aus  einer  Wort- 
^wurzel,  welche  Schrecken  bedeutet,  er  kennzeichnet  den  fiirchter- 
lichen  scharfen  Blick  des  Heldenauges,  lautlich  verdünnt  er  sich 
in  Egilo,  Eigel  und  entstellt  sich  in  Eichel.  In  Bonn  besteht 
noch  der  Familienname  Schützeichel  (Simrock,  Myth.  241).  In 
•der  Rhein-  und  Moselgegend,  sodann  am  Main  und  am  Bodensee, 
bis  in's  Ober- Toggenburg  herein  nennt  man  Felsberge,  mit 
Spuren  von  namenlosem  Gemäuer,  Trümmer  von  Römercastellen 
und  Burgen,  Eigelsteine ;  so  das  Drusus-Monument  zu  Mainz ;  das 
nördliche  Stadtthor  zu  Köln  und  den  altrömischen  Igelstein  bei 
Trier  (Eberh.  v.  Groote,  in'  Hagens  Kölner  Reimchronik,  234); 
femer  die   Eilingsburg,   ein  Wichtelfelsen  bei  Kissingen   (Panzer, 


*)  Egils-Saga,  sive  EgiUi  Skallagrimii  vita,  die  Sage  von  Egil  Skallagrimson, 
«Tschien  im  dritten  Bande  der  vom  neunten  bis  vierzehnten  Jahrhundert  gehenden 
Sammlung:  Islendinga  Sögur,  und  wurde  von  Registratur  N.  M.  Petersen  in  dän- 
ischer Bearbeitung  edirt:  Historiske  Fortaellinger  etc.,  4  Bde.,  1839—45. 


Ca  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Bairische  Sagen  i,  No.  202);  die  Eigelhard,  ein  Burgstal  ob 
Pfungen  an  der  Töss,  wo  Karl  der  Grosse  gewohnt  haben  soll 
(KohJrusch,  Schweiz.  Sagenb.  i,  300);  und  die  kleine  Burgruine 
Eichelstock  bei  obertoggenburgisch  Bütschwil.  St.  Galler  Neu- 
jahrsblatt 18  31,  10. 

Wir  verzeichnen  im  Folgenden  den  fraglichen  Personennamen» 
vom  neunten  Jahrhundert  an  und  zwar  vorzugsweise  aus  ober- 
deutschen Urkunden. 

Eigil  war  818  aus  Baiern  nach  Fulda  gekommen  und  starb 
da  am  15.  Juni  822  als  Abt.  (Rettberg,  Kirchen-Geschichte.)  In 
Kozrohs  Freisinger  Bisthums- Urkunden  (ed.  K.  Roth,  München 
1854)  erscheint  vom  Jahre  835  die  traditio  Eigiloni  (Heft  i,  38) 
und  vom  Jahre  926  Eigil  als  Zeuge  (Heft  2,  95).  Egil  und 
Eigil  stehen  seit  dem  Jahre  899  in  den  Passauer  Bisthums- 
Urkunden  genannt.  Freyberg,  Samml.  histor.  Schriften  I,  493. 
Oberdeutsche  Priester  stehen  unter  der  Namensform  Aigil  zwei, 
und  fiinfe  des  Namens  Eigil  verzeichnet  in  dem  von  Karajan 
edirten  Salzburger  Verbrüderungsbuche  (S.  40  und  48),  welches- 
vom  achten  bis  in's  dreizehnte  Jahrhundert  geführt  ist.  Egil 
(von  985 — 994)  und  Aigil o  (von  1196)  sind  urkundliche  Per- 
sonen in  Meillers  Regesten  zur  österreichischen  Geschichte  unter 
den  Babenbergern.  Eigilwi  hiess  die  sächsische  Mutter  der  wei- 
fischen Kaiserin  Judith,  Gemahlin  Ludwigs  des  Frommen.  The- 
gan,  Annalen,  Cap.  26.  Eigil  steht  zum  10.  Januar  in  den  beiden 
dem  zwölften  Jahrhundert  angehörenden  Todtenbüchern  des  Bene- 
dictiner  -  Stifts  St.  Lamprecht  in  Obersteier;  Ausg.  v.  Pangerl,. 
S.  341.  Eigalmanneswert  ist  1139  ein  zwölf  Juchart  halten- 
des Ackerland  am  Würzburger  Main.  Tritheim,  Hirsauer  Chron. 
I,  406.  Egil  ist  II 54  Abt  des  Klosters  Brüm  in  der  Diöcese 
Trier.  Tritheim  i,  25.  Eigils-,  Eigeles-  und  Eglisbrunnen 
heisst  seit  1070  das  baierische  Dorf  Eulsbrunn,  Landgerichts 
Kelheim.  Bavaria  II,  Abthl.  2,  618.  Egilspach  ist  11 70  das 
baierische  Pfarrdorf  Aigelsbach,  Landgerichts  Abensberg.  Frey- 
berg, Samml.  II,  287.  Im  Schenkungsbuche  der  Propstei  Berchtes- 
gaden,  angefangen  in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhun- 
derts, stehen  als  Hörige  der  Kirche  verzeichnet:  Ehcilo,  ficili,. 
iterum  Ecili  et  Ehcilo.  Quellen  und  Erörterungen  zur  Bayer. 
Gesch.,  I,  pag.  274,  No.  71.  Einen  Egilo  Archiepiscopus ,  in- 
Hincmars  Briefen  erwähnt,  bespricht  Pertz,  Archiv  7,  865. 
Eigelessachsen  (vom  Jahre  11 87)  und  Eigelesdorph  (1187) 


3*  Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  cc 

sind  die  jetzigen  zwei  wetterauischen  Dörfer  Eichelsachsen  und 
Eichelsdorf,  die  an  dem  in  die  Nidda  fliessenden  Bächlein  die 
Eichel  liegen.  Weigand  in  Wolffs  Zeitschrift  f.  Myth.  i,  S.  3. 
Eigelhard  von  Gisenheim  (Geisenheim  im  Rheingau)  ist  11 36 
Ministeriale  des  Mainzer  Erzbischofs.  Mone,  Zeitschrift  2,  433. 
In  der  Grenzbestimmung,  welche  1155  durch  König  Friedrich  L 
dem  Konstanzer  Sprengel  gegeben  wird,  heisst  es:  a  villa  Eig- 
goltingen  usque  ad  ortum  fluminis  Murge.  Zeerleder,  Berner 
Urkunden  No.  48.  Dieses  im  badischen  Amte  Stockach  gelegene 
jetzige  Dorf  Eigeldingen  (Mone,  Ztschr.  3, 105),  besitzt  seit  Beginn  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  ein  Dynastengeschlecht  der  Eigelwarte, 
das  sich  in  den  Urkunden  des  Klosters  Salem  sehr  häufig  geltend 
macht;  letztere  stehen  in  Mone's  Zeitschrift  gesammelt,  die  Eigel- 
warte daselbst  I,  321.  II,  70.  yy.  8t.  86.  486.  111,443 — ^447.  458. 
463.  Besonders  zahlreich  erscheint  das  Eigelgeschlecht  im'  Breis- 
gau vertreten.  Während  einer  zwischen  1280 — 90  gegen  die  Stadt 
Freiburg  andauernden  Fehde  werden  einem  dortigen  Bürger,  dem 
Eigel,  ein  Ochse  und  vier  Schafe  geraubt.  Schreiber,  Frei- 
burger Urkundenbuch  I.  i,  S.  113.  Jeckeli  Eygel  und  seine 
Söhne  werden  1 330  für  immer  aus  dem  Freiburger  Stadtrathe 
ausgeschlossen,  ibid.  I.  2,  442.  Abbildung  des  urkundlichen  Sie- 
gels Johannis  dicti  Eigel,  1338:  ibid.  II.  i,  S.  X,  No.  24.  Tho- 
man  Eigel,  Gerichtsbeisässe  zu  Freiburg  1390;  Grimm,  Weisth.  I, 
346;  Schreiber  1.  c,  S.  125.  Jakob  Eigel  wird  nebst  zwei  An- 
dern zu  Freiburg  rechtlos  gemacht,  weil  er  diese  Stadt  verrathen 
wollte,  ibid.  164.  »In  Eichel  fängt  das  Schaf  den  Wolf«,  ist 
ein  Sprichwort,  das  im  badischen  Dorfe  Eichel  mit  einer  beson- 
dem  Ortslegende  erklärt  wird.     Mone,  Anzeiger  1837. 

Eigel  war  ein  schwyzer  Landleutengeschlecht,  sesshaft  im 
Arter- Viertel,  einer  desselben,  Hartmann  Eigel,  ist  1 386  auf  dem 
Kriegszuge  gegen  Herzog  Leopold  von  Oesterreich  vor  der  Stadt 
Sursee  umgekommen.  Leu,  Helvet.  Lex.  VI,  252.  Der  aus  dem 
Egelsee  am  aargauer  Heitersberge  nach  dem  Dorfe  Spreitenbach 
hinabgehende  Bach  heisst  in  dem  1694  gedruckten  »Archiv  des 
Gotteshauses  Wettingen«  wiederholt  auf  S.  660,  662  und  668  der 
Eigelb  ach.  Die  Oeügli  waren  ein  Züricher  Stadtgeschlecht, 
aus  welchem  Friedrich  1420  Chorherr  am  Stift  zum  Gr.  Münster 
gewesen.  Leu  XIV,  284.  Bernhard  Oeüglin  (Oiglin,  Oeglin), 
gebürtig  von  elsässisch  Altkirch,  wurde  seit  1478 — 96  viermal 
Rector  der  Basler  Hochschule.     Leu  XIV,  352;  Supplementb.  IV, 


tß  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

386.  Auch  diese  letzt  erwähnten  Namensformen  gehören  zum 
gleichen  Namensstamme;  denn  der  genannte  mythische  Held 
trägt  im  Volksbuche  vom  Gehörnten  Siegfried  den  Namen  Eugel 
und  Eugli,  und  im  Volksbuch  von  Orendel  mit  dem  Grauen 
Rocke  heisst  er  Oegel.  151 1  ist  Sebastian  Aigel,  der  edle 
veste  Herr  zu  Lindt,  Pfleger  zu  Lebenau  und  Traunstein  im  Salz- 
burgischen; 1552:  David  Aigel,  Pfleger  zu  Wildshuet;  nach 
Wiguleus  Hundt  baierischem  Stammbuch;  bei  Freyberg,  Samm- 
lung III,  198. 

In  altbairischen  Urkunden  finden  sich  neben  den  ältesten 
Eigilonen  auch  die  ältesten  Orendel.  EinOrendil  erscheint  am 
24.  Mai  824  auf  dem  Gerichtstage  zu  bairisch  Ergolting  (Karajan, 
Verbrüderungsb.  v.  St.  Peter  in  Salzburg,  pag.  XXXIV),  und  ein 
gleichnamiger  um  975  als  bavarischer  Zeuge  in  Scheyern.  K.  Roth, 
Freisinger  Bisthums  -  Urkunden  pag.  180.  Orendil,  frater  Ruo- 
dolfi,  testis,  ao.  1013.  Freyberg,  Samml.  I,  Urkk.  No.  99.  Laut 
den  Urkunden  des  schwäbischen  Dynastengeschlechtes  Weinsberg 
verpfändet  1312  Graf  Rudolf  von  Dum  dem  Rhabanus  von 
Neuenstein  um  20 Pfd.  Heller  das  Gut  Orendelsal,  jetzt  hohen- 
lohisch  Orendensall.  Joh.  Petr.  Ludewig,  Reliquiae  Manuscript. 
tom  XII,  pag.  604,  No.  6. 

Waren  sonach  Eigel  und  Orendel,  Vater  und  Sohn,  dem 
oberdeutschen  Munde  geläufige  Namen,  so  kann  es  der  eben  so 
populäre  Name  des  Kunstschmiedes  und  Bruders  Wieland  nicht 
weniger  gewesen  sein.  Goldast  IIa,  no  weist  ihn  aus  dem  ach- 
ten Jahrhundert  urkundlich  nach.  1259  erscheint  im  Stifte  zu 
Interlaken  als  gerichtlicher  Zeuge  H.  de  Wielandingen.  Zeer- 
leder,  Berner  Urkunden  No.  405.  Ulrich  von  Wilandingen, 
Edelknecht,  urkundet  im  Stifte  Seckingen  16.  April  1337.  Nord- 
östlich von  Seckingen  an  der  Schwarzwälder  Murg  liegt  die 
Stammburg  Wiladingen  in  Ruinen.  Das  Wappen  jener  Berner 
Wiladingen  zeigt  drei  Nägel  mit  dicken  Köpfen  (Stumpf,  Chronik  II, 
243),  dasjenige  der  Schwarzwälder  Linie  drei  zangenähnliche  Fi- 
guren. Mone,  Zeitschr.  7,  439.  Die  mittelalterlichen  Schmiede- 
werkstätten hiessen  Wielandshäuser.  Grimm,  Myth.  350. 
Man  wolle  nun  weiter  selbst  nachlesen,  was  sonst  noch  an  äl- 
terem' Namens-Material  über  örtliche  Erinnerungen  an  Wieland, 
Eigel  und  Orendel  vorräthig  verzeichnet  steht  in  W.  Menzels 
Odin,  S.  91 ;  ebenso  in  Rassmanns  Heldensage  II,  258 — 261,  so- 
dann 267  ff. 


3.   Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  57 

Was  besagt  und  erweist  nun  dieser  reiche  Namengehalt,  wenn 
er  hier  keine  blosse  Verschwendung  heissen  soll,  anderes,  als  dass 
der  Mythus  vom  Apfelschützen  Eigel  nicht  bloss  vor  Zeiten  einmal 
in  Niederdeutschland  bekannt  gewesen  und  von  dorten  nach  Skan- 
dinavien weiter  verbreitet  worden  ist,  sondern  dass  dessen  Vor- 
handensein am  Rhein  und  Main,  am  Bodensee,  am  Inn  und  an 
der  Donau  durch  Urkunden  bezeugt  wird,  welche  darüber  vom 
Beginne  des  neunten  Jahrhunderts  bis  in  das  sechzehnte  reichen. 
Ist  somit  dem  Mythus  sein  deutsches  Vaterland  wieder  gewonnen, 
so  werden  wir  ihn  als  den  unsrigen  auch  da  wieder  erkennen,  wo 
er  sich  in  weiter  Ferne  niederlässt,  wo  er  in  ungestörter  Abge- 
schiedenheit seine  Alterthümlichkeit  und  Reinheit  beibehalten  und 
dadurch  das  täuschende  Aussehen  annehmen  kann,  als  sei  er  ein 
aus  dortiger  Fremde  her  bei  uns  importirtes  Product.  »Zweierlei 
—  sagt  Grimm,  Myth.  VIII  —  ist  hiebei  festzuhalten;  dass  die 
nordische  Mythologie  echt  sei,  folglich  auch  die  deutsche,  und 
dass  die  deutsche  alt  sei,  folglich  auch  die  nordische.«  Dies 
fuhrt  uns  nun  weiter  auf  die  nordische  Toko-Sage. 

Wir  besitzen  diese  Sage  in  der  Aufzeichnung  des  berühm- 
testen der  altdänischen  Geschichtschreiber,  Saxo  Grammaticus. 
Er  hatte  im  Jahre  1161  als  Geheimschreiber  des  Bischofs  Absa- 
lon-  von  Lund  seine  Studien  zu  Paris  gemacht  und  auf  dessen 
Anregung. die  Geschichte  seines  Vaterlandes  in  der  Historia  Da- 
nica  verfasst,  die  er  bis  zum  Jahre  11 86  fortführt.  Er  starb  1203 
als  Probst  von  Roeskilde  und  liegt  in  der  dortigen  Kirche  begraben. 
Aus  dem  Vordergrunde  der  nordischen  Geschichte,  da,  wo  diese 
sich  eben  aus  der  Sage  zu  lösen  beginnt,  nach  dänischen  Liedern, 
isländischen  schriftlichen  Berichten  und  den  mündlichen  der  da- 
maligen nordischen  Hoferzähler  schuf  Saxo  ein  Werk,  dessen 
Eleganz  und  Schwung  Erasmus  von  Rotterdam  nicht  minder  als 
unser  Geschichtschreiber  F.  C.  Schlosser  bewundert  haben.  *)  Die 
ersten  neun  Bücher  seiner  Historie  enthalten  Sagen,  die  er  so 
giebt,  wie  sie  ihm  zukamen,  allerdings  dabei  bemüht,  das  Fremd- 
artige an  ihnen  auszuscheiden.  Die  sieben  letzten  Bücher 
stützen  sich  auf  Quellen,  das  zehnte  beginnt  mit  der  Erzählung 
über  Toko. 


♦)  Ausgabe  von  P.  E.  Müller  seit  1839.  Von  eben  demselben  ist  die  be- 
deutende Schrift:  Kritische  Untersuchung  der  Sagengeschichte  Dänemarks.  Kopen- 
hagen 1823.    4.    Dazu  kam  später:  Dahlmanii,  Forschungen  I,   151. 


c8  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

Nachfolgende  Uebersetzung  verfährt  zwar  wörtlich  genau^ 
jedoch  nur  summarisch,  weil  dasselbe  Chronik-Capitel  sogleich 
hernach  auch  in  niederdeutscher  Sprache  vollst^indig  und  text- 
getreu  mitgetheilt  werden  muss. 

Ein  Krieger  Toko  hatte  einige  Zeit  in  des  Dänenkönigs 
Harald  Blauzahn  (935 — 986)  Diensten  gestanden,  durch  seine 
Leistungen  die  seiner  Gesellen  überboten  und  sich  damit  viele 
Neider  gemacht.  Als  er  nun  einmal  bei  einem  Gelage,  schon 
etwas  angetrunken,  sich  brüstete,  er  sei  ein  so  geübter  Schütze,, 
dass  er  den  allerkleinsten  Apfel,  draussen  auf  einen  Stock  gesteckt,, 
mit  dem  ersten  Schusse  herabholen  wolle,  brachten  die  Horcher 
dies  Wort  dem  Könige  zu  Ohren,  und  dieser  war  grausam  genug,, 
des  Mannes  vermessenes  Wort  zu  dessen  Söhnleins  Lebensge- 
fährdung zu  missbrauchen.  Er  befahl,  statt  des  besagten  Stockes 
solle  Toko's  Kind,  dies  theuerste  Pfand  der  Vaterliebe,  als  Ziel 
hinausgestellt  werden,  und  wenn  der  Prahler  den  Apfel  auf  des 
Söhnleins  Haupte  nicht  mit  dem  ersten  Pfeile  durchbohre,  so 
habe  er  mit  seinem  Leben  sein  freches  Reden  zu  büssen.  Nun 
nahm  Toko  den  Sohn,  stellte  ihn  mit  dem  Gesichte  gegen  das 
Ziel  und  sprach  ihm  Muth  ein;  unverwandten  Hauptes  und  un- 
beweglich müsse  er  das  Schwirren  des  heranfliegenden  Pfeiles  er- 
warten, ein  geringstes  Zucken  könnte  den  sichersten  Schuss  ver- 
eiteln. Er  that  hierauf  drei  Pfeile  aus  dem  Köcher,  legte  den 
ersten  auf  die  Sehne  und  traf  den  Apfel.  Hätte  er  gefehlt  und 
den  Knaben  in's.  Haupt  getroffen,  so  wäre  der  Mord  auf  den 
Vater  gefallen  und  man  hätte  den  Schützen  dem  Erschossenen 
nachgeschickt.  Vom  Könige  alsdann  befragt,  wozu  er  mehrere 
Pfeile  aus  dem  Köcher  genommen  habe,  da  doch  sein  Heil  nur 
auf  einem  einzigen  Schusse  gestanden,  erwiederte  Toko:  Um  an 
dir  das  Fehlgehen  des  ersten  mit  der  Schärfe  der  beiden  andern 
zu  rächen,  denn  nicht  die  Unschuld  soll  gestraft  sein  und  deine 
Gewaltthätigkeit  ungestraft  ausgehen.  Mit  diesem  freimüthigen 
Worte  gab  er  zu  verstehen,  dass  ihm  allerdings  der  Titel  des 
Tapfern,  dem  Könige  aber  eine  herbe  Rüge  gebühre.  Allein  ver- 
gebens hatte  Toko  diese  für  sein  Vaterherz  gefährlichste  Klippe 
nun  umfahren,  bald  darauf  gieng  ein  eben  so  schweres  Gewitter 
über  ihn  los.  König  Harald  pflegte  nemlich  besonders  jener  Fer- 
tigkeit sich  zu  berühmen,  mit  der  die  Finnen  ihre  verschneiten 
Gebirge  auf  Schneeschuhen  durchfahren.  Als  nun  Toko  auch 
hierin  seine  Geschicklichkeit  *  derjenigen  des  Königs  gegenüber  zu 


3.    Die  Eigil-  un4  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  5^ 

Stellen  wagte,  ward  er  abermals  beim  Worte  genommen  und 
musste  die  Probe  seiner  Behauptung  beim  Felsen  Kolla  bestehen. 
Doch  auch  diesmal  hatte  er  nicht  eitel  geredet  und  dies  bewies 
nun  der  Erfolg.  Er  bestieg  die  Höhe  jener  ragenden  Meeres- 
klippe, hatte  nichts  als  seinen  Leitstab,  schnürte  die  glatten 
Schrittplatten  an  die  Sohlen  und  fuhr  nun  auf  ihnen  mit  reissen- 
dem  Rutsch  zur  Tiefe.  Das  blosse  Erblicken  der  grausigen  Ab- 
gründe würde  Jeden  noch  vor  Beginn  des  Wagnisses  ausser  sich 
gebracht,  mit  völliger  Stumpfheit  geschlagen  haben;  er  aber  auf 
abschüssigem  Fels  mit  Blitzesschnelle  hinabsausend,  blieb  beherzt 
und  wusste  mit  sicherer  Hand  den  steuernden  Leitstab  zu  führen. 
Zwar  giengen  die  schwachen  Schneeschuhe  an  dem  scharfen  Ge- 
stein in  Stücke,  er  selbst  war  nahe  daran,  in's  Meer  zu  stürzen, 
dennoch  erreichte  er  glücklich  das  Gestade  und  wurde  von  einem 
Schiffe  aufgenommen.  Als  man  hernach  die  Trümmer  der  Schnee- 
schuhe auffischte  und  dem  Könige  überbrachte,  hielt  ihn  dieser, 
der  nichts  weiter  erfuhr,  fiir  ipdt.  Inzwischen  war  Harald  in  seiner 
Grausamkeit  gegen  die  Unterthanen  so  weit  gegangen,  Menschen 
und  Ochsen  zusammen  spannen  zu  lassen.  Darüber  empörten 
sich  die  Dänen,  des  Königs  Sohn  Sweno  trat  auf  die  Seite  des 
Volkes,  wurde  auf  den  Thron  erhoben,  Vater  und  Sohn  rückten 
gegen  einander  zu  Felde,  unter  Sweno's  Truppen  stand  Toko. 
Während  man  zwischen  beiden  Heeren  über  einen  Waffenstill- 
stand unterhandelte,  ergiengsich  Harald  im  nahen  Walde,  und 
als  er  hier  eines  Bedürfnisses  wegen  hinter  einem  Gebüsch  sich 
niederliess,  wurde  er  durch  Toko  überrascht  und  von  dem  nach 
Rache  lechzenden  Manne  mit  einem  Pfeilschuss  tödtlich  verwun- 
det. Die  Seinigen  brachten  ihn  nach  Julin,  wo  er  bald  darauf 
verschied. 

»Des  Königs  Harald  Tod  von  des  Schützen  Hand  ist  geschicht- 
lich, der  Apfelschuss  mythisch  und  dem  Vortrag  des  Ereignisses 
bloss  angewachsen  aus  älterer  Ueberlieferung ,  die  im  Laufe  des 
zehnten  und  elften  Jahrhunderts  vorausgesetzt  werden  muss.c  So 
urtheilt  Grimm,  Myth.  354.  Konrad  Maurer  (Bekehrung  Norwegens 
zum  Christenthume  i,  244)  leugnet  dagegen  auch  die  geschichtliche 
Existenz  des  Toko,  und  seine  Gründe  stehen  theilweise  schon  bei 
Stephanius  angegeben,  der  in  den  Noten  seiner  Ausgabe  Saxo's*), 


*)  Sorae   1644.     Stephanius  citirt  zur  Tokosage  auf  S.  204   den  Tellenschu"  — 
gegen  den  Landvogt  «Grislerus,  praefectus  Regis  Hi  spaniarum.« 


6o  I*     ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

pag.  205 ,  Sich  auf  Snore  Sturlesons  Norweger-Chronik  ^  beruft 
und  Nachfolgendes  aus  ihr  anfuhrt.  Der  Schütze  Toko  ist  kein 
Däne,  sondern  ein  Finnen-Häuptling  gewesen  und  hat  Palnatoko 
geheissen,  d.  h.  Toko,  des  Paine  Sohn.  Diesem  Paine  wird  aber 
im  Norden  schon  eine  ähnliche  Schuss-Sage  nacherzählt.  An  einer 
andern  Stelle  bei  Stephanius  (Notae  in  librum  X,  pag.  199)  be- 
herrscht Palnatoke's  Geschlecht  eben  jenes  Julin,  wohin  man  den 
von  Toko  tödtlich  getroffenen  Harald  geschafft  hatte.  Julin  ist 
aber  das  vormals  wendisch  gewesene  Wollin  in  Pommern,  auch 
Jomsburg  geheissen,  eine  durch  die  seeräuberischen  Jomsvikinger 
berüchtigte  Veste.  In  der  Norwegischen  Kirchenlegende  ist 
Palnatoke  sogar  mit  dem  heiligen  Paulus,  gesprochen  Paal,  ver- 
wechselt, unter  dem  sich  der  Bauer  den  ausserordentlichsten 
Bogenschützen  denkt  und  daher  vom  Paalschützen ,  oder  vom 
Paal  mit  dem  Bogen  zu  reden  pflegt.*)  Endlich  wird  durch  die 
dänische  Sage  das  Räthsel  vollends  gelöst.  Odin,  der  in  Schweden 
und  Schonen  als  Wilder  Jäger  Oden  heisst  und  dessen  Pfeil 
alles  Lebende  trifft,  jagt  auf  Fühnen  unter  dem  Namen  Palne- 
jäger,  und  trägt  hier  also  den  Namen  Palnatoki's.  Thiele, 
Danemarks  Folkesage,  i,  ilo. 

Schon  Eutych  Kopp,  Gresch.-Blätter  2,  362  hat  die  auffallende 
Aehnlichkeit  erkannt,  welche  zwischen  Saxo's  Tokogeschichte  und 
der  Schweizerchronisten  Teilengeschichte  in  Anlage  und  Dar- 
stellung der  erzählten  Begebenheit  besteht.  Dass  wir  da  auf 
beiden  Seiten  dieselbe  Sage  mit  denselben  Haupt-  und  Wende- 
punkten haben,  liegt  auf  der  Hand.  Diese  sind :  der  waghalsige 
Apfelschuss  nach  des  Kindes  Haupte;  der  aufgestellte  Stecken; 
die  Zuversicht  und  Geschicklichkeit  des  Vaters;  das  Bereithalten 
mehrerer  Geschosse  von  Seite  des  Schützen  und  dessen  freies 
Wort  an  den  Dränger;  das  Fallen  des  Drängers  durch  des 
Schützen  Hand.  Aber  die  dänische  und  die  schweizerische 
Chronisten-Erzählung  gleichen  sich  noch  näher  in  ihrem  Vortrage 
selbst,  welcher  in  der  genauen  Angabe  der  Einzelheiten,  der 
Motive,  der  Oertlichkeiten ,  der  Rede  und  Gegenrede  besteht. 
Bei   Saxo   empört  sich   zuletzt  das  Dänenvolk  und  entsetzt   und 


*)  Finn  Magnusen,  Lex.  Myth.  798:  Quum  nimirum  eum  hodiedum  rustici 
illius  gentis  dexterrimum  dicant  fuisse  sagittarium  et  fortissimum  bellatorem,  qui 
matutino  tempore  proeliari  soluerit  ....  inde  Paal  skyttar,  Paal  med 
boj  en. 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  Qi 

verjagt  Harald,  weil  er  in  seiner  Grausamkeit  so  weit  gegangen, 
dass  er  Menschen  und  Ochsen  zusammenspannte.  In  der  Chronik 
des  Weissen  Buches  lässt  der  Vogt  Landenberg  dem  Melchthal 
die  Ochsen  vom  Pfluge  nehmen  und  dem  Beraubten  sagen: 
»puren  solten  den  pflüg  zien.«  Die  Plauderhaftigkeit  bringt  den 
Toko  zweimal  in  Lebensgefahr,  und  Teil  entschuldigt  dieselbe 
Charakterschwäche  im  Verhör  gegen  Gessler: 

War'  ich  vernünftig,  witzig  und  schnell, 
so  war'  ich  nicht  genannt  der  Teil. 

Um  hier  diese  feineren  Punkte  genauer  bezeichnen  zu  können, 
muss  es  erlaubt  sein,  ein  paar  Lateinstellen  aus  Saxo  vergleichend 
herzusetzen.  Der  König  droht  dem  Schützen  mit  dem  Tode, 
wenn  dieser  den  Apfel  nicht  auf  den  ersten  Schuss  träfe:  Cui 
nisi  promissionis  auctor  primo  sagittae  conatu  pomum  impositum 
excussisset,  proprio  capite  inanis  jactantiae  poenas  lueret.  Diese 
Stelle  heisst  im  Tellenliede,  Strophe  8: 

triffstu  jn  nit  mit  dem  ersten  schütz, 
lürwar,  es  bringt  dir  keinen  nutz 
vnd  kostet  dich  dein  leben. 

In  Saxo's  Worten  procellis  et  tempestas  haben  wir  den  See- 
sturm; in  vehiculum  egit  den  Nauen;  in  den  Ausdrücken  ejus 
regimen  intrepida  manu  continere  suffecit,  sehen  wir  den  uner- 
schrocknen  Fährmann;  die  Schilderung:  illiso  cautibus  vehiculo, 
cui  insistebat,  excussus  —  und  hierauf:  tutum  cursitandi  eventum 
habuit,  zeigt  uns  das  Anprallen  an  den  Felsen  und  die  Rettung 
des  Steuermanns.  Auch  die  Worte  apud  CoUam  rupem  —  und 
subjectum  rupi  pelagus  können  als  Vorbilder  des  schroffien  Axen- 
ufers  am  See  sowie  der  Tellenplatte  angesehen  werden.  Harald 
endet  wie  Gessler:  in  angustiores  nemoris  partes  concessit;  ubi 
cum  exaniniendi  ventris  gratia  arbustis  insideret,  a  Tokone  sagitta 
vulnus  excepit.  Dieser  Satz  erinnert  an  jenen  in  Petermann 
Etterlins  Chropik  (Basel  1507).  »Landtuogt  Grissler,  eyn  edelman 
vss  dem  Thurgow;«  (wird  erschossen  durch  Wilhelm  Teil)  »mit 
eym  pfyl  zuo  Küssnach  in  der  holen  gassen  hinder  eynem 
poschenstuden.c  Haralds  Sohn  Sueno  kehrt  die  Waffen  gegen 
den  eignen  Vater:  ad  regnum  parricidio  petendum  adductus,  und 
seine  Enkel  glauben  selbst,  um  dieser  alten  Blutschuld  willen  in 
üu-em  dänischen  Reiche  schwere  Heimsuchungen  erdulden  zu 
müssen.     Sueno's  Grosssohn  sagte  darüber  zum  Historiker  Adam 


g2  !•     I^cr  Sagenkreis  von  TeU. 

von  Bremen,  2.  Buch,  Cap.  25:  Das  eben  ist's,  wofür  wif  Nach- 
kommen zu  büssen  haben  und  wofür  jener  Vatermörder  selbst 
schon  mit  der  Verbannung  gebüsst  hat!  Auch  hierin  liegt  eine 
Aehnlichkeit  mit  den  Verhältnissen  zwischen  König  Albrecht  und 
Herzog  Johann  Parricida,  aber  noch  mehr  auch  ein  Wink  zur 
Bestimmung  jenes  Zeitpunktes,  in  welchem  Saxo's  Chronik  den 
Schweizerchronisten  bekannt  geworden  sein  kann.  Saxo*s  Werk 
ist  zwar  erst  15 14  zu  Paris  gedruckt  worden,  musste  aber  schon 
lange  vorher  in  den  Klosterbibliotheken  handschriftlich  cursiert 
haben  und  von  den  Annalisten  ausgeschrieben  worden  sein.  So 
that  Thomas  Gheysmer,  Mönch  zu  Stralsund,  in  seinem  1431 
verfassten  Compendium  historiae  danicae.  "  Ein  niederdeutscher 
Auszug  daraus  erschien  zu  Lübeck  zwischen  1480  und  1481  in 
zweierlei  Format,  in  4°  und  in  Gross-8<>,  ohne  Druckort  und  Jahr- 
zahl, unter  dem  Titel:  Dyt  is  de  denscke  kroneke  Saxo  Gram- 
maticus  de  Poeta,  ersten  gescreef  in  dat  latine,  unde  daer  na  in 
dat  dudesck  ghesettet  is.  (Panzer,  Annal.  I,  S.  40.)  Hierin  steht 
die  Tokosage  erzählt  und  lautet  wie  folgt: 

Harald  (Blaatand)  hadde  ock  enen  rydder  by  syk,  de  heth 
Tokko,  de  hadde  vele,  de  ene  hateden  dor  syner  manheyt  willen. 
Desse  Tokko  zede  to  ener  tyd  to  synen  kumpanen,  alze  se  to 
hope  seten  to  enem  gheste-bode,  wo  he  so  behende  were  mit 
schetende,  dat  men  scolde  enen  appel,  wo  klene  men  wolde, 
setten  up  enen  stok  to  enem  rechten  schutten-male,  so  wolde  he 
enen  raken  yo  mit  dem  ersten  schote.  Do  dat  de  yenne  horden, 
de  ene  hateden,  do  brochten  se  dat  vor  den  koninck.  Do  dachte 
de  koninck  nicht  vp  sinen  truwen  denst  vnde  both  bosliken,  dat 
men  scholde  des  sulueh  Tokkonis  sone  setten  vor  den  stok  vnde 
legghen  em  den  appel  up  dat  houet.  Were  id  zakef,  dat  he  den 
appel  myt  dem  ersten  schote  nicht  en-rakede,  so  scolde  eme  dat 
houet  afif,  dorch  synes  römes  wyllen.  Mit  sodanem  vnrechte 
setthe  he  beyde,  vader  vnde  sone,  in  de  vare  des  dodes.  Des 
nam  Tokko  synen  mynnesten  sone  vnde  zede,  he  scholde  syk 
nicht  vruchten,  vnde  holden  dat  houet  stylle,  wen.  he  den  schote 
horde.  Vp  dat  he  deste  myn  vruchtede,  so  kerde  he  syn  antlath 
vam  em  vnde  toch  do  dre  pyle  uth  deme  kokere  to  rede.  Mit 
dem  ersten  schoth  he  den  appel  entwey.  Do  vragede  ene  de 
koninck,  worumme  he  de  dry  pyle  vth  ghetoghen,  na  dem  male 
dat  he  men  ens  scheten  scholde?  Do  zede  Tokko:  hadde  ik  den 
appel   nicht  gheraket,    so  wolde  ik  dy  mede  doddet  hebben,  na 


3-     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  6^ 

<ieme  dat  du  my  alsodan  vnrecht  vorledest  vnde  bodest.  Darna 
sette  ene  de  koninck  noch  ens  in  alsodane  vare .*)  Umme  den  wyllen 
toghen  mennighe  van  syner  rydderschop  van  em,  vnde  sunder- 
liken  desse  Tokko,  vnde  zeden,  se  wolden  deme  nicht  denen,  de 
se  vor  eren  d^nst  setthe  in  des  dodes  vare,  vnde  toghen  so  to 
synem  sone  Swenone.  —  Darna  vorbodede  [entbot]  Harald  al 
syne  guden  lüde  und  vele  van  synem  volke  und  toch  in  Jutlande. 
Dar  hadde  he  enen  sten  ghevunden,  de  was  so  groth,  dat  he  dar 
al  dat  Volk  vorboddet  hadde  ünde  nam  dar  ossen  tho  [Ochsen 
dazu]  und  leth  so  beyde,  lüde  und  de  ossen,  den  sten  up  theen 
[aus  dem  Grunde  ziehen]  und  leth  ene  brynghen  up  syner  moder 
[Mutter]  ghraff  und  zyrde  dat  ghrafif  dar  mede.  Under  des  de, 
•de  mit  synem  sone  Swenone  weren,  den  gruwelde  und  verdroth 
[verdross]  de  herscop  Haraldi,  darumme  dat  he  den  cristennen 
loven  [Glauben]  hadde  entfanghen  und  ok,  dat  he  dat  volk  be- 
swarde  myt  unbewonen  borden  [ungewohnten  Bürden]  und  over- 
last.  Also  wolborde  he  [willfahrte  Sueno],  und  se  makeden  ene 
hemeliken  to  koninghe,  dat  id  syn  vader  nicht  enwusste.  Harald 
de  was  under  des  bekümmert  [beladen]  myt  dem  steene.  So 
quam  dar  ein,  dar  se  mit  dem  steene  arbeideden,  den  vraghete 
*<ie  koninck,  eft  he  ok  alsodanen  toghe  er  [einen  sogethanen  Zug 
ehedem  schon]  gheseen  hadde.  Do  zede  he:  Ya,  ich  hebbe  in 
kort  enen  groteren  togheen  seen.  Do  vraghede  de  koninck,  wor 
he  den  gheseen  hedde.  Do  zede  he:  Do  dyn  sone  Danemarken 
van  dy  toch;  richte  dat  sulven,  eft  he  nicht  ene  grotere  borde 
toch.  Do  dat  Harald  horde,  do  vorleeth  he  den  steen  up  dem 
velde  Kakki  [in  campo  Bekki;  Gheismer]  und  zeede  synen 
kumpanen  [Kämpen],   dat  se   syck  scholden  bereden  to  orloghe 


*)  Diese  zweite  dem  Toko  bereitete  Todesgefahr,  in  der  niederdeuts\:hen 
Uebersetzung  übergangen,  wird  in  Gheismers  latein.  Original  (Script,  rer.  Dan.  II, 
34S)  also  mitgetheilt:  Paulo  post  in  consimile  periculum  incidebat.  Nam  cum 
Haraldus  diceret  se  peritum  in  currendo  per  niyes  super  »rennesliith,«  Tokko 
^imiliter  se  in  hoc  peritum  dixit.  Igitur  Haraldus  eum  compulit,  ut  super  collem 
Scanie  Collaen  suum  magisterium  ostenderet.  Tokko  coactus  collem  ascendit, 
atqne  exiguttm  fustem  in  manu  tenens,  super  dictum  lubricum  vehiculum  in  prae- 
«eps  descendit:  et  quamvis  vehementissime  super  preruptos  scopulos  incideret, 
nichilominus  intrepida  manu  vehiculum  lubricum  dirigebat.  Quod  vehiculum  nisi 
^per  frequentes  lapides  fractum  fuisset,  utique  in  suppositum  mare  demersus 
fuisset.  Exceptus  igitur  inferius  a  nautis  dominium  Haraldi,  qui  pericula  pro 
meritis  sibi  rependerat,  reliquit,  seque  militise  filii  ejus  Swenonis  applicavit. 


64  I*     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

[zum  Kriegszug  rüsten].  Do  zeeden  se,  dat  se  nene  wapen  wolden 
voren  dorch  synen  wyllen  [dass  sie  für  ihn  die  Waffen  nicht  mehr 
führen  wollten],  de  se  hadde  lyck  [gleich]  ghemaket  ossen.  Etliche 
bleven  doch  by  em:  mit  den  toch  he  geghen  den  sone.  Men 
[aber]  de  sone  overwan  ene,  und  he  vlo  in  Zeelande  und  sammelde 
ene  andere  schar  und  sochte  den  sone  to  schepe  [zur  See].  Doch 
overwan  ene  de  sone  echter  [abermals];  do  vorleeth  he  Dane- 
marken und  toch  in  Wentlande  up  de  veste,  de  de  Denen  dar 
buwet  hadden.  Under  des  vorboth  Sweno  den  cristenen  loven 
unde  lede  wedder  up  den  afgode  denst.  Harald  de  samelde 
to  hope  [zu  Häuf]  wat  he  konde  kryghen  van  Denen  und  van 
Wenden,  und  strydede  enen  gantzen  dach  mit  synem  sone.  Dock 
konde  erer  neen  wynnen  [ihrer  keiner  siegen] ;  so  makeden  se  enea 
ronnebom  [Schlagbaum]  tusschen  syck  beth  des  andern  daghes. 
So  scholde  Harald  spasseren  ghan  in  deme  holte.  Des  nam 
Tokko  vorbeth  [fürbass]  war,  umme  des  unrechtes  wyllen,  dat 
he  em  dede,  und  schoth  eme  ene  dothwunden.  Und  he  toch 
wedder  in  Wentlande  und  starff  dar,  und  wart  vort  [geführt]  in 
Roskyld  und  wart  de  ghegraven  myt  groten  eren  in  de  kerken, 
de  he  dar  buwet  hadde.    Pfeiffer's  Germania  XII,  327. 

Ist  nun  das  Obwaldner  Weisse  Buch,  die  früheste  unter 
den  Schweizerchroniken,  welche  der  Tellengeschichte  Erwähnung 
thun,  um  das  Jahr  1476  geschrieben;  ist  dagegen  Gheysmers 
Uebersetzung  Saxo's  schon  1431  verfasst  und  seit  1480  in  zweierlei 
Ausgaben  gedruckt,  so  steht  die  gedruckte  Literatur  der 
dänischen  Tokosage  von  jener  ersten  handschriftlichen 
Meldung  der  schweizerischen  Tellensage  nur  noch  um  vier  Jahre 
entfernt  und  muss  somit  auf  Bestand  und  Gestaltung  der  Schweizer- 
sage jedenfalls  einen  literarischen  Einfluss  ausgeübt  haben.  Ein 
solcher  literargeschichtlicher  Vorgang,  wie  wir  ihn  eben  bloss 
voraussetzen,  wird  sich  aber  sogleich  zur  völligen  Thatsache 
gestalten,  ja  sogar  zu  einer  der  Zeit  nach  älteren,  als  die  vorhin 
angesetzte  Frist,  wenn  man  auf  die  Streitfrage  über  die  Abkunft 
des  Schweizervolkes  eingeht,  welche  seit  dem  fünfzehnten  Jahr- 
hundert von  den  Gelehrten  der  Länder-  und  der  Städtekantone  aufs 
hitzigste  gegenseitig  verhandelt  worden  ist.  Diese  Frage  soll  nun 
untersucht  werden. 

Bei  Gelegenheit  des  sogenannten  Alten  Zürichkrieges,  einem 
zwischen  Zürich  und  Schwyz  zwölf  Jahre  lang  schwebenden  Herr- 
schaftsstreite,  bei  welchem  die  Stadt  Zürich  österreichische  Be- 


3-     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  65 

Satzung  einnahm  und  der  Belagerung  durch  die  Eidgenossen 
trotzte,  erwachten  unter  dem  gegenseitigen  Parteihasise  der  sich 
bekämpfenden  Städte-  und  Länderkantone  sflte  Stichwörter  über 
die  angebliche  Fremdabkunft,  mit  der  die  Bewohner  der  Wald- 
stätte sich  zu  brüsten  pflegten.  Den  nächsten  Anlass  gab  Johann 
Fründ,  f  1468.  Seit  1429  Oberschreiber  zu  Luzem,  darauf  von 
1437 — 53  Landschreiber  zu  Schwyz,  hatte  dieser  rührige  Mann 
sowohl  im  Feldlager  wie  in  der  Rathsstube  gegen  Zürich  gedient 
und  in  gleicher  Feindseligkeit  um  das  Jahr  1441  seine  politische 
Tendenzschrift:  »Vom  Herkommen  der  Schwyzer«  verbreiten 
lassen.  Das  Ergebniss  dieses  Pamphletes  lief  darauf  hinaus,  dass 
nur  die  Bevölkerung  der  Waldstätte  nach  Abkunft  und  Grund- 
rechten eine  echte  urschweizerische,  diejenige  also  der  nicht 
demokratischen  Kantone  eine  ursprünglich  unfreie  und  zwitterhafte 
Race  sei.  Er  bediente  sich  dazu  der  Materialien  einer  ähnlichen 
Schrift,  welche  von  Joh.  Püntiner,  einem  Umer  Landammann 
verfasst  war  (angeblich  schon  um  141 4)  und  den  ähnlichen  Beweis 
führte,  dass  die  Urner  gothischer  Abstammung  seien.  Püntiners 
Schrift  soll  1799  beim  Brande  Altorfs  zu  Grunde  gegangen  sein; 
diejenige  Fründs  galt  gleichfalls  für  verloren,  ist  aber  durch 
J.  B.  Galiffe  von  Genf  unlängst  in  Schwyz  wiedergefunden  und 
von  Hugo  Hungerbühler  in  den  St.  -  Galler  historischen  Mit- 
theilungen 1872  herausgegeben  worden.  An  diese  Edition  werden 
die  hier  nachfolgenden  Angaben  öfters  wörtlich  sich  halten. 

Ueber  die  Urgeschichte  der  Schwyzer  erzählt  Fründ:  Eine 
Hungersnoth  hatte  6000  Schweden  und  1200  Friesen  genöthigt, 
mit  Weib  und  Kind  die  Heimat  zu  verlassen  und  neue  Wohnsitze 
aufzusuchen.  Sie  schlugen  sich  tapf^  durch  und  kamen  in  die 
Alpen,  die  damals  noch  unbewohnt  waren.  In  der  Umgegend 
des  Pilatus  Hessen  sie  sich  mit  Erlaubniss  des  Grafen  von  Habs- 
burg, dem  das  Land  gehörte,  nieder  und  machten  es  urbar. 
Unter  ihren  drei  Häuptern  Switerus,  Remus  und  Wadislaus  ver- 
theilten  sie  sich  in  die  drei  Landschaften  Schwyz,  Uri  und  Unter- 
walden-Hasli.  Nach  dem  Lande  ihrer  Abkunft  Suetia  nannten 
sie  die  neue  Heimat  Suitia.  Bald  wurden  sie  als  gute  Krieger 
von  Papst  und  Kaiser  gegen  die  durch  einen  abtrünnigen  Priester 
verführten  Römer  zu  Hilfe  gerufen,  zogen  mit  des  Gothenkönigs 
Alarich  Heere  nach  Rom,  eroberten  die  Stadt,  erschlugen  die 
Heiden  und  ernteten  vielen  Ruhm.  Statt  des  ihnen  angebotenen 
Soldes   verlangten  sie,  in  ihrem  Lande  steuerfrei  und  einzig  dem 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  5 


6g  I,     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Kaiser  unterworfen  zu  sein ;  und  da  sie  zum  Schutze  des  Glaubens 
aufgebrochen  waren,  begehrten  und  erhielten  sie  ein  rothes  Panner 
mit  dem  Zeichen  dies  Kreuzes  Christi.  So  kehrten  sie  wieder 
heim.  —  Mit  dieser  Sage  war  der  Anfang  der  Schwyzer-Freiheit 
in  das  fünfte  Jahrhundert  hinaufgerückt  und  unmittelbar  an  das 
römische  Reich  geknüpft.  In  diesem  gleichen  Sinne  schrieb  nun 
der  Stand  Schwyz  während  des  Alten  Zürichkrieges  an  die  Reichs- 
stände, um  deren  drohende  Parteinahme  für  Oesterreich  abzu- 
wenden, und  binnen  kurzer  Zeit  fasste  dte  Darstellung  Fründs, 
als  eines  kenntniss-  und  einfiussreichen  Mannes,  in  den  Wald- 
stätten feste  Wurzel,  indem  es  ja  wenig  bedurfte,  um  sie  dem 
ganzen  Volke  einzuprägen.  (Strickler,  Lehrb.  d.  Schweiz.-Gesch, 
1874,  222).  Dies  erregte  die  Galle  eines  gelehrten  Zürichers,  der 
in  dem  damaligen  Partei-Interesse  seiner  mit  Oesterreich  verbün- 
deten Vaterstadt  politisch  völlig  aufgegangen  war.  Der  Zürcher 
Chorherr  Felix  Hemmerlin,  ein  zanksüchtiger  und  alle  Zeit  'feder- 
fertiger Polyhistor,  der  in  Erfurt  und  Bologna  studiert  hatte  und 
eine  500  Bände  starke  Büchersammlung  besass  (Urkundio  I,  345), 
war  von  Herzog  Albrecht  von  Oesterreich  zu  dessen  Titular- 
Hof  kaplan  ernannt  und  aufgefordert  worden,  das  Lob  des  Adels 
zu  schreiben.  Hemmerlin  that  das  in  seinem  gegen  Joh.  Fründ 
gerichteten  und  dem  genannten  Herzog  dedicierten  dicken  Buche : 
De  nobilitate  et  rusticitate.  Dieses  Werk  war  seit  Mai  1448 
entstanden  und  1450,  nach  bereits  wieder  hergestelltem  Landes- 
frieden beendigt  worden.  Es  wimmelt  von  schimpflichen  Anklagen 
und  beleidigenden  Anekdoten  gegen  die  Urkantone.  Bezüglich 
der  Einwanderungssage  behauptet  es :  Die  Schwyzer  seien  Ab- 
kömmlinge der  unter  Karl  dem  Grossen  in  die  Schweiz  depor- 
tierten heidnischen  Sachsen  und  seien  noch  eben  so  roh  und 
gottesleugnerisch,  wie  vormals  jene.  Ihren  Namen  trügen  sie 
von  dem  Blut  seh  weisse,  den  sie  in  fremden  Kriegsdiensten  ge- 
schwitzt hätten,  und  zum  Zeichen  dessen  habe  Karl  der  Grosse 
ihnen  die  rothe  oder  Blutfahne  zum  Panner  gegeben.  Dem  Grafen 
von  Habsburg,  der  ihnen  das  Land  zur  Bewohnung  überlassen,, 
hätten  sie  übel  gedankt,  denn  sie  erschlugen  seinen  Vogt  zu  Lowerz,. 
zerstörten  sein  Schloss,  fielen  von  der  Herrschaft  ab  und  stifteten 
eine  Eidgenossenschaft,  welcher  die  Nachbarn  in  Unterwaiden  und 
Uri  u.  s.  w.  beitraten.  Und  so  sei  ihre  ganze  Geschichte  eine 
Kette  von  Empörungen  und  Freveln. 


3*     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  67 

So.  heftig  nun  damals  und  noch  späterhin  beide  Gruppen  der 
schweizerischen  Parteischriftsteller  sich  befehdeten,  so  sind  sie 
doch  beiderseits  einig  über  die  bald  schwedische,  bald '  cimbrische, 
bald  nordsächsische  Abkunft  der  Schweizer  und  diese  bleibt  von 
da  an  der  Knotenpunkt  ihrer  chronistischen  Erzählungen.  Hielten 
sie  nun  selbst  an  dieser  erträumten  nordischen  Abkimft  fest  und 
stellten  sie  dieselbe  in  den  Vordergrund  der  Volksgeschichte,  so 
mussten  sie  wahrlich  mit  nicht  geringerer  Vorliebe  auch  nach  der 
nordischen  Heldensage,  wo  sie  sich  schicklich  darbot,  greifen  und 
auch  diese  in  die  Volkssage  mit  herüber  stellen.  Darin  liegt  der 
augenfällige  Grund,  dass  in  der  Tellensage  die  Züge  der  schwedisch- 
dänischen Tokosage  wiederkehren.  Es  ist  dies  ein  so  nothwen- 
diges  Wechselverhältniss,  dass  es  schon  im  vorigen  Jahrhundert 
eingesehen  und  öffentlich,  damals  freilich  ohne  Erfolg,  aus- 
gesprochen worden  ist.  Uriel  Freudenberger,  berüchtigt  als  Ver- 
fasser der  Schrift  Guillaume  Teil,  Fable  Danoise ,  (1760)  hatte 
dorten  mit  seiner  französischen  Schalkhaftigkeit  also  geurtheilt: 
»Die  Völker  einerlei  und  gemeinsamen  Ursprunges  haben  in  ihren 
Geschichten  Mährgen  von  Helden,  die  eine  jede  dieser  Nationen 
vorzüglich  sich  zueignet.  Sollte  die  Schweiz  wohl  davon  frei 
geblieben  sein  ?  Dies  wird  niemand  glauben,  man  weiss  das  CJegen- 
theil  zu  wohl :  die  unläugbare  Nachricht  von  denen  Einwohnern 
des  Cantons  Schweiz,  des  Hasslilands  u.  s.  w.  bestätiget,  dass 
eben  diese  nordischen  Völker  bis  in  diese  Gegenden  durch- 
gedrungen haben.«  Aus  damals  gerechter  Furcht  vor  den  Berner 
Landessatzungen,  gegen  deren  historische  Begründetheit  Freuden- 
berger hier  indirect  spricht,  giebt  er  sich  im  Nachsatze  den  An- 
schein, als  ob  die  schweizerische  Einwanderungssage  eine  ge- 
schichtlich unbestreitbare  sei. 

Warum  nun  aber  die  von  Hemmerlin  vertretne,  mit  viel 
mehr  Erudition  verfochtene  These  von  der  sächsischen  Ab- 
kunft damals  nicht,  dagegen  aber  diejenige  Fründs  durchdrang? 
Weil  Hemmerlins  Vaterstadt  in  jenem  Kriege  unterlag;  weil  er 
selbst  den  Feinden  preisgegeben  wurde,  die  ihn  aus  seinem  Zürcher 
Wohnhause  nach  Luzern  schleppten,  zur  Strafe  ins  dortige  Fran- 
ziskanerkloster sperrten  und  da  elend  verkommen  Hessen.  Weil 
das  antihelvetische  Element  besiegt  war  und  Fründs  schwedisch- 
urhelvetische  Fabeln  nun  um  so  lebendiger  in  den  Glauben  des 
Volkes,  ja  in  das  Staatsrecht  der  Länderkantone  übergehen  konnten. 
Die  folgenden  Zeugnisse  sind  redende. 

5* 


6g  I.   Der  Sagenkreis  von  TeU. 

Am  I.  Mai  1531  hat  die  Behörde  des  Kantons  Schwyz  fol- 
genden Beschluss  gefasst  und  ihn  dem  Landbuche  (Kantonal- 
gesetzes-Sammlung)  einverleibt: 

Wie  sich  menniglich  in  unserem  Lande,  so  man  Mittag^ 
lüthet,  halten  soll.  Zu  Lob  und  Ehr  dem  allmächtigen  ewigen 
Gott  und  Unserem  Erlöser  zu  ewigem  Dank  haben  unsere  gemeine 
Landlüt  auf  der  freien  Weidhuob  an  einer  offenen  Landsgemeind 
für  sich  genommen,  bedacht  und  betrachtet  unser  frommen  Alt- 
fordem  Herkommen,  »wie  die  von  Schweden  von  Hungersnoth 
wegen  mit  dem  Loos  üsgetrieben;  und  als  sie  von  dem  Land 
Schweden  ausgegangen,  hat  man  ihnen  befohlen,  dass  sie  sich 
keinem  irdischen  Herren  unterwerfen  noch  eigen  machen,  sondern 
allein  sich  Gott,  der  sie  erschaffen,  und  Christo  Jesu  ergeben.c 
Und  dem  zu  Ehr,  Lob  und  Dank,  und  zu  bekennen,  dass  der  ihr 
Herr  und  Behalter  wäre  und  dass  er  uns  erlöst,  sollten  sie  zu 
der  Stund  seines  Tods  5  Vater-Unser,  5  Ave  Maria  und  i 
Christlichen  Glauben  beten.  Solches  haben  unsere  frommen  Alt- 
vordern an  uns  gebracht  aus  Schweden,  davon  sie  ohn  Zweifel 
nit  wenig  Glück  von  Gott  erlangt.  Solches  haben  gemelt  unser 
gemein  Landlüt  angesehen  und  solches  wiederum  erneuert  und 
mit  .einhelligem  Mehr  auf  sich  genommen :  dass  all  unser  Landlüth 
und  wer  bei  uns  wohnen  will,  zu  der  Zeit,  da  man  Mittag  lüthet, 
sollen  aufknieen  und  bethen  zu  Jesum  Christum  5  Vater-U.  etc., 
wie  oben  vermelt.     Actum,  d.  i.  Montag  1531.  Jahres. 

Nach  Fründs  fernerer  Erzählung  hatte  ein  Theil  der  schwe- 
dischen Auswanderer  sich  in  Unterwaiden  von  den  Uebrigen  ab- 
gezweigt;  war  unter  den  drei  friesischen  Hauptleuten  Bruno, 
Hasius  und  Restius  über  den  Brünigberg  in  das  Thal  der  Aare 
hinabgezogen  und  hatte  dieses  bis  an  die  Quellen  des  Flusses, 
hinauf  besetzt.  Nach  seinem  eignen  Namen  benannte  Bruno  den 
Brünig,  nach  der  Friesenstadt  Hasle  benannte  Hasius  die  ganze 
Landschaft  das  Haslithal,  und  Restius  erbaute  dorten  die  Burg 
Resti,  deren  Ruinen  bei  Meiringen.  Dies  Märchen  gewann  in  der 
dortigen  Landschaft  denselben  gesetzgeberischen  Erfolg,  wie  jenes 
erstere  in  Schwyz.  Gemäss  Beschlusses  der  Landesgemeinde  voi^ 
Meiringen-Aeschi ,  hatte  der  Bemer  Notar  Holzmann  die  fabet 
hafte  Chronik  von  Oberhasle  abgefasst  und  ins  »Landurbar  v< 
Hassli  im  Weissland«  gesetzt,  alsdann  ein  Verzeichniss  der  Sond< 
rechte  und  Freiheiten  von  Aeschi  beigefügt,  dessen  Entstehui 
er    auf   den    21.    Sept.    1469   zurückdatierte,    und  seinen   Code: 


j 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  60 

am  15.  April  1534  vollendet.  Ein  Abschnitt  in  dieser  Pergament- 
Handschrift  handelt:  »Von  den  Gesazen,  so  do  zemal  wass 
jnn  den  Schwedien  und  Friessen.«  Wie  wird  nun  der  Leser 
sich  verwundem,  aus  J.  Schnells  :&Uebersicht  der  Bemer  Rechts- 
quellen« (Basel  1860)  zu  ersehen,  dass  diese  beiden  Landrechte, 
das  eine  am  5.  Mai  1835,  das  andere  sogar  erst  am  24.  Juni  1843 
durch  Bemer  Grossrathsbeschluss  ausser  Wirksamkeit  gesetzt 
werden  mussten.  Doch  noch  nicht  genug.  Selbst  in  diesen  ihren 
ersten  Decreten  über  schwedische  Abstammung  und  Ein- 
wanderung kamen  damals  die  Urkantone  schon  zu  spät  oder 
waren  nur  Nachahmer  dessen,  was  ihre  prätendierten  Vettern,  die 
Schweden,  bereits  voraus  beschlossen  hatten.  Denn  Geijer,  Gesch. 
von  Schweden,  (I,  45 — 49)  berichtet,  wie  im  Jahre  1442  ausdrücklich 
verordnet  wurde,  dass  die  Behauptung,  »von  Schweden  aus  seien 
die  Grothen  und  alle  anderen  erobernden  Völker  ausgegangen,« 
vome  in  das  schwedische  Landrecht  aufgenommen  werden  musste, 
und  wie  noch  161 1  diese  Meinung  auf  einem  Turniere  verfochten 
wurde. 

Jedoch  nicht  von  dem  Stammvolks- Aberglauben  der  Schweden 
ist  hier  zu  handeln,  sondern  vielmehr  davon,  wie  der  Aberglaube 
über  angebliche  Schwedenabkömmlinge  sich  in  der  damaligen 
Schweiz  weiter  entwickelte,  dann  in  Verbindung  mit  der  Tokosage 
trat,  mittels  dieser  auf  die  Gestaltung  der  Tellensage  eingewirkt, 
und  schliesslich  sogar  auf  die  schwedische  Geschichtschreibung 
beträchtlich  rückgewirkt  hat.  Unter  den  hiefür  anzuführenden 
Zeugnissen  sind  bei  der  grossen  Masse  des  Vorräthigen  hier  solche 
bevorzugt,  welche  jeweilen  amtlichen  Charakter  getragen  haben. 
Eine  Reichenauer  Papier-Handschrift  aus  der  ersten  Hälfte  des 
15.  Jahrhunderts  (in  Mone's  Anzeiger)  giebt  folgende  Namens- 
Erklärung:  Suecia,  alias  Uelvicia,  inde  Helvici^  id  est  Suetones. 
Im  Jahre  1500  erschien  gedruckt  zu  Sursee  des  Nikol. 
Schradin  Reimchronik  vom  Schwabenkrieg,  wieder  abgedruckt 
im  Geschichts-Freund,  Bd.  IV.  Hier  wird  die  schwedische  Ein- 
\  Wanderung  in  die  Schweiz,  als  im  Jahre  387  geschehen,  bereits 
unter  Berufung  auf  hierüber  vorliegende  Quellenwerke  erzählt: 
»Nachdem  etlich  Hystorien  werden  gelesen  .  .  .  Alss  man  jn 
denselben  Hystorien  fint  geschriben  .  .  .  Alssdann  wyter 
sagt  die  Legend.«  Dass  dem  Chronisten  zu  diesen  »Historien  und 
Legenden«  auch  Saxo  Grammaticus  gedient  hat,  verräth  sich. 
Saxo    erzählt,    der  Dänenkönig  Frotho   III.   habe  einen  goldnen 


jO  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

schweren  Armbaug   auf  einen  Kreuzweg   hinlegen  lassen,    ohne 
dass  sich  Jemand  daran  vergriff;  Schradin  aber  reimt: 

Denn  solt  einer  tragen  gold  jn  siner  hand 
ön  gleit  durch  das  gantz  schwytzer  land, 
dem  geschech  niemer  schmach  noch  leid, 
vff  min  trüw  vnd  by  geschwornem  eyd. 

Zwischen  15  ii  und  1525  wurde  »das  Spiel  der  Urnervon 
Wilhelm  Thellen  ihrem  Landman  und  ersten  Eydgenossen«  ge- 
schrieben und  unter  obrigkeitlicher  Protektion  auf  dem  Marktplatze 
zu  Altorf  aufgeführt.  Der  Andere  Herold  des  Stückes  berichtet, 
die  Einwanderung  in  die  Schweiz  sei  im  Jahre  588  erfolgt: 

Wird  in  allen  Chronicken  b'schriben. 
Woher  die  von  Schwytz  entsprungen: 
Auss  Schweden  sind  dieselben  kommen. 

1515  erschien  zu  Basel  bei  Adam  Petri  Glarean's  Descriptio 
de  situ  Helvetiae  etc.  in  erster,  und  15 19  zu  Basel  bei  Proben  in 
zweiter  Ausgabe,  letztere  mit  einem  von  Oswald  Myconius  von 
Luzern  dazu  geschriebenen  Commentar.  In  diesem  heisst  es 
pag.  48:  Traducunt  Suici  originem  a  SuediSj  alio  nomine  Gothis. 
Cujus  rei  testimonium  non  modo  nostrae  historiae  adferunt,  sed 
et.  ii,  qui  vel  hodie  Suediam  inhabitant.  Ex  quibus  saepe  quaesi- 
'tum  a  m£rcatoribus  nostris,  quique  non  haberent  in  annalibus, 
quod  argueret  expulsos  fame  ex  sua  patria,  in  nostras,  uti  apud 
nos  creditur,  fedes  devenisse.  De  conformitate  regionum^  morum, 
naturae,  ut  solet,  nihil  minus  inquisitum.  Diese  Kaufmanns- 
Anekdote  nahm  Stumpf  in  die  dritte  Ausgabe  seiner  Schweizer- 
chronik (1550)  a^f  und  widmete  das  Werk  dem  Schwedenkönige 
Gustav  Erichson  Wasa.  Denselben  Schluss  sodann  aus  der  Körper- 
ähnlichkeit beider  Völker  a.uf  deren  Stammesgleichheit  machte 
im  vorigen  Jahrhundert  noch  Victor  von  Bonstetten,  der  in  seinen 
Reisebriefen  aus  Schweden  erzählt,  sogar  seinem  Bedienten,  einem 
Berner  Oberländer,  sei  es  aufgefallen,  wie  sehr  die  schwedischen 
Bäuerinnen  an  Haut,  Haar  und  Tracht  den  Berner  Haslithalerinnen 
glichen.  *)    Der  Berner  Patrizier  und  zugleich  sein  Bediente  hätten 


*)  Die  mythischen  Abanten  in  Euböa  hatten  eine  Haartracht,  die  auch  in 
Arabien  gefunden  wurde.  Darauf  gründeten  die  hellenischen  Mythensammler  den 
Erweis,  die  Araber  seien  mit  Kadmos  nach  Euböa  gekommen.  Otfr.  Müller, 
Prolegomena  177. 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  yi 

aber  wohl  wissen  sollen,  dass  die  Bemer  Oberländer  nicht  von 
den  Schweden,  sondern  von  den  Ostfriesen  sich  herleiten,  wie  ihr 
Landbuch  und  ihr  Ostfriesenlied  aus  dem  17.  Jahrhundert  es  be- 
hauptet. Dies  erweist  uns  in  Kürze  der  Thuner  Pfarrer  Hans 
Rud.  Rebman  in  seinem  dickleibigen  Reim  werke:  Lustig  und 
Emsthafft  Poetisch  Gastmal  und  Gespräch  zweyer  Bergen  etc., 
Nemlich  des  Niesen  und  Stockhoms.  Bern  1606;  zweite  Ausgabe 
Bern  1620.     Hier  heisst  es  pag.  444,  448,  478: 

Der  viert  Hauptman,  so  Resti  hiess, 

mit  seinem  Völklein  aus  Ostfriess, 

ein  Land  zu  suchen  nit  sümig, 

setzt  sich  jenseith  dem  Berg  Brünig. 

Am  Brünig  liegt  auch  vermer  hin 

das  loblich  Thal  und  Land  Hasslin, 

In  Weissland  gnennet  vor  viel  Jahren, 

Dahin  Ostfriesen  kommen  waren. 

Und  ward  dies  Land  genent  Hasslin, 

Als  diese  Leut  kamen  dahin, 

Von  Hassnis,  einer  Statt  im  Land, 

Welches  sie  zuvor  verlassen  hand. 

Am  Brünig  nider  glassen  sich. 

Wie  ich  noch  diess  mag  bsinnen  mich(I) 

Eine  auf  solcherlei  Chronikstellen  gebaute  und  gemachte 
Sage  spricht  im  Sanenthale  vom  Friesenweg  als  derjenigen 
Richtung,  in  welcher  dorten  zu  gewissen  Nächten  das  Wilde  Heer 
seinen  Durchzug  nimmt.  Wenn  man  daselbst  die  Thüre  eines 
Melkstalles,  welcher  auf  dem  Friesenweg  gebaut  steht,  in  solchen 
Nächten  verriegele,  so  rufe  es  draussen: 

Thüet  uf  der  Stal,  thüet  uf  die  Thür, 
Wann  d^s  Friesenvolch  wolt  grad  derdürl 

lUustr.  Ztschr.  .Schweiz  1862,  no.  i.  Die  Sage  begeht  hier  eine 
absichtliche  Entstellung,  indem  sie  das  mit  Hagel  und  Frost 
begleitete  Phänomen  der  Wilden  Jagd,  also  das  Frostvolk 
(friesen  =  frieren),  in  den  Volksnamen  der  Frisii  verdreht.  Wissent- 
licher Betrug  und  dünkelhafte  Selbsttäuschung  haben  alsdann  das 
Friesenmärchen  mit  allerlei  Namens-Etymologien  weiter  aufgeputzt 
und  so  in  die  beiderseitige  Geschichtsliteratur  der  Friesen  und 
Schweizer   verpflanzt.     Hiefür    zwei    thatsächliche    Beweise.     Die 


72  !•    I^  Sagenkreis  von  Teil. 

handschriftliche  Schweizerchronik  des  Wettinger  Abtes  Silbereisen 
von  aargauisch  Baden,  geschrieben  im  Jahre  1576,  beruft  sich 
fol.  I,  Bogen  V,  bei  Erzählung  von  der  friesischen  Abkunft  der 
Schwyzer  auf  die  Chronik  des  Alpkonsus  uss  Friessland. 
In  den  Niederlanden  hat  man  zu  demselben  Zwecke  sich  ähnlicher 
Beweismittel  bedient.  Es  erzählen  dorten  Hamconn  Frisia  und 
sodann,  auf  ihn  sich  berufend,  in  unserer  Gegenwart  ein  Van  den 
Bergh:  Nerlandsche  Volksoverleveringen  en  Godenleer  (pag.  48): 
Die  Friesen  zogen  unter  Karl  dem  Grossen  mit  der  heiligen 
Fahne  nach  Rom,  eroberten  es,  nahmen  ihren  Rückweg  durchs 
Schweizerland  und  hinterliessen  an  der  Stelle,  wo  jetzt  Zürich 
liegt,  eine  Colonie.  Diese  nannten  sie  Surijck,  das  ist  Südreich, 
und  davon  leitet  auch  Zürich  seinen  Namen  ab.  Die  ganze 
Schweiz  hiessen  sie  auf  friesisch  Haele-wey,  d.  i.  Halbweg,  von 
der  Hälfte  des  Weges  nach  Rom,  und  daraus  entstand  später  der 
Name  Heluetia.  Wolf,  Niederländ.  Sagen  no.  iii.  Johannes 
Nauclerus,  vulgo  Vergenhans,  der  berühmte  erste  Rector  der 
Tübinger  Universität,  f  ca.  15 10,  berichtet  in  seiner  Lateinchronik 
(Memorabilium  etc.  chronicus  commentarios,  TubingCB,  1516,  foL)y 
Karl  der  Grosse  habe  10,000  Mann  der  von  ihm  besiegten  Sachsen 
mit  Weib  und  Kind  nach  Uri  »in's  Elend  geschickt.«  Da  hätten 
sie  beim  Ausreuten  der  Stauden  und  Hecken  in  ihrem  Sächsisch- 
deutsch  oftmals  gerufen:  »hie  wollen  wir  schwittenl«  d.  i.  schwitzen, 
und  davon  seien  sie  nachmals  von  den  Schwaben  Schwitzer  genannt 
worden.  Man  vrgl.  über  diese  Angabe  Sebastian  Franck,  Chronica 
der  Deutschen.     Augsburg,   1538,  fol.  CCVb. 

Hören  wir  nun,  wie  sich  dieselbe  Sage  bei  ein  paar  schwe- 
dischen Chronisten  anlässt,  deren  einer  noch  ein  Zeitgenosse  von 
Fründ  und  Hemmerlin  gewesen  ist. 

Eric  Olaus,  unter  der  Regierung  Königs  Karl  Canut  Professor 
der  Theologie  und  Dekan  der  Kirche  zu  Upsala,  starb  i486  und 
hinterliess  unter  anderen  Werken  eine  bis  zum  Jahre  1464  von 
ihm  fortgeführte  Chronica  Regni  Gothorunty  nun  gedruckt  in 
Band  II  von  Fant's  Scriptores  rer,  Suevicarutn.  Gegen  das  Ende 
seiner  Chronik  erwähnt  Olaus  wiederholt  des  damals  schwebenden 
Basler-Conciliums  (1431  bis  48),  weil  bei  diesem  auch  einige  Ab- 
geordnete der  Upsaler  Kirche,  zum  Theil  aus  sehr  weltlichen 
Gründen,  mit  erschienen  waren.  Aus  dem  Verkehr  dieser  Ge- 
sandten mit  oberdeutschen  Gelehrten  mag  dem  Chronisten  die 
angebliche    Stamm-    und    Namensverwandtschaft    des    Schweden- 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  m  Skandinavien  etc.  71 

un4  des  Schweizervolkes  in  jener  etymologischen  Erklärungsweise 
zugegangen  sein,  wie  er  sie  gleich  zu  Eingange  seines  (Jeschichts- 
werkes,  pag.  13,  anstellt.  Gleichwie  nemlich,  sagt  er,  die  Schweden, 
[ihr  ursprüngliches  Fünfreich  in  zwei  vereinbart  haben  und  nun 
ihrem  Regenten  den  doppelten  Titel  eines  Königs  der  Schweden 
und  der  Gothen  geben,  weshalb  denn  Manche  nun  das  so  verein- 
barte Reich  mit  dem  Namen  Zwe-rfke,  d.  i.  Zweireich,  erklären: 
so  ist  nicht  minder  übereinstimmend  hiemit,  dass  auch  die 
Schweizer,  die  nach  ihrer  eignen  Behauptung  von  den  Schweden 
und  Gothen  abstammen,  ihren  Landes- Vorort  Zürik  benennen, 
d.  1.  gleichfalls  Zwü-rich,  Zweireich,  lateinisch  Turegum.  Denn 
auch  sie  theilten  sich  anfänglich  in  zwei  solche  Reiche  und  nannten 
das  eine  gegen  Aufgang  liegende:  Oesterrtch,  das  andere  aber 
gegen  Niedergang  Schwyzia,  ein  an  Suecia  erinnernder  Name.*) 
Aehnliches  schreibt  Joh.  Magnus  Magliuson,  Erzbischof  von 
Upsala,  f  1545.**)  Ihm  zufolge  gelangt  die  schwedische  Aus- 
wanderung zur  See  nach  Rügen  und  Pommern,  theilt  sich  hier  in 
drei  Heerhaufen  und  einer  derselben  zieht  alpenwärts.  Post  multos 
et  varios  errores  pervenerunt  ad  illa  aspera  alpium  iuga,  in 
quibus  nunc  eorum  posteritas,  Suetziörum  nomen 
haiens,  perseuerat,  Magnus  knüpft  daran  die  Bemerkung, 
der  skandinavische  Ursprung  der  Schweizer  werde  nicht  bloss 
durch  deren  Geschichtschreiber,  sondern  durch  den  wohlwollenden 
freundschaftlichen  Empfang  dargethan,  der  jedem  die  Schweiz 
besuchenden  Schweden  zu  Theil  werde,  und  so  könne  auch  er 
sich  berühmen,  diese  gute  Erfahrung  persönlich  dorten  gemacht 
zu  haben.  Sein  Werk  erschien  abermals  zu  Basel  1567  fol.  bei 
Henricpetri ,  »in's  Hochteutsch  gebracht  durch  Joh.  Bapt.  Fickler 
von  Weyl  vor  dem  Schwartzwald.«    Nachdem  hier  im  XV.  Buch, 


•)  Nam  et  cum  processu  temporis  quinque  regna  praedicta  in  duo  tandem 
TCgna,  et  in  duos  essent  redacta  regios  principatus ,  unum  Sueciae,  alterum  Go- 
thorum  Regnnm  exstitit  nominatum.  Sed  et  usque  hodie  omnibus  his  regionibus 
in  unum  contractis  monarchicum  principatum,  Rex  pro  tempore  sub  duplici  titulo 
se  regem  nominat  Sueciae  scilicet  et  Gothorum.  Unde  quidam  nomen  regionis 
koc  modo  interpretantur  et  scribunt:  Zwerike,  h.  e.  duo  regna.  Cui  concordare 
dicunt,  quod  civitas  principalis  Switensium,  qui  se  a  Suecis  sive  Gothis  descendisse 
fatentur,  vocatur  Zurik,  i.  e.  duo  regna,  et  latine  Turegum.  Qui  et  ipsi 
similiter  se  diviserunt  in  duo  regna,  alterum  quod  ad  orientem  tendit  vocantes 
Oesterijke,  alterum  quod  ad  occidentem  vergit  Swyciam,  quasi  Sueciam  nominantes. 

•*)  Joannes  Magnus,  Archiepiscopus  Vpsaliensis,  Gothorum  Svenonumque 
Historia  etc.,  in  XXIV  libros  redacta.     Basilese,  Isingrin   1558.     80. 


*jA  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Cap.  2,  von  der  nordischen  Schützenkunst  gehandelt  ist  mit  der 
Bemerkung:  »es  seind  noch  viel  vnder  den  Gothländem,  welche 
ein  Apfel  auf  ein  Rhuoten  stecken  und  den  treffen  auf  ein  guote 
weite  im  ersten  schuss,«  folgt  die  Erzählung,  wie  auf  Harald's 
Befehl  Toko  seinem  Knaben  den  Apfel  vom  Haupte  schiesst. 
Der  beigefügte  Holzschnitt  zeigt  den  Schützen  in  Anschlag 
liegend;  der  Knabe  hält  den  Apfel  am  Stecken  in  der  Hand 
empor,  ein  Hund,  den  abgeschossnen  Pfeil  in  der*  Schnauze 
tragend,   springt  zum  Schützen  zurück. 

Die  Schweden  haben  also  erst  durch  die  Schweizer  Kenntniss 
erhalten  von  einer  in  die  Schweiz  gegangenen  schwedischen  Aus- 
wanderung, wie  dies  aus  Stumpfs  schon  vorerwähntem  Berichte 
erhellt,  womach  Schweden,  auf  Reisen  und  Messen  mit  Schweizern 
zusammen  treffend,  immer  fleissig  nachgefragt  hätten,  ob  sich  in 
schweizerischen  Jahrbüchern  von  einem  in's  Alpenland  gezogenen 
Schwedenvolke  eine  Meldung  vorfinde.  Darauf  hin  nahmen  endlich 
die  Schweden '  selbst  diese  Auswanderung  in  ihre  Chroniken  auf, 
ja  sie  machten  zuletzt  den  Versuch,  von  diesem  beständigen 
Nachfragen  nach  gegenseitiger  Verwandtschaft  wirklichen  Nutzen 
zu  gelegner  Zeit  zu  ziehen.  König  Gustav  I.  von  Schweden 
erwähnt  in  einem  Edikt  von  1555  der  schwedischen  Abstammungs- 
sage der  Schwyzer  und  folgert  daraus  eine  vormals  dichter  gewesene 
Bevölkerung  Schwedens.  Der  grosse  Gustav  Adolph  bezieht  sich 
in  seinen  diplomatischen  Briefen  und  Sendungen  an  die  Schweizer 
abermals  auf  jene  Sage  und  erinnert  seine  Herren  Vettern  in  den 
Alpen,  gegen  Oesterreich  als  den  beiderseitigen  Feind,  gemein- 
schaftliche Sache  zu  machen.  Sein  Gesandter,  der  Ritter  Christoph 
Ludw.  von  Rasche,  vergass  nicht,  in  einer  der  Tagsatzung  zu 
Baden  am  10.  October  1631  übergebnen  höchst  umfangreichen 
Zuschrift  und  in  seinem  am  10.  Dezember  daselbst  gehaltnen 
lateinischen  Vortrage,  auf  die  uralten  Verbindungen  zwischen 
Schweden  und  Schweizern  und  auf  den  gemeinsamen  Ursprung 
dieser  zwei  kriegerischen  Völker  hinzuweisen.  Auch  Kanzler 
Oxenstierna  bediente  sich  vielfach  derselben  diplomatischen  An- 
spielungen und  Mahnungen.  Allein  gerade  bei  dem  Theile  des 
schweizerischen  Volkes,  der  diese  Verwandtschaft  am  meisten  in 
Anspruch  nahm,  vermochten  damals  die  Schweden  damit  am 
wenigsten,  und  bloss  bei  den  reformirten  Kantonen,  die  solches 
nicht  betraf,  erwirkten  sie  sich  die  Erlaubniss,  Truppen  anwerben 
zu  dürfen. 


3.    Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  yc 

Nachdem  die  akademische  Gelehrsamkeit  zu  Upsala  seit  dem 
vorigen  Jahrhundert  mit  mehrfachen  Dissertationen  über  diese 
Frage  sich  den  Kopf  zerbrochen  hatte,  (sie  sind  besprochen  im 
Schweizer  Gesch.-Forscher  VIII,  305  ff.)  ist  sie  dorten  in  unsrer 
Zeit  neuerdings  wieder  hervorgeholt  worden.  Geijer  (Schwed. 
Gesch.)  nimmt  sie  ernstlich  und  setzt  sie  in  die  Zeiten  der  Nor- 
mannenzüge;  Strinholm  (Gresch.  der  Wikingszüge.  Hamburg,  1839, 
pag.  ,190  ff.)  erhebt  sie  zu  einer  Art  historischer  Gewissheit. 
Beide  Historiker  stützen  sich  hiebei  auf  dieselben  Quellen,  welche 
auch  den  schweizerischen  Chronisten  gedient  haben.  Sie  berufen 
sich  auf  Jomandes,  welcher  cap.  IV  ^den  Ursprui^  der  Gothen 
nach  Scanzia,  Skandinavien,  versetzt,  dieses  Nordland  eine  officina 
gentium  et  vagina  nationum  nennt  und  von  da  aus  die  Volks- 
wanderung nach  Süden  ergehen  lässt.  Ihre  zweite  Quelle  ist 
Paul  Diaconus,  der  das  Volk  der  Langobarden  ebenso  aus  Skan- 
danan,  alias  Skandinavia,  kommen  und  nach  Italien  ziehen  lässt. 
Sie  citieren  ferner  das  langobardische  Auswanderungslied,  womach 
Skanziens  Bevölkerung  einer  andauernden  Hungersnoth  wegen 
die  Heimat  verlässt  und  unter  zwei  Anführern  Ebbo  und  Aggo 
neue  Wohnsitze  sucht.  *)  Sie  berufen  sich  auf  das  Ragnar  Lodh. 
brok-Lied,  wornach  der  Auszug  der  Nordländer  von  Seeland  aus 
in's  Frankenreich  ergeht  bis  an  die  Ufer  der  Maas.  Hier  bauen  sie 
einen  festen  Platz  Haslou,  aus  dem  das  nachmalige  Ober-Hasli  wird. 
Der  Zug  erreicht  den  Oberrhein  und  dringt  von  hier  plündernd 
bis  Solatra  und  Fivizuborg  vor,  das  ist  Solothurn  und  Wifflisburg ; 
letzterer  Ort  ist  der  deutsche  Name  von  römisch  Aventicum  und 
französisch  Avenche.  (Diese  schweizerischen  Ortsnamen  in  einem 
altnordischen  Lodhbroksliede  dürfen  nicht  befremden;  sie  waren 
für  den  Isländer  stabile  Orte  auf  der  Reiseroute  nach  Rom,  wenn 
ihn  Wanderlust  und  Frömmigkeit,  statt  wie  früher  auf  die  Wikings- 
fahrt, nun  auf  die  Romfahrt  trieben.)  Die  Hauptquelle  aber,  auf 
welcher  der  nordischen  und  deutschen  Chronisten  Erzählung  über 
die  Wandersage  beruht,  hier  bis  zuletzt  verspart,  ist  Saxo  Gram- 
maticus.  Er  erzählt  im  9.  Buch,  S.  171  (Stephanius)  vom  Dänen- 
könig Ragnar  Lodbrok :  Statuit  ut  unusqtdsqtie  paterfamilias,  quem 
inter   liberos    cantemptissimum    duceret,    aut    si    quem   pigHoris 


*)  De  exitu  Longobardorum  Rhythmi  antiqui,  lingua  Gothlandica,  cum 
versione  latiiia  Viti  Beringii  Vibergii.  In  des  Stephanius  Saxo,  Notae  uberiores, 
pag.  181. 


76  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

operae,  ac  minus  speciatae  fidei  servum  haberet,  stipendia  sibi 
meriturum  offerret,  Quod  edictum  tametsi  parum  proposito  com" 
petens  videretur,  invalidissintos  Danicae  gentis  aliarum  nationum 
fortissimis  praestare  docuit,  magnumque  juventuti  profectum  attuliU 
delectis  certatim  socordiae  notam  abstergere  cupientibus.  Sodann 
weiter  auf  S.  172:  Vocata  Danicorum  concione  saluberitnas  se 
populo  leges  laturutn  promittens,  ut  unusquisque  pateffamilias 
sicut  ante,  quem  minimi  inter  liberos  duxeraty  militatunmi  exkiberet, 
ita  tunc  valentioris  operae  filium,  auf  probatioris  fidei  servum 
armaret,  edixit  Die  vom  Könige  hier  gegebene  Satzung  bestimmt 
also,  dass  bei  überflüssiger  Volksmenge  das  jüngere  Volk  und 
der  jüngste  Sohn  der  Familie  kriegsgerüstet  auszuwandern  habe. 
Die  langobardische,  gothische  und  schweizerische  Wanderungssage 
enthalten  dieselbe  Angabe. 

Ist  schliesslich  nun  noch  der  Standpunkt  angegeben,  den  die 
spätere  schweizerische  Geschichtsforschung  in  der  berührten  Frage 
einnimmt,  so  hat  vorliegender  Abschnitt  sein  Ende  erreicht. 

Seit  dem  16.  Jahrhundert  greift  die .  literarische  Mode  Platz, 
dass  der  Autor  seinem  Werke  ein  Verzeichniss  der  von  ihm  be- 
nützten Quellen  voranstellt.  Schon  Stumpf,  Ausg.  v.  1548,  hat 
ein  solches  und  nennt  darin  den  Saxo  Danus.  Wir  wissen  daher, 
dass  dieser  dänische  Schriftsteller  seitdem  bei  den  Schweizern  als 
voUgiltige  Autorität  angesehen  war.  Stumpf  hält  es  daruip  für 
seine  Pflicht,  Saxo's  Auswanderungssage  zu  wiederholen,  denn 
»die  Schwyzer  halten  sich  je  und  je  gerühmt,  von  den  alten 
Schwediern  abzustammen;«  allein  sein  persönliches  Denken  darüber 
hinterhält  er  nicht:  Er  wolle  zwar  Jedem  hierüber  sein  Gut- 
dünken lassen,  es  sei  jedoch  »eine  argwöhnische  Histori,  worin 
die  Irrthümer  nicht  zu  zählen,  aus  Stempeneien  zusammen  gesetzt,  c 
Bei  Tschudi  vernehmen  wir  ein  ähnliches  Schwanken.  In  seinem 
»Hauptschlüssel  zu  verschiedenen  Alterthümern«  beruft  er  sich 
S.  174  auf  eine  handschriftliche  Schwyzerchronik :  *Gesta  Sui- 
tensium,  worin  enthalten:  die  Geschichte  der  Ostfriesen,  Swedier 
vnd  andre,  so  mit  jnen  gereisset,  vnd  wie  Switer  dem  Lande 
den  Namen  Swiz  gegeben.«  Allein  in  seinem  Briefe  an  Josia 
Simler  vom  Jahre  1568  (abgedruckt  Helvetia,  Bd.  6,  492)  steht 
er  schon  bei  der  neuen  Conjectur,  die  Urkantone  seien  nicht  von 
Schweden,  sondern  von  Cimbern  bevölkert  worden,  »welche  ding 
ein  fabeldichter  (Fründ),  so  innert  hundert  jaren  der  Switem  har- 
kommen    beschriben,    gar    verfelscht.     Was    derselb    Märrsagjer 


3-     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  77 

witers  irer  gesta  schribt  und  ouch  mit  lugen  vermengt,  wurd  ich 
ouch  ex  canjecturis  reinigen.c  Entschiedneren  Urtheils  ist  Anton 
Heinrich  Pantaleon,  der  erste  Schweizer,  welcher  Saxo's  Tokosage 
zum  Zwecke  geschichtlicher  Vergleichung  ins  Deutsche  übersetzt 
hat.  Seine  geistige  und  leibliche  Ausdauer  in  einem  vielbewegten 
Leben  gewinnt  uns  Bewunderung  ab,  darum  folgender  kurze 
Abriss.  Geboren  1522  zu  Basel  dortigen  Bürgersleuten,  geht 
Pantaleon  aus  Bildungstrieb  und  Vermögensmangel  frühzeitig  den 
Schulen  in  Frankreich  nach,  wird  dann  zu  Basel  bei  Bebelius 
Buchdrucker,  verlässt  das  Handwerk  und  vagirt  an  den  Universi- 
täten zu  Freiburg,  Heidelberg  und  Ingolstadt.  An  letzterem 
Orte  wird  er  Bedienter  des  italienischen  Arztes  Cesar  Delphinus, 
zieht  mit  ihm  nach  Wien,  erwirbt  hierauf  zu  Heidelberg  das 
Baccalaureat  und  kehrt,  nun  erst  zwanzigjährig,  nach  Basel  heim. 
Hier  promoviert  er  zum  Magister,  wird  lateinischer  Schulmeister, 
dann  Pfarrer  zu  St.  Peter,  beschliesst  Medicin  zu  studieren  und  tritt, 
um  die  Mittel  hiezu  zu  erwerben,  in  der  Frobenischen  Druckerei 
als  Corrector  ein.  Hier  verfertigt  er  Register  und  Präfationen 
zur  Edition  der  Latinisten,  panegyrische  Epigramme  und  ein  1 546 
gedruckt  erschienenes  Schauspiel  Zachäus.  Nachdem  er  eine 
wahrscheinlich  vermögliche  Baslerin  geheiratet,  durchreist  er 
Frankreich  abermals,  studiert  in  Montpellier,  macht  an  den  Pyre- 
näen und  am  Mittelmeer  zoologische  und  botanische  Sammlungen 
und  promovirt  als  Dr.  Med.  zu  Vallence.  Nach  Basel  zurück- 
gekehrt, ist  er  praktischer  Arzt,  lehrt  an  der  Hochschule  Dialektik 
und  Physik  und  entwirft  die  revidirten  Universitäts  -  Statuten. 
Zum  Broderwerb  übersetzt  er  der  Reihe  nach  Sleidan,  Cardan, 
Paul  Jovius,  Nauclerus\  Conr.  Gesners  Evonymus  und  Andere. 
So  entsteht  sein  historisches  Hauptwerk,  die  Prosographie. *) 
Davon  veranstaltete  er  eine  in's  Deutsche  übersetzte  Ausgabe, 
die  er  selber,  wegen  ihrer  Ergänzungen,  dem  Originale  vorzog, 
betitelt:  Teutscher  Nation  Heldenbuch.  Basel  bei  Niclas  Bry- 
lingers  Erben  1567 — 15 70.  3  Thl.  fol.  Um  die  Materialien 
hiefür    aufzusammeln,    bereiste    er    1565,    begleitet    durch    einen 


♦)  Ant.  Heinr.  Pantaleon,  Physicus  Basileensis:  Prosographia  Heroum  atque 
jUustrium  virorum  totius  Germaniae.  Basil.  1565.  3  Part,  in  fol.  —  Pars  II, 
P^«  73 — 74:  »Toko  miles  Daniae  966,  ejus  sagittandi  peritia.  Similem  fere  hi- 
storiam  postea  apud  Helvetios  a  Vuilhelmo  Tello  contigisse  patet.  Vide  Saxo 
Grammaticus  Hist.  Daniae,  lib.  10.« 


yS     '  I«     I^w  Sagenkreis  von  Teil. 

reitenden  Söldner  der  Stadt  Basel,  fast  ganz  Mittel-  und  Ober- 
deutschland,  durchforschte  die  Klosterarchive,  befragte  die  Fach- 
leute, und  was  diese  bei  ihren  Bürgern,  Grafen  und  Fürsten: 
erfuhren,  das  wurde  ihm  mündlich  und  schriftlich  zu  wissen 
gethan.  »Dergestalt  (schreibt  er,  Bd.  III,  pag.  529  in  seiner  dort 
beigefügten  Autobiographie)  faret  Pantaleon  in  diesem  1570.  jar 
ordenlich  für.«  Kaiser  Maximilian  II.  ernannte  ihn  zum  gekrönten 
Poeten  und  Palatingrafen.  Pantaleon  starb  1595.*)  Im  zweiten 
Theile  des  Heldenbuchs,  pag.  105  und  386  erzählt  er  in  zwet 
verschiedenen  Capiteln  von  »Toko,  Kriegsmann  in  Dänemark 
anno  965«  —  und  von  »Wilhelm  Teil,  der  I.  Eidgenoss  1312.« 
Beiden  Abschnitten  ist  der  gleiche  Holzschnitt  beigedruckt:  das 
Brustbild  eines  Mannes  in  engem  Wams,  auf  dem  Rücken  ist  ein 
Kreuzzeichen  aufgenäht;  er  trägt  einen  vorne  aufgestülpten  Hut,, 
setzt  die  Armbrust  aus  dem  Anschlag  und  blickt  einem  eben 
abgeschossnen  Pfeile  nach,  während  ein  zweiter  vom  Halse  herab 
im  GoUer  steckt.  Die  Tokogeschichte,  wörtlich  nach  Saxo  über- 
setzt, führt  er  nur  bis  zur  Schuss-Scene,  springt  dann  über  auf 
Haralds  Ermordung  durch  den  Schützen,  —  »desshalben  Toko< 
seiner  mannlichen  thadt  halben  ein  ehrliche  belonung  entpfangen«  — 
und  schliesst  hierauf  also  ab:  »Es  hat  sich  fast  harnoch  in  der 
Eydgenossschafft  ein  gleichförmige  Historien  zuogetragen  mit 
Wilhelm  Teilen  vnnd  dem  Landvogt,  als  an  seinem  orth  solle 
geoffenbaret  werden.« 

Die  nun  weiter  folgenden  schweizerischen  Chronisten  werden- 
deshalb  hier  übergangen,  weil  sie  bezüglich  des  fraglichen  Thema's- 
ihre  Vorgänger  lediglich  wiederholen.  So  ist  z.  B.  des  Basler 
Pfarrers  J.  J.  Grasser  Schweitzerisches  Heldenbuoch  (Basel  1624.. 
4^)  schon  dem  Titel  nach  ein  an  Pantaleons  Werke  begangenes 
Plagiat  und  die  hier  ebenfalls  mit  enthaltene  Tokogeschichte  ist 
Wort  für  Wort  aus  letzterem  abgeschrieben.  Diejenigen  Geschichts^ 
freunde,  welche  Grassern,  nach  Joh.  v.  Müller's  Vorgang,  auch 
jetzt  noch  citieren,  scheinen  nicht  zu  wissen,  dass  dieser  »Diener 
des  Göttlichen  Wortes«  äusserst  unchristliche  Begriffe  über  das. 
geistige  Eigenthumsrecht  hat.  Nicht  aus  Mangel,  sondern  aus 
Ueberdruss  an  solchem  Stoffe  überspringen  wir  daher  ein  ganzes 
Jahrhundert,   um  abermals  einem  Basler  zu  begegnen,   welcher  es 


*)   Fr.   Miescher:    Die   medizin.    Facultät   in   Basel  etc.     Zur  4.   Säcularfeior 
1860.     Basel.  40. 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  7p- 

wagt,  der  Wahrheit  Zeugniss  zu  geben.  Jac.  Christ.  Iselin, 
Lexicon  IV,  573  (gedruckt  Basel  1728)  schreibt  bezüglich  der 
Tellengeschichte :  »Wie  viele  neue  scribenten  auch  dieser  geschieht 
meidung  thun,  so  kann  man  gleichwohl  nicht  mit  stillschweigen 
übergehen,  dass  erstlich  solche  in  keinem  gar  alten  geschicht- 
schreiber  gefunden  werde,  und  für's  andere,  dass  Olaus  Magnus 
und  aus  dem  noch  andere  eine  gantz  gleiche  begebenheit  von 
einem  gewissen  Tocho  erzehlen,  die  sich  zur  zeit  des  Dänischen 
Königs  Harald,  und  also  viel  hundert  jähre,  ehe  noch  die 
Schweitzer  von  Oesterreichischen  landvögten  gedränget  wurden, 
solle  ereignet  haben  und  doch  der  vorerzehlten  geschieht  des 
Wilhelm  Teilen  gantz  gleich  ist;  so  dass  schier  nicht  zu  zweifeln, 
dass  nicht  die  eine  erzehlung  aus  der  andern  hergenommen  sey.« 
Wie  wird  nun  damals  die  Antwort  gelautet  haben,  oder 
vielmehr,  wie  lautet  sie  noch,  wenn  man  die  altgläubige  Schule  über 
derlei  Iselin'sche  Folgerungen  befragt?  Sie  fasst  sich  in  folgendes 
Sätzlein  zusammen,  das  Joh.  von  Müller  ererbt  und  auf  die 
Seinigen  weiter  vererbt  hat.  »Es  verräth,  sagt  er  in  Bd.  I  der 
Schwz. -Gesch. ,  eine  geringe  Erfahrung  in  der  Geschichte,  von 
zwei  Begebenheiten  eine  zu  leugnen,  weil  in  einem  andern  Land 
oder  Jahrhundert  ihr  eine  andere  ähnlich  war.«  Die  zwei  von 
Müller   hier  postulierten  Aehnlichkeitsfälle  haben  sich  seither  auf 

!  sehr  viele  Gleichheitsfälle  vermehrt,  und  welcher  Historiker  heute 
noch  dießelben  ignoriert,  dem  ist  obiger  Vorwurf  wissenschaftlicher 
Erfahrungslosigkeit   in  erhöhtem  Maasse  zurück  zu   geben.     Seit 

,  dem  sechsten  Jahrhundert  lebt  der  Apfelschütze  Eigil  in  deutschen 

!  noch  vorhandnen  Liedern,  und  sein  Meisterschuss,  ein  Gemeingut 
der  indo-germanischen  Völkerfamilie,  findet  sich  in  Persien,  Island, 
Norwegen,  Schweden,  auf  den  Inseln  Seeland  und  Oesel ,  in  Eng- 
land und  Holstein,  Verwandtes  sogar  bei  den  Ehsten,  Finnen  und 
Lappen.  Wie  lange  vorher,  ehe  eine  Schweiz  war,  musste  also 
die  Sage  zu  Völkern  gedrungen  sein,  die  heute  räumlich  so  un- 
gemein sich  ferne  stehen.  Und  welch  unehrliches  Handwerk 
betreibt  alsdann  derjenige  Historiker,  der  seinen  historischen  Teil 
selbst  nicht  glaubt,  ihn  innerhalb  der  stummen  vier  Seiten  von 
Gelehrtenbriefen  selbst  bestreitet,  dagegen  im  vaterländischen 
Geschichtswerke  ihn  mittels  eines  förmlichen  Kehrichthaufens 
lächerlich  ersonnener  Urkunden  als  einen  historischen  Helden 
erweist    und   preist.     Müller  hatte  im  Jahre  1785   seinem  ältesten 

,  Schweizerfreunde    geschrieben,    bezüglich    der   Tellenbegebenheit 


go  I.     Der  Sagenkreis  van  Teil. 

sei  er  mit  sich  selber  noch  nicht  ini  Reinen  und  werde  sich  mit 
guter  Manier  aus  der  Sache  zu  ziehen  suchen ;  er  erhält  dann  im 
darauf  folgenden  Jahre  von  einem  andern  schweizerischen  geschichts- 
forschenden  Freunde  die  Antwort:  »Ich  bin  mit  Ihnen  voll- 
kommen gleichstimmig,  die  Geschichte  des  Apfels 
als  unzuverlässig  anzusehen.«*)  Dieselbe  Sophistenrolle 
wie  in  der  Tellenfrage  spielt  Müller  auch  in  der  Einwanderungs- 
frage. Er  hatte  dieselbe  im  i.  Bd.  der  Schwz.-Gesch.  nicht  bloss 
mit  allerlei  historischen,  sondern  mit  den  abenteuerlichsten  Mitteln 
der  Sprachforschung  verfochten.  Die  »Nationalsprache«  der  gegen- 
wärtigen Haslithaler,  sagt  er  da,  sei  zwar  nicht  schwedisch,  aber 
undeutsch,  und  der  Urstamm  ihrer  Wörter,  wenn  man  sie  auch 
in  ein  Idiotikon  sammeln  könnte,  lasse  sich  nicht  mehr  errathen. 
Vor  anderthalbtausend  Jahren  hingegen  konnten  die  durch- 
einander wandernden  Völker  des  Nordens  sich  noch  nicht  so  sprach- 
fremd geworden  sein.  Jene  durch  Hemmerlin  vertretne  Meinung, 
die  Einwohner  der  Waldstätte  seien  Sachsen,  welche  unter  Karl 
dem  Grossen  in  das  innere  Franken  und  von  da  in  die  Schweiz 
verpflanzt  worden,  finde  ebenfalls  eine  Unterstützung  durch  die 
auffallende  Aehnlichkeit ,  welche  die  Sprache  des  gemeinen 
Mannes  in  einigen  Alpenthälern  mit  derjenigen  auf  dem  Thüringer- 
Walde  habe.  Dass  Müllern  derlei  erquälte  Einfälle  nicht  ernst 
waren,  bewies  er  in  seinem  Briefwechsel  mit  dem  Historiker 
J.  C.  von  Pfister,  von  dem  er  auf  seine  eben  bemerkten  Phan- 
tasmen  hin  nachfolgende  Zuschrift  empfieng  und  unter  lebhafter 
Beistimmung  entgegen  nahm:  »Die  besondere  Frage  von  der 
Einwanderung  der  Schweizer  hoffe  ich  näher  erörtern  zu  können. 
Die  Hauptsache  beruht  auf  dem  Beweis,  dass  das  ganze  swevische 
und  alemannische  Volk  überhaupt  nicht  vom  Norden  her  ein- 
gewandert, sondern  von  jeher  in .  diesen  Sitzen  gewesen.  Der 
zweite  Beweis  muss  zeigen,  dass  die  Colonien,  deren  die  alten 
Lieder  gedenken,  in  Sprache  und  Stammesart  von  den  Alemannen 
gar  nicht  verschieden  sind,  und  dass  das  Mutterland,  aus  dem 
sie  ausgewandert  sind,  kein  anderes  sein  kann  nach  der  Beschrei- 
bung, als  Schwaben  oder  höchstens  Thüringen.«  Joh.  v.  MüUer's 
Briefe.     Schaff*hausen,  1839.  3,  261. 


*)    Briefe   an  Joh.   v.   Müller.     Schaff  hausen,    1840.     Bd.    5,    16.     Der   hier 
zuletzt  Schreibende,  ist  der  Berner  Schultheiss  N.  F.  v.  Mülinen,  der  Brief  v.  1786. 


3.     Die  Eigil-  und  Tokosage  in  Skandinavien  etc.  3l 

Die  hiemit  zu  Ende  geführte  Frage  nimmt  in  den  Wald- 
stäften  noih  immer  denselben  Standpunkt  ein,  der  durch  den 
Einfluss  von  Joh.  Müllers  Schriften  fixirt  worden  ist,  denn  das 
conservative  Herkommen,  die  ihm  dienende  Obrigkeit  und  die 
diesen  beiden  wiederum,  dienstbare  Presse  sind  die  drei  Gewalten, 
welche  den  historischen  Aberglauben  pflanzen  und  erhalten.  Noch 
im  Jahre  1789  ist  auf  schwyzerische  Gemeindekosten  am  grossen 
Susthause  des  Dorfes  Brunnen  am  Waldstätfersee  jenes  Wand- 
gemälde gemacht  worden,  die  Schwedenbrüder  Scheyo  und  Suiter 
darstellend,  welche  dem  Lande  Schwyz  den  Namen  gaben.  Man 
beglaubigt  die  Thatsache  überdies  durch  das  im  dortigen  Dorfe 
selbst  gelegene  Landstück  Suiters-acker*).  Meyer-Knonau,  Der 
Kanton  Schwyz,  279.  Seitdem  die  Popularschriften  in  Form  von 
Volkskalendern,  Volksbibliotheken,  Schulbüchern  u.  s.  w.  die 
unteren  Classen  ausbeuten,  sind  alttraditionelle  Geschichts- 
anschauungen auch  unter  jenem  Theile  des  Volkes  verbreitet 
worden,  der  sonst  nicht  liest.  Als  in  den  zwanziger  Jahren  die 
beiden  Sprachforscher  Schmeller  und  Schottky  die  deutschen  Ge- 
meinden von  Verona  und  Vicenza  bereisten,  um  deren  Abkunft 
und  Mundart  kennen  zu  lernen,  erklärten  ihnen  die  Bauern  jener 
isolirten  Dörfer :  Wir  sind  Cimbern :  Bir  saind  Cimbarn! 
Aehnliches  mag  man  jetzt  vielleicht  in  den  Waldstätten  auch 
meinen.  Wenigstens  hat  sie  Zschokke,  Des  Schweizerlandes  Ge- 
schichten, dazu  gemacht  und  diese  Abstammung  aus  der  Aehn- 
lichkeit  dortiger  Geschlechtsnamen  mit  skandinavischen  erweisen 


*)  Suithger,  ein  Adeliger  Bajuvarrens,  mit  dem  Baiemherzog  Tassilo  zu 
König  Pippin  stehend.  Einhart,  Jahrbücher  749.  Suitgar,  Gaugraf  über  das 
von  Alemannien  losgerissene  Sualafeld,  im  baierischen  Franken,  nördlich  von  der 
Donau.  Rettberg,  Kirchen-Gesch.  2,  349.  Suuidger,  anno  777  Zeuge  in  der 
Urkunde  der  Markenbeschreibung  von  Hammelburg  am  Main.  Roth,  Beiträge 
2,  82.  Suidker,  anno  827  an  der  altbaierischen  Ammer  begütert.  Roth,  ibid. 
München  1853,  pag,  38.  Suitger,  Bischof  von  westfälisch  Münster.  Thiet- 
mar  von  Merseburg  IV,  Cap.  I2."  Suitger,  Bischof  von  Bamberg,  dann  als  Papst 
Clemens  II.  auf  dem  Stuhle  Petri  von  1046^1047  sitzend.  Laurent's  Adam  von 
Bremen  (Berlin  1S50)  S.  103.  Der  althd.  Personenname  ist  zusammengesetzt  aus 
suit:  multitudo,  und  gir,  hasta,  Haupt,  Zeitschr.  5,  233.  Zum  Ueberflusse 
I  erscheint  1527  der  Bauer  Klaus  Schwitter  von  Meienberg,  geschworner  Sechser 
[  daselbst,  als  einer  der  Gemeindeboten  des  oberen  Freiamtes  .im  Aargau,  die  das 
I  Amtsrecht  von  Meienberg  in  schriftliche  Fassung  zu  bringen  haben.  Argovia. 
i     Ztschr.  v.   1876,  S.  86. 

Rochholz,  Teil  und  Gessler. 


g2  !♦    ^^  Sagenkreis  von  Teil, 

ZU  können  geglaubt;    als  ob*  es  bei  jener  vermeintlichen   Wan- 
derung schon  Geschlechtsnamen  gegeben  hätte. 

Wenn  nun  auch  der  Mythus  von  Toko-Tell  ein  echter  ist, 
so  ist  doch  die  Vereinbarung  zweier  mythischer  Grestalten  und 
Schicksale  zu  einem  speciell  helvetischen  Zwecke ;  ferner  die 
Uebertragung  einer  vorzeitlichen  Sage  auf  eine  chronologisch 
fixirte  schweizergeschichtliche  Begebenheit;  sodann  das  Herein- 
ziehen der  göthischen  und  der  langobardischen  Wandersage  auf 
das  winzige  und  spät  bevölkerte  Gebiet  am  Waldstättersee  — 
zusammen  nichts  anderes  als  ein  gewaltthätiges  Machwerk  rathen- 
der  und  verrosteter  Gelehrsamkeit,  mithin  das  schnurgerade 
Gegentheil  echter  Volkssage. 


IV. 

Teilsagen   der   Inselschweden  und  Ehsten. 
Sage  vom  Apfelschuss  und  der  Tellenplatte 

bei  Finnen  und  Lappen. 


Erinnerungen  an  einen  riesenhaften  Nationalhelden  in  der 
wechselnden  Namensform  TöUo,  Töl  und  Teil  (Genetiv  Tellis) 
sind  an  der  Küste  des  finnischen  und  Rigaischen  Meerbusens  und 
auf  der  benachbarten  Inselgruppe  an  mehrfachen  Orten  localisirt 
und  zwar  so  lange  schon,  als  in  diesen  Gegenden  die  schwedische 
und  die  ehstnische  Race  sesshaft  sind.  Die  hierüber  genau  er- 
hobenen nachfolgenden  Angaben  gehören  verschiedenen  histori- 
schen Publicationen  an,  welche  in  den  russischen  Ostsee-Provinzen 
zwischen  den  Jahren  1846  und  1868  erschienen  sind.*) 

Im  Kirchspiel  Newe,  an  der  ehstnischen  Westküste  des  fin- 
nischen Meerbusens,  geht  der  Bach  Jösma  an  einem  isolirt  geleg- 
nen Haide-Wirthshaus  vorüber,  welches  nach  seiner  Lage  an  einer 
Brücke  (silla)  und  nach  einem  vormaligen  Eigenthümer  Töll-silla, 
TöUs  Brücke  heisst,  denn  hier  hat  im  Jahre  1568  ein  Töl  Lawer 
gewohnt.  —  Im  nördlichen  Theile  der  Insel  Dago  liegt  das  zum 
Herrschaftsgute  Hohenholm  gehörende  Bauemgesinde  Tellis-Kiwwi, 


*)  Die  uns  selbst  vorliegenden  sind: 

1)  Kruse,  Ehstnische  Urgeschichte.     Moskau  )[S46. 

2)  Russwurm,  Eibofolke:   Ethnographische   Beschreibung   der  Insel-  und  Küsten - 
Schweden  Ehstlands.     Reval  1855. 

3)  Das  Inland.     Wochenschrift    für    Liv-,   Ehst-    und   Kurlands   Geschichte    etc. 
Dorpat  1856,  No.  9  und  No.  33. 

4)  Pabst,  Ed.,  Beiträge  zur  Kunde  Ehst-,  Liv-  und  Kurlands,   herausgegeben  von 
der  Ehstländ.  Lherär.  Gesellsch.     Reval  1868. 

6* 


gj,  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

.  mm 

d.  h.  Teils  Stein.  —  Auf  der  Insel  Osel,  ehedem  von  Schweden, 
jetzt  vorherrschend  von  Ehsten  bewohnt,  hat  der  Riese  TöUus 
einen  eignen  Edelhof  besessen,  der  da  noch  jetzt  des  TöUus 
Edelhof  oder  die  Burg  Töllist  heisst.  Dieser  Riese  hat  auf  der 
von  Osel  neun  Meilen  entfernten  Insel  Runö  einen  Kohlgarten  an- 
gelegt und  ist  da,  so  oft  er  Kraut  kochen  wollte,  hinüber  und 
zurück  geschritten,  bevor  das  Wasser  im  Kessel  siedend  gewor- 
den war,  das  er  über's  Feuer  gethan  hatte.  —  So  weit  schöpft 
unsre  vorliegende  Mittheilung  aus  Russwurms  Eibofolke,  §§.  183 
und  393.  Was  hier  weiter  folgt,  stammt  aus  dem  Munde  eines 
Ehsten  auf  der  Insel  Dagden  (schwedisch  Dago),  die  vormals  Von 
Schweden  bewohnt  gewesen,  jetzt  ehstnisch  ist  und  in  dieser 
Sprache  den  Namen  Hioma  trägt,  d.  h.  die  Heilige.  Dieses 
Ehsten  mündlicher  Bericht  steht  wortgetreu  mitgetheilt  in 
Ed.  Pabsts   vorerwähnten  Beiträgen  (Reval  1868)  Bd.   i,   S.  iii. 

Als  Töllo  hörte,  dass  auf  Dagden  (Dago)  die  Kirche  von 
schwedisch  Keinis  gebaut  wurde,  hat  sein  Gemüth  sich  hierüber 
erzürnt.  Er  hat  drum  einen  grossen  Stein  genommen  und  mit 
demselben  von  Osel  aus  den  Kirchenthurm  von  Keinis  nieder- 
werfen wollen.  Allein  dieser  Stein  hat  nicht  so  weit  gereicht  und 
ist  in  der  Nähe  von  Dagden  in's  Meer  gefallen;  daselbst  liegt  er 
noch  und  wird  des  Töllus'  Stein  genannt.  Als  dann  Krieg  ge- 
wesen ist  und  die  Feinde  gehört  haben,  dass  Töllus  auch  gegen 
sie  gekommen,  da  sind  sie  geflohen.  Töllus  hat  ihnen  ein  Wagen- 
rad nachgeworfen,  dass  -es  neun  Werste  weit  im  Laufe  blieb.  An 
der  Sandbank  bei  Sworbe  (eine  langgestreckte  Halbinsel  Osels 
mit  zwei  Kirchspielen,  früher  schwedisch,  jetzt  ehstnisch  bevöl- 
kert) ist  das  Rad  entzwei  gegangen,  die  Radschiene  soll  noch 
jetzt  in  Ösel  vorhanden  sein. 

Der  Riese  Teil  hatte  zwei  jüngere,  ebenmässig  starke  Brüder 
Leiger  und  Neider.  Wie  er,  so  zeichneten  auch  sie  sich  im  Fels- 
schleudern  aus,  durchwateten  das  hohe  Meer  und  gelten  zusammen 
als  siegreiche  Vaterlandsvertheidiger."] 

Der  Bruder  Leiger  hat  in  Dagden  nahe  bei  der  Kapelle 
Surro  gelebt;  daselbst  sind  von  ihm  manche  Gedenkstellen,  so 
das  Gehöfte,  welches  Leiger' s  Gesinde  heisst,  und  noch  andere 
Orte,  »deren  ich  mich  nicht  mehr  erinnere«.  (Zu  dieser  persön- 
lichen Bemerkung  des  ehstnischen  Erzählers  fügt  der  Vermittler 
dieser  Notiz,  Heinrich  Neus,  bei:  Die  Lage  der  Kapelle  Surro 
und  des  genannten  Gehöftes  weiss    man  ehstnisch  nicht  mehr  zu 


4.   Tellsag^  der  Inselschweden  und  Ehsten  etc.  85 

bestimmen.)  Die  beiden  üertlichkeiten  daselbst  kennt  man  dage- 
gen noch  schwedisch.  Russwurms  Lithographische  Beilagen  zu 
Eibofolke  (Reval  1855)  verzeichnen  auf  Karte  IV  im  nördlichen 
Theile  der  Insel  Dago  (Dagden)  zwei  Nachbargehöfte  Namens 
Leigri,  welche  am  Wege  von  Hütti  nach  Nömmerga  liegen,  an 
westwärts  weit  ausgedehnten  Sümpfen.  Und  an  der  Südspitze 
Dagö's  liegt  auch  die  Kapelle  Serro;  vergl.  Russwurms  Karte  I. 

Wenn  die  Brüder  einer  den  andern  besucht  haben,  dann 
haben  sie  einen  fünf  Faden  langen  Balken  als  Stecken  in  der 
Hand  gehabt  und  ein  halbes  Fass  Bier  in  der  Tasche.  In  dieser 
Weise  sind  sie  durch  das  Meer  gegangen,  und  das  Wasser  hat 
ihnen  nicht  höher  gereicht  als  bis  zu  Kotse  mütti  (dem  Heraus- 
geber Neus  unerklärt  gebliebene  ehstnische  Worte). 

Wenn  Töllus  sich  Suppe  gekocht,  so  hat  er  einen  Kessel 
aufs  Feuer  gesetzt  und  ist  von  Ösel  fortgegangen,  um  aus  Dag- 
den erst  die  Kohlköpfe  zu  holen,  ist  aber  schon  wieder  zurück 
gewesen,  wenn  der  Kessel  im  Sieden  war. 

Wie  er  nahe  am  Sterben  war,  hat  er  gesagt : . 

»Bestattet  mich  in  meinem  Krautgarten,  und  wenn  Noth  und 
Kri^  über  euch  kommt  und  ihr  euch  selber  nicht  helfen  könnet, 
so  rufet  mir  an  meinem  Grabe,  dann  komm  ich,  euch  zu  helfen,  c 
Nach  seinem  Tode  haben  nun  auch  die  Kinder  dies  von  ihren 
Eltern  vernommen,  und  so  sind  einst  muthwillige  Hirtenknaben 
zu  Sworbe,  nachdem  sie  draussen  auf  der  Düne  Krieg  gespielt 
hatten,  an  sein  Grab  gegangen  und  haben  da  den  doppelsinnigen 
Spruch  gerufen: 

Töllus,  Töllus,  touse  ülles  1 
Södda  Sörwe  säresi 

[Töllus,  Töllus,  aufgestanden  I 
Krieg  ist  auf  Sworbe's  Sandbank!] 

Töllus  hat  darauf  sein  Haupt  erhoben  und  gesehen,  dass  es 
nur  ein  Treiben  von  Kindern  gewesen;  das  hat  ihn  erzürnt  und 
er  hat  nicht  verheissen,  annoch  zu  Hülfe  zu  kommen. 

So  weit  der  ehstnische  Erzähler.  Des  TöU  Grab  wird  dop- 
pelt hergezeigt,  einmal  auf  der  Insel  Ösel  bei  der  sogenannten 
Burg  Töllist,  und  zugleich  an  der  Ostküste  von  Sworbe,  bei  Tiri- 
mets  am  Orte  AnseküU.  Kruse,  in  der  Ehstn.  Urgesch.  (S.  1^7) 
erzählt  hierüber:     »Bei  Tirimetz   wurde  mir  TöUs  Grab  gezeigt; 


\ 
l 


86  I*   ^cr  Sagenkreis  von  Teil, 

es  ist  kein  Tumulus,  sondern  eine  runde  Vertiefung,  in  deren 
Mitte  ein  Baum  steht,  c 

Verweilen  wir  nun  vorerst  bei  diesen  mehrfachen  Trümmern 
einer  ehemals  einheitlich  gewesenen  Sage. 

Der  Mythus  von  Toll  ist  an  den  Küsten  und  auf  den  Inseln 
Wfest-Ehstlands  schon  so  lange  gekannt  und  localisirt,  als  daselbst 
Schweden  und  Ehsten  sesshaft  sind.  Er  ist  da  aber  nicht  ehst- 
nischen  Ursprunges.  Denn  auf  diesen  Inseln  des  finnischen  und 
rigaischen  Meerbusens,  von  Runö  im  Süden  bis  hinauf  zu  den  Inseln 
Wulf  und  Wrangel  (bei  Reval),  ist  die  schwedische  Einwanderung 
älter  als  die  ehstnische,  und  auf  allem  übrigen  ehstnischen  Fest- 
lande findet  sich  TöU  weder  der  Sage  noch  auch  nur  dem  Namen 
nach.  Zu  diesen  ethnographischen  Beweisen  für  die  schwedische 
Priorität  des  Töll-Mythus  gesellt  "sich  noch  ein  besonderer  sprach- 
licher. Es  unterscheidet  nemlich  der  Inselschwede  zwischen  dem 
Eigennamen  Toll  und  dem  Appellativ  täl :  die  Teile,  begrifflich  und 
grammatisch  genau  so,  wie  es  hierin  auch  das  Gemeindeutsch  thut. 
Dies  erweist  sich  schon  aus  einem  einzigen  Falle.  Der  Norden 
der  Halbinsel  Nuckö  ist  von  unvermischt  schwedischer  Bevölkerung 
bewohnt.  Diese  nun  benennt  eine  daselbst  an  der  nordwestlichen 
Küste  liegende,  den  Seeschiffen  dienende  Einbuchtung,  die  durch 
einen  Bergvorsprung  gedeckt  ist,  Tälnäs;  jetzt  steht  ein  Strand- 
wächterhaus daselbst.  Dieser  Localname  bezieht  sich  also  sprach- 
lich nicht  etwa  auf  den  Helden  Toll,  sondern  bezeichnet,  wie  wir 
im  örtlichen  Gemeindeutsch  uns  ebenfalls  ausdrücken,  diejenige 
Nase  des  Vorgebirges,  welche  hier  über  derTellen,  d-h.  über 
einer  besonderen  Einbuchtung  oder  Bodenmulde  gelegen  ist. 

Dagegen  hat  der  Teil  der  Inselschweden,  gerade  so  wie  der 
schweizerische  seine  Teilenplatte  am  Waldstättersee  besitzt,  zwei 
örtlich  nach  ihm  benannte  Felsblöcke  aufzuweisen,  einen  auf. der 
Insel  Ösel,  den  TöUus-Stein ;  den  andern  auf  der  Insel  Dago,  den 
Teils  Stein:  Tellis  Kiwwi.  Es  knüpfen  sich  an  diese  beiden 
zwar  keine  Sprungsagen;  jedoch  der  Teils  Stein  dient  als 
Naturbrücke  und  liegt  an  der  Enge  des  schmalen  Meerbusens, 
welcher  auf  der  Westküste  Dagö*s  zwischen  dem  Adelsgute 
Hohenholm  und  dem  Kirchdorfe  Roiks  tief  landeinwärts  zieht. 

Gleichwie  in  der  Schweizersage  drei  Teile  mit  einander  be- 
stehen und  für  die  Befreiung  ihrer  Heimat  auftreten,  so  kennt 
auch  die  Landessage  der  Inselschweden  den  TöU  zusammen  mit 
seinen  beiden  Riesenbrüdem  Leiger  und  Neider. 


4«   Tellsage  der  Inselschweden  und  Ehsten  etc.  gjr 

Der  eine  dieser  drei  Brüder,  Leiger,  hat  sogar  eine  eigne 
Kapelle  Surro  besessen,  die  man  in  der  auf  der  Südspitze  Dagö's 
liegenden  Kapelle  Serro  zu  erkennen  glaubt.]  Zwar  bezeichnet 
der  Inselschwede  mit  dem  Namen  Kapelle  nicht  immer  geweihte 
Beinhäuser  und  Feldldrchlein,  sondern  auch  gar  manche  noch 
aus  der  Heidenzeit  her  als  geheiligt  geltende  Waldplätze,  Einöden 
und  Votiv-Bäume.  Um  so  mehr  also  scheint  die  dem  Leigir  geweiht 
gewesne  Kapelle,  «über,  deren  Standort  der  vorhin  angeführte  ehst- 
nische  Erzähler  nicht  im  Klaren  war,  noch  ausserhatb  der  christ- 
lichen Periode  zu  liegen,  mithin  noch  um  Vieles  |älter  zu  sein 
als  jenes  »Heilighüslin«,  welches  man,  wie  Tschudi  behauptet,  dem 
schweizerischen  Teil  auf  der  Teilenplatte  errichtete. 

Man  pflegt  zu  Bürglen  in  Uri  Teils  Wohnhaus  herzuzeigen 
und  versichert,  dasselbe  sei  ursprünglich  der  Edelsitz  des  hier 
amtenden  Meiergeschlechtes  Teil  gewesen.  Der  Urner  Teil  wird 
damit  zum  Adeligen  erhöht,  ja  die  einheimischen  älteren  Wappen- 
bücher geben  sogar  sein  Adelswappen  zum  Besten.  Ebenso  kennt 
man  auf  der  Insel  Ösel  die  Burg  Töllist  als  des  TöUus  gewesnen 
Edelsitz.  Es  ist  dies  ein  bekannter  letzter  Weg,  um  einen  Un- 
sterblichen zum  Menschen  umzuformen.  Erscheint  nemlich  der 
gewesne  Naturgott  nicht  mehr  glaubhaft  und  wird  deshalb  abge- 
setzt, so  lässt  ihn  der  stille  Volksglaube  doch  noch  als  einen 
Riesen  fortgelten ;  und  will  auch  dieses  Ungeheuer  dann  dem  Ge- 
fühle zu  plump  und  zu  fremd  werden,  so  ist  die  Provinzial-Eitel- 
Iceit  bereit,  ihn  seiner  angeblichen  Reckenthaten  wegen  zum 
waffenfertigen  Edelmann  zu  nobilitiren. 

Wilhelm  Teil  soll  im  Harst  der  Eidgenossen  bei  Morgarten 
mitgefochten  haben.  Gleicher  Weise  zieht  TöUus  gegen  feind- 
liche Kriegsschaaren  mit  zu  Felde  und  schlägt  sie  in  die  Flucht. 

Wilhelm  Teil  sitzt  verzaubert  und  harrend  im  Axenberge. 
Auch  TöUus,  obschon  begraben,  liegt  nur  im  Zauberschlafe  und 
wird  einst  in  den  letzten  Nöthen  seines  Volkes  wieder  erstehen 
und  die  Befreiungswaflfen  ergreifen. 

Töllus,  im  Grabe  liegend,  wird  da  einmal  von  spielenden 
Hirtenknaben  aufgeweckt,  ärgert  sich  über  diese  Kinderfrechheit 
und  legt  sich  abermals  zur  Ruhe  hin.  Ebenso  geht  ein  schwei- 
zerischer Weidbube  einmal  der  verlornen  Geis  oder  Kuh  nach, 
geräth  •  darüber  in  die  Höhle  des  Axenberges ,  trifft  und  weckt 
hier  den  Teil,  erfahrt   aber  von   ihm   gleichfalls  nichts  Anderes, 


gS  ^'   ^^^  Sagenkreis  von.  Teil. 

als  die  mürrisehe  Aeusserung  über  die  Unzeitigkeit  dieses  Be- 
suches. 

Die  Töllussage  besitzt  also  folgende  mythologische  Züge  mit 
der  Teilensage  gemeinsam:  Den  Weitsprung  über  Gewässer  und 
Fels ;  die  Bergentrückung  und  den  Zauberschlaf.  Dem  Andenken 
Beider  sind  zugleich  Kapellen  errichtet.  Aber  der  TöUussage 
gehen  ab:  die  zwei  Treffschüsse  nach  dem  Apfel  und  nach  dem 
Vogte  und  die  bestandene  Seefahrt  im  Sturmci 

Allein  diese  ihr  hier  bei  den  Inselschweden  mangelnden  Sagen- 
züge gewinnt  die  TöUussage  sogleich  wieder,  wenn  auch  unter 
anderem  Eigennamen,  bei  den  angrenzenden  Finnen  und  bei  den 
ihnen  benachbarten  Lappen.  Dies  darzuthun,  ist  dem  Schlüsse 
gegenwärtigen  Abschnittes  vorbehalten.  Vielleicht  zählt  man  zu 
den  Mängeln  der  TöUussage  auch  den  Umstand,  dass  ihr  aller 
Versuch  mangelt,  in  eine  einzelne  Volksgeschichte  überzugehen, 
dass  sie  keinen  historischen  Ernst  besitze.  Darauf  ist  mit  Müllen- 
hoff*  (Schleswig  -  Holst.  Sagen;  Vorrede,  S.  52  ff".)  zu  erwiedem: 
Mythen  wurzeln  nicht  in  der  Geschichte,  sondern  in  der  Re- 
ligion des  Volkes.  Sie  sind  häufig  älter  als  alle  Geschichte,  ja 
einige  mögen,  wie  die  Sprache,  aus  dem  Ursitze  der  Menschheit 
mit  herüber  genommen  sein.  Die  Uebereinstimmung  der  Mythen 
bei  den  verschiedensten  Völkern  mag  oft  überraschen,  aber  sie 
erklärt  sich  sehr  einfach.  Je  weiter  man  in  der  Zeit  zurückgeht, 
um  so  mehr  nimmt  die  Verschiedenheit  der  Völker  und  Stämme 
ab,  um  so  grösser  also  muss  auch  die  Uebereinstimmung  Aller 
in  dem  Punkte  der  Sagen  gewesen  sein.  Und  was  ist  nun  die 
nothwendige  Folge  dieses  die  Mythe  charakterisirenden  Umstandes  ? 
Antwort:  Die  mythologische  Sage  gewinnt  an  Beglaubigung,  je 
öfter  sie  gefunden  wird;  umgekehrt  verliert  die  historische  an 
Wahrscheinlichkeit,  sobald  sie  mehr  als  einmal  vorkommt. 

Wir  gehen  nun  zur  Apfelschuss-Sage,  wie  sie  die  Finnen  dem 
Karelier  Lähonen  Tiitta  nacherzählen.  Wir  verdanken  dieselbe  dem 
berühmten  Sprachforscher  Matthias  Alexander  Caströn.  Derselbe  be- 
gab sich  im  Sommer  1839  auf  seinen  Wanderungen  in  russisch  Kare- 
lien  nach  den  beiden  finnischen  Dörfern  Uhtuwa  und  Wuoninen, 
derselben  Gegend,  in  welcher  kurz  vorher  Lönnrot  viele  Gesänge 
des  finnischen  Nationalepos  Kalewa  aus  dem  Munde  des  Volks- 
sängers Archippa  aufgezeichnet  hatte.  Es  gelingt  Cästren  daselbst, 
diese  Lieder  noch  zu  vervollständigen;  er  entdeckt  aber  zugleich 
dabei  noch  andere  Sagen    über  die  alten  Grenzstreitigkeiten  und 


4*   Tellsage  der  Inselschwedeu  und  Ehsten  etc.  gg 

Raubzüge  zwischen  Finnen  und  Russen  dortiger  Gegend  und 
theilt  darunter  folgende  mit,  welche  einen  Streifzug  von  finnischen 
Grenzbewcrfinem  nach  dem  Dorfe  Alajärwi  zum  Gegenstande  hat. 

Nachdem  die  Finnen  das  Dorf  geplündert,  wollten  sie  gewalt- 
samer Weise  einen  von  ihnen  lange  verfolgten  und  gehassten  Greis 
entfuhren.  Während  sie  ihn  nun  längs  dem  einen  Ufer  des  Sees 
dahinschleppten,  folgte  ihnen  auf  dem  andern  Ufer  sein  jüngster, 
zwölQähriger  Sohn  und  stiess  fortwährend  die  Drohung  aus,  er 
wolle  sie  Alle  insgesammt  niederschiessen ,  sofern  sie  den  Vater 
nicht  in  Freiheit  setzten.  Die  Gewaltthäter  waren  jedoch  nicht 
im  mindesten  gestimmt,  auf  des  Knaben  Drohungen  zu  hören,  sie 
verhöhnten  ihn  nur  und  verfuhren  um  so  grausamer  mit  dem 
Vater.  Allein  der  Knabe  Hess  sich  nicht  abschrecken,  und  die 
Feinde  versprachen  endlich,  seinem  Begehren  unter  der  Bedingung 
willfahren  zu  wollen,  dass  er  von  dem  entgegengesetzten  Ufer  aus 
durch  einen  Pfeilschuss  den  Apfel  (omena)  zerspalte,  den  sie  auf 
den  Kopf  des  Vaters  stellen  würden.  Der  Knabe  gieng  in  der 
That  auf  diesen  gefährlichen  Versuch  ein,  und  der  Vater  gab  ihm 
dabei  folgenden  Rath :  T>käsi  ylennä,  toinen  alenna^  järwen  wesi 
wetää,  (Jas  heisst:  Erhebe  deine  Hand,  senke  die  andere,  denn 
die  Gewässer  des  Sees  ziehen  (den  Pfeil)  an.  Ganz  gegen  die 
Berechnung  der  Feinde  traf  der  Pfeil  richtig  sein  Ziel ;  der  Apfel 
fiel  in  zwei  Stücken  vom  Haupte  des  Vaters  herab,  und  dieser 
wurde  aus  seiner  Gefangenschaft  befreit. 

Eine  andere  Tradition  erzählt  von  einer  zahlreichen  Schaar 
finnischer  Grenzbewohner,  die  sengend  und  brennend  weit  und 
breit  im  russischen  Kardien  plünderten.  Um  so  viel  als  möglich 
vor  Feindes  Hand  zu  retten,  hatten  die  Bewohner  des  Landes 
ihre  Schätze  vergraben  und  ihre  noch  vorräthige  Saat  theils  dem 
Vieh  vorgeworfen,  theila  auf  dem  Schnee  umhergestreut,  wodurch 
sie,  wie  die  Erzählung  lautet,  später  eine  gute  Ernte  gehabt  haben. 
Auf  diesem  Raubzuge  überraschte  der  Feind  einen  Karelier, 
Lähonen  Tiitta  genannt,  im  tiefsten  Schlafe.  Durch  das  Lärmen 
aufgeweckt,  sprang  Lähonen  von  seinem  Lager  auf,  ergriff  schnell 
seinen  Bogen  und  Köcher,  warf  die  Beinkleider*)  über  die  Arme 
und  entfloh  solchergestalt  dem  verfolgenden  Feinde.  Er  war  ein 
schneller  Läufer   und  würde   sich  wohl  durch  die  Flucht  gerettet 


•)  Hose,   Schuhe    und   Wams   ist   aus  Einem  Stücke   und  wird   am   Rücken 
zosainmen  genestelt 


jQQ  I.    Der  Sagenkreis  von  TelL 

haben,  doch  die  strenge  Kälte  des  Winters  zwang  ihn,  an  seine 
nackten  Beine  zu  denken.  Als  er  somit  einen  kleinen  Vorsprung 
gewonnen  hatte,  blieb  er  stehen  um  die  Beinkleider  anzuziehen, 
allein  er  hatte  kaum  das  eine  Bein  bedeckt,  als  die  Feinde  ihn 
einholten.  Muthig  und  geistesgegenwärtig  spannte  er  nun  seinen 
Bogen,  richtete  denselben  bald  auf  den  einen,  bald  auf  den  andern 
der  sich  ihm  nähernden  Feinde  und  rief  dabei:  katscko,-  mü 
ammun:  Sieh  dich  vor,  ich  schiesse  dich  nieder  1  Durch  diese 
JList  brachte  er  eine  solche  Verwirrung  unter  den  Gegnern  hervor, 
^dass  er  wieder  Gelegenheit  zur  Flucht  und  zum  Ankleiden  fand, 
worauf  er  in  die  tiefen  Wälder  verschwand.  Die  raubgierigen 
Feinde  setzten  indess  ihren  Streifzug  fort  und  gelangten  endlich 
nach  Ausübung  vieler  Gewaltthäten  an  die  Ufer  eines  Sees, 
Tuoppajärwi  genannt.  Von  hier  aus  wünschten  sie  seewärts  nach 
Pääjärwi  zu  fahren,  aber  selber  des  Weges  unkundig,  vermoch- 
ten sie  einen  Bauer  in  Kiisjoki,  ihr  Boot  an's  Ziel  zu  lenken. 
Auf  dem  Wege,  den  die  Feinde  einschlagen  wollten,  befindet  sich 
der  grosse  Wasserfall  bei  Niska.  Als  .sie  sich  in  der  Nähe  dieser 
Stromschnelle  befanden,  steuerte  der  Bauer  hart  dem  Ufer  ent- 
lang, sprang  plötzlich  auf  einen  über  das  Wasser  hervorragenden 
Stein  und  stiess  im  Sprunge  das  Boot  in  den  Flifss  hinaus.  Die 
Feinde  vermochten  nunmehr  nicht  das  Boot  zu  lenken  oder  in 
seiner  Fahrt  aufzuhalten;  die  Strömung  führte  sie  in  den  brausen- 
den Wasserfall  hinein.  Später  las  man  vierzig  Mützen  am  Fusse 
des  Falles  auf. 

Der  gefeierte  Held,  welcher  finnisch  Laurukäinen,  und  lap- 
pisch Laurukadsch  genannt  wird,  hatte  in  Lappland,  das  ihm  treff- 
lich bekannt  war,'  oftmals  einen  Wegweiser  für  die  landesfeind- 
lichen Russen  abgegeben  und  sie  bei  Fahrten  über  Ströme  und 
Seen  in's  Verderben  zu  führen  gewusst.  Einstmals  hatten  sie 
ihn  zum  Steuermann  den  Patjoski  abwärts  genommen.  Als  sie 
in  die  Nähe  einer  Stromschnelle  gekommen  waren,  band  Lauru- 
käinen ihre  sieben  Boote  zusammen  und  mahnte,  unter  das  Ver- 
deck zu  kriechen,  um  bei  dem  Anblicke  des  fürchterlichen  Wasser- 
falles nicht  in  Schreck  zu  gerathen.  Ohne  einen  Betrug  zu  ahnen, 
unterwarfen  sich  die  Russen  dem  Geheisse.  Nun  steuerte  er  die 
Boote  dicht  an  dem  Ufer  vorbei  und  rettete  sich  selbst  auf  eine 
Klippe,  die  Russen  aber  kamen  im  Wasserfalle  um.  Bei  einer 
andern  Gelegenheit  steuerte  er  der  Russen  Boot  gerade  gegen 
eine  Klippe  im  Flusse  selbst.    Das  Boot  zertrümmerte,  die  Russen 


4.    Teilsage  der  Inselschweden  und  Ehsten  etc.  gi 

kamen  insgesammt  um,  er  aber  rettete  sich  auch  diesesmal,  weil 
ihm  »der  Zorn  des  Wassers« ,  im  Finnischen  der  Wasser-Dämon 
Weden  ärimys,  nichts  anhaben  konnte.  —  M.  A.  Castr^n,  Reise - 
Erinnerungen  aus  den  Jahren  1838 — ^44.  Deutsch  von  Schiefner. 
Petersburg  1835.  S.  20 — 22.  Reisen  im  Norden.  Aus  dem  Schwe- 
dischen von  Henrik  Helms.    1853. 

Das  Hauptmotiv  in  den  vorstehenden  finnisch-lappischen  Er- 
zählungen wird  in  die  Wirkung  des  Zaubers  verlegt.  Dies  ist 
ihre  Eigenthümlichkeit,  alle  übrigen  Züge  haben  sie  mit  der  ger- 
manischen Tellenmythe  gemeinsam.  Wenn  der  zwölfjährige  Sohn 
seinem  Vater  (also  Verwechslung  vorn  Object  in's  Subject)  den 
Apfel  vom  Haupte  schiesst,  so  glückt  da  der  Weitschuss  über 
(üe  Breite  eines  Sees  hinüber  nur  durch  ein  Zaubermittel;  denn 
vorher  muss  der  Schütze  eine  erschwerte  Stellung  annehmen  und 
durch  diese  das  den  Schuss  anziehende  Gewässer,  also  den  Wasser- 
dämon, entweder  besänftigen  oder  bändigen.  Ohne  das  Wissen 
von  Alles  bändigenden  Zaubersprüchen  werden  die  seefahrenden 
Russen  den  Dämonen  der  Wasserstürze  zur  Beute ;  der  sie  dahin 
fahrende  Finne  aber  entspringt  heil  auf  die  Klippe.  Auf  diese 
gleiche  Voraussetzung  stützt  sich  das  finnische  National  -  Epos 
Kalevala,  aus  dem  nachfolgende  Stelle  (Vers  143)  nach  Schiefners 
Uebersetzung  stammt: 

Sprach  der  muntre  Lemminkäinen : 
Schon  bezauberten  mich  Zaubrer: 
Drei  der  Lappen,  wohlvereinet 
In  der  Nacht  zur  Zeit  des  Sommers. 
Anders  hatte  man  gedrohet. 
Anders  aber  gieng^s  von  statten. 
Drohten  zaubernd  mich  zu  bannen, 
Drohten  tief  mich  zu  versenken 
In  den  Sumpf,  dass  ich  getreten, 
In  den  Schmutz  gestecket  würde 
Bis  zum  Kinn  in  Moderboden, 
Bis  zum  Bart  in  faule  Erde. 

Aber  ich  ein  Mann,  wenn  einer, 
War  dabei  auch  nicht  in  Nöthen, 
Wurde  selbst  ein  Zaubersprecher, 
Fieng  da  selber  an  zu  singen. 
Sang  die  Zaubrer  mit  den  Pfeilen, 


Q2  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Sang  die  Schützen  mit  den  Waffen, 

Sang  die  Kundigen  mit  den  Messern, 

Sie,  die  Schützen  mit  dem  Stahle: 

Zu  dem  jähen  Wasserfalle, 

Zu  dem  grausenhaften  Strudel, 

Zu  den  allerhöchsten  Sprudeln, 

Zu  den  allerschlimmsten  Wirbeln! 

Dorten  mögen  sie  nun  schlummern. 
Bis  das  Gras  nach  oben  schiesset 
Durch  den  Kopf  und  durch  die  Mütze, 
Durch  der  Zauberer  Schulterblätter! 

Mittels  solcher  Zaubersprüche  also  ersäuft  der  finnische  Boot- 
führer die  vierzig  Russen  im  Wassersturz  bei  Niska;  allein  dass 
er  dabei  schlau  dem  Ufer  zusteuert,  auf  die  nächste  Felsenplatte 
springt,  das  Boot  noch  in  den  Strudel  hinaus  stösst  und  sich 
rettet,  dies  ist  das  Abbild  von  Teils  Seefahrt  und  Sprung  auf  die 
Platte.'  Einwirkungen  durch  die  schwedisch-dänische  Sage  haben 
dabei  unleugbar  stattgehabt.  Dahin  ist  nicht  bloss  der  für  die 
Nordfinnen  und  Lappen  fremdartige  Apfel,  sondern  weit  mehr  jener 
Bogenschütze  zu  zählen,  der  dem  Feinde  so  plötzlich  entfliehen 
muss,  dass  er,  eben  am  Lager  erwachend,  nicht  einmal  die  Hosen 
mehr  anziehen  kann,  dann  aber  durch  blosses  Zielen  und  Drohen 
mit  dem  Bogen  die  Verfolger  so  lange  schreckt,  bis  er  in  die 
Wälder  entronnen  ist.  Ebenso  ergeht  der  Tyrann  Harald,  der 
den  Toko  nach  des  Kindes  Haupt  zu  schiessen  genöthigt  hat, 
nachmals  sich  in  Waldesabgelegenheit,  lässt  sich  in  einem  Ge- 
büsche nieder  ventris  exaniniendi  causa,  und  wird  in  dieser  un- 
königlichen Stellung  von  Toko  erschossen.  Auch  hier  verwech- 
selt die  finnische  Sage  Subject  und  Object.  Allein  welche  andere 
ist  frei  von  solchen  Widersprüchen.  Ist  nicht  Toko  bald  ein 
Däne,  bald  ein  Finnen-Häuptling?  ist  nicht  Teil  bald  ein  Dümm- 
ling, bald  ein  Zauberschütze? 

Die  Uebereinstimmurig  der  Sage  höchst  verschiedenartiger 
und  räumlich  sich  entfernt  stehender  Völker  ist  also  vorhanden. 
Wie  aber  diese  Concordanz  erklären,  wie  sie  über  den  Anschein 
des  blinden  Zufalls  erheben,  wie  sie  gegen  den  eigensinnigen 
Widerspruch  der  fremden  Meinung  festigen?  Hier  giebt  es  nur 
ein  Mittel.  Will  man  der  Sagenvergleichung  nicht  glauben,  weil 
man  erklärt,   auch  der  vergleichenden  Mythologie  misstrauen  zu 


4-   Tellsage  der  Inselschweden  und  Ehsten  etc.  Oj 

wollen,  so  muss  man  die  durch  die  Sprachvergleichung  gewonne- 
nen Resultate,  weil  sie  historische  sind,  hören  und  annehmen, 
oder  schweigen. 

Die  Sprache  der  finnischen  Völker  enthält  eine  nicht  ge- 
ringe Anzahl  germanischer  Wörter,  und  zwar  in  einer  Lautgestalt 
und  Formenreinheit,  wie  sie  nur  vor  der  gothischen  Sprache 
liegen  kann  und  die  älter  sein  muss,  als  selbst  die  ältesten  germa- 
nischen Sprachdenkmäler.  Die  Aufnahme  solcher  Wörter  in  die 
finnische  Sprache,  und  von  dieser  aug  dann  in  die  lappische,  muss 
darum  in  eine  vorhistorische  Zeit  und  in  Länderstriche  fallen,  wo 
vor  etwa  2000  Jahren  der  Finnen -Volksstamm  ein  Grenznachbar 
der-  Gothen  und  Altnordländer  war  und  deren  Spracheinflusse 
andauernd  ausgesetzt  gewesen  ist.  Sprachgeschichtliche  Vor- 
gänge solcher  Art  sind  in  der  Neuzeit  von  einigen  Sprachforschern 
an  sehr  weit  auseinander  gelegenen  Orten  und  auf  verschiedenen 
Beobachtungswegen  wahrgenommen  worden.  Dietrich  in  Giessen 
zeigte  in  Höfer's  Zeitschr.  f.  d.  Wissensch.  der  Sprache  II,  32  ff. 
ein  uraltes  Eingedrungensein  altgermanischer  Wörter  in  die  Sprache 
der  Lappen,  zugleich  dorten  in  Verbindung  mit  solchen  Theilen 
der  indogermanischen  Mythe,  dass  diese  den  Schluss  erlauben,  sie 
seien  gleich  alt  mit  dem  Vordringen  der  Germanenbewegung 
nach  Europa.  Dieselbe  Wahrnehmung  ist  von  Wilh.  Thomsen 
in  Kopenhagen  gemacht  und  zugleich  durch  eine  grosse  Reihe 
sprachlicher  Belege  unterstützt  worden  in  der  Schrift:  Ueber  den 
Einfluss  der  germanischen  Sprachen  auf  die  finnisch -lappischen. 
Uebersetzt  von  Sievers,  Halle  i'S/o.  Thomsen  giebt  hier  ein 
67  Seiten  haltendes  Wörterverzeichniss ,  das  die  im  Titel  seines 
Buches  enthaltene  Behauptung  zur  Thatsache  macht.  Ihm  hat 
sich  neuerlich  selbständig  angereiht :  Weske  in  Dorpat.  Er  han- 
delt sowohl  in  den  Sitzungsberichten  der  Gelehrten  Ehstnischen 
Gesellschaft  zu  Dorpat  (1874,  S.  94),  wie  auch  in  einer  akademi- 
schen Antritts -Vorlesung:  »Ueber  die  historische  Entwicklung 
der  finnischen  Sprache  im  Vergleich  mit  der  indogermanischen.« 
Verhandlungen  der  Ehstnischen  Gesellschaft  1875,  Band  8, 
Heft  2,  S.  13. 

Aus  den  von  diesen  zwei  letztgenannten  Forschern  behandel- 
ten Sprachbeispielen  seien  hier  die  drei  Adverbe  Schön,  Arm 
und  Arg  ausgehoben,  weil  sie  zu  denjenigen  Wörtern  gehören, 
an  denen  das  historische  Lautgesetz  consequent  sich  vollzieht  und 
in  denen  zugleich  jener  abstracte  Begriff,  welchen  sie  heute  noch 


QA  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

ausdrücken,  schon  im  Altfinnischen  und  im  Altgermanischen  vor> 
handen  gewesen  ist. 

Gothisch  skauns  (Stamm:  skaunja,  scheinen?),  althd.  und 
alts.  scani,  altnord.  skönr,  schön  —  musste  in  der  Vorperiode  vor 
Ulfilas  gothisch  skaunzs  gelautet  haben.  Dies  erweist  uns  das 
finnische  kaunis,  schön.  Das  i  ist  im  Göthischen  nach  dem  be- 
kannten  Lautgesetze  ausgefallen.  Eben  so  ist  in  allen  Wörtern, 
welche  aus  irgend  einer  Fremdsprache  in  das  Westfinnische  älterer 
oder  neuerer  Zeit  aufgenommen  sind,  der  eine  der  beiden  Anlauts- 
Consonanten  bei    darauf  folgendem  Vocal  weggefallen.     Darum 

I 

also  musste  ein  vorgothisches  skaunis  bestanden  haben  und  zum 
finnischen  kaunis  geworden  sein, 

Gothisch  qrms  (für  älteres  armas),  altnordisch  armr  {r  laut- 
gesetzlich aus  s  entstanden),  bedeutet  miserahilis,  beklagenswerth. 
Finnisch,  ehstnisch  und  karelisch  heisst  armas  geliebt;  lappisch 
armes  bemitleidenswerth.  Ableitende  Formen  sind  finnisch  armiasr 
mitleidsvoll;  lappisch  armolas:  misericors.  Von  der  Bedeutung 
beklagenswerth  sind  hier  die  finnischen  Sprachen  zu  der 
jetzigen  geliebt  gekommen;  mithin  muss  ein  vorgothisches 
armas  in's  Finnische  z.u  einer  Zeit  aufgenommen  worden  sein,  wo 
es  im  Germanischen  noch  eben  so  lautete  und  eben  so  viel  be- 
deutete. 

Finnisch  arka:  furchtsam,  scheu,  kommt  her  von  einem  alt- 
germanischen arga,  feig;  altnordisch  arg-r,  althd.  arc,  arg.  Die 
Bedeutung  auch  dieses  Wortes  im  Finnischen  ist  hier  älter  als 
in  den  ältesten  deutschen  Sprachdenkmälern  und  zeigt,  dass  es  in 
einer  Zeit  aufgenommen  wurde,  da  auch  im  Germanischen  noch 
die  jetzige  Bedeutung  vorhanden  gewesen  war;  denn  diese  ger- 
manischen Wortformen  kommen  bekanntlich  von  der  Wurzel  ar^ 
her,  welches  zittern,  beben,  heftig  bewegen  bedeutet- 


V. 
Punker  und  Teil  als  Zauberschützen. 


Der  Bund,  den  die  deutschen  Reichsstädte  seit  1385  gegen- 
seitig geschlossen  hatten,  war  eine  bürgerliche  Eidgenossenschaft 
und  hatte  den  Zweck,  die  deutsche  Reichseinheit  zu  bewahren, 
indem  man  Kaiserthum  und  Bürgerthum  gegen  die  Ländergier 
und  Vielherrschaft  der  Fürsten  beschützte.  Doch  schon  nach 
drei  Jahren  wurden  die  Städte  gezwungen ,  ihrem  Bündnisse  eid- 
lich zu  entsagen,  weil  die  Fürsten  auf  dem  Tag  zu  Eger  dem 
schwachsinnigen  Wenzel  den  Glauben  beizubringen  wussten,  der 
Städtebund  sei  eine  gegen  Gott  und  Kaiser  errichtete  Verschwö- 
ning.  Eben  jener  Zweck  hatte  ursprünglich  auch  die  oberaleman- 
nischen Länder  und  Orte  geleitet,  als  sie  ihre  Eidgenossenschaft 
gründeten  und  die  benachbarten  Reichsstädte  allmählich  ihr  ein- 
verleibten. Allein  diese  kleinen  Gebirgsländer  dauerten  bei  ihrem 
Bundesschwure  aus  und  waren  auch  dann  nicht  zu  seii\er  Zurück- 
nahme zu  vermögen,  als  sie  derselbe  Vorwurf  des  Abfalls  von 
Gott  und  dem  Kaiser  traf  und  schliesslich  noch  Acht  und  Bann. 
Vielmehr  seitdem  sie  erkannten,  wie  wenig  der  jeweilige  Kaiser 
ihre  Reichsunmittelbarkeit  beachtete,  wenn  dieselbe  der  Ver- 
grösserung  seiner  Hausmacht  im  Wege  stand,  so  versagten  sie 
ihm  den  Gehorsam,  den  er  ohnedies  nicht  an  ihre  Rechtsbedin- 
gungen geknüpft  wissen  wollte,  und  trennten  sich  nachmals  zu 
gelegener  Zeit  gänzlich  von  einem  Reiche,  das  sie  in  den  drin- 
gendsten Fällen  schutzlos  liess.  Ja  als  dann  in  ähnlicher  Weise 
hier  zu  Lande  die  Kirche  fortfuhr,  ihre  Gewalt  über  die  Gewissen 
zu  missbrauchen,  um  weltlicher  Herrschaft  zu  fröhnen,  kam  es 
auch  mit  dieser  so  'gründlich  zum  Bruche,  dass  sogar  der  gemeine 


q6  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Mann  in  den  Bergkantonen  aus  persönlichem  Entschlüsse  der 
neuen  Lehre  beitrat.  Dafür  bekamen  denn  die  Schweizer  den 
Hass  des  Adels  und  des  Klerus  gehäuft  zu  tragen  und  waren 
lange  Zeit  das  bestverleumdete  Volk,  dem  kein  anderes  als  nur 
die  ketzerischen  Hussiten  an  wilder  Bosheit  und  Abtrünnigkeit 
vergleichbar  sein  sollte.  Würde  daher  eben  damals,  als  sich 
durch  Maximilians  I.  kriegerische  Expedifionen  gegen  die  Schweiz 
die  politische  Unabhängigkeit  dieses  Landes  vollzogt  hier  eine 
gleichzeitige  Kirchenreform  ausgeblieben  oder  hintertrieben  wor- 
den sein,  wie  stände  es  alsdann  um  die  geschichtlichen  Materia- 
lien, aus  denen  das  richtige  Bild  jener  Periode  erkannt  wird? 
Statt  jenes  nun  so  reichlich  vorhandenen  Schatzes  schweizerischer 
Richtebriefe,  Grafschaftsrechte,  Dorfoffnungen,  Kriegslieder,  Landes- 
chroniken und  Volksschauspiele,  an  deren  frühzeitiger  Abfassung 
und  Sammlung  ein  reger  politischer  Sinn  zu  erkennen  ist,  besässe 
alsdann  die  schweizerische  Litteratur  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
nur  einen  ungeniessbaren  Ueberschuss  mönchischer  Legenden  und 
polemischer  Pamphlete,  in  denen  jedes  geschichtliche  Factum 
entweder  ein  unter  Mitwirkung  der  Heiligen  geglücktes  Kirchen- 
mirakel, oder  wenn  ohne  die  Hand  der  Himmlischen  vollbracht, 
ein  Werk  des  Teufels  sein  muss.  Denn  dieselbe  Partei,  die  den 
grossen  deutschen  Bibelübersetzer  nicht  anders  als  den  Erzketzer 
hiess;  die  jenen  Buchdrucker,  durch  dessen  Erfindung  das  Wort 
Gottes  seinen  Weg  um  die  Welt  genommen  hat,  zu  einem  der 
Hölle  verfallenen  Schwarzkünstler  machte;  die  solcherlei  Ob- 
scurantenthorheiten  damals  der  deutschen  Vernunft  gerade  zu 
deren  Geburtstage  zu  bescheren  wagte:  sie  würde  auch  den 
ganzen  Unabhängigkeitskampf  der  schweizerischen  Demokratieen 
diabolisiert  haben.  Zeuge  dess  ist  eben  jener  Held  und  Schütze, 
dessen  Bundeswerk  nun  in  Segen  blüht,  und  den  damals  schwach- 
sinnige Kleriker  zum  zauberischen  Ketzer  machten,  der  zur 
Strafe  für  sein  Satansbündniss  auf  ewig  in  der  Hölle  glüht.  Denn 
jedes  Streben  nach  Licht  und  Luft  schien  ein  Abfall  von  Gott,  also 
auch  jeder  ohne  kirchliche  Benediction  gelungene  Treffschuss  ein 
Werk  des  Teufels. 

Dies  erweisen  zunächst  einige  jener  kirchlichen  Scribenten,  die 
unter  der  Regierungsperiode  der  beiden  Kaiser  Friedrich  IIL  und 
Maximilian  I.  gelebt  und  Annalen  ihrer  Zeit  hinterlassen  haben. 
Es  sind  zwar  nur  denkschüchterne,  zahnie  Stubengelehrte,  denen 
der   ewige   Mönchszwist  in   ihren  Abteien    und   Chorherrenstiften 


J 


5.   Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  07 

mehr  Plage  macht  als  die  äussere  Politik;  gleichwohl,  während 
sie  mit  der  einen  Hand  um  Gottes  Erbarmung  flehen,  sind  sie 
stets  bereit ,  niit  der  andern  seine  vollen  Zornesschalen  auszu- 
giessen  über  ihre  von  Bauerngrobheit  und  Demokratenketzerei  ange- 
steckte Mitwelt.  So  denken  und  schreiben  damals,  unabhängig 
von  einander  und  gegenseitig  sich  unbekannt,  der  Chorherr  Felix 
Hemmerlin  zu  Zürich,  der  Abt  Tritheim  zu  Würzburg  unfl  der 
Professor  Sprenger  zu  Köln.  Von  ihren  auf  die  Schweiz  bezüg- 
lichen Schriften  wird  im  Folgenden  nur  so  weit  die  Rede  sein, 
als  es  unser  enggemessenes  Thema  und  der  Gang  der  damaligen 
Ereignisse  bedingt.  Denn  unsere  besondere  Aufgabe  bleibt  hier 
der  Nachweis,  wie  während  des  zwischen  Zürich  und  den  Eid- 
genossen 1443  ausgebrochenen  Bürgerkrieges,  bei  dem  der  Adel 
und  Klerus  vereint  gegen  die  Demokratie  das  öffentliche  Wort 
führen,  die  Schweizersage  von  Teil  theils  verstummt,  theils  ver- 
dammt ist,  worauf  sie  dann  durch  die  zwei  folgenden  Kriege, 
welche  die  Schweiz  gegen  Burgund  und  das  deutsche  Reich  sieg- 
haft besteht,  zur  Nationalsage  erhoben  worden  ist. 

Der  sogenannte  Alte  Zürichkrieg  drohte  die  Eidgenossenschaft 
schon  in  ihrer  ersten  zwischen  den  Ländern  und  Städten  ge- 
schlossenen Vereinbarung  wieder  aufzulösen.  Er  war  veranlasst 
durch  die  beiderseitigen  Erbschaftsansprüche,  welche  Zürich  und 
Schwyz  auf  die  Gebietsstrecken  in  der  March  und  um  Uznach 
erhoben,  die  seit  Erlöschen  des  Toggenburger  Grafenstammes  er- 
ledigt waren.  Als  Zürich  dieses  Erbe  durch  eidgenössischen  Schieds- 
spruch verlor  und  überdies  noch  etliche  seiner  Gemeinden  am 
obem  Seegebiete  an  Schwyz  abtreten  musste,  glaubte  es  einen 
politischen  Rückhalt  auswärts  suchen  zu  sollen,  verstiess  aber 
damit  gegen  seine  beschworene  Bundespflicht  und  seine  schwei- 
zerischen Mitstände.  Es  schloss  mit  Kaiser  Friedrich  III.  ein 
Separatbündniss  ab,  nahm  österreichische  Besatzung  in  die  Stadt, 
stellte  sich  unter  deren  Befehl  und  Fahne  und  rückte  gegen  das 
intriguante  Schwyz  zu  Felde.  Doch  seine  Mannsphaft  behauptete 
sich  nicht,  verlor  rasch  nach  einander  die  Treffen  bei  Freienbach, 
Bar  und  am  Hirzel,  zog  sich  in  die  Stadt  zurück  und  diese  wurde 
nun  von  den  vereinigten  Truppen  der  sechs  Alten  Kantone  ein- 
geschlossen. Ein  starker  Ausfall  der  Bürgerschaft  wurde  durch 
die  Krielgslist  der  Schwyzer,  die  zur  Täuschung  des  Gegners  das 
österreichische  Feldzeichen  auf  den  Röcken  trugen ,  mit  grossem 
Verluste  zurückgewiesen,   wobei  selbst   der  Bürgermeister  Stüssi 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  7 


og  I.    Der  Sagenkreis  yon  Teil. 

mit  umkam.  Dies  war  das  Treffen  bei  St.  Jacob  an  der  Sihl,  am 
22.  Heumonat  1443.  Die  Sieger  besetzten  hierauf  das  ganze 
flache  Land  und  hausten  zügellos.  Namentlich  überliessen  sieb 
die  Schwyzer  den  gröblichsten  Racheausbrüchen  gegen  die  dorti- 
gen Klöster  und  Kirchen,  da  sie  wussten,  dass  dies  die  Stätten 
waren,  von  wo  aus  die  Hirtenkantone  als  ein  Volk  der  schändlich- 
sten Laster  verschrieen  worden  waren.  Hier  hatte  man  mit  kirch- 
licher Beredsamkeit  ihre  ewige  Verdammniss  erwiesen,  sie  der 
Bestialität  beschuldigt  und  der  greulichsten  Gottesschändung,  da 
sie  sich  an  den  Gnadenbildem  des  (bekreuzigten  und  seiner 
Mutter  frevelhaft  vergriffen  haben  sollten.  Hier  wurden  femer 
jene  Schmachlieder  geschmiedet,  die  den  König  und  das  Reich 
aufriefen,  diese  Ketzer  mit  Krieg  zu  überziehen,  nicht  einen  davon 
am  Leben  zu  lassen  und  des  päbstlichen  Ablasses  hiefiir  in  voraus 
versichert  zu  sein.  Vom  Kaiser  Friedrich  heisst  es  in  einem  sol- 
chen Parteiliede  vom  gleichen  Jahre  (bei  Tschudi  II,  390): 

Dess  helff  Im  Gott  vom  Himmel 
Mit  siner  Engelschaar 
Und  alle  sine  Heilgen, 
Dass  Eis  vertribe  gar 
Und  si  vom  Grund  ussrüt, 
Das  Erdrich  sölt  nit  tragen 
Sölich  schantliche  Lüt. 

Si  hand  ouch  z^  Grund  zerrüttet 

Vil  Küchen  der  Christenheit 

Und  hand  da  ussgeschüttet 

Den,  der  für  uns  leid: 

Ist  der  Christenheit  ein  Schand, 

Das  wirdig  Sacramefite 

Handys  mit  den  Küchen  verbrant. 

Danimb  ist  wol  ze  raten 
Mit  allem  Ernst  und  Krafft 
Dem  Pabst  und  den  Prelaten, 
Ouch  ganzer  Priesterschaft, 
Dass  man  solch  Üebel  wend; 
Anders  Christen-Gloub  und  Ghorsam 
Hett  schier  gar  ein  End. 


5«  Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  qq 

Darumb  sond  sie  uss-schriben 
In  alle  Christenheit, 
Dass  man  sy  vertribe 
Und  man  nit  lenger  beit 
Und  Ir  dehein  lass  leben. 
Der  Pabst  und  all  Prelaten 
Sond  Aplass  darumb  geben. 

Von  gleicher  Tendenz  sind  die  Flugschriften  des  Züricher 
Chorherm  Felix  Hemmerlin,  namentlich  sein  gegen  den  gesamm- 
ten  Bauernstand  gerichtetes  Paniphlet  De  nobilitate,  das  er 
in  den  Jahren  1443  bis  1450  verfasst  und  -  des  Kaisers  Bruder, 
dem  Erzherzog  Albrecht  gewidmet  hatte.  Hemmerlin  hebt  hier, 
seinem  Parteizwecke  eines  Stadtpatriziers  gemäss,  vorzugsweise 
den  Rechtsbruch  hervor,  den  die  Eidgenossen  an  Zürich  verübt 
haben  sollten;  da  sie  diese  Reichsstadt  um  das  Erbe  des  Toggen- 
burger  Grafen  Friedrich  IV.,  der  ein  Bürger  Zürichs  gewesen, 
erstlich  verkürzt,  hierauf  sie  als  ein  abtrünniges  Bundesglied  mit 
Krieg  überzogen  hätten,  während  es  doch  laut  Bundesbriefen  in 
Zürichs  Vollmacht  gelegen  habe,  mit  Jedermann  und  allezeit 
Bündnisse  abzuschliessen ,  freilich  unter  Vorbehalt  seiner  eid- 
genössischen; und  wie  schliesslich  Zürich,  trotz  seiner  Berufung 
auf  Mitstände  und  Reichsstädte,  gezwungen  worden,  dem  ange- 
massten  Schiedsgerichte  dieser  eben  so  rohen  als  frechen  Älpler 
sich  zu  unterziehen  und  ihrem  Bündnisse  neuerdings  beizutreten. 
Hier  ist  es  dem  Autor  vorerst  darum  zu  thun,  den  Gegner  in 
aller  Form  Rechtens  vollständig  zu  überfuhren  und  schuldig  zu 
sprechen ;  hierauf  wird  es  ein  Leichtes  sein,  ihn  nachträglich  auch 
kirchlich  zu  verdammen.  Aber  mitten  in  seiner  scholastischen 
Beweisführung  überwältigt  ihn  bereits  das  Odium  theologicum, 
statt  des  Juristen  peroriert  schon  der  Inquisitor.  Diese  Schwyzer, 
sagt  er  an  verschiedenen  Stellen,  sind  eine  gegen  kaiserliches  und 
päbstliches  Regiment  wild  empörte,  in  widernatürlichen  Lastern 
hinlebende,  an  Gott  und  den  Heiligen  frevelnde,  verfluchte  Secte. 
Und  wie  daher  alle  Böhmen  nach  dem  einen  Ketzer  Huss  sich 
Hussiten  nennen,  ebenso  machen  es  nun  diese  Leute  zu  Glarus, 
Luzem,  Zug,  Bern,  Basel  und  Appenzell,  sie  nennen  zusammen 
sich  gleichfalls  Schweizer  nach  jenen  Schwyzern,  mit  denen  sie 
der  Reihe  nach  gemeinschaftlich  gefrevelt  haben.  Sie,  welche  die 
Gräber  der  Heiligen  aufgerissen,    die   Mutter  Gottes  beschimpft, 

7* 


IQQ  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

das  Sacrament  des  Altars  entweiht,  verwüstet  und  in  thierischer 
Wuth  zerbissen  haben,  sie  sammt  ihrem  ganzen  Greschlechte 
treffe  dafür  schmählicher  Tod,  ewige  und  ohne  Aufhören  elendeste 
Verdammniss!  Diesen  Vorgang,  wie  darauf  der  Gegner  Höllen- 
sturz wirklich  erfolgt,  beschreibt  Henmierlin  in  einem  besondem 
Tractat,  den  er  als  Anhang  zu  seiner  vorigen  Schrift  unter  dem 
Titel  verfasst  hat :  Processus  judicarius  habitus  coratn  ofnnipotenti 
deo  inter  nobiles  et  Thuricenses  ex  una,  et  Switenses  cum  complici- 
bus  partibus  ex  altera.  Die  Schrift  ist  dem  Kaiser  Friedrich  HI. 
zugeeignet,  der  denn  am  Schlüsse  bei  Pflicht  und  Eid  aufgemahnt 
wird,  die  Schwyzer  als  Reichs-  und  Kirchenfeinde  mit  der  Schärfe 
des  Kriegsschwertes  auszurotten.  Hier  wird  ein  förmliches  Gottes- 
urtheil  abgehalten,  das  wir  deshalb  kurz  berühren,  weil  es  zeigt, 
wie  die  Schweizergeschichte  damals  sich  in  der  Vorstellung  eines 
adeligen  Gelehrten  ausnahm. 

Hunderteinundfiinfzig  Bürger  und  Ansassen  Zürichs  sind  im 
Treffen  bei  St.  Jacob  a.  d.  Sihl  erschlagen  worden,  nicht  durch 
kriegsgerechte  Waffen,  sondern  durch  eine  im  Kriege  unerlaubte 
Verrätherei  des  Feindes.  Ferner  sind  siebenzig  Mann  der  Be- 
satzung des  Züricher  Schlosses  Greifensee,  die  sich  demselben 
Gegner  ergeben  hatten,  eben  so  kriegswidrig  sammt  und  sonders 
von  ihm  enthauptet  worden.  Nun  gehen  beide  Schaaren  in  den 
Himmel  ein,  klagen  den  Heiligen  ihr  Leid  und  werden  durch  sie 
an  Kaiser  Karl  den  Grossen  verwiesen,  als  an  jenen  Mitbürger, 
der  vormals  dem  geliebten  Zürich  die  Satzungen  kaiserlicher  Maje- 
stät zum  unerschütterlichen  Bollwerk  verliehen  hatte.  Als  Karl 
das  Geschehene  vernimmt,  geräth  er  ausser  Fassung;  der  Tod, 
ruft  er,  komme  über  diese  Schwyzer!  lebendig  sollen  sie  zur 
Hölle  fahren!  Sogleich  begiebt  er  sich  zum  Allmächtigen,  lässt 
sie  hier  durch  die  Apostel  der  Reihe  nach  anschuldigen  der 
Kirchenschändung,  des  Klosterbruches,  des  Hostienfrevels,  und  sie 
vor  Gottes  Gericht  laden.  Ein  Bote  wird  mit  ihrer  Citation 
beauftragt.  Er  findet  ihre  eine  Hälfte  vor  Zürich  und  Farnsbui^, 
eben  in  Belagerung  beider  Orte  begriffen,  und  aus  Scheu  vor 
dieser  Leute  Wildheit  legt  er  seine  Vorladungen  offen  und  in 
Menge  in  ihrem  Lager  nieder.  Die  andere  Hälfte  ist  in  diesem 
Kriege  bereits  umgekommen  und  sitzt  in  der  untersten  Hölle,  an 
deren  Thore  er  daher  seine  Citationen  gleichfalls  anschlägt.  Da 
aber  Lebende  und  Todte  die  anberaumte  Gerichtsfrist  verstreichen 
lassen,  so  werden  sie  in  contumaciam  verurtheilt ;  der  Allmächtige 


5.    Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  {Ol 

lässt  die  Strafsentenz  verlesen  aus  Jeremias  Cap.  S,  is  und  beauf- 
tragt den  Patriarchen  Jacob  mit  der  Volkiehung.  Denn  Letzterer, 
bei  dessen  Kirche  an  der  Sihl  jene  völkerrechtswidrige  Verrätherei 
gegen  die  Züricher  Truppen  begangen  wurde,  fühlt  sich  seitdem 
in  seinem  eignen  Heiligthume  mitverietzt  und  wird  sich  daher  zu 
keiner  Ausnahme  der  Milde  mehr  verstehen.  Also  entsendet  er 
die  drei  Schutzpatrone  Zürichs,  die  Heiligen  Felix,  Regula  und 
Exuperantius,  in  die  belagerte  Stadt  zum  einstweiligen  Tröste  der 
Bürgerschaft;  ebenso  schickt  er  Karl  den  Grossen  gen  Basel,  vor 
dessen  Mauern  ein  zweites  Heer  der  Eidgenossen  gerade  sich 
sammelt.  Der  alte  Frankenkaiser  ordnet  sich  Frankreichs  gleich- 
namigen König  bei,  den  damaligen  Dauphin  Karl  (später  Ludwig  XI.), 
dieser  kommt  mit  einem  übermächtigen  Armagnakenheere  heran- 
gerückt, und  so  erfolgt  hier  bei  St.  Jacob  an  der  Birs  die  grosse 
Niederlage  der  Schweizer,  zur  Vergeltung  ihrer  bei  St.  Jacob  an 
der  Sihl  verübten  Untreue.  Es  fallen  ihrer  mehrere  Tausend. 
Nun  bleiben  aber  auch  noch  diejenigen  zu  züchtigen,  die  dieser 
Schlacht  entgangen  sind.  Ihrethalben  erlässt  Karl  der  Grosse 
seine  Missiven  an  den  Kaiser  Friedrich  III.  und  fordert  ihn  zur 
Beendigung  des  Strafwerkes  auf  Doch  dieser  antwortete  mit 
einer  Entschuldigung,  die  das  Urtheil  des  Himmels  ganz  in  Frage 
zu  stellen  droht:  Er  habe  einstweilen  seinen  Bruder  Albrecht 
gegen  die  Schwyzer  aufgemahnt,  denn  er  selbst  sei  noch  immer 
vollauf  mit  den  übrigen  Ketzern  beschäftigt,  den  Hussiten  und 
Türken. 

Dies  ist  der  Schluss  von  Hemmerlins  Schrift  und  es  ist,  als 
ob  der  Autor  damit  den  Schiffbruch  seines  politischen  Systems 
andeute,  wie  dieser  denn  alsbald  wirklich  eintrat.  Das  machtlose 
Reich  Hess  den  Vorgängen  in  der  Schweiz  ihren  Lauf,  die  Wald- 
stätten blieben  Sieger,  Zürich  fügte  sich  und  Hess  es  sogar  ge- 
schehen, dass  Soldaten  aus  den  Urkantonen,  als  sie  nach  herge- 
stelltem Frieden  bei  einer  Festgelegenheit  die  Stadt  besuchten, 
den  schroffen  Reactionär  hier  in  seinem  Wohrihause  überfielen 
und  gefangen  wegschleppten  in  fremde  Kerker,  in  denen  er  ver- 
scholl und  hinstarb.  Das  hatte  er  davon,  dass  er  den  Himm- 
lischen jene  elendeste  deutsche  Politik  unterschob,  durch  welche 
Friedrich  III.  die  Franzosen  als  Befreier  zum  erstenmale  an  den 
Rhein  gerufen  hatte,  oder  dass  er  an  zwei  so  unfähige  Köpfe, 
wie  Friedrich  und  sein  Bruder  Albrecht,  den  Austrag  des  schwei- 
zerischen Bürgerkrieges  verweisen  hatte  wollen.    War's  doch  dieser 


I02  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Herzog  Albrecht,  der  sich  mit  der  Partei  des  Viehhändlers  Hol- 
zinger  verbündete  und  das  Geschütz  gegen  die  Wiener  Hofburg 
richten  half,  worin  sein  kaiserlicher  Bruder  vom  Volke  belagert 
gehalten  wurde.  Und  dieser  Kaiser,  der  den  Einfallen  der  Türken 
nach  Krain  ruhig  zusah,  der  die  Böhmen  und  Ungarn  zu  selb- 
ständigen Königreichen  hatte  werden  lassen,  gab  atich  dazu  die 
Einwilligung,  dass  Herzog  Sigmund  von  Tirol  die  reichsvogtei- 
lichen  Rechte  seines  Hauses  in  den  Waldstätten,  im  Breisgau  und 
Elsass  sammt  allen  Habsburger  Gütern  daselbst  gegen  die  elende 
Summe  von  80,000  Dukaten  an  den  reichsgefahrlichen  Karl  von 
Burgund  verpfändete,  dem  nachmals  die  Schweizerwaflfen  Reich 
und  Leben  nehmen  mussten.  Er  that  dies,  sägt  Schlosser  (Welt- 
gesch.  IG,  239),  nicht  sowohl  weil  er  Greld  brauchte,  als  vielmehr, 
weil  er  seine  Rechte  gegen  die  nach  Freiheit  strebenden  Ein- 
wohner nicht  geltend  machen  konnte  und  seine  oberdeutschen 
Landsleute  lieber  der  Tyrannei  eines  Franzosen  preisgeben,  als 
ihre  Freiheit  dulden  wollte.  So  beantragte  denn  nachher  Albrecht 
auf  dem  Reichstage  persönlich  seines  kaiserlichen  Bruders  Ent- 
setzung und  dieser  war  im  Jahre  i486  genöthigt,  seinen  ihm  ent- 
fremdeten Sohn  Maximilian  I.  zum  Mitregenten  anzunehmen. 
Auch  mit  Letzterem  änderte  sich  die  hier  geschilderte  Lage  nicht ; 
vielmehr  haben  wir  sogleich  den  gegen  die  gesammte  deutsche 
Christenheit  gerichteten  Gewaltsact  zu  melden,  mit  dem  der 
neue  Monarch  sein  Reich  antrat. 

Bekanntlich  war  das  Alpenland  von  jeher  ein  Sitz  zahlreicher 
religiöser  Secten  und  Bruderschaften,  an  deren  Bändigung  schon 
der  Hohenstaufe  Friedrich  IL  vergeblich  und  in  Unehren  gearbeitet 
hatte.  Ihre  vielerlei  Verbindungsnamen  erfahrt  man  theils  aus 
dieses  Kaisers  Edicten  (Pertz  Legum  II,  244.  327),  theils  aus  den 
im  13.  Jahrh.  von  Bruder  Berthold  in  der  Ostschweiz  gehaltenen 
Predigten;  vgl.  Franz  Pfeiffer:  Berthold  von  Regensburg  i,  S.  402. 
Schon  damals  zählte  man  anderthalbhundert  solcher  religiösen 
Volksvereine,  die  sich  ausser  der  Kirche  gestellt  hatten  und  das 
Recht  freier  Selbstbestimmung  und  die  Unabhängigkeit  des  Ge- 
wissens bedingungslos  voraussetzten.  Der  allgemeine  Vorwurf 
der  Ketzerei,  den  die  Kirche  gegen  sie  erhoben  hatte,  war  ein 
bloss  theologisches,  also  zu  ihrer  Vertilgung  unzulängliches  Mittel 
geblieben;  nun  aber  paarte  man  damit  den  Vorwurf  der  Zau- 
berei, als  durch  welche  die  weltliche  Ordnung  aufgehoben  wird, 
und  konnte   damit   den   Staat   überreden,   sich    zum    Büttel    der 


5*    Punker  und  Teil  als  Zaubenchützen.  lO^ 

Kirche  herzugeben.  Das  Werkzeug  dazu  fand  sich  in  Maximilian  I. 
und  die  neue  Theorie  lieferte  der  Hexenhammer,  ein  Buch,  über 
dessen  Entstehung  und  erste  Veröffentlichung  hier  ein  berichtigen- 
des Wort  nothwendig  ist. 

Pabst   Innocenz  der  Achte   hatte   den   Heinrich  Institor    (zu 
deutsch  Kramer)  und  den  Jacob  Sprenger,  beide  Dominikaner  und 
Professoren  der  Theologie,   zu  Inquisitoren  gegen  die  in  Deutsch;: 
land  herrschende  Ketzerei  und  Zauberei  ernannt,  jenen  für  Ober- 
alemanni^n,   diesen  für  die  Rheinprovinzen.     Er  bezeichnet  ihnen 
durch  die  Bulle  vom   5.  Dec.  1484  „Summts  desiderantes  affectiv 
bus^'   sämmtliche  Arten  von  Ketzerei  und  Zauberei ,    die   sie   in 
Untersuchung  und  Bestrafung  ziehen  sollen,  und  gesellt  ihnen  den 
*  Kleriker  Magister  Johannes  Gremper   von  Constanz   als  aposto- 
lischen Notar  bei.      Zu  dritt  verfassen   sie  hierauf  bis   i486  ein 
Handbuch,   worin. dem   kirchlichen   und   dem  weltlichen  Richter 
für   alle  Ketzerprozesse   das   Normalverfahren   vorgezeichnet   ist. 
Dasselbe  wird  von  Kaiser  Maximilian  I.  mittels  eines  aus  Brüssel 
unterm  6.  Nov.  i486  gegebenen  Edictes   als  für  alle  Reichsange- 
hörigen ausnahmslos  verpflichtend  anerkannt,   erhält  am   19.  Mai 
1487  die  Approbation  der  theologischen  Facultät  von  Köln,   als 
in  Allem  mit  der  Lehre  der  katholischen  Kirche  übereinstimmend, 
und  wird  noch  in  demselben  Jahre   (wie  Hains  Repertorium  II,  i 
no.  9242  erweist)  unter  dem  Titel  herausgegeben:  Malleus  Male- 
ficarum,  zu  deutsch  Hexenhammer;   denn  wie  mit  einem  Eisen- 
hammer soll  durch  dieses  Werk  dem  deutschen  Zauberwesen  von 
der  Salzburger  Diöcese  an  bis  nach  Bremen  hin  das  Haupt   zer- 
schmettert werden.    Die  uns  für  gegenwärtige  Arbeit  vorliegende 
Ausgabe  dieses  Buches,   eine  Incunabel  ohne  Custoden,   Ort  und 
Jahr,  von  der  aargau.  Kantonsbibliothek  (no.  201,  Fol.),  ist  zugleich 
die  in  Hains  Repert.  verzeichnete  Nr,  9239.     Die  Verfasser  lehnen 
im  Vorwort  die  Meinung  ab,  als  ob  ihr  Werk  die  Aufgabe  habe. 
Neues    zu    erzählen  oder   vorzuschreiben;   vielmehr   sei    dasselbe 
schon  bezüglich  seiner  Quellen  und  Urtheile  ein  unbedingt  altes, 
dem  sie  aus  ihrem  eigenen  Denken  so  viel  wie  nichts  beigefügt 
hätten  und  das  höchstens  der  Vollständigkeit  des  hier  aufgesam- 
melten Stoffes  wegen  neu  genannt  werden  könnte.     Und  dennoch 
war  mit  der  amtlichen  Giltigkeitserklärung  aller  in  diesem  Buche 
enthaltenen  Urtheile  und  Folgerungen  eine  unendlich  weit  reichende 
Neuerung  für  ganz  Deutschland  eingeführt,   es  war   nemlich   die 
Magie  amtlich  der  Häresie  gleichgestellt.     Die  Magie,  besagt  das. 


L- 


I04  ^-   ^^^  Sagenkreis  von  Teil*. 

Buch,  rühre  von  solcherlei  Menschen  her,  die  mehr  zu  wissen 
verlangen,  als  uns  nöthig  ist  (quaerentes  plura  sapere,  quam  opor^ 
teat),  und  die  hartnäckig  behaupten,  dass  die  Kirche  kein  Recht 
habe,  Jemand  deshalb  zur  Untersuchung  und  Strafe  zu  ziehen. 
Allein  ein  solches  über  das  menschliche  und  natürliche  Mass  hinaus 
reichendes  Wissen  oder  Können  sei  eben  die  vom  Teufel  abstam- 
mende Zauberei  und  mithin  das  besondere  Merkmal  der  gleichzeitigen 
Ketzerei.  Somit  sei  auch  der  Zauberer  als  Ketzer  verdammt  und 
der  Staat  habe  ihn  mit  den  vom  Hexenhammer  dictierten  Todes- 
strafen zu  belegen.  Hemmerlins  Städterstölz  würde  sich  geschämt 
haben,  unter  dem  von  ihm  als  so  einfältig  dargestellten  Bauern- 
stande Zauberer  annehmen  zu  sollen,  nur  ketzerische  Bosheit  findet 
er  dorten,  und  namentlich  gelten  ihm  die  Walliser  Weiber  im  Bis- 
thum  Sitten  durchschnittlich  für  Hexen  (De  nobilitate,  c.  32). 
Während  er  daher  beibringt,  wie  die  Landvögte  in  dea  Wald- 
stätten verjagt  und  der  Jungfrauenräuber  auf  seinem  Schlosse  im 
Lowerzer-See  von  einem  Bruderpaar  erschlagen  worden,  hütet  er 
sich  wohl,  auf  die  Teilensage  überzugehen,  weil  er  sich  sträubte, 
jenen  unbegreiflichen  Weitschuss  eines  Umer  Bauern  zum  Zauber- 
schuss  zu  machen,  und  weil  der  sein  eigenes  Kind  rächende  Vater 
für  die  Rechtstheorien  Hemmerlins  überhaupt  zu  unbequem  lag. 
Dieses  doppelte  Bedenken  weiss  der  Hexenhammer  zu  beseitigen. 
Es  giebt,  sagt  er,  zauberische  Bogenschützen,  die  am  Charfreitag 
in  dem  Augenblicke,  da  man  die  Messe  celebriert,  das  Bild  des 
Gekreuzigten  nehmen  und  darnach  wie  nach  einer  Scheibe  schiessen. 
Weil  sie  nun  hiebei  gewöhnlich  drei  bis  vier  Schüsse  thun,  so 
vermögen  sie  auch  eine  gleiche  Anzahl  Menschen  an  jedem  Tage 
zu  tödten.  Wen  sie  treffen  wollen,  der  mag  sich  verbergen.  Wohin 
er  will,  er  ist  ihnen  verfallen,  ihr  Greschoss  erreicht  ihn,  ohne  dass 
sie  ihn  zu  sehen  brauchen.  Sie  können  aber  auch,  wenn  sie 
wollen,  einem  Andern  einen  Pfennig  vom  Haupt  herunter  schiessen, 
ohne  ihm  Schaden  zu  thun,  sei  es  mit  einem  Pfeile  oder  einer 
Kugelbüchse.  Um  diese  Fertigkeit  zu  erlangen,  müssen  sie  jedoch 
ein  völliges  Bündniss  mit  dem  Teufel  schliessen.  In  der  Nähe 
der  Burg  Hohenzollern  steht  eine  neugebaute  Kirche,  in  welcher 
ein  solches  mit  einem  Pfeil  durchschossenes  Crucifix  gezeigt 
wird,  dem  Blut  aus  der  Wunde  gequollen  ist.  Ein  Bösewicht,  der 
vom  Teufel  drei  Treffschüsse  zu  erlangen  suchte,  hat  auf  einem 
Kreuzwege  nach  diesem  Bilde  geschossen.  Darnach  erstarrte  er 
auf  der  Stelle,  versank  bis  zum  halben  Leib  in  den  Boden,  wurde 


5«     Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  IO5 

SO  vom  Henker  ergriffen  und  nach  dem  Geständnisse  seiner  That 
hingerichtet*).  Und  so  häufig  und  verbrdtet  ist  diese  Ketzerei, 
dass  unter  zehen  Kfeuzfiguren  an  den  Strassen  oder  in  den  Fel- 
dern kaum  eine  unzerschossen  ist:  vix  tnter  decem  imagines  in 
bivio  aut  in  campis  repositas  una  integra  reperitur.  In  diesem 
Zusammenhange  erzählt  hierauf  das  Buch  pars  2,  questio  i, 
cap.  16  die  hier  folgende  Geschichte  vom  Zauberschützen  Punker 
zu  Lindelbrunn  in  der  Rheinpfalz. 

Ein  rheinischer  Fürst,  der  wegen  seines  langen  Bartes  den 
Beinamen  der  Bärtige  trug,  sah  die  kaiserlichen  Ländereien,  die 
seinem  Gebiete  zugefallen  waren,  durch  die  häufigen  Raubzüge 
gefährdet,  welche  vom  Schlosse  Lendenbrunn  aus  unternommen 
wurden,  und  begann  dieses  zu  belagern.  Es  ist  dies  nun  (fügt 
hier  der  Hexenhammer  bei)  sechzig  Jahre  her.  In  des  Fürsten 
Gefolge  war  damals  der  Zauberschütze  Punker,  ein  Mann,  der 
einst  drei  Pfeile  in  ein  Bildniss  des  Grekreuzigten  geschossen  und 
damit  den  Glauben  an  die  Dreieinigkeit  abgeschworen  hatte.  Da- 
für standen  ihm  seitdem  täglich  drei  Treffschüsse  frei,  so  dass  er 
jeden  Gegner,  mochte  derselbe  noch  so  entfernt,  oder  noch  so 
gut  geborgen  stehen,  unfehlbar  niederschoss.  Was  er  aber  über 
drei  Schüsse  des  Tages  that,  das  waren  ungewisse  Treffer.  Da 
durchschaute  einer  der  Belagerten  diesen  Sachverhalt  und  rief 
einst  dem  Freischützen  höhnisch  aus  der  Burg  zu:  Punker,  den 
Pfortenring  an  unserem  Thore,  den  wirst  du  uns  doch  wohl  nicht 
mit  wegschiessen  ?  Und  Jener  rief  hinwieder  durch  die  Nacht 
hinauf:  Eben  den  hol'  ich  mir  eigenhändig  am  gleichen  Tage, 
wo  wir  die  Burg  erobern  l  Und  so  geschah  es  dann  wirklich. 
Denn  nachdem  Punker  nach  und  nach  fast  die  ganze  Besatzung 
weggeschossen  hatte  und  es  hierauf  zum  Sturm  kam,  nahm  er 
den  Ring  vom  Schlossthore   und  hieng  ihn  an  die  Thüre  seines 


*)  Die  Zimmerische  Chronik,  ed.  Barack,  ist  geschrieben  im  Jahre  1566.  Um- 
ständlich erzählt  sie  (Erster  Theil,  pag.  431—433)  das  Mirakel  aus  der  Heiligen- 
Kreuzcapelle  bei  Hechingen.  Dasselbe  trägt  sich  zu  unter  dem  Altgrafen  Jos 
Niclas  von  ZoUem,  zubenannt  der  Natterer.  Die  drei  ZauberschÜssc  thut  sein 
lieher  Diener  und  reisiger  Knecht  Wilhalm  (Teils  Vorname!),  der  Graf  erkennt 
den  un  Crucifixus  steckenden  Pfeil  als  den  des  Dieners  und  lässt  diesen,  trotz  der 
Fürsprache  von  Edel  und  Unedel,  vor  Gericht  stellen  und  enthaupten.  Die  Bild- 
tafel über  das  Mirakel  »ist  bei  unsern  zeiten  noch  in  der  capellen  gewesen,  aber 
sie  ist  mit  Bewilligung  des  jungen  graf  Jos  Niclasen  von  ZoUem  von  ainem  grafen 
von  Öttingen  hinweg  genommen  worden,  Gott  waist  wohin.« 


*)  Punker  leitet  ab  von  althd.  Punno  und  Punico,  Personennamen,  die  nach 
Förstemanns  Namensbuch  in  den  oberdeutschen  Quellen  des  zehnten  Jahrhunderts 
vorkommen.  Die  Abkömmlinge  des  Punico  sind  die  Puniker  zu  Bunnichoven.  Ein 
deutsches  Geschlecht  von  Punk  besteht  noch:  Pott,  Personennamen,  Aufl.  i, 
S.  147.  Das  Weisthum  der  Gerechtsame  des  Klosters  Münsterhof  zu  Dreis  (west- 
lich von  GöUheim)  stammt  aus  dem  Jalire  1357,  26.  Juni;  es  wurde  ertheilt  vor 
dem  Abt  und  Convent  des  Klosters  durch  Gerlach  Hersingiswiler ,  Namens  des 
Schultheissen  und  der  Scheifen  von  Dreis  dem  Dorfe,  niedergeschrieben  durch  den 
kaiserlichen  Notar  Volkwin  von  Dieppach,  Cleriker  von  Trier,  in  Gegenwart  von 
Burggrafen,  Priestern,  Rittern  und  Meiern.  Als  erster  dieser  Zeugen  ist  genannt: 
der  veste  strenge  ritter  her  Sifrid,  genant  Punker  von  Wartinberg.  Grimm, 
Weisth.  IV,  642. 


)06  I.   Der  Sagenkreis  von  Teil. 

eigenen  Wohnhauses,  das  zu  Rorbach  im  Wormser  Sprengel  ge- 
legen ist,  wo  man  ihn  noch  heute  hängen  sieht  [circu/um,  sie 
appensum  damui  suae  in  Rorbach  y  WormaHensis  diocesis,^  ho- 
diemum  dient  cemitur].  Weil  aber  nachmals  Punker  fortfuhr, 
seine  eigenen  Bauern  zu  bedrücken,  wurde  er  eines  Tages  von 
ihnen  überfallen  und  mit  Hacken  und  Schaufeln  erschlagen;  so 
starb  er  in  seinen  Sünden  hin. 

Der  französische  Jurist  Jean  Bodin  hat  in  seiner  zu  Paris  1579 
erschienenen  Dämonomania  diese  Erzählung  wiederholt  und  unser 
berühmter  Landsmann  Johann  Fischart  dann  dieses  Werk  1581 
zu  Strassburg  in  Uebersetzung  herausgegeben.  Von  letzterer 
liegt  uns  die  Strassburger  Fol.- Ausgabe  1591  vor.  Hier  heisst 
es  in  etwas  anderer  Wendung:  den  Punker  hätten  seine  Bauern 
zuletzt  in  Stücke  gerissen,  weil  er  des  Mordens  kein  Ende  mehr 
machte,  und  dies  habe  sich  i.  J.  1420  begeben.  Der 
Schütze  wird  da  Pumper  genannt,  vielleicht  ein  Druck-  oder 
Lesefehler*). 

In  wie  weit  nun  die  eben  genannten  Ortschaften  Rorbach 
und  Lendenbrunn  in  einem  wirklichen  Zusammenhange  stehen  mit 
der  von  einem  rheinischen  Fürsten,  Namens  der  Bärtige,  daselbst 
unternommenen  Fehde,  dies  erhellt  aus  nachfolgenden  Documenten 
und  örtlich  eingezogenen  Aufschlüssen. 

Das  vom  Hexenhammer  genannte  Rorbach,  woselbst  Punker 
wohnte  und  der  Thorring  des  von  ihm  erstürmten  Schlosses 
Lendenbrunn  noch  zu  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  an  sei- 
nem Wohnhause  zu  sehen  gewesen,  kann  kein  anderes  als  das 
eine  Stunde  südwestlich  von  Heidelberg  liegende  Dorf  Rorbach 
sein.  Denn  dieses  gehörte  in  die  Wormser  Diöcese,  ist  der  älteste 
Burgsitz  der  Heidelberger  Pfalzgrafen  gewesen,   und  bischöflich- 


5«   Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  I07 

wormsische  Lehen  finden  sich  daselbst  schon  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert [Schannat  hist.  episc.  Worm.  i ,  34  s.  v.  Kirchheim. 
Würdtwein  Subsid.  dipl.  nova  3,  314]. 

Das  mitgenannte  castrum  Lendenbrunnen  ist  urkundlich  eben 
so  entschieden  die  in  der  baierischen  Pfalz  im  Thale  von  Dahn 
liegende  Burgruine  Lindelbrunn,  eine  ehemalige  Veste  und  Reichs- 
herrschaft, welche  urkundlich  Lindelbol  hiess.  Bavaria  4,  Abth.  2, 
645.  Sie  wurde  im  Bauernkriege  1525  von  den  Bauern  erstiegen 
und  ausgebrannt.  Ihre  Vergangenheit  ist  vom  Pfarrer  Lehmann 
beschrieben  in  dessen  Urkundl.  Gesch.  der  Burgen  und  Berg- 
schlösser der  baierischen  Pfalz  i,  191  bis  216.  Dieser  bewährte 
Forscher  beschenkte  uns  persönlich  auch  mit  einigen  der  nach- 
folgenden Mittheilungen,  wofür  er  hier  unsem  landsmännischen 
Gruss  und  Dank  freundlich  entgegen  nehmen  möge.  Die  Burg 
steht  in  einer  geschichtlichen  Verbindung  mit  dem  vom  Hexen- 
hammer erwähnten  Belagerer  derselben,  jenem  rheinischen  Fürsten, 
mit  dem  Beinamen  der  Bärtige,  unter  welchem  kein  anderer  ver- 
standen sein  kann,  als  der  Pfalzgraf  und  Kurfürst  Ludwig  IV., 
welcher  1410  die  Regierung  der  Pfalz  antrat  und  1437  starb.  Be- 
reits Mone  in  den  Schriften  des  badischen  Alterthumsvereins  2, 
250  hat  dies  erkannt  und  die  Folgerung  daran  geknüpft:  da  der 
Hexenhammer  um  i486  geschrieben  und  sich  in  der  Zeitbestim- 
mung des  Punkerischen  Meisterschusses  selber  auf  die  letzten 
sechzig  Jahre  zurückberuft,  so  muss  Pimker  1426  als  ein  Zeit- 
genosse jenes  Ludwig  IV.  gelebt  haben.  Letzterer  hatte  in  dem 
eben  genannten  Jahre  eine  Wallfahrt  nach  Jerusalem  unternommen, 
von  der  er  mit  einem  langen  Pilgerbarte  zurückkam,  den  er  sich 
nicht  mehr  abnahm.  Davon,  sagt  der  Hexenhammer,  hiess  er  der 
Bärtige:  BarbatuSy  eo  quod  barbam  nutriebat  Tj^^x  steht  dabei 
in  der  Ausgab^  des  Bassäus,  Frankf.  1582,  die  Beifügung,  unter 
jenem  Barbatus  sei  der  Würtemberger  Herzog  Eberhart  im  Bart 
gemeint;  allein  dies  ist  chronologisch  unmöglich.  Denn  dieser 
Würtemberger  Eberhart  der  Aeltere  war  ein  Graf,  der  als  solcher 
1459  ^^  d*^  Regierung  seines  Landes  kam,  erst  1495  auf  dem 
Reichstage  zu  Worms  durch  Kaiser  Max  I.  zum  Herzog  erhoben 
wurde  und  am  24.  Februar  folgenden  Jahres  starb.  Nun  findet 
sich  in  den  pfälzischen  Urkunden  zwar  keine  Nachricht,  dass 
jener  Pfalzgraf  Ludwig  IV.  Antheil  an  der  Reichsveste  Lindel- 
brunn  gehabt  hätte,  die  durch  König  Rudolf  seit  1274  den  Grafen 
von  Leiningen  eingeräumt  war,   oder  dass  er  sie  jemals  belagert 


I08  I»    ^^^  Sagtenkrcis  Von  Teil; 

hätte.  Wohl  aber  ist  sie  hemach  durch  Ludwigs  Bruder,  den* 
Pfalzgrafen  Otto  von  Mosbach,  welcher  der  Vormund  von  Lud- 
wigs minorennem  Sohne  Ludwig  V.  war,  i.  J.  1440  belagert  wor- 
den, die  Fehde  wurde  jedoch  ein  Jahr  später  gesühnt.  Somit 
lässt  sich  aus  den  Angaben  des  Hexenhammers,  vereint  mit 
diesen  beurkundeten  Verhältnissen,  allerdings  schliessen,  dass 
Punker  von  Rorbach  ein  Vasall  Ludwig  IV.  von  der  Pfalz  ge- 
wesen ist  und  i.  J.  1420,  wie  schon  der  vorerwähnte  Bodinus  an- 
gab, gelebt  hat. 

Hierauf  erzählt  der  Hexenhammer  Punkers  eigentlichen  Tellen- 
schuss  folgender  Massen.  Um  dieses  Mannes  auffallende  Schützen- 
kunst sicher  zu  erforschen,  befahl  ihm  einer  der  Fürsten,  sein 
eigenes  Knäblein  zum  Ziel  zu  nehmen  und  demselben  einen  De- 
nar von  der  Mütze  herab  zu  schiessen.  Punker  erklärte,  dass 
ihm  dieses  zwar  möglich  sei,  wünschte  aber  gleichwohl  damit 
verschont  zu  werden  aus  Besorgniss,  der  Teufel  möchte  den 
sichersten  Pfeil  fehllenken  und  ihn  damit  selber 'in's  Verderben 
stürzen.  Doch  da  der  Fürst  auf  dem  Befehle  bestand,  nahm 
Jener  einen  Bolzen  und  steckte  ihn  in's  GoUer,  legte  einen  zweiten 
auf  die  Armbrust  und  schoss  glücklich  den  Denar  dem  Knaben  von 
der  Mütze  herunter.  Auf  des  Fürsten  Frage,  wozu  Punker  einen 
zweiten  Pfeil  in's  Goller  gesteckt  habe,  erwiederte  dieser:  Hätte 
ich,  vom  Teufel  verblendet,  mein  Kind  erschossen  und  damit  mich 
selbst  an's  Schwert  geliefert,  dann  würde  ich  mit  diesem  andern 
vorher  Euch  selbst  durchbohrt  und  also  meinen  Tod  vergolten 
haben.  So  weit  diese  Sage.  Weder  weiss  sie  von  einer  Strafe, 
die  den  Schützen  nach  seinem  ausgestossenen  Drohworte  durch 
den  Fürsten  betrifft,  noch  von  einer  Rache,  die  er  nach  dem 
Zwangsschusse  an  seinem  Zwänger  nimmt;  sondern  statt  des  Ty- 
rannen lässt  sie  nachmals  den  Treffschützen  selber  ermordet  wer- 
den, weil  er  durch  Ketzerei  den  Tod  verschuldet  hat.  Da  er 
aber  ein  mit  dem  Teufel  verschworner  Zauberer  ist  (maleficus), 
der  sich  durch  Höllenkünste  stich-  und  schussfest  gemacht  hat^ 
„gefroren",  so  muss  er  von  seinen  meuterischen  Bauern  mit  Karst 
und  Haue   erschlagen  werden*).      Eben  an   dieser   Stelle   ist   es 


*)  Sebastian  Franck  in  seiner  Chronica  der  Teutschen,  Augsburg  1538,  be- 
spricht von  Blatt  CCX  an  den  für  die  Schweizer  so  günstig  gewesenen  Gang 
des  Schwabenkrieges  und  erkennt  die  Gründe  davon  in  der  Ueberhebung  des 
deutschen  Adels  gegen  die  Bauern:  »Was  ist  es  dann  wunder,  dass  wir  den 
ganzen  krieg  aus,  den  wir  so  vilfach  verursachet  haben,    kein  glück  noch  sig  ge- 


J 


5-   Puoker  und  Teil  als  Zauberschützen.  JOO 

nun,  wo  die  Frankfurter  Ausgabe,  1582  von  Bassäus,  die  merk- 
würdige Randnote  beifügt,  dies  alles  sei  auf  den  schweizerischen 
Teil  gemünzt,  den  man  gleichfalls  für  einen  Zauberschützen  aus- 
gegeben: Hoc  vergit  in  ignominiatn  Vvühelfni  Teil,  helveücae 
Ubertatts  assertori,  quasi  quoqtie  Magus  fuisset.  Wer  hierin  eine 
bloss  individuelle  Vermuthung  des  späteren  Herausgebers  erblicken 
will,  irrt  sehr,  vielmehr  ist  gerade  damit  die  Absicht  des  Hexen- 
hammers vollkommen  richtig  erklärt.  Dies  erhellt  aus  pars  III, 
cap.  19,  Quest.  34,  wo  eben  das  Verbrechen,  dessen  sich  Treff- 
^hützen  schuldig  machen,  verhandelt  und  deren  Strafe  bestimmt 
wird.  Städte  und  Länder,  heisst  es  da,  die  einen  solchen  Misse- 
thäter  bei  sich  aufnehmen,  um  mit  seinem  Waffenbeistande  zu 
siegen,  und  wäre  es  auch  in  einem  gerechten  Kriege  und  gegen 
(He  Tyrannei  eines  Wütherichs,  müssen  sammt  ihrem  Heere  und 
Volke  als  Helfer  und  Hehler  der  Zauberei  mit  Kirchenbann  und 
Excommunication  belegt  werden.  Auf  den  Einwand,  dass  doch 
auch  ein  Fall  gerechter  Nothwehr  gedenkbar  sei  und  dann  die 
Schärfe  der  Strafe  wohl  gemildert  werden  sollte,  namentlich  wenn 
es  sich  um  ein  ganzes  Volk  handle,  das  bereit  ist  das  Leben  an 
die  Vertheidigung  des  Vaterlandes  zu  setzen,  wird  mit  eiserner 
Consequenz  erwiedert:  So  lange  ein  solches  Volk  den  Zauber- 
schützen  nicht  von  sich  aus  verdammt;  so  lange  dieses  Volkes 
Richter  und  Räthe  ihn  nicht  des  Landes  verweisen  und  an  die 
Inquisitoren  zur  Bestrafung  ausliefern,  eben  so  lange  unterliegt 
das  ganze  Volk  allen  Bussen,  die  einen  Hehler  treffen;  es  kann 
nach  einjähriger  Excommunication  auf  reumüthige  Bitte  hin  zwar 
wieder  losgesprochen  werden,  immer  aber  unter  der  Bedingung, 
dass  es  abschwört,  den  Ketzer  ferner  zu  begünstigen,  und  dass 
es  ihn  dem  weltlichen  Arm  überantwortet. 

Eine  masslose  Forderung  1  Doch  wer  weiss  nicht,  dass  das 
canonische  Recht  damals  noch  mehr  und  Härteres  als  nur  dieses 
verlangte  und  es  auch  durchsetzte.  Als  es  dem  Angeschuldigten 
keinen  Vertheidiger  mehr  erlaubte  und  keine  Protestation  gegen 
das  gefällte  Erkenntniss  gelten  Hess;  als  unmündige  Kinder  gegen 
ihre  Eltern,  ja  selbst  Verbrecher  und  Irrsinnige  ein  voUgiltiges 
Zeugniss  ablegen  konnten  und  nun  die  Scheiterhaufen  mit  den 
Eingeäscherten  ganz  Deutschland  durchqualmten,  sollen  da  in  dem 


liabt,   so  gar  dass  der  schwäbisch  Bund  meynet,  sie  (die  Schweizer)  weren  be- 
zaubert.« 


\ 

HO  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Gemüthe  des  Mannes,  der  zu  diesem  Greuel  gewiss  unbedachtsam 
die  gesetzgeberische  Hand  geboten  hatte,  keine  nagenden,  reue-  i 
vollen  Gedanken  aufgestiegen  sein?  Sicherlich  war  dies  die 
Empfindung  Maximilians  gewesen.  Warum  hätte  er  sonst  im 
Jahre  1 508  den  gelehrten  Abt  Tritheim  zu  sich  auf  das  Schloss 
Boppart  geladen  und  ihm  achterlei  Fragen  über  die  G^isterwelt 
und  deren  etwaigen  Zusammenhang  mit  dem  Zauber-  und  Hexen- 
wesen vorgelegt.  Ja  er  gieng  noch  weiter  und  beauftragte  den 
Abt,  den  Inhalt  dieser  Unterredung  in  einer  Schrift  auszuarbeiten 
und  alles  Beweisverfahren  darin  ganz  rationell  zu  halten,  um  das 
Buch  auch  jener  Leserclasse  zugänglich  zu  machen,  die  der 
blossen  Steifgläubigkeit  nicht  alle  möglichen  Einräumungen  zu 
machen  gedenkt.  Tritheim  lieferte  dieses  Buch,  betitelte  es  nach 
jenen  acht  Fragen  und  widmete  es  dem  Kaiser,  ein  Jahr  vor  des 
Verfassers  Tode  erschien  es  bei  Johann  Hasselberg  in  Oppenheim*). 
Allein  schon  in  den  ersten  Sätzen  erfolgt  das  Geständniss,  jenes 
vom  Monarchen  gewünschte  rationelle  Beweisverfahren  sei  unan- 
wendbar auf  christliche  Glaubenssätze,  weil  diese  nicht  aus  dem 
Menschenverstände  geschöpft  seien.  Der  Verfasser  habe  sich  da- 
h6r  auch  hier  ausschliesslich  an  die  Lehre  seiner  Kirche  gehalten, 
deren  Entscheid  und  Urtheil  er  dieses  wie  jedes  andere  seiner 
Werke  gehorsam  unterwerfe.  Daher  wird  denn  die  erste  Frage 
des  Kaisers :  Warum  Gott  von  den  Menschen  weit  mehr  geglaubt 
als  gewusst  sein  wolle,  mit  der  gewohnten  Behauptung  umgangen, 
dass  es  Irdischen  unmöglich  bleibe,  den  Allmächtigen  vollkommen 
zu  begreifen.  Von  wahrer  Innigkeit  aber  zeugt  die  zweite  Frage: 
Ob  man,  da  heute  nur  erst  ein  kleiner  Theil  der  bewohnten  Erde 
dem  Christenglauben  angehört,  jene  Meinung  der  Mehrheit  ohne 
Benachtheiligung  der  göttlichen  Offenbarung  dulden  dürfe,  es 
könne  Jeder  in  seinem  Glauben  selig  werden,  wobei  namentlich 
jene  erst  entdeckten  Indianer  Amerika'^s  mitgemeint  sind,  von 
denen  die  alte  Welt  niemals  gewusst  hat  und  die  also  von  der 
christlichen  Lehre  gleichfalls  noch  niemals  gehört  haben  können. 
Dem  wird  jedoch  der  unabänderliche  Satz  entgegen  gestellt: 
Wer  glaubt  und  getauft  ist,  wird  selig,  wer  nicht  glaubt>  wird 
verdammt  werden.     Niemand  kann   Gottes  Zorn  vom   Menschen 


*)  Joannis  Tritemii  Abbatis  sancti  Jacobi  apud  Herbipolim,  quondam  vero 
Spanhemensis :  Liber  Octo  questionum  ad  Maximilianum  Cesarem.  —  Impressum 
Oppenheym  Impensis  Johannis  Hasselbergenn  de  Augia,  Constantiensis  Dyocesis. 
MDXV,  XX  Septembris. 


J 


5.   Punker  und  Teil  als  Zauberscfaützen.  nj 

nehmen,   als  der  Mittler.    Da   also  ohne  Glauben  an  diesen  kein 
Heil  ist,  so  ist  kein  Ungläubiger  von  der  Verdammniss  ausgenom- 
men,   wohne   er  nun  unserm  Welttheile  zunächst,   oder  auf  weit 
entfernten  Inseln,   habe   er  bereits  vom  Mittler,   oder  noch  gar 
nicht  von  ihm  gehört.    Damit  wollen  wir,  fährt  Tritheim  fort,  zu- 
gleich jenem  schwächlichen,  so  oft  wiederholten  Einwurf  begegnen^ 
welcher   fragt,  warum   der  Allmächtige,  der  die  lautere  Güte  ist, 
so  viele   tausend  Menschen   erschaffen   mochte,  deren  ewige  Ver- 
danminiss  er  doch  schon  von  Ewigkeit  voraus  gewusst  hat.     Als^ 
ob  Gott  uns  Sterblichen  den  Grund  seiner  unerfofschlichen  Rath- 
schlüsse   zu  eröffnen   hätte!     Wie   also  einst  Alle  ausserhalb  der 
Arche  Noäh  in   der  Sündfluth  ertrinken  mussten,  ebenso  zweifel- 
los müssen   alle   ausserhalb   der   katholischen    Kirche    Stehenden 
ewig  verdammt  sein,  Juden  und  Heklen,  Schismatiker  uRd  Ketzer. 
—  Die  fünfte   und  sechste  Frage  ist  verwandt  und   verlangt   zu 
wissen,   warum   so  ganz   geringe   und    schlechte   Leute,  wie   die 
Hexen,  den  bösen  Geistern  zu  befehlen  vermögen,  da  doch  brave 
und  glaubensstarke  Männer  weder  über  die   guten   Geister,  noch- 
auch   nur  über  die  bösen  ein  einziges  Mal  Gewalt  haben.     Oder 
woher   den   Hexen  jene  Macht   komme,   dass  sie  so  Vieles   und" 
Wundersames  in   einer  einzigen   Stunde   zu  Stande  bringen,  was 
einem  guten  Menschen  sein  Leben  lang  nicht  gelänge?    Der  Hof- 
theologe geht  nun  auf  das  Gebiet  der  Magie  über  und  hält  dem 
Kaiser  nachfolgende  Allocution.     So  wenig  als  ein  zum  Priester- 
amte nicht  Geweihter  die  Eucharistie  zu  bewerkstelligen  vermag, 
wenn    er    auch     die    dabei   vorgeschriebene    Consecrationsformel 
spricht,  eben  so  wenig  kann   der  Teufel    demjenigen    beistehen,, 
der  sich  ihm  nicht  verschrieben  hat,  selbst  wenn  man  alle  magi- 
schen   Zeichen     und     Zaubersprüche     anwendete.      Ergebung    in^ 
Gottes  Willen  macht   aus  Menschen  Engel,    der  Missbrauch  des 
freien  Willens  macht  die  Gottlosen  zu  Teufeln.    In  seiner  Willens- 
verkehrtheit verbrüdert  sich   der  Mensch   dem  bösen  Feinde  und^ 
beherrscht  ihn   zuletzt  wie  ein  Günstling  seinen  Herrn.     So  thun 
alle  Hexen  und  Hexenmeister.     Welche  Uebel  dieses  allergeföhr- 
lichste  Gezüchte  in  deinen  Staaten  stiftet,  o  weisester  Kaiser,  dies 
vermag   gar  Niemand   auszudrücken.     Gott,    Glauben  und  Taufe 
schwören  sie  ab,   ergeben   sich  mit  Leib   und  Seele  dem  Satan, 
ziehen  jegliche  Seuche  in's  Land,  vergiften,  verderben  und  tödten 
Menschen  und  Thiere.    Glaub  mir,  o  Herr,  dass  dieses  Geschlecht 
der  Lüge   das   allerverderblichste  ist   in   deinem   heiligen  Reiche., 


i 


112 


I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 


Und  da  geschrieben  steht:  In  meinem  Namen  werdet  Ihr  Teufel 
austreiben,  und  wiederum :  Die  Zauberer  sollst  du  nicht  am  Leben 
lassen,  so  müssen  diese  Zauberer  zusammt  jenem  Aussatze  der 
Hexen  gänzlich  ausgerottet  werden,  weil  zwischen  Gut  und  Böse 
keine  Gemeinschaft  sein  kann,  wie  du  ja  selbst,  ruhmreicher  Herr, 
keinen  deiner  Sitte  und  deinem  Befehle  trotzenden  Menschen  an 
deiner  Hofhaltung  duldest. 

Hier  bei  der  eigentlichen  Spitze  des  Gespräches  angelangt, 
dürfen  wir   uns  einen  weiteren  Auszug  ersparen.  -  Man  sieht,  die 
Theorie  des  Hexenhammers   bleibt  allen  Bedenklichkeiten  gegen- 
über aufrecht:  Zauberer  und  Hexen  stehen  in  gleicher  Verschul- 
dung, und  die  Justiz  darf  nicht  müde  werden,  beide   ausnahmslos 
zu  tödten.     Und   wenn  darüber,   wie  Maximilian  einwirft,   nicht 
bloss  die  Sünder  zu  Grunde  gehen,  sondern  eben  so  viel  Unschul- 
dige  und  Unmündige   elendiglich  mit  verkommen  müssen,  so  er- 
wiedert  Tritheim,   dass  auch  dies  nur  unter  Zulassung  der  uner- 
forschlichen  Weisheit  Gottes  geschehe,  vielleicht  zum  Seelenheile 
jener   unschuldigen   Kinder,   vielleicht  zur   Strafe    ihrer   sündigen 
Eltern.     So   hat   zuletzt  der  Kaiser  alle  gedenkbaren  Ausnahms- 
falle vorgebracht  und  der  Abt  sie  alle  wieder  unter  den  gleichen 
Hut  des  unabänderlichen  Gesetzes  zurückgeschoben;  warum  aber 
schweigen  denn  Beide   gerade  von  derjenigen  Ketzerei  allein,  die 
ihnen   doch  gleich  sehr  zu   Herzen  geht,  von  der  Rebellion  der; 
Schweizer  gegen  das  Reich?    Warum  ist  diese  nicht  eine  der  acht 
Hauptfragen?    Weil  diese  Rebellion  vor  damals  achtzehn  Jahren' 
schon  in  Deutschland  genugsam  durchgesprochen  worden  war  und' 
es  jetzt   damit  zu   spät  ist.     Da  war  der  Executionskrieg  gegen | 
die  Schweiz  wirklich  in  Gang  gewesen.     Die  Eidgenossen   lagen  i 
an  ihrer  Ostgrenze,   die  Reichstruppen  um  den  Bodensee,  Maxi- 
milian hielt  Kriegsrath  zu  Ueberlingen,  und  Doctor  Makarius  pre- 
digte zu  Constanz  das  Kreuz  gegen  die  Schweizer,  »die  an  Frevel 
und   Greuel  nicht  ihres  Gleichen  hätten  unter  Türken,  Juden  und 
Heiden«.     Auch   Tritheim  trug  sein   Scheitlein   damals  mit  zum 
Feuer  und  hatte  sich  in  seiner  Hirsauer  Chronik  II,  572 — 74  unter: 
dem  Jahre  1499  folgender  Massen  vernehmen  lassen. 

Zwei  Völker  hat  Deutschland,  welche  dem  Reiche  den  Un- 
tergang zu  bringen  drohen,  wenn  die  Vorsehung  ihnen  nicht  nochi 
rechtzeitig  den  Zaum  in's  Gebiss  legt.  Jedes  der  beiden  greift  wie: 
eine  reissende  Pest  tagtäglich  weiter  über  sein  Gebiet  hinaus,  di 
eine,   indem   es  gegen  den  Kirchenglauben,  das  andere,  indem  es, 


5-    Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  H^ 

gegen  die  Reichsherrschaft  ^  frevelt,  gegen  diese  zwei  geweihten 
Schwerter  in  des  Pabstes  und  des  Kaisers  Händen.  Das  sind  die 
ketzerischen  Böhmen  und  die  aufrührerischen  Helvetier.  Diese 
Schweizer,  dies  verschwome,  unruhige,  tollkühne  Volk,  zieht  schon 
seit  diesem  Monat  März  feindlich  über  unsre  Grenze  und  schädigt 
das  Nachbargebiet  des  Hauses  Oesterreich  mit  Raub  und  Brand. 
In  wie  fem  diese  Eidgenossen  zu  solchem  Angriff  einen  wirklichen 
oder  einen  bloss  angeblichen  Grund  haben,  dies  zu  beurtheilen, 
ist  hier  meines -Amtes  nicht,  der  ich  nicht  an  Richters  Statt  sitze. 
Dies  aber  sag  und  schreib  ich  und  will  es  der  Nachwelt  über- 
liefern, wie  auch  ein  Jeder,  der  jetzt  in  Deutschland  lebt  und  der 
Schweizer  Verfahren  kennen  gelernt  hat,  gleichfalls  es  weiss  und 
sagt:  dass  es  Leute  sind  von  aufgeblasnem  Charakter;  aufsässig 
und  aufwieglerisch  gegen  die  Fürsten  und  Herrschaften,  und  schon 
von  alter  Zeit  her  widerspenstig  und  unbotmässig ;  andere  Völker 
gering  schätzend,  sich'  selbst  der  Gewalt  anmassend;  im  Kriege 
verschlagne  Liebhaber  der  Hinterlist;  im  Frieden  unzuverlässig, 
ja  auch  den  Vertrag,  zu  dem  sie  sich  rechtlich  verpflichten,  gerade 
dann  brechend,  wo  es  sich  um  ihre  angebliche  Unabhängigkeit 
handelt*).  Freilich  muss  ich  mit  beifugen,  dass  sie  den  Krieg 
nicht  bloss  kühn,  sondern  auch  klug  zu  fuhren  verstehen,  dass 
sie  sich  in  jeder  Noth  mit  treuer  Hilfe  gegenseitig  beistehen,  dass 
keiner  den  andern  in  der  Gefahr  verlässt,  kein  Reicher  den 
Armen  verachtet.  Aber  nun  schau  einer,  wie  ihr.  eingefleischter 
Hochmut  sich  steift;  man  schaue  nur,  wie  dies  Volk  seit  unsern 
Lebzeiten  auf  Kosten  Deutschlands  sich  erweitert,  wie  es  erst  die 
Reichsstadt  Basel  in  seine  Ränke  mit  eingesponnen,  so  zu  sagen, 
abtrünnig  und  eidbrüchig  gemacht  hat.  Hätte  Constanz  nicht  so 
constant  ausgeharrt  bei  seinem  Helfer,  der  Kirche,  die  Schweizer 
hätten  es  schon  längst  ebenso  weggefangen.  O  Strassburg,  sei 
nun  wachsam,  schon  lauert  der  Verschwörer  Auge,  dass  du  ihren 
Meineid  nachschwörst.  Weh  dir,  Kolmar  und  Hagenau,  denn 
Ruffach  will  von  solchem  Treubruch  nicht  unbefleckt  bleiben. 
Und  in  dir,  Worms,  liegt  auch  der  Keim  desselben  Uebels,  auch 
du  buhlst  mit  der  Zügellosigkeit.  Und  dieser  Freiheitsdespotis- 
mus,  der  nicht  Mass   noch  Ziel   kennt,   der   niemals  ruhen  kann, 


•)  Dieselbe   Klage    wird   schon    im   Parteiliede    vom  Jahre    1443    gegen    die 
Schwyzer  (bei  Tschudi  2,  390)  erhoben: 

Si  hand  dem  Küng  dry  Eid  geschworn, 
Deren  ist  nit  einer  gantz. 
Rochholz,  Teil  und  Gessler.  8 


l 


114  !•  Der  Sagenkreis  von  Teil. 

er  wird  nicht  mehr  enden,  bevor  nicht  entweder  er  die  Reichs- 
fiirsten  nach  einander  aus  dem  Lande  gejagt  hat,  oder  sie  ihn ! 

In  diesem  Klageliede  ist  das  Eingeständniss  enthalten,  dass  die 
Zeit,  da  man  ein  Volk  und  seine  Geschichte  ungestraft  verketzern 
durfte,  eben  im  Ablaufen  war.  Die  Ereignisse  giengen  damals 
rasch.  Binnen  drei  Jahrzehnten  war  eine  wissenschaftliche,  poli- 
tische und  kirchliche  Umgeburt  vollzogen,  deren  einzelne  Haupt- 
momente gerade  mit  dem  Tode  des  Kaisers  und  seines  gelehrten 
Freundes  zusammentrafen.  In  dem  Jahre  15 17,  als  Tritheim  starb, 
hatte  zu  Wittenberg  »der  Erzketzerc  seine  Thesen  gegen  den 
Dominikaner  Tetzel  angeschlagen.  Denselben  Kampf  gegen  den 
Ablasskrämer  Samson  und  die  römische  Curie  eröffnete  1519, 
im  Todesjahre  von  Kaiser  Max,  Zwingli  zu  Zürich,  und  Luther 
gab  auf  der  gleichzeitigen  Leipziger  Disputation  die  wichtige  Er- 
klärung ab,  dass  verschiedene  Lehren  von  Huss  der  heil.  Schrift 
gemäss  und  also  mit  Unrecht  verdammt  worden  seien;  »Ketzere, 
schrieb  er  damals,  »kann  man  bloss  durch  Gründe  überwinden, 
nicht  mit  Feuer,  c  Der  Begriff  der  Nationalität  durchdrang  die 
Provinzen,  so  dass  der  Versuch,  die  Unabhängigkeitsgeschichte- 
der  Böhmen  oder  der  Schweizer  in  eine  Teufelsgeschichte  zu  ver- 
wandeln, blieb  was  er  war,  eine  grobe  Mönchsthorheit.  Hübsch 
ist  es  daher  zu  sehen,  wie  jener  pfälzische  Meisterschütze  Punker 
sammt  seiner  Quelle,  dem  Hexenhammer,  in  Vergessenheit  gerieth, 
als  eben  der  schweizer  Meisterschütze  Teil  aus  seiner  bescheidenen 
Landessage  hervortrat  und  bald  zu  weltgeschichtlichen  Ehren  kam. 
Und  doch  stehen  sich  beide  Sagen,  der  Zeit  ihrer  Aufzeichnung 
nach,  ganz  nahe.  Es  ist  im  Vorausgehenden  bereits  gezeigt,  dass 
die  Erzählung  von  Punker  dem  Schützen  bereits  1420  zu  Rorbach 
localisiert  war  und  1484  aufgezeichnet  worden  ist.  Der  Tellen- 
schuss  findet  seine  erste  Aufzeichnung  in  den  Jahren  1471 — 72  im 
sog.  Weissen  Buche,  dem  ältesten  Copialbuche  des  Archivs  von 
Obwalden  und  zugleich  der  gemeinsamen  Quelle  für  jene  drei 
Schweizerchronisten,  die  des  Teil  zuerst  erwähnen.  Der  Reihe 
nach  haben  aus  ihr  geschöpft  i)  Melchior  Russ  von  Luzem, 
der  seine  Chronik  bis  in's  Jahr  1488  fortsetzt;  2)  Petermann 
Etterlyn  von  Luzern,  dessen  Chronik  am  24.  Christm.  1507  zu 
Basel  gedruckt  worden,  und  3)  Aegyd  Tschudi,  f  1572,  durch 
dessen  Darstellung  die  Sage  gegliedert,  motiviert  und  endgiltig 
abgeschlossen  wurde.  Denn  der  eigenhändige  Auszug,  den 
Tschudi    aus    dem  Weissen  Buche   und  aus   einer   Unterwaldner 


j 


5-    Punker  und  Teil  als  Zauberschützen.  1 1 5 

Qironika  [»die  myr  Lazarus  Choli  von  Zug  geliehen  v.  1498«] 
über  die  »Thellengeschycht«  gemacht  hatte,  hat  dem  Verfasser 
dieser  Zeilen  längere  Zeit  vorgelegen  und  ist  von  ihm  copiert 
worden;  er  vermag  also  die  Entstehungsweise  der  Tschudi'schen 
Erzählung  gehauer  zu  beurtheilen.  Das  Manuscript  lag  ois  1850 
beim  Historiker  Melchior  Schuler  aus  Glarus,  damals  aargauischem 
Pfarrer  zu  Erlinsbach,  gieng  nach  dessen  Tode  an  seine  Erben 
im  Flecken  Glarus  zurück  und  ist,  wie  man  weiss,  beim  allgemei- 
nen Brande  dieses  Ortes  im  Jahre  1861  mitverbrannt.  Es  liegen 
also  zu  Folge  dieser  so  eben  gemachten  Berechnung  die  ersten 
Aufzeichnungen  des  schweizerischen  und  des  pfälzischen  Tellen- 
schusses  nicht  mehr  als  zwölf  Jahre  auseinander. 

Trotz  dieser  eben  erwähnten  reformatorischen  Ereignisse 
waren  doch  die  Nachwirkungen  des  Hexenhammers  keineswegs 
schön  erloschen.  Deutschland  baute  den  Hexen  bald  noch  zahl- 
reichere Scheiterhaufen  und  die  Schweiz  Hess  ihre  Wiedertäufer 
rituell  ersäufen;  so  unerwartete  Abwege  nach  kaum  begonnenem 
Fortschritt  pflegt  der  Menschengeist  manchmal  einzuschlagen.  Die 
Gesammtherrschaft  des  Adels  und  der  Kirche  hatte  man  vorher 
unerträglich  gefunden,  jetzt  liess  man  sich  dafür  die  noch  viel 
unerträglichere  tausendköpfige  Tyrannei  der  Orthodoxie  und  des 
städtischen  Junkerthums  gefallen.  Das  bürgerliche  Leben  der 
Schweiz  wurde  darüber  auf  zwei  Jahrhunderte  lahin  gelegt,  deren 
eines  das  Prädicanten- ,  das  andere  das  Patrizier -Jahrhundert  ge- 
nannt zu  werden  verdient.  Um  schliesslich  zu  erfahren,  wie  es 
darüber  unserm  Gegenstande  ergieng,  der  Nationalsage  der  Schweiz, 
wenden  wir  uns  in  das  damalige  von  Pfarrern  und  Stadtjunkern 
regierte  Zürich.  Der  dortige  Patrizier  Rudolf  v.  Waid  war  zu 
Baden  im  Aargau  mit  einem  Badegaste  aus  Uri  in  ein  politisches 
Gespräch  gerathen  und  hatte  dabei  den  Teil,  ohne  dessen  ge- 
schichtliches Bestehen  zu  leugnen,  einen  Mörder  genannt.  Doch 
das  Ländlein  Uri  wollte  seine  politische  Unschuld  unbescholten 
sehen,  es  schickte  um  jener  Ursache  willen  eigne  Gesandte  nach 
Zürich,  vor  denen  von  Waid  am  17.  Heumonat  161 5  knieend 
Abbitte  that,  worauf  er  in  den  Wellenberg  gethürmt  und  schwer 
um  Geld  gebüsst  wurde.  In  eine  ähnliche  Streitfrage  lässt  sich 
sodann  der  Züricher  Pfarrer  Barthol.  Anhorn  ein,  der  weder  das 
Factum,  noch  die  moralische  Berechtigung  der  That  Teils  fraglich 
findet,  dem  aber  die  Möglichkeit  Gewissensbisse  macht,  ob  man 
mit  natürlichen  und   nicht  mit  Zaubermitteln  auf  die  Distanz  von 

8» 


Ii6 


I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 


I20   Schritt  —  dies  war   die   Entfernung  Teils   zu    Altorf  beimj 
Schusse  nach  seinem  Kinde  —  einen  Apfel   mit  einem  Schützen- 
pfeile herabschiessen  könne.     Dieser   Bartholomäus   Anhom    der! 
Jüngere,   ein  Enkel   des   gleichnamigen  Bündner  Reformators,  ist 
zu  Fläsch   in  Bünden   geboren  und  stirbt  als  Züricher  Pfarrer  zu 
Elsau,  87  Jahre  alt,  1700.     Ausser  einem  Pseudo-Christianus  und] 
neun  Bänden  Predigten  verfasste  er  die  »Magiologia,  das  ist  Be- 
richt von  Aberglauben  und  Zauberey,  durch  Philonem.,  Augustae\ 
Rauracorum  (Baselaugst)  1675«.     Indem   er  hier  unter  vielfacher] 
Citierung  des  Hexenhammers  die  zauberischen,  teufelsverbündetem 
Loos-  und  Treffschützen  nach  ihren  Arten  und  Thaten  schildertj 
erzählt  er  von  einem  solchen,  Namens  Bartholome  Kegel,  einenfl 
Adeligen,  den  er  im  Jahre  1634  selbst  gekannt.     Dieser  habe  bis 
auf  200  Schritt  mit   einem  Birsrofir  in  einen  Thaler  geschossen,] 
so  oft  man  gewollt,  allein  bei  jeder  Ladung  ein  Kömlein  zauber- 
ischen Famsamens  unter  das  Büchsenpulver  gemischt.     Wilhelm| 
Teil  dagegen  hat  solche   verbotene  Künste   nicht  gebraucht  um 
doch  eben  so   weit  geschossen   mittels  Kunst,   Vorsicht  und  Er* 
fahrenheit ;  er  ist  daher  dem  Schleuderer  David,  der  des  Philistei 
Stirne  richtig  getroffen,   vergleichbar  oder  den  Siebenhundert  ii 
Benjamitischen  Heerzuge,  die  alle  links  waren  und  ohne  zu  fehlei 
mit  der  Schleuder  ein  Haar  treffen  konnten.    Nach  diesem  B< 
weise   fährt  unser  Autor  pag.*  775   also  fort:     »Andere  schiessei 
mit  einem  Pfeil  einem  Menschen  einen  Pfenning  ab  seinem  Häuptel 
ohne   einige  desselben  Verletzung.     Was  ist  aber  dieses  alles  an( 
ders  als  eine  verfluchte  Zauberey,  herstammend  von  einem  Meistei 
der  seinen  Dienern  mit  ewiger  Peinigung  in  dem  Pfuhl  lohnet,  ii 
welchen  sie  sämmtlich  gestürzt  werden.« 

Der  Tellenschuss  geht  nach   einem  Apfel,   der  Punkerschuj 
nach  einem  Denar;  jener  wird  hier  kirchlich  gerechtfertigt,  diesej 
verdammt.     Man   sieht,   wie  weit  der  Hexenhammer  sich  mit  de^ 
Theologie  und  dem  Patriotismus  verschwistert  hatte. 


VI. 

Die  Vogts-  und  Schlosssage  von  Schwanau 

in  Schw^yz, 


Als  Herzog  Leopolds   Heer  von  Winterthur   aus  gegen  die 
'  aufständischen  Waldstätte  im  Jahre  131 5  anrückte,  um  ihnen  dann 
bei  Morgarten  zu  unterliegen,  hatten  diese,  ungewiss  wo  der  An- 
griflf  erfolgen  würde,  an  mehrfachen  Punkten  Schanzen  und  Landes- 
befestigungen errichtet.    Schwyz  führte  die  Schutzmauer  mit  dem 
Schirnenthurm    zu    Hauptsee   auf,    einen    ähnlichen    sodann    am 
Rothenthurm   auf  dem  Schorno,   umgab  das   Dorf  Art    auf  der 
Zugerseite  mit  Verhauen,  legte  eine  Besatzung  hinein  und  deckte 
die  dortige   Strasse,  welche  längs   des    Lowerzer -  Sees  von   Art 
nach  Steinen  gegen  den  Hauptflecken  Schwyz  führt,  durch  jenen 
Schutzthurm,  der  auf  der  Insel  des  Lowerzer -Sees  nun  in  Ruinen 
liegt  und    mit   seiner  Namens-    und    Sagengeschichte    hier    seine 
.  besondere  Besprechung  finden   soll.    Es  wird  sich  dabei  ergeben, 
dass  dieser  Thurm    seinen  jetzigen  Namen  Schwanau   erst  durch 
die  Schweizerchronisten   des   fünfzehnten  Jahrhunderts  empfangen 
hat,  welche  ihn  dem  schon   1333  unternommenen  Kriegszuge  der 
Strassburger  gegen  das  rheinische  Raubschloss  Schwanau  abent- 
lehnten,   die  Ermordung  eines  angeblichen   Zwingherrn  und   die 
i  Zerstörung  seiner  Burg  daran  knüpften  und  damit  einem  nie  ver- 
[  heimlichten  Wunsche  des  schwyzer  Kantonalstolzes   entsprachen. 
Am  Neujahrstage  1308  hatte  nemlich,  der  Sage  zufolge,  Uri   die 
Vogtsburg    Zwing -Uri   und    ebenso    Unterwaiden    die    Burg    zu 
.  Samen  gebrochen.     Sollte  nun  Schwyz  sich  den  Beiden  ebenbür- 


1 1 8  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

tig  anschliessen,  sollte  es  den  Dreibund  der  drei  Länder,  aus  dessen 
Befreiungswerke  die  gesammte  Eidgenossenschaft  erwuchs,  that- 
sächlich  mitbegründet  haben  ^  so  musste  es  seinerseits  ebenfalls 
eine  von  ihm  an  demselben  Neujahrstage  und  mit  gleicher  Tapfer- 
keit zerstörte  Zwinghermburg  aufzuweisen  haben,  und  diese  ist 
Schwanau. 

Hören  wir  daher  in  chronologischer  Aufeinanderfolge  den 
Bericht  über  Schwanau's  angebliche  Zerstörung  an,  wie  er  bei  den 
Landeschronisten  enthalten  ist.  Wie  bekannt,  stützen  sie  sich  Alle 
in  ihren  verschiedenen  Erzählungen  über  die  geschlechtlichen 
Ausschweifungen  der  Landvögte  auf  eine  Stelle  Justingers  (f  1426), 
der  in  seiner  Bemer-Stadtchronik  von  den  fremden  Vögten  über- 
haupt, ohne  jedoch  einen  mit  Namen  zu  nennen,  sagt:  »Auch 
hieltent  sie  sich  gar  frevenlich  mit  frommer  Lüten  Wiben  und 
Döchtern  und  wolten  ihren  Mutwillen  an  ihnen  mit  Gewalt  triben ; 
das  aber  die  ehrberen  Lüte  nit  wolten  vertragen  und  satztent  sich 
wider  die  Amptlüte.  Also  stund  gross  Fiendschaft  uf  zwischen 
der  Herschaft  (Oesterreich)  und  den  Ländern  (den  Waldstätten).« 
Einige  zwanzig  Jahre  nach  Justingers  Tode  verfasste  der  Züricher 
Chorherr  Felix  Hemmerlin  seine  gegen  die  Waldstätte  gerichtete 
Parteischrift  Ueber  Adel  und  Bauernthum*),  und  erzählt  hier  in 
Cap.  31  (von  dem  Volke,  welches  man  Schwyzer  nennt)  als  der 
Erste  eine  Einzelsage  über  die  von  Habsburgischen  Beamten  in 
der  Schweiz  gegen  öffentliche  Zucht  und  Sitte  verübten  Frevel. 
Ein  Graf  von  Habsburg,  berichtet  er,  der  natürliche  Herr  der 
Schwyzer,  hatte  auf  einem  gewissen  Schlosse  (im  See)  von  Lowerz 
einen  Burgverwalter  als  Vogt  des  ganzen  dortigen  Thaies,  der 
von  zwei  Brüdern  aus  Schwyz  erschlagen  wurde,  weil  sie  glaubten, 
er  stehe  zu  ihrer  Schwester  in  einem  verdächtigen  Verhältnisse 
(rem  habuerit  suspectam).  Als  der  Graf  sie  darum  strafen  wollte, 
verbanden  sich  mit  ihnen  zuerst  zwei  Verwandte,  diese  Viere 
weiter  sich  mit  zehn,  letztere  wiederum  sich  mit  zwanzig,  endlich 
alle  Bewohner  der  Thalschaft,  kündeten  ihrem  Herrn  den  Gehor- 
sam auf  und  zerstörten  das  Schloss,  dessen  Ueberreste  man  heute 
noch  im  See  gewahrt.  Darauf  bemächtigten  sich  auch  die  benach- 
barten Unterwaldner,    während   ihr   Gebietsherr,    der  Edle    von 


*)  De  nobilitate   et   rusticitate  Dialogus.      De  Suitensium  ortu,  nomine,  con-  ' 
foederatione   et  quibusdam   (utinam  bene!)   gestis.  —    Thesaurus  bist.   Helv.,  Ti- 
guri  1735- 


J 


6.  Die  Vogts-  und  Schlosss^ge  von  Schwanau  in  Schw)'z.  HO 

Landenberg,  in  der  Christnacht  in  der  Kirche  war,  seines  Schlosses 
Samen,  zerstörten  dasselbe,  vertrieben  den  Landenberger  und  ver- 
banden sich  mit  den  Schwyzern.  Ihrem  Beispiele  folgten  die  Lu- 
zemer,  Bemer,  Zuger,  endlich  auch  die  Urner,  die  unter  der  Äb- 
tissin von  Zürich  standen  u.  s.  w.  So  weit  Memmerlin  in  Zürich 
um  das  Jahr  1443  bis  1453  über  die  Ursachen  des  Aufstandes 
der  Schwyzer;  von  einem  Gessler  in  Uri  und  einem  Teil  daselbst 
weiss  er  noch  nichts. 

Einige  zwanzig  Jahre  nach  Hemmerlins  Schrift  macht  sich  in  Ob- 
walden  die  Chronik  des  Weissen  Buches  geltend,  nun  abgedruckt 
im  Geschichtsfreund,  Bd.  13.  Sie  weiss  bereits  eine  dreifache 
Vogts-  und  Burgenbruchs  -  Sage  zu  erzählen,  nebst  einer  zweiten, 
dem  Vogte  Landenberg  aufgebürdeten  AI zellener- Ehebruchsge- 
schichte. Erstmalig  nennt  sie  dann  auch  das  (angebliche  Lower- 
zer-)  Schloss  Schwandau,  ohne  jedoch  dessen  Lage,  oder  dessen 
Besitzer  mit  anzugeben.  Von  den  aufständischen  Eidgenossen 
berichtend,  sagt  sie,  1.  c.  S.  74:  wa  böse  Türnli  waren,  die  brachen 
sy  vnd  viengen  ze  Uere  am  ersten  an  die  hüser  brechen,  ein 
Turn  Twing-Ueren  vnder  steg,  darnach  swandöw  zu  Switz,  vnd 
zu  Stans  mit  namen  das  (hüs)  vf  dem  Rötzberg. 

Die  auf  das  Weisse  Buch  folgende  und  es  ausschreibende 
Chronik  des  Luzerners  Etterlin,  gedruckt  1507,  verschönert  den 
hier  gefundenen  Namen  Schwandau  (die  abgeschwendete,  entholzte 
Insel)  in  Schwanau,  ebenso  wie  er  auch  den  Twing  Üren 
Vndersteg  zu  einem  Zwing  Ury  under  die  Stegen  vergrö- 
bert und  den  Localnamen  Ze  Tellenplatten  in  ein  positives  und 
persönliches  Des  Teilen  Blatten  erweitert  hat. 

Ihm  folgt  hierin  Joh.  Stumpf,  der  in  seiner  zweibändigen 
Chronik,  Ausg.  vom  J.  1 548,  lib.  IV ,  cap.  28 ,  mit  aller  localen 
Gewissheit  also  schreibt:  Damals  (in  der  Neujahrsnacht  1308) 
haben  die  von  Schwytz  zerstört  das  Schlosz  Ro^kenberg  vnd  die 
guote  veste  Schwanow,  im  Seli  gelegen  zu  Schwytz  im  Land,  den 
man  nennet  den  Lowertzsee.  Den  Schlossnamen  leitet  Stumpf, 
der  wohl' bedachte,  dass  auf  Alpenseen  Schwäne  nicht  vorkommen, 
vom  Schlosswappen  ab,  das  einen  Schwan  gezeigt  haben  solle. 
Wollen  wir  uns  vor  der  Hand  anmerken,  dass  wir  nun  für  das 
eine  Seeschloss  schon  zwei  verschiedene  Burgen  oder  Burgnamen 
haben,  und  sogleich  weiter  auf  Stumpfs  Zeitgenossen,  auf  Aegi- 
dius  Tschudi  übergehen.     Sein  erster  Chronik-Entwurf,  abgediiickt 


I20  !•    I)«"  Sagenkreis  von  Teil. 

im  Schweiz.  Archiv,  Bd.  19;  lautet  da  auf  S.  403,  wenig  überein- 
stimmend mit  den  Vorgängern,  also: 

»Des  selben  Tages  (da  in  Uri  und  Unterwaiden  die  Vesten 
der  Vögte  fielen)  was  ouch  Hans  (nachträgliche  Correctur :  Wemher) 
Stouffacher  mit  sinen  Puntzgsellen  zu  Schwitz  uf ,  fielend  jn  die 
Burg  Lowers,  die  jmm  See  ligt,  und  zerbrachend's ,  sie  was 
nit  werlich  und  ouch  nit  besetzt,  denn  sie  was  ab- 
gände.«  Allein  wozu  nun  mit  gesammter  Landeskraft  noch  eine 
Burg  brechen,  welche  bereits  keine  mehr,  sondern  nur  ein  ab- 
gehender Burgstall  ist?  eine  Burg,  welche  zudem  im  berufenen 
Jahre  noch  nicht  einmal  zum  Lande  Schwyz,  sondern  zu  dem 
damals  davon  noch  eximirten  Kreise  Art  gehört  hatte?  Dass 
dem  wirklich  also  war,  dies  wusste  Tschudi  recht  wohl  und  be- 
kennt es  cm  einem  andern  Orte  selbst  noch  umständlicher,  wie 
sich  dies  auf  folgendem  kleinen  Umwege  erweisen  wird. 

Ein  Fciszikel  Aegid.  Tschudischer  Originalhandschriften  war 
nemlich  durch  die  Glamer  Tschudi  im  Jahre  1850  bei  dem  Ge- 
schichtschreiber Melchior  Schuler  aus  Glarus,  damaligem  Pfarrer 
in  aargauisch  Erlinsbach,  deponirt  gewesen,  kam  bei  dessen  Tode 
nach  Glarus  zurück,  und  ist  bei  dem  Brande  des  Fleckens  Glarus 
1861  wahrscheinlich  mit  zu  Grunde  gegangen.  Der  Verfasser 
dieser  gegenwärtigen  Zeilen  hatte  sich  durch  des  genannten 
Pfarrers  Neffen,  den  jetzigen  Dr.  Med.  Schuler  in  Bilten,  das 
Bedeutsamste  aus  jener  Tschudischen  Sammlung  copieren  lassen, 
und  citiert  daraus  hier  Nachfolgendes,   wiewohl   etwas  abgekürzt. 

»Vmb  Art  mit  ihr  zugehört.  Die  von  Art  .  .  .  Sindt  vor- 
zytten  ouch  zum  theill  denn  Graffenn  vonn  Lenntzburg  pflichtig 
gewesenn,  wie  die  von  Steinen ,  Nämlich  das  dorff  zuo  •  Art ,  der 
Niderhoff  oder  nider  dorff  genanndt.  So  noch  den  Namen  Art 
hatt,  Sampt  der  pfarkilch  daselbs  zuo  Sannt  Jörgen  genanndt,  ouch 
etliche  dörffli;  In  der  kilchhöri  der  vnder  halbtheill:  Der  ober- 
hoff oder  oberdorff  ober  Artenn,  Sampt  dem  flecken  Lowers  am 
See,  ouch  dem  Burgstall  im  selben  See  gelegen,  so 
ouch  Lowers  wie  der  See  vnd  fleckh  heist.  Ist  vor 
altenn  zytenn  von  Franckrychischen  vnd  Romischen  Khünigenn 
dem  Gotzhuss  Murbach  Ini  Elsass  zuo  eigenthumb  gegeben,  c 

Gleichzeitig  mit  Stumpf  und  Tschudi  schrieb  Ulrich  Hugwald 
Mutz,  genannt  Mutius,  aus  Stocken,  bei  thurgauisch  Bischofszell, 
geboren  1496,  gestorben  als  Lehrer  zu  Basel  1571.  Seine  latei- 
nische Chronik  war  schon  1539  erschienen  und  wird  von  Sl 


6.    Die  Vogts-  und  Schlosssage  von  Schwanau  in  Schwyz.  121 

(II,  pag.  93b)  hoch  angesehen:  »Hugwaldus  Mutz  zu  Basel,  ein 
vemampter  (clarus)  Bischoffzeller.«  Mutius  verlegt  den  Aufstand 
der  Waldstätte  in  s  Jahr  1 3CO,  lässt  ihn  beginnen  gegen  einen  nach 
Uri  gesetzten  namenlosen  Präfecten  der  Habsburger,  welcher  die 
Keuschheit  von  Frauen  und  Jungfrauen  bedroht ;  er  erwähnt  dann 
des  Brüderpaares,  das  den  ihrer  Schwester  nachstellenden  Vogt 
erschlägt,  wobei  der  Autor  sich  auf  Felix  Hemmerlins  Bericht 
allein  stützt ;  wie  dieser  Gewährsmann,  nennt  auch  er  weder  Orts- 
noch  Personennamen,  kennt  auch  keinen  Teil  und  schliesst  mit 
dem  Kampfe  von  Morgarten.  Wie  vielerlei  Burgen  damals  ge- 
brochen worden  sein  sollen,  ist  ihm  zweifelhaft:  duaSy  aut,  ut 
quidam  voltmt,  tres  arces  destruxerunt.  Somit  wäre  dieser  Chro- 
nist hier  leichtlich  ganz  zu  übergehen  gewesen,  hätte  er  nicht  ein 
besonderes  Sätzlein  dazu  gefügt,  also  lautend :  Die  fremden  Vögte 
in  den  Waldstätten  hielten  kein  Eigenthum  der  Landleute  in 
Ehren,  machten  sich  hinter  deren  Heerden  und  Käse 
her,  tauschten  sie  in  den  Städten  am  Rheine  gegen 
Wein  um  und  berauschten  in  diesem  sich  täglich.  Dass  nun 
gerade  dieser  Umstand  der  geschichtliche  Grund  wurde,  weswegen 
im  Jahre  1333  die  schweizerischen  und  oberrheinischen  Städte 
vereint  zur  Belagerung  und  Zerstörung  der  Ritterburg 
Schwanau  bei  Strassburg  schritten,  dies  wird  sich  alsbald 
hier  näher  erweisen.  Einstweilen  greifen  wir  nicht  vor,  sondern 
schliessen  erst  die  Reihe  dieser  einschlägigen  Berichte  mit  einem 
handschriftlichen  Chronikbüchlein  vom  Jahre  1580  (MS.  Bibl. 
Wettingen,  12^,  auf  der  aargau.  Kant.-Biblioth.) :  »Kurtze  beschri- 
bung  der  herlichen  geschichten  einer  lobl.  Eydtgnoschafft«,  welches 
unpaginirt  ist  und  in  seiner  Abtheilung  Schwyz  also  schreibt: 
1314  zerstört  Schwitz  die  zwey  Schlösser  Rockenberg  vnd 
schwanow  im  Lowertzer  see,  darvon  daz  lied: 

Z wüschen  zweyen  bürgen 
Da  ligt  ein  tiefer  se. 

Es  würde  überflüssig  sein,  diese  Sage  nun  noch  bei  den  späteren 
Chronisten  weiter  verfolgen  zu  wollen.  Sie  hat  ihr  örtliches 
Local  gewonnen,  stützt  sich  auf  ein  angebliches  Volkslied  und 
geht  nun  mit  in  die  thatsächliche  Befreiungsgeschichte  der  Wald- 
\  Stätte  über.  Das  eine  Schloss  trägt  zwar  dreierlei,  aber  sich 
[  gegenseitig  erklärende  Namen.  Schwandau  heisst  es  nach  der 
l   abgeholzten  Insel,  auf  der  es  liegt;   Rocke  und  Rockenberg  (ahd. 


122  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

rocca)  nach  der  Felsklippe,  auf  welcher  es  steht*),  Lowerz  aber 
nach  dem  See.  Dieser  letztere  Name  ist  ein  rhäto-romanisches, 
urkundlich  frühzeitig  auftretendes  Appellativ  und  bezeichnet  all- 
gemein den  Wasserlauf**).  Warum  aber  ist  dem  Schlosse  letzt- 
lich der  eine  Name  Schwanau  verblieben?  Weil  derselbe  jenes 
berüchtigte  rheinische  Raubschloss  der  Grafen  von  Geroldseck 
bezeichnete,  durch  dessen  Belagerung  und  Zerstörung  sich  die 
verbündeten  oberdeutschen  und  schweizerischen  Städte  im  Jahre 
1333  mit  Ruhm  bedeckt  hatten.  Der  Bruch  dieser  eine  Stunde 
ob  Strassburg  gelegnen  Adelsburg  war  eine  Grossthat  des  Bürger- 
thums,  durch  welche  die  Sicherheit  des  schweizerischen  Verkehrs 
und  Handels  bis  an  den  Gotthard  befestigt  wurde.  Nicht  bloss 
die  Uferstädte  Strassburg,  Kolmar,  Breisach,  rheinisch  Neuenbürg, 
breisgauisch  Freiburg,  Basel  und  Rheinfelden  hatten  mit  an  dieser 
Fehde  theilgenommen,  auch  die  schweizerischen  Binnenstädte 
Bern,  Luzern  und  Freiburg  im  Üchtland  ***)  schickten  ihr  Contin- 
gent  dazu,  da  die  durch  die  Raubburg  verursachte  Störung  der 
Rheinschiffahi't  auch  den  Handel  der  inneren  Schweiz  mitbetraf, 
die  ihre  Waaren  und  Transitgüter  zu  Basel  verlud.  Die  besiegten 
Geroldsecker  blieben  seit  jener  Fehde  den  Bernem  und  Luzemem 


*)  Em  Geschlecht  der  Freien  von  Rogkenberg,  sesshaft  im  Kanton  Schwyz, 
nennt  Simler,  Regiment  der  Eidgenossenschaft,  S.  35.  Der  Roggenstock  liegt  bei 
schwyzerisch  Iberg. 

**)  II 79,  27.  Febr.  Pabst  Alexander  III.  sichert  dem  Kloster  St.  Germanus 
zu  Moutiers-Grandval  unter  dessen  Besitzungen  auch  die  Zehnten  zu  von  Lo- 
verezo  bei  Moütiers.     Schweiz.  Urkk.-Register  Ili  No.  2391. 

1308,  3.  Mai.  Das  Capitel  des  Klosters  Moutiers-Grandval  verfügt  über  fünf 
Mütt  Kornzinse  de  decima  in  Louerasse,  apud  Granval.  Trouillat,  Monu- 
ments de  l'hist.  de  l'lSv^ch^  de  Bale,  III,  S.  131.    132. 

1327,  25.  Jan.  Der  Kanoniker  Wernher  v.  Tessenberg,  als  Statthalter  des 
Grandvaler  Probstes  Walther  von  Arberg,  sitzt  zu  Gerichte  ante  domum  Domi- 
norum et  conventus  Monasterii  Bellelagie  apud  Loueresce,  und  entscheidet  den 
Lauf  des  Gewässers  der  Loveresse  und  das  Wasserrecht  der  daran  liegenden 
Mühlen,     ibid.  III,  371. 

Avers,  ein  Seitenthal  des  Hinterrheins  in  Graubünden,  ist  urkundlich  ge- 
nannt: Vallis  Averi  et  ultra  aquam  Luveri.  1349  heisst  die  Grenzbestimmung 
daselbst:  »Von  der  Lantquar  vnz  an  die  Luver.«  Der  Name  ist  gebildet  aus: 
sur  aueria,  su  l'auer,  ob  des  Baches  Wasserlaufe  liegend.  Gatschet,  Ortsforsch. 
233.  238.  Die  Ennetbirgische  Vogtei  Lugano  hiess  in  amtlicher  Benennung  bei  der 
eidgenössischen  Kanzlei :  L  a  u  w  i  s ,  und  gemeindeutsch  Lowers ;  beim  Baseler  Chro 
nisten  Frid.  Ryff :  Lowertz,  Schloss  Louwertz.    Basler  Chroniken  I,   S.  205.  208. 

***)  Dies  sagt  ausdrücklich  die  Zimmer' sehe  Chronik,  edd.  Barack  I,  363. 


6.    Die  Vogts-  und  ScMosssage  von  Schwanau  in  Schwyz.  123 

feind  und  nahmen  aus  altem  Hasse  auch  später  noch  schweizerische 
Kaufleute  auf  dem  Rheine  bei  Ottenheim  gefangen.  Dafür  wurde 
ihnen  nachmals  1473  die  Burg  Schuttem  zum  zweitenmale  ge- 
brochen. Alle  Chronisten  sprachen  damals  von  Schwanau.  Schon 
der  Winterthurer  Mönch  entwirft  eine  farbenreiche  Schilderung 
des  Sturmes  aus  dem  Munde  der  Augenzeugen  *),  und  jener  ano- 
nyme Aargauer,  welcher  die  von  Grieshaber  edirte  Oberrheinische 
Chronik  um  1334  begonnen  und  mit  dem  Jahre  1349  geschlossen 
hat,  sagt  von  den  Rheinstädten :  die  waren  ouch  alse  mechtig,  daz 
si  festenen  brachen  den  herren.  der  was  Swanouwe  eine.  In 
der  Lebensbeschreibung  des  Strassburger  Bischofs  Berchtold,  der 
ein  gebomer  Graf  von  Bucheck  aus  dem  Solothurner  Lande  war, 
lange  als  Deutschordens-Comthur  zu  Basel  sesshaft  gewesen  war 
und  1353  starb,  wird  die  unter  seine  Regierung  fallende  und  von 
ihm  persönlich  mitgemachte  Eroberung  der  für  uneinnehmbar  ge- 
halten gewesenen  Wasserburg  Schwanau,  »dieser  stärksten  Feste 
von  ganz  Alemannien«,  ausführlich  berichtet.  Die  Burg,  heisst 
es  hier,  wurde  von  Grund  aus  zerstört,  die  Besatzung,  sechzig 
Mann  stark,  Edel  und  Unedel,  bis  auf  sieben  Personen  enthauptet, 
der  gefangene  Zeugmeister  auf  eine  Wurfmaschine  gelegt  und 
gleich  einem  Wurfsteine  gegen  die  Mauern  geschleudert**).  Wie 
hätte  sich  hiebei  das  rheinische  Volkslied  schweigsam  verhalten 
sollen,  sogar  die  uralte  Sage  von  der  Weibertreue  tauchte  neu 
auf.  Niemand  war  salviert  worden,  erzählt  die  Zimmer'sche 
Chronik,  ausgenommen  Herrn  Walthers  von  Geroldseck  Gemahlin, 
welcher  vergönnt  wurde,  frei  abzuziehen  und  mit  sich  zu  nehmen, 
was  sie  über  die  Fallbrücke  mit  sich  zu ''tragen  im  Stande  sein 
würde.  Dies  sollte  ihr  zustehen,  verbleiben  und  gesichert  sein. 
»Also  do  name  die  guet  fraw  iren  alten  herren  und  gemahl  uf 
den  rucken  und  dann  ein*  jungen  son  uf  den  arm,  die  trug  sie 
über  die  falbrucken.  Die  stett  wolten  der  frawen  das  nit  zugeben 
und  wolten  ir  den  mererteil,  wiewol  sie  das  hoch  versprochen, 
nit  halten.  Aber  die  von  Adel  schampten  sich  übel,  das  in  iren 
handlungen  von  den  ungeschickten  paüren  also  sollt  grüblet  und 
gesucht  werden,  also   namen   sie  der   Sachen   sich  an.     Gemelte 


*)  Audivi  a  multis,  qui  videbant.    Trouillat,  Monuments  III,  755. 
**)  Matthias  Neoburgensis  Chronica,  edd.  Studer  (1867),  pag.  230.  —  Hegel 


Städtechroniken  Bd.  9,  799. 


124  ^'    ^^^  Sägenkreis  von  Teil. 

fraw  mit  ihrem  alten  Herren  und  jungen  sone  ward  über  Rhein 
in  die  Herrschaft  Geroltzeck  gefuert  und  belaitet.« 

Im  Bündnisse  mit  den  Österreicher  Herzogen  Albrecht  und 
Otto  waren  die  Städte  gegen  Schwanau  gerückt  *),  König  Ludwig 
ertheilte  nach  dem  Bruche  der  drei  Vesten  Schwanau,  Erstein 
und  Schuttem  seinen  Sühnebrief**) ,  und  die  Gerolzecker  zu 
Sechst  beschwuren  hierauf  in  die  Hand  des  von  Hallwil,  als  der 
Herzoge  Hauptmann  und  Landpfleger  im  Sundgau,  Aargau  und 
Thurgau,  ihren  erlittnen  Schaden  nicht  rächen  und  die  zerstörten 
Burgen  nicht  wieder  bauen  zu  wollen***). 

Dieser  alle  österreichischen  Vorlande,  und  somit  viele  Städte 
und  Landschaften  der  jetzigen  deutschen  Schweiz  politisch  und 
mercantil  betheiligende  Sturz  der  rheinischen  Wasserburg  Schwanau 
im  Jahre  1333  war  den  Schweizerchronisten  nothwendig  im  Ge- 
dächtnisse haften  geblieben  und  half  ihrer  Phantasie  nach,  als  sie 
den  von  den  Waldstätten  unternommenen  Bruch  der  österreichi- 
schen Vogtsburgen  erzählten,  diesen  ins  Jahr  1308  zurück  datirten 
und  dabei  dem  namenlosen  Wasserthürmlein  im  Lowerzersee  den 
stolzen  Namen  Schwanau  beilegten.  Heut  zu  Tage  knüpft  man 
jene  ganz  abgeblasste  und  fast  den  meisten  älteren  Schlössern  anhaf- 
tende Sage  von  der  Weissen  Frau  auch  an  den  Lowerzerthurm : 
Jährlich  in  einer  bestimmten  Nacht  jagt  hier  Jene  den  Burgvog^, 
ihren  Entehrer,  durch  die  Ruine  und  um  die  Insel,  bis  er  heulend 
sich  in  den  See  stürzt f). 


*)  Urk.  V.  15.  April   1333.     Hegel,  Städte-Chron.  Bd.  9,  1037. 
**)  Hegel,  ibid.,  Urk.  v.  21.  Mai   1334. 
***)  Schreiber,  Freiburger  Urkundenbuch  I.  i,   pag.  304. 
t)  Hisely,  Essai  (1839),   pag.  579,  No.  71.     Vor  Hisely's  Schrift  stand  diese 
Sage  in  dem  französ.  Sammel-Joumal :   Conservateur  Suisse  von  Bridel. 


VIL 

Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei 
Zauberschläfer  im  Axenberge. 


Jedes  ausgestockte,  durch  Brand  und  Rodung  urbar  gemachte 
Landstück  heisst  in  Hoch-AIemannien  Riüti,  Riütli,  GVütli,  Gerüte. 
Der  alemannisch  redende  Geiler  von  Kaisersberg  sagt  darüber  in 
seinem  Euangelibuoch  vom  Jahre  1404,  Bl.  80:  »der  da  einen 
neuwbruch,  novale^  vflfbricht,  der  macht  in  Schwaben  ein  neuw  g  e  - 
rüt.«  Es  müssen  darum  solche  Rütinen  in  Ober-Deutschland  überall 
und  urkundlich  viel  früher  vorkommen,  als  jene  historisch  gewordene 
Umer-Matte  am  Waldstättersee,  von  welcher  hier  gehandelt  werden 
soll.  Gleichwohl  hat  auch  diese  ihre  geschichtlichen  Zeugnisse 
aufzuweisen,  und  die  frühesten  darunter  mögen  hier  folgen. 

Es  urkundet  am  15.  Heumonat  1394  Claus  von  Rütlin  von 
Unterwaiden  gemeinsam  mit  den  Eidgenossen  aus  vier  Kantonen, 
welche  sich  zusagen,  Luzern  gegen  die  österreichischen  Ansprüche 
auf  Landeshoheit,  einschliesslich  der  herzoglichen  Lehen  und  des 
Blutgerichtes,  in  Rath  und  Schutz  zu  nehmen.  Segesser,  Luzern. 
Rechts-Gesch.  i ,  274.  Das  geschichtliche  Rütli  war  Eigenthum 
des  Stiftes  der  Zürcher  Benedictinerinnen ;  darum  verkauft  die 
dortige  Äbtissin  Anastasia  von  Hohenklingen  am  15.  April  141 8 
an  Äbtissin  und  Convent  des  Klosters  Seedorf  in  Uri  zwölf 
Schilling  Rente  »uff  einem  gut,  genant  das  Rütli«.  Zurlauben, 
handschriftl.  Helvet.  Stemmatographie ,  Bd.  5,  pag.  25  u.  194. 
Als  dann  im  Jahre  1548  das  Seedorfer  Kloster  säcularisirt  und 
dessen  Inventar  aufgenommen  wird,  ist  da  unter  den  Zinsgütem 
namentlich    die    Matten    Rütli    mitgenannt.     Zurlauben    1.    c. 


126  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

pag.    219.     Dies    also    ist    der    Schauplatz,    von    dem    Schillers 
Drama  besagt: 

—    —    links  am  See,  wenn  man 
Nach  Brunnen  fahrt,  dem  Mythenstein  grad  über, 
Liegt  eine  Matte  heimlich  im  Gehölz ; 
Das  Rütli  heisst  sie  bei  dem  Volk  der  Hirten, 
Weil  dort  die  Waldung  ausgereutet  ward. 

Nahe  am  Lande  daselbst  ragt  frei  und  eiförmig  aus  dem  See 
ein  Findlingsblock,  auf  dem  seit  der  Schillerfeier  vom  10.  November 
1859  des  Teilendichters  Name  in  metallnen  Buchstaben  eingelassen 
steht.  Dieser  erratische  Block  heisst  allgemein  Mythenstein.  Das 
Volk  zwar  nennt  ihn  auch:  Alter  Weiber  Morgengabe,  denn  es 
sieht  in  der  konischen  Form  des  Felsens  einen  Spinnwirtel  und 
scherzt  darum,  mit  dieser  versteinerten  Spindel  würden  alte  Jungfern 
ausgesteuert,  wenn  sie  sich  all  zu  späten  Liebesempfindungen 
überliessen.  Fragt  man,  woher  der  andere  Name  Mythenstein 
rühre,  so  heisst  es,  dieser  Felsblock  sei  der  Namensvetter  und 
Abkömmling  des  drüben  bei  Schwyz  ansteigenden  kahlen  Gebirgs- 
stockes  der  Schwyzermythen  oder  Schwyzerhaken.  Allein  fordert 
denn  der  letztere  Name  den  Sprachverstand  weniger  heraus? 
Vielleicht  dass  bei  den  .Chronisten  hierüber  Rath  zu  finden  ist! 

Der  Obwaldner  Landschreiber  Schälly,  der  1472  die  kleine 
Chronik  des  Weissen  Buches  geschrieben,  sagt  von  den  gegen  die 
Landvögte  Verbündeten ,  als  sie  einen  heimlichen  Ort  für  ihre 
Zusammenkünfte  wählten:  »Sy  fuorend  fiir  den  Mytenstein 
nachtz  an  ein  end,  heisst  jm  Rüdli,  und  tagten  der  zyt  niena 
anders  denn  jm  Rüdli.  Du  demnach  du  ward  Stoupachers 
gesellschaft  also  mechtig  ....  vnd  so  sy  üt  tun  wolten,  so  fuoren 
sy  ze  tagen  in  Trenchi.«  (Sonderabdruck  v.  G.  v.  Wyss, 
S.  8  u.  10.) 

In  der  Chronik  des  Luzemer  Gerichtsschreibers  Petermann 
Etterlin,  die  bis  zum  Jahre  1503  reicht,  heisst  es  bei  gleicher 
Gelegenheit :  So  fuorent  sy  für  den  mittenstein  an  ein  Ende 
im  Betlin,  da  taggten  sy  zesamen. 

Der  Wettinger  Abt  Chr:  Silbereisen,  der  seine  Chronik  am 
4.  Heumonat  1576  beendigte,  schreibt  dem  Etterlin  hier  wörtlich 
nach,  nennt  aber  dabei  den  Mittelstein  beim  Betli. 

Tschudi,  f  1572,  nennt  in  seinem  ersten  Entwürfe  zur 
Schweizerchronik  (aus  denj  der  hier  in  Frage  stehende  Abschnitt 


7«  I^ic  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      127 

nun  abgedrudct  steht  im  Archiv  f.  Schwz.  Gesch.,  Bd.  19)  den 
Ort:  Myfenstein  oder  Mitlenstein,  an  ein  End,  heisst 
im  Bätlin. 

Das  Umerspiel  von  Wilhelm  Teil,  erstmalig  1540  in  Zürich 
gedruckt,  nennt  den  Versammlungsort  das  Rütlin,  welches  des.- 
halb  zuom  mittelsten  leit,  also  in  der  Mitte  der  drei-Länder 
gelegen  ist. 

Man  sieht  aus  diesen  Stellen,  wie  hier  der  eine  Name  verdreht 
und  verändert  wird,  um  sich  seine  Unverständlichkeit  zu  ver- 
deutlichen; namentlich  verwundert  es,  dass  die  dem  Rütli  zunächst 
wohnhaft  gewesenen  Chronisten,  wie  Etterlin,  den  heute  all- 
giltigen  Namen  der  geschichtlichen  Oertlichkeit  noch  nicht  kannten, 
sondern  ihn  Bettlein  nannten. 

Was  aber  will  nun  jener  Name  Mythen?  Er  ist  ein  land- 
wirthschaftlicher ,  stammt  aus  lateinisch  meta,  und  bezeichnet 
ursprünglich  sowohl  den  im  Hochgebirge  aus  Steinplatten  auf- 
geschichteten Wegzeiger,  als  auch  den  im  Freien  aufgeschoberten 
Heuhaufen**).  Aus  der  Form  dieses  Haufens  schöpfte  der  Senne 
zugleich  den  Namen  für  ähnlich  gestaltete  Berge  und  Felsen. 
Kann  man  auf  hoher  Alp  das  gemähte  Heu  nicht  rechtzeitig  mehr 
unter  Dach  bringen,  so  lagert  man  dasselbe  in  einen  möglichst 
starken  Haufen  zusammen  und  schützt  ihn  gegen  Regen  und 
Schnee  mit  Schilf  und  Tannenwedeln.  Der  lateinische  Name  für 
diese  Vorrichtung  erhielt  sich  in  allen  jenen  Landschaften  und 
deren  Sprache,  welche  theils  durch  die  Römerherrschaft,  theils 
durch  die  darauf  folgende  des  römischen  Klerus  in  der  Boden- 
cultur  beeinflusst  waren.  Darum  erscheint  in  obigem  Sinne  der 
Ausdruck  mita  schon  in  der  Lex  Bajuvariorunt  IX.  cap.  2,  §  4; 
und  in  Zeerleders  Bemer  Urkunden  Nr.  3  wird  vom  Jahre  851  genannt : 
Curtis  Mietia  in  Algaugiensi  contitatu.  Die  ursprünglich  rhätische 
Ortschaft  Fidemeida  (d.  i.  via  de  meida)  im  jetzigen  Sarganser- 
lande tragt  ebenso  ihren  Namen  von  churwelsch  meida,  Heuhaufen. 
Daher  italienisch  meta,  französisch  moies:  kegelförmige  Haufen. 
Steub,  Rhätische  Ethnol.,  S.  147. 

In  der  Neuzeit  haben  der  Unterwaldner  Historiker  Businger 
1816,   und   dann    ebenso   noch  1833   der  Zürcher  Dichter  Martin 


.  I 


*)  Bei   Varro   i,  56   und  bei  Columella   2,   19:    Foenum    siccatum   in   metas 
öBtrui   conveniet    easque  ipsas   in  angustissimos  vertices   exacui;    sie   enim   defen- 
.  ditur  commodissime  foenum  a  pluviis,  etc. 


128  ^'    ^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

Uateri  in  ihren  Schriften  jenen  Rütlifelsen  Wytenstein  genannt. 
(Staub:)  Das  Brot  in  schweizer.  Volkssprache  1868,  S.  98. 

So  drolien  sogar  die  von  der  Sage  genannten  Localnamen 
sich  in  Spuk-  und  Truggeister  zu  verwandeln  und  den  Menschen- 
verstand zu  äflfen,  bis  zuletzt  des  berufenen  Dichters  Machtwort 
die  Schatten  für  immer  beschwört.  Während  sämmtliche  Schweizer- 
chronisten noch  nicht  einmal  über  den  Namen  jener  Oertlichkeit 
einig  geworden  waren,  ist  das  Rütli  seit  dem  Schillerjubiläum 
aus  den  Sparpfennigen  der  schweizer  Schulkinder  angekauft  und 
zum  National  -  Eigenthum  gemacht  worden;  abermals  eine  der 
vielfältigen  Wirkungen  unseres  unsterblichen  Dichters. 

Wenn  die  griechische  Göttin  eine  Stätte  sucht,  um  ihre  Kinder 
zu  gebären,  so  bleibt  die  schwimmende  Insel  Delos  stille  stehen; 
ist  das  Rütli  der  Chronisten  erst  bodenfest,  so  kann  die  sagen- 
trächtige Geschichte  es  beziehen  und  mit  ihren  Teilen  bevölkern. 
Dieser  Vorgang  kommt  nun  zur  Erzählung. 

Unter  den  drei  Teilen  begreift  die  heutige  Volksvorstellung 
diejenigen  drei  Männer  aus  den  drei  Waldstätten,  welche  mit 
einem  Gefolge  von  dreiunddreissig  *)  Gleichgesinnten  am  Neujahrs- 
tage 1 307  (auch  1 308  u.  s.  w.)  auf  der  Wiese  am  Rütli  berathend 
zusammentraten  und  hier  einen  gegenseitigen  Eid  für  die  Freiheit 
der  drei  Länder  sich  zuschwuren.  Jene  Drei  werden  darum  auch 
die  drei  ersten  Eidgenossen  **)  genannt ,  und  wo  sie  damals 
zusammenstanden  auf  der  Matte,  ist  unter  ihrem  Fusse  die 
Dreiländerquelle  entsprungen.  Sie  heissen  heute:  Walther  Fürst 
von  Attinghausen  aus  Uri,  Wernher  Staufacher  von  Steinen  in 
Schwyz  und  Arnold  Melchthal  von  Unterwaiden  Ob  dem  Kem- 
wald.  Ihrem  Dreibunde  wird  als  dessen  heroiischer  Obmann  Teil 
vorgesetzt;    allein   um   selber  eigenmächtig  handeln  zu   können, 


*)  Dreiunddreissig  zählt  Fäsi,  Helvet.  Erdbeschreib.  2.  150.  Ebenso  lautet's 
in  Schillers  Rütli -Scene:  »Alle,  dreiunddreissig  an  der  Zahl,  stellen  sich  um's 
Feuer.« 

**)  Im  ersten  Bundesbriefe  [der  drei  Länder  vom  Jahre  1291 ,  lateinisch  ab- 
gefasst,  nennen  sie  sich  Conjurati  et  Conprovinciales ,  die  zusammen  Gelobenden, 
erst  in  der  deutschen  Urkunde,  9.  Christmonat  1315,  steht:  Eitgenoze.  Diese  Be- 
nennung ist  schon  der  althd.  Sprache  geläufig.  Die  Kaiserchronik  erzählt  von 
den  zehn  gegen  Titus  Verschwomen:  die  aitgenoze  zwelfe  komen  wider  ze 
samene.  Ausgabe  von  Diemer  1849,  S.  167,  Vers  3.  In  dem  Sinne  eines  durch 
Eidschwur  mit  einem  Andern  Verbündeten  findet  sich  der  Name  in  einer 
von  König  Adolf  der  Stadt  Mühlhausen  1291  ertheilten  Urkunde.  Fichard 
Archiv  I,  299. 


7.   Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      129 

schliesst    er   sich  freiwillig   von  jener  Berathung  aus  und  bringt 
dann  durch  seine  That  den  Aufstand  an's  Ziel. 

Bei  den  älteren  Chronisten  herrscht  nun  weder  über  diese 
Dreizahl  selbst,  noch  über  deren  Personennamen  Uebereinstimmung. 
Der  Luzerner  Stadtschreiber  Rennw.  Cysat,  der  noch  zu  Anfange 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  lebte,  besagt  in  seinen  handschrift- 
lichen Collectaneen.  (Bd.  B,  3b,  auf  der  Luzern.  Kant.-Biblth.) : 
Obwohl  man  gemeiniglich  nur  drei  Männer  als  die  ersten  Bundes- 
stifter nenne:  Wilhelm  Teil  aus  Uri,  Dietrich  Staufacher  von 
Schwyz  und  Erni  aus  dem  Unterwaldner  Melchthal;  so  seien  es 
doch  nach  Angabe  etlicher  Historien  Vier  gewesen,  nemlich  die 
beiden  Erstgenannten,  dazu  der  Erni  aus  Melchthal  Ob  dem  Wald, 
als  vierter  sodann  Kuno  ab  Altsellen  Nid  dem  Wald.  Dieselbe 
Notiz  ist  aber  schon  im  Weissen  Buche  von  Obwalden  enthalten, 
die  Zusammenschwörenden  heissen  da:  (i)  der  Stoupacher  von 
Switz,  (2)  Einer  der  fürsten  von  Ure,  (3)  der  usser  melche  von 
Underwalden,  bald  funden  die  dry  (4)  ein'  nid  dem  Wald,  der 
swur  ouch  zu  jnen.  Nachdem  also  für  jede  der  drei  Waldstätte 
ein  ständiger  Mitstifter  mit  Namen  aufgefunden  war,  musste  auch 
noch  für  jede  der  beiden  Hälften  von  Ob  und  Nid  dem  Wald, 
in  welche  das  Unterwaldnerland  kantonal  sich  geschieden  hatte, 
ein  Mitbetheiligter  aufgestellt  werden,  und  so  ergaben  sich  dann 
vier  erste  Eidgenossen.  Doch  auch  damit  war  noch  kein  Stillstand 
gemacht;  Unterwaiden  schien  seine  eignen  drei  Teilen  zu  fordern. 
Darum  stehen  im  Personenverzeichnisse  sowohl  des  1 545  gedruckten 
Teilenschauspieles  von  Jak.  Ruoff,  als  auch  im  sogenannten  Urner- 
spiel,  gedruckt  im  Jahre  1579,  als  die  drei  Mitbefreier  genannt: 

Erni  vss  Melchtal  Ob  dem  Wald. 
Cuno  ab  Alzella  Nid  dem  Wald. 
Vly  von  Gruob  Ob  dem  Wald. 

Und  wenn  dann  in  jenem  Spiel  Teil  seine  Mitgenossen 
anredet  (S.  121  des  Mayer^schen  Druckes),  so  nennt  er  sie  zu 
Viert:  Vly,  Cunno,  Stoffacher,  Ernel  Wozu  nun  dieser  neu 
hinzu  gekommene  Uli  Gruob  ?  Er  war  ein  vorräthiger  Name  und 
konnte  an  Luzern  abgegeben  werden,  nachdem  dieses  am 
13.  Wintermonat  1332  den  Waldstätten  sich  angeschlossen  hatte, 
womit  denn  der  Vierwaldstättenbund  gegründet  war. 

Am  seltsamsten  ist  es,  dass  man  zu  diesem  mythischen 
Vierverein  den  historischen  Walther  Fürst  nicht  wählte,  sondern 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  9 


I^O  !•     I-^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

amtlich  sogar  an  dessen  Stelle  den  sagenhaften  Teil  setzte. 
Eine  Denkmünze  vom  Graveur  Stampfer  aus  Zürich,  f  1585, 
giebt  auf  dem  Avers  die  Wappen  der  XIII.  Kantone  und  der 
Sieben  Zugewandten  Orte  mit  dem  Eidgenöss.  Kreuze.  Auf  dem 
Revers  steht:  »Wilh.  Teil  von  Vre,  Stouffacher  'von  Schwytz, 
Erni  von  Vnterwald.  Anfang  dess  Puntz  im  jar  Christi  1296.« 
Also  mangelt  hier  Walther  Fürst,  wie  er  ebenso  noch  gänzlich 
1579  im  Urner-Spiele  fehlt,  das  doch  zu  Altorf  unter  obrigkeit- 
lichem Schutze  aufgeführt  wurde.  Bei  solchem  Schwanken  der 
Quellen  geschah  es,  dass  in  Schillers  Teil  Walther  Fürst  von 
Attinghausen  sogar  in  zweierlei  Personen  verwandelt  worden  ist, 
in  den  Freiherrn  Wernher  von  Attinghausen  und  in  den  Walther 
Fürst.  Auch  da  wird  der  Bund  geschlossen,  ohne  dass  jener 
Freiherr  davon  weiss,  ja  er  stirbt  inzwischen  mit  den  Worten: 
Hat  sich  der  Landmann  solcher  That  verwogen,  ja  dann  bedarf 
es  unserer  nicht  mehr. 

Dasselbe  Wachsthum  und  Schwinden  macht  sich  auch  in  der 
Zahl  der  Landvögte  und  der  gebrochenen  Vogtsburgen  sichtbar. 
Erschlagen  werden  der  Gessler  in  Küssnacht,  der  Wolfenschiessen 
auf  Rotzberg  und  der  Schlossvogt  auf  Schwanau.  Der  vierte  ist 
Landenberg  zu  Sarnen,  welcher  allein  heil  entkommt.  Zu  ihren 
vier  gebrochnen  Burgen  tritt  noch  als  fünfte  hinzu  Zwing-Uri. 
Ebenso  hat  man  dem  Gesammt-Ereignisse  vier  Kapellen  gewidmet, 
die  bekannten  drei  Teilskapellen  und  die  Staufacherskapelle  zu 
Steinen.  Von  den  im  Axenberge  verzaubert  schlafenden  drei 
Teilen  wird  am  Ende  dieses  Abschnittes  besonders  berichtet 
werden.  Auch  an  die  schweizerische  Einwanderungssage  ist  hier 
zurück  zu  erinnern :  Schweden  und  Friesländer  kommen  1 300  Mann 
stark  als  erste  Anwohner  in  die  Waldstätte  eingewandert  unter 
den  drei  Führern  Switer,  Scheyo  und  Rumo,  und  Switer  giebt 
dem  Lande  Schwyz  den  Namen.     Tschudi,  Gallia  comaia. 

Auch  der  Kanton  Graubünden  hält  sich  geschichtlich  berech- 
tigt, seine  besonderen  drei  Teile  aufzustellen  und  diesen  die 
republikanische  Konstituirung  des  ganzen  Bündnerlandes  zuzu- 
schreiben. Hier  jedoch  geschieht  dies  auf  Grund  der  Alles  ver- 
einfachenden Sage,  die  hier  sechserlei  Landeshäupter  auf  drei 
reducirt  hat.  Der  geschichtliche  Act,  der  hierüber  vorliegt,  findet 
sich  bei  Tschudi  II ,  153.  und  ist  kurz  folgender :  Im  März  des 
Jahres  1424  versammeln  sich  und  berathen  unter  der  Linde  bei 
der  Kapelle  zu  Truns  nachfolgende  Herren :   Peter  von  Pultingen, 


j 


7«    Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      i  -5  j 

Abt  ZU  Disentis;  die  drei  Brüder:  Hans,  Heinrich  und  Ulrich 
Brun,  Freiherren  von  Räzüns ;  der  Graf  Hans  Sax  von  Hohensax 
und  Masox ;  und  Graf  Hugo  von  Werdenberg,  letzterer  als  Eigen- 
thümer  des  Ortes  Truns.  Mitanwesend  sind  die  Gotteshausleute  und 
Ammänner  folgender  zehn  Gemeinden :  Saffien,  Tenna,  Uebersax, 
Ilanz,  Grub,  Flimserwald,  Flims,  Falz,  Lugnetz,  Tamins. 
Zusammen  schliessen  sie  hier  den  Grauen  Bund,  der  das 
ganze  Bündner  Oberland  mit  dem  Rh^in  und  dessen  Nebenthälern 
umfasste  und  nachmals  dem  Kanton  seinen  Namen  gab.  Zum 
Grauen  trat  dann  der  Gotteshausbund,  Chur,  .  Domletschg 
und  Engadin  umfassend;  und  seit  1436  auch  der  Zehn  ge  richten - 
bund,  in  welchen  die  zehn  Gerichte  im  Prättigäu  und  Davos 
gehörten.  Wenn  nun  diese  drei  Zehnten  alljährlich  ihren  Landtag 
unter  dem  Baum  an  der  St.  Annakapelle  zu  Truns  abhielten,  so 
hatte  in  allen  Symbolen  und  Ueblichkeiten  dieser  Volksversammlung 
die  Dreizahl  vorzuherrschen.  An  der  dortigen  Kirchenmauer  sind  die 
drei  Landesbefreier  abgemalt :  Peter  von  Pultingen,  Abt  von  Disentis; 
Hans  Brun,  Herr  von  Räzüns,  und  Graf  Hans  von  Hohensax.  Zur 
Versammlung  kamen  drei  Präsidenten,  als  Häupter  der  drei  Bünde, 
stellten  sich  unter  die  drei  Hauptäste  des  Ahorns  und  erneuten 
mit  aufgehobenen  Schwörfingern  den  Eid.  Des  Bundes  Wahl- 
spruch lautete:  Omne  trinum  perfectum,  und  ihm  zu  Ehren 
wurden  dann  im  Tafelsaale  sogar  die  Zechtische  in*s  Dreieck 
gestellt.  (Bridel,  Kleine  Fussreisen  durch  die  Schweiz.  Zürich 
1797.    I,  188.) 

Nachdem  nun  dieser  Schematismus  durch  kantonale  Satzungen 
durch  Chroniken,  Denkmäler,  Schauspiele  und  Lieder  dem  Volke 
zum  politischen  Glaubenssatze  gemacht  war,  bildete  ihn  dasselbe 
weiter  aus,  indem  es  ihn  zu  Revolutionszwecken  parodierte.  Im 
Bauernkriege  stellte  sich  das  gegen  Lüzern  empörte  Entlebuch 
unter  seine  drei  eingebornen  Bauern-Obristen  und  nannte  auch  sie, 
als  Rächer  der  gekränkten  Volksrechte,  die  drei  Teilen.  Diese 
waren:  i)  Hans  Emmenegger  von  Schupf  heim,  1653  zu  Luzern 
hingerichtet.  2)  Christen  Schybi  von  Escholzmatt,  1653  in  Sursee 
enthauptet.  3)  Kaspar  Steiner,  Sigrist  zu  Emmen  in  der  Graf- 
schaft Rothenburg,  1653  zu  Luzern  hingerichtet. 

Auch  das  aargauer  Freienamt  hatte  sich  an  jenem  Aufstande 
mitbetheiligt  und  stellte  drei  Führer  auf,  welche  bei  ihrer  Partei 
die  Teilen,  bei  der  Gegenpartei  die  Regentenfresser  hiessen.  Dies 
waren:    Jak.   Hartmann    von  Sarmensdorf,   Andr.  Meier  und   Uli 

o* 


L 


122  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Koch,  beide  von  Vilmergen.  Sie  wurden  zu  dritt  hingerichtet, 
das  Freienamt  verlor  seine  Landesfahne  und  musste  24,000  Gulden 
Strafgelder  bezahlen. 

Der  Bauernkrieg,  der  zuerst  im  Luzemer  Entlebuch  aus- 
gebrochen war,  erstarb  auch  in  dieser  Landschaft  zu  allerletzt. 
Zur  gänzlichen  Beruhigung  hatten  sich  Ende  Septembers  1653 
der  Entlebucher  Landvogt  Melch.  Schumacher,  der  Luzemer 
Schultheiss  Ulrich  Dulliker,  der  Zeugherr  Kasp.  Studer  und  der 
Leutpriester  Bissling  nebst  noch  anderen  Herren  zusammen  nach 
Schüpfheim  begeben,  um  hier  der  auf  den  28.  September  her- 
kömmlich fallenden  Huldigung  beizuwohnen.  Nur  ein  Theil  der 
"Landschaft  leistete  den  Huldigungs-Eid,  die  Gemeinden  Schüpfheim 
und  Hasli  verschoben  ihn,  bis  man  ihnen  Brief  und  Siegel  über 
die  vom  Schiedsgerichte  bewilligten  Artikel  gegeben  haben  würde. 
Als  die  Gesandtschaft  am  folgenden  Tage  auf  der  Heimreise 
zwischen  Schüpfheim  und  Hasli  in  die  Hohle  Gasse  geritten, 
kam,  fielen  hier  plötzlich  drei  Schüsse.  Der  erste,  vier  Kugeln 
treibend,  verwundete  mit  einer  den  Schultheissen  Dulliker  in  den 
Schenkel  und  gieng  mit  zweien  dessen  Reitpferde  durch  den 
Hals.  Gleich  darauf  knallten  zwei  weitere  Schüsse,  eine  Kugel 
sauste  zwischen  den  Rathsherren  Balthasar  und  Fleckenstein  durch, 
die  andere  traf  den  Zeugherrn  Studer  in's  Herz.  Die  Mörder 
waren  drei  unter  dem  Namen  der  Teilen  verschworene  Bauern. 
So  besagte  eine  gleich  darauf  in  Luzern  erschienene  Deputation 
des  Landvolkes,  die  sich  auch  bereit  erklärte,  die  Uebelthäter 
auszuliefern,  wenn  man  den  Einwohnern  die  abgenommenen  Waffen 
wiedergebe  und  die  bewilligten  Friedensartikel  urkundlich  zufertige. 
Die  von  der  Obrigkeit  schnell  nach  Schüpfheim  entsendeten 
Truppen  verschanzten  sich  hier  sorgfaltig  und  streiften  auf  die 
Möfder.  Hans  Stadelmann  von  Marbach,  genannt  Städeli,  hatte 
im  Drittbunde  den  Staufacher  repräsentirt  und  war  gleich  nach 
der  That  in's  Ausland  entflohen.  Kaspar  Unternäher,  genannt: 
Käspi,  war  im  Bunde  der  Wilhelm  Teil ;  er  und  Ulrich  Hinterwart, 
genannt  Hinteruoli,  der  gewesene  Erni  aus  Melchthal,  wurden  auf 
die  Anzeige  eines  Knaben  in  einer  Scheune  unweit  Schüpfheim 
entdeckt..  Sie  flohen  hier  vor  den  eindringenden  Soldaten  aufs 
Dach,  beide  mit  Schlachtschwertem  bewaffnet ;  der  eine  schleuderte 
die  Beschwersteine  des  Schindeldaches  gegen  die  Heraufsteigenden, 
der  andere  hieb  auf  sie  ein.  Nach  umsonstiger  Aufforderung  sich 
zu  ergeben,   wurden  sie  endlich  herunter  geschossen.     Noch  über 


7.   Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die   drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      i  77 

die  Todten  sprach  das  Criminalgericht  Bluturtheile  aus,  die 
Leichname  wurden  geviertheilt  und  an  den  vier  Landeshoch- 
gerichten aufgesteckt.  Stadelmann  wagte  es,  in  die  Heimat 
zurück  zu  kehren,  ward  verrathen,  gefangen  und  gefoltert,  bekannte 
den  Schuss  auf  Dulliker  gethan  zu  haben,  wurde  geköpft  und  auPs 
Rad  geflochten.  Mit  den  drei  Genannten  hatte  Hans  Krummenacher, 
der  Weibel  zu  Schüpfheim,  gemeinsame  Sache  gemacht,  soll  aber 
nicht  selbst  bei  der  That  gewesen  sein.  Auf  Fürbitte  der  Schüpf- 
heimer  Kapuziner  gestattete  ihm  der  Rath  1655  die  Rückkehr  in 
die  Heimat,  jedoch  gegen  Erlegung  von  3000  Gulden  Strafgeld. 
Zu  so  grausamem  Ende  führte  es,  als  das  naive  Volk  mit  dem 
Spielzeug  seiner  Herren  endlich  wirklich  Ernst  machen  wollte. 
Diese  Angaben  sind  entnommen  Ulrich  Dullikers  Autobiographie, 
betitelt:  Summarische  Lebensbeschreibung,  abschriftl.  in  Zurlaubens 
Miscell.  Helvet.,  tom.  II,  pag.  209,  auf  der  Aargau.  Kt.-Bblth.  — 
Sodann:  Vock,  Gesch.  des  Schweiz.  Bauernkrieges. 

Es  wäre  blosses  Ameisengeschäft,  so  vielerlei  gleiche,  monotone 
Zahlenbeispiele  aufzulesen  und  zusammen  zu  häufen ,  wenn  nicht 
in  ihrem  Grunde  ein  uralter  Glaubenssatz  läge ,  den  sie  Alle 
heimlich  verbergen  jund  mit  immer  neuem  Schutte  zudecken. 
Dies  ist  der  Heidenglaube  an  die  Fortdauer  jener  mythischen 
Volkshelden,  welche  in  einen  Berg  entrückt  und  in  Zauberschlaf 
versenkt,  dereinst  in  des  Vaterlandes  letzten  Nöthen  hilfreich 
wieder  erstehen.  Bald  ist  es  ein  einziger  Held:  der  Kaiser,  der 
Teil ;  bald  sind  es  ihrer  drei.  Auf  diese  alte,  längst  zerbröckelte 
Sage,  soweit  sie  der  Mund  der  Gläubigen  und  der  Ungläubigen 
noch  kennt,  gehen  wir  jetzt  über. 

Heinrich    Zschokke    schrieb    im   Helvet.    Kalender    v.    1797, 

S.  87  einen  Aufsatz  »Die  Volkssage« ,   und  machte  hier  folgende 

übelgelaunte  persönliche  Mittheilung:  »Als  ich  mich  von  Brunnen 

(über  den  See)   nach  Flüelen  führen  Hess,    zeigten  meine  Schiffer 

auf  die  Felsen  von  Seelisberg   im  Kanton  Uri,   dicht  hinter  dem 

Grütli,  und  erzählten  mir  Ungläubigen  mit  dem  Ernste  der  treuesten 

Diplpmatik,   dass    dort    in  einer  der  Höhlen   die  drei  Teilen  seit 

Jahrhunderten  schlafen,  um  dann  die  Freiheit  der  Schweizer  noch 

einmal    zu  retten.     Diese  Volkssage   beweist   nichts  als  etwa  den 

Mangel  der  Geistescultur,   welcher  noch  in  der  Schweiz  herrscht. 

;   Der  Historiker  hat  keine  verachtungswerthere  Quelle,  c    So  Zschokke, 

I    dem  damals   herrschenden  Rationalismus  gemäss ;   später ,   einem 

i   veränderten  Zeitgeschmacke    folgend,    schrieb   er   über   dieselben 


l 


IZA  !•     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Gegenden  und  deren  Volksglauben  das  illustrirte  Werk:  Die 
klassischen  Stellen  der  Schweiz.  Sollte  man  nun  denken,  dass 
es  ein  Prinz  aus  der  Wiener  Hofburg  gewesen- ist  und  überdies 
damals  schon,  welcher  die  gegentheilige  Ansicht  vertrat?  Erz- 
herzog Johann  von  Oesterreich  urtheilt  1799  in  einem  Briefe  an 
Johannes  von  Müller  (Briefe  an  J.  v.  M.,  Schaffhausen  1840, 
Bd.  6,  S.  19)  über  jene  Seelisberger  Sage  also:  yaitrouve  dans 
Valmanac  suisse  de  ly^ö  un  passage  qui  ffiafrappe  et  que  je  sou- 
haiterois  voir  accompli,  Le  peuple  pretend  que  dans  une  des 
cavemes  du  Seelisberg  il  y  a  les  trois  Teils y  qui  dorment  jusq^au 
temps  oü  la  Suisse  sera  dans  une  grande  calamite,  pour  pouvoir 
la  delivrer.  Je  souhaiterois  bien  que  dans  le  nombre  de  trois  Teils 
nous  deux  y  fussions  compris.  Das  Volk,  nach  Thaten  rechnend, 
und  nicht  nach  vornehmen  Worten  und  Wünschen,  weiss  zur 
Stunde  noch  nichts  von  jenen  zwei  briefwechselnden  Persönlichkeiten, 
gleichwohl  aber  hat  es  den  erzherzoglichen  Oheim  des  Einen 
wirklich  den  drei  Eidgenossen  beigezählt  und  redet  in  diesem 
patriotischen  Sinne  noch  von  ihm.  Dies  wird  sich  sogleich  zeigen, 
wenn  erst  das  Seelisberger  Thema  zu  Ende  geführt  ist.  Ein 
Weidbube  aus  dem  aargauer  Obern  Freiamte  hat  uns  Nachfolgendes 
schon  vor  nun  zwanzig  Jahren  mündlich  erzählt.  Als  seinen 
Gewährsmann  nannte  er  einen  Sennenknecht  aus  dem  Luzerner 
Entlebuch;  Personen-  und  Ortsnamen,  Teil  und  Axenberg,  waren 
ihm  unbekannt,  sein  Histörchen  hatte  keinen  andern  Namen  als 
»Der  Geissbube  und  die  drei  Mannen.«  Buchstäblich  getreu  nach 
der  Ortsmundart  theilen  wir  die  Sage  mit: 

S'ist  ä  mol  en  Bueb  im  Entlebuech  üf  d'  Alb  gangä.  Es  hat 
si  nä  Chue  verirrt  in  äs  Tobel;  do  ist  er  einist  det  abä  gangä 
und  isch  lang  dinn  ummä  gloffä.  Do  chunt  er  z'letzt  zue-m-enä 
altä  Tor  und  isch  det  inä ;  er  het  aber  bloss  inä  chönnä.  Wu-n-er 
inä  chunt,  sä  g'seht  er  en  grossä  Tisch  und  a  dem  sind  Drei  mit 
langä  Bärtä  g'legä.  Wu-n-er  nöcher  gangä-n-isch ,  sä  luegt 
eine  von  enä-n-üf  und  frogt  en:  wellä  Jorgang  ass  me  zällä? 
Wu-n-ers  gseit  g'ha  het,  sä  frogt  en  Sällä  do:  ob  men  üf  der 
Wält  der  Rosechranz  au  no  beti  ?  Do  seit  der  Weidbueb  wiedrum, 
Jo!  Do  het  aber  da,  wu-n-en  g^frogt  g'ha  het,  zue  denä  andrenä 
g'seit :  Oheie,  und  iez  gceis  no  so  und  so  lang,  bis  sie  erlöst  seigä. 
Der  Bueb  het  aber  nit  gehöre  möge,  wie  lang.  Er  ist  do  wieder 
fürt  und  häts  da  Lütä  verzält.  Wu  aber  die  cho  sind,  hend  se  nüt 
me  fundä.  —  Vgl.  Grimm,  Deutsche  Sagen,  no.  297. 


J 


7.  Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      135 

Wenn  im  Luzemer  Gebiete  von  den  Entlebucher  Bergen 
Rothhorn  und  Enzifluh  her  zuweilen'  ein  dumpfes  Donnern,  rasch 
abgebrochen. und  wieder  begonnen,  Kanonenschüssen  ähnlich,  sich 
hören  lässt,  so  nennt  man  in  unsrer  Landschaft  dies  Phänomen 
bald  das  Rothhorn-,  bald  das  Rothenburger  Schiessen.  Um 
luzemisch  Dietwil  an  der  Reuss  im  Obern  Freiamte  heisst  es 
dagegen:  Prinz  Karli  exerziere  im  Berge  mit  seiner  Armee 
und  werde,  sobald  der  Antichrist  erscheine,  herauskommen  und 
ihn  schlagen.  (Lütolf,  Fünfortische  Sagen,  S.  93.)  Auf  Seite  der 
Gelehrten  und  Belesnen  gilt  nun  die  Annahme,  der  hier  bezeichnete 
Held  sei  Karl  'der  Grosse.  Als  ob  das  Volk  Zeit  hätte,  sich  mit 
dem  gelehrten  Karlingischen  Sagenkreise  und  mit  der  Mönchs" 
chronik  des  Pseudo-Turpin  zu  schleppen!  Weiss  es  doch  über 
Kaiser  Karl  nicht  einmal  die  Angaben  der  Luzemer-  oder  der 
Züricher  Stadtchronik,  welche  doch  schon  so  lange  gedruckt  und 
Schweizer-geschichtlich  verbreitet  worden  sind.  Der  eben  genannte 
Sagenforscher  Lütolf  fügt  seinem  Berichte  ausdrücklich  bei,  die 
Luzerner  Bevölkerung  denke  sich  unter  Karli  den  aus  der  Kriegs- 
geschichte der  neunziger  Jahre  noch  immer  bekannten  Gegner 
Napoleons,  durch  dessen  momentan  glückliche  Operationen  die 
damalige  Schweiz,  früherhin  ausschliesslich  französisch  gesinnt,  rasch 
gut  österreichisch  geworden  war.  Sie  stellte  den  Erzherzog  dem 
siegreichen  französischen  Konsul  an  Ehren  und  Erfolg  völlig  gleich. 
Ein  »Lied  auf  den  Frieden«,  Luzem,  zu  haben  bei  Meyer  u.  Comp. 
1801  (Fl.  BL,  Aargau.  Kt.-Bblth.  L  385,  y)  sagt  in  seiner  Strophe 
23  von  diesen  beiden  Kriegshelden: 

Es  läbi  der  fränkische  Kon  sei  noch  lang, 
Prinz  Karli  läV  mit  em  im  glychlige  Rang, 
Se  macht  üs  der  Krieg  eüser  Läbtig  nid  bang. 

Der  Prinz  Karli  des  Liedes  ist  mithin  der  Österreicher  Herzog, 
welcher  aber  als  derselbe  Prinz  Karli  der  Sage  sammt  seiner 
gerüsteten  Armee  verzaubert  im  Berge  wohnt  und  da  durch 
dumpfe  Kanonenschläge  das  Heranrücken  der  künftigen  Welt- 
schlacht ankündet. 

Solche  berg-entrückte  Zauberschläfer  versetzt  die  Sage  noch  an 
mancherlei  andere  Orte  der  Schweiz  und  legt  ihnen  auch  da  bald 
altrömische  oder  altchristliche  Benennung  und  Abkunft  bei,  bald 
lässt  es  sie  gänzlich  namenlos.  So  sitzen  im  Frackstein  im 
Prättigäu  drei  Männer  und  schlafen,  wer  sie  sind,  weiss  Niemand. 


I  -26  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Sprecher  von  Berneck,  in  der  Insbrugger  Ztschr.  Phönix  1851, 
264.  Kaiser  Nero  sitzt  im  Schlossbrunnen  zu  Nürnberg  (Fr. 
Daumer,  Alterthum  1833.  II,  34)  und  derselbe  im  Sodbrunnen 
zu  Sissery,  im  Kt.  Wallis;  so  oft  er  drunten  stöhnt,  steigen 
Wasserblasen  auf.  Reithard,  Sagen  aus  der  Schweiz  1853,  S.  489. 
In  der  Fluhwand  bei  der  Bründlenalp  auf  dem  Pilatusberge  sitzt 
im  Dominikloche  der  heilige  Dominik  am  steinernen  Tische  und 
antwortet,  wenn  man  den  Namen  Domili  hinaufruft.  Ein  mächtiges 
Echo  giebt  dann  langsam  und  gedehnt  das  ausgesprochene 
Wort  zurück.  Die  dortigen  Sennen  aber  behaupten,  wer  ihm 
einen  andern  Namen  zurufe,  der  sterbe  zuverlässig  in  demselben 
Jahre.  Zürcher  Neujahrs-Bl.  der  Musikgesellsch.  18 18,  S.  2.  Alte 
diese  Einzelzüge  sind  nur  die  missdeuteten,  unkennbar  gewordnen 
Trümmer  eines  und  desselben  vorgeschichtlichen  Volksglaubens 
über  einen  einst  weithin  bekannt  und  vielen  Völkerschaften 
gemeinsam  gewesenen  göttlichen  Helden  Teil.  Noch  lebt  er  unter 
dem  Namen  Toll  und  zu  dem  eben  betonten  Zwecke  einstiger 
Wiederkehr  und  Volksbefreiung  im  Munde  der  Inselschweden  und 
Ehsten  fort,  seine  Burg  und  sein  Grab  werden  auf  der  Insel  Oesel 
hergezeigt.  Russwurm,  Eibofolke  §.  393.  Sammt  seinem  Schlosse 
versunken  in  den  See  Tilsgraben,  sitzt  da  der  Ritter  Tils  drunten 
verzaubert  im  Rittersaäle,  mit  weissem  durch  den  Tisch  gewachsenen 
Barte.  Harry,  Niedersächs.  Sag.  i,  no.  2.  Dies  ist  zur  Strafe 
des  wiederholten  Schusses  nach  einem  Hirschen,  der  ein  Crucifix 
zwischen  dem  Geweih  trug.  Am  Oster-  und  Pfingsttage  kommt 
die  Bevölkerung  der  Umgegend  am  Tilsgraben  zusammen,  schliesst 
aus  dem  Wasserstande  des  Sees  auf  den  Erfolg, der  kommenden 
Kornernte,  schlägt  Ball  und  kocht  sich  Kaffe.  Kuhn,  Westfäl. 
Sag.  I,  S.  316  bis  335.  Die  von  ihren  Stadtpatriziern  unter- 
drückten Schweizerbauern  hatten  bis  zu  Ende  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  an  dem  tröstlichen  Glauben  festgehalten,  der  aus 
dem  Schlaf  erwachende  und  wiederkehrende  Teil  werde  ihrer 
Noth  abhelfen;  sie  sangen  1653: 

Ach  Teil,  ich  wollt'  dich  fragen. 
Wach  auf  von  deinem  Schlaf! 
Die  Landvögt'  wend  All^s  haben, 
Ross',  Rinder,  Kalb  und  Schaf.*) 


•)  Zeitschr.  Helvetia,  Bd.  1830,  S.  628,  Strophe  6. 


7-  Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.      1-27 

Die  Regenten  dagegen  sahen  in  diesem  Volksglauben  eine  doppelte 
unerhörte  Ketzerei;  denn  man  machte  den  Teil  zum  Patron  der 
Rebellen  und  versetzte  ihn  überdies,  anstatt  in  den  Christenhimmel 
der  Seeligen,  in  die  Berghöhlen  zu  Gespenstern.  Lieder  solchen 
Inhaltes  Hess  darum  die  Obrigkeit  durch  Henkershand  verbrennen 
und  durch  Gegenli,eder  widerlegen.  So  geschah  es  in  der  Stadt 
Zug  1735,  als  hier  die  Partei  Schumachers,  nach  dem  politischen 
Sturze  dieses  Mannes,  ein  Lied  singen  Hess,  worin  der  Gegenpartei 
die  Rache  des  aus  dem  Axenberge  bald  hervorgehenden  Teil 
angedroht  war.  Die  obrigkeitliche  Antwort  darauf  war  ein  39 
Strophen  langes  Gedicht:  »Das  entlarfte  Tellgespenst  oder  Ent- 
deckung und  Zergliederung  des  Neuen  Teil.«*)  Hier  wird  der 
christenwidrige  Bauern- Aberglaube  also  angelassen: 

Ich  weiss  es  nicht  zu  sagen, 
Was  das  sei  für  ein  Teil? 
Es  will  mir  nicht  in  Magen, 
Es  seie  der  Gesell, 
Der  dort  vor  alten  Zeiten 
Nicht  hat  geehrt  den  Filz; 
Es  will  mir  eher  deuten, 
Es. sei  ein  Bauernrülz. 

Ja,  eher  will  ich  trauen, 

Es  sei  ein  Wustgesicht, 

Von  einer  Zuger-Frauen 

Aus  Endor  zugericht. 

Dann  Er  steigt  aus  der  Erden, 

Aus  einem  dunklen  Ort, 

Und  redet  von  Beschwerden 

Nur  lauter  Lugenwort. 

Der  recht  Teil  ist  im  Himmel!    u.  s.  w. 

Gehen  wir  nun  an  die  Erklärung  dieses  gegenseitigen  Wider- 
spruches. 

In  den  Höhlen  der  Berge  wohnten  die  ersten  Menschen,  hier 
bestatteten  sie  auch  ihre  Todten  zur  Grabesruhe.  In  den  Berg 
gehen,  in  den  Hügel  gehen,  heisst  dem  Germanen  Sterben.     Die 


*)  Handschriftlich   auf  der    Aargauer   Kant.-Bblth.:    Ms.  Bibl.    Mur.  fol.  66; 
,    Blftt  267  und  274. 


I 

[ 


Iß8  I*     ^^  Sagenkreis  von  TelL 

verstorbenen  Stammväter  und  Fürsten  der  Urzeit  „gehen  daher 
in  den  Berg,  sitzen  oder  liegen  im  Berge."  Noch  in  Joh.  Acker- 
manns Gespräch  mit  dem  Tode  wird  dieser  angeredet:  „Herr 
Tot,  Hauptman  vom  Berge."  W.  Wackemagel,  Lesb.  1139, 
Vers  18.  Den  ältesten  Germanen  wohnten  selbst  die  Götter  in 
den  Bergen,  und  erst  später  auf  oder  über  deren  GipfeL  Lässt 
daher  ein  Volksstamm  seinen  Begründer  im  Berge  begraben  sein, 
so  lag  eine  Vermischung  des  Stammvaters,  der  selber  wieder 
einen  Gott  zum  Vater  hat,  mit  dem  Gotte  ganz  nahe,  der  gleich- 
falls im  Berge  thronte.  Gott  Manilus  ist  bei  Tacitus  der  Sohn 
der  Erde.  Jeder  einzelne  Stamm  hat  so  seinen  eigenen  Götter- 
berg, sein  eigenes  Schlachtfeld,  auf  das  der  schlafende  Gott  her- 
austreten wird  zur  Entscheidung  und  zum  endlichen  Weltfrieden. 
Als  dann  das  spätere  Zeitalter  die  Leichen  nicht  mehr  in  den 
Berg  trug,  sondern  dem  Feuer  übergab  und  in  Rauch  gen  Him- 
mel schickte,  da  mag  man  sich  gewöhnt  haben,  auch  die  Götter 
über  den  Wolken  wohnend  zu  denken.  Die  Chinesen  schreiben 
ihrem  Kaiser  Hoam  Ti  (125 1)  die  Erfindung  des  Schmiedens, 
Schiffbaues,  Gewichtes  und  Masses,  der  Zahl,  Töpferei  und  Jägerei 
zu,  und  behaupten,  er  lebe  noch  jetzt  auf  einem  hohen  Berge, 
auf  dem  das  irdische  Paradies  sei.  Diebolt,  Historische  Welt, 
Zürich  1715,  S.  1365.  Ebenso  hat  auch  die  deutsche  Volkssage 
das  Aeltere  bewahrt  und  verweist  mit  ihren  im  Berge  fortschlaf- 
enden Lieblingshelden  auf  die  Zeiten  des  Grabalters  und  der 
Hügelbestattung  zurück,  welche  beide  dem  Brennalter  voraus- 
giengen  (Simrock,  Myth.  367).  Leiblich  im  Berge  und  geistig  in 
Walhalla  zugleich  sein,  war  also  Volksglauben.  Der  Ritter  Tann- 
häuser geht  lebend  in  den  Venusberg  ein,  der  sich  auf  ewig 
hinter  ihm  schliesst;  dennoch  wird  er  zuletzt  ein  Gott  und  die 
Schlüssel  des  Himmelreichs  sind  ihm  anvertraut.  Aventinus,  baier. 
Chronik  45.  Als  dann  der  Gesichtskreis  der  Völker  sich  erwei- 
terte und  damit  ein  geschichtliches  Erinnerungsvermögen  bei  ihnen 
wuchs,  klammerte  sich  dieselbe  Sage  noch  an  das  Andenken  und 
den  Namen  der  Verabscheuten,  und  darum  hiess  es  nun,  auch 
solche,  welche  durch  ihre  Thaten  tiefsten  Hass  erregt  hatten, 
lebten  nach  ihrem  Tode  fort.  Die  Schweizersage,  Nero  sitze 
verwünscht  im  Brunnen  zu  Sissery,  hatte,  zu  dieses  Tyrannen 
Zeit  selbst  schon,  Römer  und  Christen  in  nahverwandter  Art  be- 
schäftigt. Als  Nero  aus  der  empörten  Hauptstadt  floh  und  von 
seinem  Sklaven   sich  den  Tod  hatte  geben   lassen,   begann   eine 


i 


7«   Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.       i  -20 

Zeit  äusserster  Reichsverwirrung,  in  welcher  der  Glaube  entstand, 
der  Tyrann  sei  nicht  gestorben,  sondern  zu  den  Parthem  ent- 
wichen, um  mit  zahllosen  Reiterschaaren  gegen  Rom  heran  zu 
ziehen.  Begierig  griffen  die  damaligen  Christen  dies  Märchen  auf 
und  versetzten  es  in  ihre  Offenbarung  -  Johannis ,  wo  Nero  als 
Antichrist,  als  das  Thier  mit  sieben  Häuptern  und  zehn  Hörnern, 
zur  Wiederkehr  bereit  steht  und  seinen  Anhängern  das  Malzeichen 
666  einbrennt,  d.  i.,  ausgedrückt  im  Zahlenwerthe  der  griechischen 
Buchstaben:     Neron  Kaisar. 

Nach  des  ersten  Napoleon  Tode  gieng  eine  ähnliche  Sage  durch 
Europa  und  setzte  sogar  die  Nomadenstämme  Süd-Russlands  in  Auf- 
regung. Eine  darüber  erschienene  Flugschrift  trägt  folgenden  Titel : 
Zehn  sehr  wichtige  Gründe  für  die  Vermuthung,  dass  Hussein 
Pascha,  Oberbefehlshaber  der  ottomanischen  Heere,  der  wieder 
auferstandene  zurückgekehrte  Napoleon  sei.  Berlin  in  der  akadem. 
Buchhdl.  1829.  Ein  anderes  gegentheiliges  Gerücht  verbreitete 
sich  1848  in  Tirol  auf  die  Nachricht  hin,  dass  die  österreichischen 
Truppen  in  Italien  den  vereinten  italo -französischen  Waffen  unter- 
legen seien:  Der  Sandwirth  Hofer,  hiess  es,  lebe  im  Berge  zu 
Ilfingen  oder  auch  in  der  Sarner- Scharte  und  werde  das  Volk 
abermals  aufbieten  (Zingerle,  Tirol.  Sag.  No.  370).  Ebenso  tauchte 
damals  in  Mähren  die  Nachricht  auf  von  der  Wiederkehr  des  ver- 
lorenen Fürstensohnes  Jecminek,  und  der  böhmische  Landmann 
erwartete  den  St.  Wenzel  und  das  Wiedererwachen  des  Helden 
Zdenko  von  Zasnink,  der  mit  seinen  Gerüsteten  im  Berge  Blanik 
beim  Städtchen  Jung-Woziz  ^luf  einer  Steinbank  schläft.  Ver- 
wandte Sagen  finden  sich  bei  fast  allen  uns  bekannt  gewordenen 
Völkern  und  können  in  mehreren  Sammelwerken  nachgelesen 
werden*).  Hat  sich  die  Kirchenlegende  mit  eingemischt,  so  weist 
sie  zu  ihr^r  eigenen  Bewahrheitung  auch  die  bestimmte  Höhle 
sammt  Kapelle  mit  vor;  so  z.  B.  beides  in  Ephesus  zur  Be- 
glaubigung der  dorten  kirchlich  verehrten  Siebenschläfer,  zu  denen 
die  Griechen  auch  heute  noch  zu  wallfahren  pflegen.  Ein  kurzes 
Wort  Voltaire's  hierüber  wird  genügen:  •  y.Aucun  Grec  tCen  a 
Jamals  doute  dans  Ephese;  ces  Grecs  n^ont  pu  etre  abuses;  ils 
riont  pu  abuser  personne;  donc  Phistoire  des   Septs  Dormants  est 


*)  Grimm,  Deutsche  Sagen,  Zweiter  Th.  i;  28;  33;  214;  382.  W.  Menzel, 
Odin,  S.  317 — 340.  Veraaleken,  Oesterreichische  Mythen  und  Bräuche  (1859) 
S.  109 — 116. 


140  !•     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

incontestable*\  Questions  sur  PEncyclopedie.,  Tome  quatrieme. 
Londres  1776,  pag,  p/.  Wir  selbst  wenden  uns  zum  Thema  und 
zur  Frage  zurück,  woher  die  Dreigliederigkeit  im  Tellenmythus 
stamme. ' 

Sie  ist  ein  religiöser  Abkömmling  jener  Trinitäten  und  Trium- 
virate, in  welche  sich  Götter-  und  Königsdynastien,  Stammväter 
und  Heldengeschlechter  zu  gliedern  pflegen.  Der  Grund  hiezu 
ist  in  der  Dreizahl  selbst  gegeben,  welche  die  erste  Vereinbarung 
der  Zwei  zu  einem  und  demselben  Zwecke  ist  und  an  den  schon 
voraus  erwähnten  Wahlspruch  des  politisch  dreigegliederten  Grau- 
bündner-Landes  erinnert :  Omne  trinum  perfectum,  ■  Es  soll  nun 
dieser  Dreiverein  nicht  allein  nach  dem  Alter  seiner  mythischen 
Abkunft,  sondern  als  die  älteste  Grundlage  der  Tellischen 
Schützensage  überhaupt  hier  zum  Ende  nachgewiesen  werden. 

Die  Begleiter  der  beiden  indischen  Aethergottheiten  Indra 
und  Rudra  sind  die  Ribhus,  deren  Name  im  Indischen  selbst  als 
Sonnenstrahlen  übersetzt  ist  und  die  zugleich  treffliche  Bogen- 
schützen sind.  Aus  ihrer  Schaar  ragen  drei  Brüder  durch  ihre 
Thaten  besonders  hervor:  Ribhus,  Vibhva  und  Vayas.  Sie  ent- 
sprechen aber,  wie  Adalb.  Kuhn  nachgewiesen  hat  (Zeitschr. 
Bd.  4,  S.  95  u.  iio),  genau  jenen  drei  von  der  germanischen 
Mythe  gefeierten  Brüdern,  die  da  heissen:  Wieland,  der  Kunst- 
schmied; Slagfidhr,  der  beflügelte  Pfeil ;  undEigil,  die  scharf 
durchdringende  Pfeilspitze.  Diese  drei  sind  Söhne  des  Riesen- 
königs, Grewitterherm  und  Bootbauers  Wato  (eine  Hypostase  des 
Wuotan)  und  vermählt  mit  drei  Walküren :  Schwanenweiss,  Schnee- 
weiss  und  Allweis.  Eigil,  der  eine  dieser  drei  Schützenbrüder, 
muss  seinem  dreijährigen  Söhnlein  auf  König  Nidungs  Befehl 
einen  Apfel  vom  Haupte  schiessen.  Das  Northumbrische,  auf 
altenglischen  Erzählungen  beruhende  Volkslied  besinget  die  drei 
vereinten  Treffschützen  Adam  Bell,  Clym  of  the  Clough  (Clemens 
von  der  Klippe)  und  William  of  Cloudesly  (also  auch  hier  ein 
Schütze  mit  dem  Vornamen  Wilhelm).  Sie  sind  Wilddiebe,  haben 
des  Königs  Trabanten  erschossen,  sind  zu  Dritt  gefang^i  und 
zum  Galgen  verurtheilt.  Doch  darf  William  am  Wege  zum 
Tode  vor  dem  Könige  noch  einen  Meisterschuss  tfaun,  scbiesst 
seinem  siebenjährigen  Sohne  auf  120  Schritte  einen  Apfel  vom 
Haupte,  befreit  damit  sich  und  die  zwei  Mitgesellen  und  wird 
des  Königs  Bogenträger: 


7-  Die  drei  Teilen  am  Rütli  und  die  drei  Zauberschläfer  im  Axenberge.       141 

Wilhelm  schoss  den  Apfel  entzwei, 
Sein  Sohn  litt  keine  Noth; 
Der  König  sprach:  dein  Ziel  zu  sein, 
Davor  bewahr   mich  Gottl 

Die  weiter  nach  Nordosten  wandernde  Sage  hat  sich  mit 
den  Schweden  im  Rigaischen  Meerbusen  auf  der  Insel  Oesel 
niedergelassen,  wo  die  drei  Riesenbrüder  TöU  (dorten  auch  Teil 
genannt),  Leigre  und  Neider  hausen.  (Russwurm,  Sage  aus  Hap- 
sal,  S.  II.)  Der  mythische  Nationalheld  bei  den  zunächst  an- 
grenzenden Ehsten  ist  Kallewipoeg  und  hat  seine  zwei  Brüder 
ähnlichen  Wesens  Alewipoeg  und  Sulewipoeg  neben  sich*).  Die 
Sage  wird  hierauf  von  den  Ehsten  aus  zu  deren  vormaligen  Grenz- 
nachbam,  den  Lappen,  übergegangen  sein,  in  deren  Mythe  dei* 
Hauptheld  und  Riesenvernichter  Päiwiö  zwei  Söhne  hat,  Wuolabba 
(Olof)  und  Isaak.  Des  Letzteren  Sicherheit  im  Pfeilschiessen  war 
so  gross,  dass  er  eine  Flussäsche  traf,  wenn  sie  nur  aus  der 
Oberfläche  des  Wassers  hervortauchte.  Seinen  Meisterschuss  voll- 
führte er  gegen  die  räuberischen  Russen.  Da  war  ein  von  Kopf 
bis  zu  Fuss  gewappneter  Russenhäuptling  so  unbeweglich  in  seinen 
Panzer  geschnallt,  dass  ihm  der  Knecht  die  Mahlzeit  in  den  Mund 
stecken  musste.  Als  er  eben  gefüttert  werden  sollte,  erlauerte 
ihn  Isaak ;  und  während  jenem  der  Knecht  die  Gabel  zum  Munde 
führte,  kam  des  Gegners  Pfeil  geflogen,  traf  die  Gabel  und  trieb 
sie  dem  Häuptlinge  in  den  Hals.  Castren,  Reise  -  Erinnerungen 
bis  z.  J.  1844.  Petersburg  1853,  S.  19.  Als  Lehrmeister  in 
Handhabung  des  Bogens  galten  den  Nordgermanen  die  Finnen. 
Unter  diesen  pries  die  Ueberlieferung  den  Finnenkönig  Gusi  als 
den  berühmtesten  Schützen.  Er  besass  drei  Zauberpfeile  Flog, 
Hremsa  und  Fifa,  die  an  den  Norweger  Ketil-Häng,  der  ihn  er- 
schossen hatte,  und  von  diesem  an  Oervarodd  (d.  i.  Pfeilspitze) 
gelangten,  welche  beide  nachmals  die  grössten  Thaten  gegen 
sonst  schussfestes  Volk  ausübten.  Oervarodd  erhielt  zu  den  drei 
finnischen  Gusipfeilen  später  auch  drei  Steinpfeile,  welche  jene 
an  Macht  und  Zauberei,  noch  übertrafen.  Weinhold,  Altnord. 
Leben  205.  Wie  alsdann  Laurukadsch,  der  Held  der  Finnen  und 
Lappen,   damit  den  Apfel   vom  Haupte  schiesst,    im  Sturme  die 


*)  Ueber  Kallewipoeg  handelt  mehrfach  Schott:  Die  ehstnische  Sage  etc. 
Monatsberichte  der  Berliner  Akad.,  Jahrg.  1859,  1862  u.  66.  —  Kalewipoeg,  eine 
ehstn.  Sage,  metrisch  übersetzt  von  Reinthal;  6  Hefte.    Dorpat  1857 — 61. 


I 


XA2  !•     ^^r  Sagenkreis  von  Teil. 

Seefahrt  wagt,  dabei  auf  die  Platte  entspringt  und  zugleich  den 
Erbfeind  in  die  Wellen  zurückschleudert  —  davon  ist  im  vierten 
Abschnitte  gehandelt  worden. 

Aber  noch  ein  ganz  anderes  Geister-  und  Geistesverhältniss 
macht  sich  bei  dieser  weitreichenden  Trilogie  bemerkbar  und  voll- 
endet sie  bedeutsam.  Die  drei  grossen  Sagen  von  Hamlet, 
Faust  und  Teil  theilen  nemlich  darin  das  gleiche  Schicksal, 
dass  sie  zu  Dritt  unsre  drei  grössten  neuzeitlichen  Dichter  über- 
rascht haben  und  von  ihnen  zur  poetischen  Apotheose  gebracht 
worden  sind,  noch  bevor  die  Geschichts-  und  Mythenforschung 
sich  dieser  Stoffe  hatte  zu  bemächtigen  gewusst.  Die  Wirkung 
eines  so  verfrühten  künstlerischen  Vorgreifens  dauert  bis  heute 
im  allgemeinen  Urtheile  fort.  Denn  hiemit  ist  nicht  bloss,  was 
ursprünglich  eine  dichtende  Volkssage  war,  als  Sagendichtung  für  im- 
mer abgeschlossen  worden,  sondern  das  künstlerische  Gelingen 
war  ein  so  geistesmächtiges,  vollkommenes,  dass  die  überwältigten 
Leser  diese  Werke  auf  Treu  und  Glauben  als  förmliche  Geschichts- 
quellen hingenommen  haben. 


VIII 
Geschichte  der  drei  Teilskapellen. 


I.    Die  Kapelle  zu  Bürglen  in  Uri. 

Eine  halbe  Stunde  oberhalb  Altorf  in  Uri  liegt  am  Eingange 
des  Schächenthales  das  Dorf  Bürglen,  ein  uralter  Ort.  Von  seiner 
Pfarre  reden  bereits  die  beiden  Urkunden  v.  J.  853  und  13.  März 
857*),  in  denen  König  Ludwig  der  Deutsche  dem  Priester  Berold, 
als  dem  Kaplan  des  Züricher  Frauenconventes,  die  lebenslängliche 
Nutzung  der  Pfründe  an  der  Peterskapelle  in  Zürich  und  an  zwei 
anderen  Kapellen  zu  Silenen  und  Bürglen  in  Uri  bewilligt:  coft" 
cessit  .  .  .  capellani  hi  villa  Zürich  nee  non  et  alteras  duas  in 
volle  Uronia  in  locis  cognominantibus  Burgilla  et  Silana, 
Hier  im  Dorfe  auf  einer  anmuthigen  Höhe  bezeichnet  jetzt  eine 
kleine,  mit  Scenen  aus  Teils  Leben  bemalte  Kapelle  den  Stand- 
ort des  Hauses,  das  einst  Wilh.  Teil  bewohnt  haben  soll.  Aussen- 
her  ist  folgende  Aufschrift  zu  lesen : 

AUhier  auf  dem  Platz  dieser  Kapell 
Hat  vormals  gewohnt  der  Wilhelm  Teil, 
Der  treue  Retter  des  Vaterlands, 
Der  theure  Urheber  des  freien  Stands. 
Dem  zum  Dank,  Gott  aber  zur  Ehr, 
Ward  diese  Kapell  gesetzet  her**). 

•)  G.  V.  Wyss,  Urkk.  zur  Gesch.  der  Abtei  Zürichs,  Beilage  No.  2,  und 
Erstes  Buch,  Anm.  63.  Das  Original  der  Urk,  v.  857  liegt  in  Zürich  und  zeigt 
Merkmale  der  Unechtheit.  —  Ein  R.,  plebanus  de  Burgelon  in  Uronia,  ur- 
kundet  daselbst  am  15.  Januar  1247  und  findet  sich  erwähnt  in  Zuriaubens  Helvet. 
Stemmatographie  (Ms.)  tom.  40,  pag.  354. 

*•)  Copirt,  wohl  auch   modernisirt,  von  Fr.  Meisner,  Kl.  Reisen.     Bern  1823. 

iii,  135. 


IAA  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Den    nächst   umliegenden  Raum  profaniert   heute    ein    Zum 
Wilhelm  Teil   geschildeter  Gasthof  und   droht  mit   seiner  Breite 
das  bescheidene  Kapellchen  zu  erdrücken.     Unmittelbar   dahinter 
ragt  ein  epheu-umsponnenes  Thurmfragment  empor,  einst  zu  der 
Zeit,  da  das  untere  Land  Uri  noch  an's  Züricher  Frauenmünster- 
Stift  gehörte,  der  Sitz  des  herrschaftlichen  Hausmeiers.     Wer  seit 
den  letzten  fünfziger  Jahren  die  hier  stationirt  gewesene  Pförtnerin 
getroffen  hat,  der  bekam  auch  ihren  im  Tone  der  Zweifellosigkeit 
erstatteten  Bericht  anzuhören,  dass  der  Thurm  zu  einem  Schlosse 
gehört  und  in  demselben  weiland  Teils  Schwiegervater,  der  Herr 
von  Attinghausen,  ein  alter  edler  Ritter,   gewohnt   habe.     Genau 
so  drückte  die  Frau  sich  aus.     Der  Fremde  staunte   und  dachte, 
woher  weiss  sie  dies?     Der  Einheimische  jedoch  und   mit  dem 
Landesbrauche  Vertraute    mochte    die   Angaben   der    Erzählerin 
ganz  dem  Landesherkommen  gemäss  finden.     Denn  warum  sollte 
nicht  auch    diesem   urdemokratischen   Umervolke  die  allgemeine 
Sucht  eingeboren  sein,   vornehm  sein   und  seines   Gleichen  vor- 
nehm machen  zu  wollen?     Da  der  geistige  Adel   für   sich   allein 
keinen  Kurs  hat,  wenn  er  nicht  wenigstens  auf  der  Reversseite 
noch    ein   Adelswappen    trägt,    so    hatten  bereits    die    frühesten 
Schweizerchronisten  sämmtliche    beim  Rütlibunde   betheiligt   ge- 
wesene Männer  zu  Adeligen  nobilitirt,   und   die  Folgezeit   hat  es 
buchstäblich  geglaubt.     Selbst    der   wegen  seiner   Allbelesenheit 
so  berühmt  gewesene  Marschall   Ficjel   von  Zurlauben,    welchen 
Johannes  von  Müller  das    lebendige   Schweizerarchiv   zu   nennen 
pflegte,  verunstaltete  alle   seine  Studien  und  Arbeiten   durch   die 
grellen   Spuren  dieser  dem  Emporkömmling  anhaftenden  Gross- 
mannssucht.    In  dem  umfangreichen  Wappenbuche   z.  B.,.  das  er 
sich  aus  allen  möglichen  Urkunden,  Acten  und  Drucken  zusammen 
stellte,  hat  er  alles  Ernstes  ein    »Verzeichniss   des  Uri-adelU    an- 
gelegt, giebt  da  in  einem   blasonirten  Abbilde    »Das   Willem 
Tellen-waapen«    zum    Besten   und    lässt  dann    ebenso   beim 
Unterwaldner  Adel  »Des  Aerni  von  Melchthall-waapen«,  wiederum 
blasonirt,  darauf  folgen*).     Mit  demselben  luxuriösen  Enkelstolze 
hat   man  bekanntlich   für  Längstverstorbene   Grabsteine  nachge- 
macht**), und  nicht  nur  für  sagenhafte,    sondern   sogar   für  rein 
mythische  Namen  Glasgemälde  kirchlich  nachgestiftet,  wie  deren 


*)  In  Bd.  4,   S.  311  u.  319  der  handschriftl.  Helvet  Stemmatographie. 
**)  Heffner  von  Alleneck,  Handb.  der  Heraldik  I,  23. 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  jac 

eines  für  Wemher  Staufacher  und  dessen  Frau  Herlobig  in 
der  Kirche  zu  Art,  ein  anderes  für  Schrutan  Winkelried  in 
der  Abtei  zu  Engelberg  ist  oder  gewesen  ist.  Argovia,  Bd.  8, 
241.  Man  ist  aber  bei  derlei  antiquarischen  Spielereien  nicht 
stehen  geblieben;  denn  um  einen  unerweislichen  Personennamen, 
oder  eine  voraus  geglaubte  Thatsache  der  historischen  Ungewiss- 
heit  zu  entziehen,  hat  man  sich  auf  das  Gebiet  der  historischen 
Diplomatik  gewagt,  Urkunden  geschmiedet,  historische  Inschriften 
ersonnen  und  selbst  Kirchenbücher  in  Namen  und  Zahlen  ge- 
fälscht, Alles  dies  in  der  gewöhnlichen  Meinung,  ein  spiessbürger- 
licher  Eigendünkel  sei  auch  schon  Nationalstolz,  diesen  aber 
weiter  auszubreiten,  sei  ein  tugendhafter  und  patriotischer  Zweck, 
welcher  darum  die  gewählten  Mittel  des  Betruges  heilige. 

Fälle  solcher  Art  liegen  gerade  in  Bürglen  vor.  Denn  hier, 
als  am  angeblichen  Geburtsorte  Teils,  hatte  man  für  den  Namen 
und  die  Existenz  dieses  Helden  Documente  und  Monumente 
künstlich  geschaffen  und  sie  schon  seit  so  langer  Zeit  zur  amt- 
lichen Geltung  gebracht,  dass  zuletzt  sogar  noch  ein  Johannes 
von  Müller  sich  dadurch  eingeschüchtert  fühlte  und  mit  Unter- 
drückung seines  besseren  Wissens  über  Teil  bekannte:  Gewiss 
hat  dieser  Held  i.  J.  1307  gelebt  und  an  den  Orten,  wo  Gott  für 
das  Glück  seiner  Thaten  gedankt  wird,  solche  Unternehmungen 
wider  die  Unterdrücker  der  Waldstätte  gethan,  durch  die  dem 
Vaterland  Vortheil  erwachsen,  so  dass  er  das  dankbare  Andenken 
der  Nachkommen  verdient*).  Es  ist  darum  unerlässlich ,  die- 
jenigen Gewährsmänner  und  Schriftstücke  hier  vorzuführen,  auf 
welche  sich  die  genannte  Bürglener  Tradition  stützt,  und  da  weit- 
aus deren  meistes  Material  sich  an  die  Namen  zweier  Urner 
knüpft,  des  Johannes  Imhoff  und  des  K.  L.  Müller,  so  ist  zu- 
nächst von  diesen  Beiden  nun  die  Rede. 

Der  Berner  Pfarrer  Uriel  Freudenberger  hatte  über  die 
historischen  Schwächen  der  Tellengeschichte  einen  kleinen  Auf- 
satz verfasst  und  denselben  1752  durch  seine  Freunde  in  der  ka- 
tholischen Schweiz  dem  Urner  Pfarrvikar  Johannes  (alias  Joseph) 
Imhoff  zu  Schaddorf  in  die  Hand  spielen  lassen  unter  dem  gut- 
müthig  lautenden,  aber  ironisch  gemeinten  Ansinnen,  man  möge 
den  geschichtlich  unbewanderten  Opponenten  mittels  der  in  Uri 
So  reichlich    vorhandenen    Tellenurkunden    kurzweg   widerlegen. 


*)  Schweiz.  Gesch.  I,  644 — 45. 
Rochholz,  Teil  und  Gessler.  lO 


146  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Die  Intrigue  war  richtig  vorberechnet,  denn  die  erbetenen  Docu- 
mente  wären  wirklich  auch  in  Uri  so  wenig  vorhanden,  dass  Im- 
hoff  erst  sieben  Jahre  hernach,  am  30.  Mai  und  4.  Brachm.  1759, 
eine  Reihe  inzwischen  aufgesammelter  Schriftstücke*)  zu  über- 
senden vermochte,  welche  sich  auf  den  ersten  Blick  als  höchst 
abenteuerliche  und  erfolglose  Bagatellen  erwiesen.  Sogleich  auf 
diese  nichtigen  Papiere  hin  veröffentlichte  Freudenberger  anonym 
seine  französische  Broschüre:  Guillaume  Teil,  fable  Danoise. 
1760.  Sie  musste  ebenso  rasch  in  mehreren  Kantonen  obrigkeit- 
lich confiscirt,  verbrannt,  ja  durch  eben  dieselben  Männer  Bal- 
thasar und  Haller  öffentlich  widerlegt  werden,  durch  deren  Hand 
vorher  jener  Schriftenaustausch  nach  und  von  Uri  gegangen  war. 
Nun  aber  fielen  diese  neuesten  Apologeten  Teils  ernstlich  und 
zwangsweise  in  diejenige  Rolle  zurück,  welche  Freudenberger  vor- 
her nur  scherzhaft  gespielt  hätte,  denn  auch  sie  suchten,  um  die 
Fable  Danoise  zu  .widerlegen,  in  Uri  alsbald  weiter  nach  be- 
weisenden Documenten,  erhielten  solche  ebenfalls  zugeschickt, 
und  siehe,  dieselben  waren  nicht  weniger  Träume  und  Fälschungen, 
als  vorher  diejenigen  von  Imhoff  überschickten.  So  geschah  es 
namentlich  dem  gelehrten  Luzemer  Staatsmann  Felix  von  Bal- 
thasar in  seiner  Schrift  »Schutzschrift  für  Wilh.  Teil,«  Zürich 
1760**),  als  er  in  ihr  das  Zeugniss  der  Pseudo-Klingenberger- 
Chronik  anrief,  wie  folgt:  »Der  verstorbene  Herr  Landamman 
Püntener  (aus  Uri) .  hat  emsig  verschiedene  Archive  durchsucht, 
um  die  Beweise  für  das  Dasein  Teils  aufzufinden,  und  fand  unter 
Anderem  in  einer  alten  Klingenberger  Chronik  folgende  Worte: 
Wilhehnus  Tello,  Uraniensis  libertatis  propugnator,  cum  suis  li- 
beris  Guilielmo  et  Gvaltero^  natu  minima^  vixit  anno  isoy.  Ejus 
Stemma  nondum  extinctum  est,  Fuit  post  belli  quietem  Meyerus 
in  Burgla  ecclesice  Thuricensis  jure,  et  Walther o  (!)  Furstii  ab 
Attingkhusay  sui  antesignani,  gener  cegregius;  uterque  in  bello 
Morgartensi  anno  Jj/j'.***^/ 


*)  »Gründe  für  die  Wahrheit  der  Geschichte  dess  Wilh.  Teilen,  begleitet  mit 
15  Extracten  aus  Urkunden  der  Landesarchive.«  Auf  der  Berner  Stadtbibliothek 
bezeichnet:  Telliana  H.  II,  40. 

**)  Gleichzeitig  auch  in  französischer  Ausgabe  erschienen:  La  Defense  de 
Guül.  Teil. 

***)  Auf  deutsch:  Wilhelm  Teil,  der  Freiheit  Vertheidiger,  mit  seinen  Söhnen 
Wilhelm  und  Walther,  dem  jüngeren,  hat  im  Jahre  1307  gelebt.    Sein  Stamm  ist 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  \a*j 

So  viele  Angaben  diese  Stelle  macht,  eben  so  viele  Zeug- 
nisse plumper  Unwissenheit  trägt  sie  zur  Schau.  Allerdings  war 
das  Bürglener  Meieramt  ein  Lehen  der  Äbtissin  des  Zürcher 
Frauenmünsterstiftes ,  allein  sämmtliche  Züricher  Schriften,  die 
über  dieses  Bürglener  Patronatsrecht  handeln,  kennen  keinen 
Meier  Namens  Teil;  erstlich  einen  Meyerus  nicht,  weil  ein  sol- 
cher in  der  Amtssprache  des  Zürcherstiftes  stabil  und  ausschliess- 
lich villicus  betitelt  war;  und  sodann  einen  Teil  nicht,  da  dieser 
Personenname  selbst  in  den  vier  Archiven  und  in  sämmtlichen 
Ehe-,  Tauf-  und  Todtenbüchem  der  Urkantone  gleichfalls  mit 
keiner  Sylbe  zu  finden  ist.  Auch  müsste  obige  Textstelle  ^ec- 
clesÜB  thuricensiSy «  wenn  sie  echt  sein  sollte ,  zu  lauten  haben : 
Mo nasterium  abbatiae  thuricensis.  Kopp,  Geschichtsblätter  I, 
241.  »Besonders  ist  das  ejus  stemm a  nondum  extinctum 
est  im  Munde  eines  gleichzeitigen  Schriftstellers  ein  Widersinn 
und  weist  auf  eine  Zeit  hin,  wo  die  Urner  »Näll«  sich  »Täll« 
nannten,  aber  schon  dem  Aussterben  nahe  waren.«  A.  Huber, 
Die  Waldstätte  etc.,  S.  125.  Woher  aber  nahm  Püntener  diese 
an  Balthasar  überschickte  Lateinstelle?  Aus  der  Klingen- 
berger  Chronik,  behauptet  er;  dies  ist  unmöglich.  Das  Sammel- 
werk, dem  man  fälschlich  den  Namen  einer  Chronik  der  Thur- 
gauer  Edeln  von  Klingenberg  beigelegt  hat,  ist  nemlich  eine 
deutsche  Zürcher-Stadtchronik,  in  österreichischem  Partei-Inter- 
esse geschrieben,  kann  schon  aus  diesem  Grunde  einen  lobprei- 
senden Passus  auf  Wilh.  Teil  nicht  enthalten  und  nennt  auch, 
wie  der  von  Anton  Henne  besorgte  Abdruck  jetzt  bezeugt,  des 
Befreiers  Namen  nicht  ein  einziges  mal.  Püntener  muss  also  sein 
Citat  in  einer  ähnlich  beschaffenen,  auf  die  Klingenbergische  sich 
berufenden  Chronik  gefunden  haben,  und  dies  ist  diejenige  seines 
gleichnamigen  Ahnen  Johann  Püntiner  gewesen.  Letzterer,  der 
von  den  Jahren  1441  bis  1468  abwechselnd  als  Landesstatthalter 
und  als  Landammann  zu  Uri  in  der  Regierung  gestanden,  den 
alten  Zürichkrieg  mitgemacht  und  dabei  eine  Wunde  davon  ge- 
tragen   hatte,    war    Verfasser    einer    Chronica    miscella,    welche 


noch  nicht  erloschen.  Nachdem  der  Krieg  beigelegt  war,  wurde  er  Verwalter  zu 
Büiglen  für  die  Kirche  zu  Zürich,  und  berühmter  Tochtermann  von  Walther 
Fürst  von  Attinghausen,  seinem  Rottenführer.  Beide  haben  an  dem  Kriege  zu 
Morgarten  1315  theilgenommen.  —  Dieser  Satz  ist  zugleich  die  Quelle  jener 
Berichterstattung,  mit  welcher  die  oben  erwähnte  Pförtnerin  auf  der  Bürglener 
Thurmruine  die  fremden  Besucher  zu  empfangen  pflegte. 


lo* 


1^8  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

beim  Brande  des  Fleckens  Altorf  1799  ein  Raub  der  Flammen 
geworden  sein  soll.  Obschon  sie  nun  für  immer  verloren  ist, 
so  kennt  man  sie  doch  nach  ihrem  Inhalte  genugsam,  theils  durch 
alle  älteren  Chronisten,  welche  gemeinsam  aus  ihr  geschöpft 
haben,  ohne  sie  zu  nennen,  theils  durch  die  neueren  Greschicht- 
schreiber  der  drei  Länder,  denen  sie  noch  vorlag  und  welche 
Auszüge  daraus  geliefert  haben;  so  Schmid  von  Uri,  Fassbind 
von  Schwyz  und  Businger  von  Unterwaiden.  Sie  Alle  beweisen, 
dass  ihr  Original  eine  fabelhafte  Geschichte  der  Vor-  oder  Urzeit 
enthalten  hat  und  zwar  ganz  in  jenem  Alles  durcheinander  wür- 
felnden Mönchsgeschmacke,  in  welchem  die  altdeutschen  Welt- 
chroniken geschrieben  sind.  Püntiner  fuhrt  den  Ursprung  seiner 
Urner  auf  den  Gothenkönig  Alarich  zurück,  lässt  sie  Rom  er- 
obern und  ihre  Landespanner  daselbst  von  dem  Papste,  den  sie 
wieder  einsetzen,  zum  Lohne  empfangen*).  Dies  sei  i.  J.  398 
geschehen  und  stehe  in  der  Chronik  des  Klosters  Seedörf  (ein 
zunächst  dem  Flecken  Altorf  gelegenes  Klösterlein).  So  wurde, 
sagt  hierüber  Burckhardt  (im  Archiv  f  Schweizer -Geschichte, 
Bd.  IV)  durch  Schriften,  die  keine  Quelle  in  der  Volkssage  hatten, 
dem  Volke  eine  Erfindung  beigebracht,  die  dann  von  demselben 
erst  wieder  auf  seine  Weise  vervielfältigt  worden  ist.  Und  die 
Forscher,  die  sich  darauf  als  auf  wahre  Volkssage  verliessen, 
übersahen,  dass  jede  mündliche  Ueberlieferung ,  die  durch  viele 
Jahrhunderte  hindurch  etwas  berichten  soll,  immer  nur-  auf  ein- 
zelnen Begebenheiten  und  Umständen  gehaftet  und  niemals  auf 
eine  politisch  zusammenhängende  Geschichte  sich  ausgedehnt  hat. 
Teil  aber  wurde  ja  gerade  zum  Mittelpunkte  der  Unabhängig- 
keitsgeschichte gemacht. 

Wendet  man  sich  nun  auf  jene  ImhofTschen  Telliana  zurück 
und  fragt,  ob  auch  in  ihnen  eine  Kenntniss  der  von  Püntiner  auf- 
gestellten Teilen-Genealogie  enthalten  sei,  so  ist  zu  erwiedem, 
dieselben  verrathen  nicht  nur  ihre  Bekanntschaft  mit  der  vorhin 
citirten  Lateinstelle,  sondern  sie  kennen  dieselbe  bereits  in  deren 
Verwerthung  zu  einer  Reihe  von  urkundlichen  Fälschungen.  Im- 
hofF    meldet    nemlich:       Im     Todtenbuche    der    Kirchgemeinde 


*)  Als  Papst  Julius  II.  15 12  den  drei  Ländern  neue  geweihte  Panner  schenkte^ 
stand  auf  diesen  Fahnen,  zur  Bestätigung  obiger  Mythe,  wirklich  die  Jahreszahl 
398.  Als  ob  man  zu  jener  Zeit  schon  nach  den  Jahren  der  Geburt  Christi  ge- 
zählt hätte!     Archiv  f.  Schweiz.  Gesch,  IV,    75  ff. 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  14g 

Schaddorf  stehe  geschrieben :  Wilhelm  Teil,  Walter,  sein  jüngster 
Sohn;  Walter  de  Tello,  Cuni  sein  Sohn.  Femer  stehe  ebenso 
im  Todtenbuche  der  Kirchgemeinde  Attinghausen :  »Im  Jahre 
1675  ist  verschieden  Anna  Margaretha  Teil.  Im  Jahre  1684  ist 
verschieden  Joh.  Martin  Teil,  der  letzte  seines  Stammes,  ultimus 
stemmaHs*).€  Femer  sei  zu  lesen  in  der  Copia  libri  vitce  in 
AUorf  et  Seedorf,  anno  ijöo  renavati:  Familiarum  priscarum 
ejusdem gentis  liberae  conditionis  nomina:  Der  Fürst,  1307.  1315. 
Der  Teile,  1307. 

Alle  diese  so  keck  auftretenden  Angaben  hat  Kopp,  Gesch.- 
Blätter  I,  314  ff.,  als  freche  Täuschungen  aufgedeckt.  Die  aus 
dem  angeblichen  Seedorfer  Jahrzeitbuche  genannten  Namen  und 
Jahrzahlen  sind  dorten  nicht  enthalten  und  sind  weiter  nichts  als 
Auszüge  aus  der  Chronik  Tschudi's  unter  den  betreffenden  Jahren. 
Das  Schaddorfer  Todtenbuch  ist  heute  noch  vorhanden,  enthält 
nirgends  den  Namen  Teil,  zeigt  aber,  dass  der  Name  Walter  de 
Tello  aus  dem  Namen  Walter  .de  Trullo,  der  vorher  hier  an 
der  Stelle  stand,  umgeändert  worden  ist.  Dasselbe  Falsum  er- 
giebt  sich  im  Attinghausner  Todtenbuche,  wo  der  Name  eines 
Johann  Martin  Näll  von  1661  und  seiner  gleichnamigen  Töchter 
in  Teil  umgeschrieben  worden,  dagegen  der  von  Imhoff  behaup- 
tete Beisatz  nuUimus  stemmaüs^.  nicht  mit  enthalten  ist.  Diese 
Kopp'schen  Erweise  sind  in  den  Waldstätten  anerkannt  worden. 
Der  eifrigste  Forscher  daselbst  in  der  Teilen -Literatur,  Haupt- 
mann Karl  Leonhard  Müller  aus  Altorf,  hat  an  der  zu  Altorf 
1854  abgehaltenen  Versammlung  des  Fünfortischen  Geschichts- 
vereines in  einem  Vortrage  über  Kopps  einschlägige  Publicatio- 
nen  zugestanden,  dass  man  in  den  Kirchgemeinde-Registern  der 
ganzen  Thalschaft  dem  Namen  Teil  nirgend  begegne,  der  Vor- 
tragende habe  von  den  stattgehabten  Unterschiebungen  des  Na- 
mens Teil  an  Stelle  des  Namens  Näll  im  Attinghausner  Kirchen- 
buche sich  selbst  überzeugt**).  (Geschichtsfreund  XI,  pag.  VI. 
Rilliet,  Ursprung  der  Eidgen.,   übers,  v.  Bmnner,   S.    354.)     Der 


*)  Man  setzte  später  hinzu:  Der  weibliche  Stamm  sei  erst  um  1720  mit 
Verena  Teil  erloschen.     Meyer-Knonau,  Schweizer  Erdkunde  i,  310. 

**)  Mithin  bleibt  das  so  oft  bestrittene  Wort  Guillimanns  aus  Romont,  das  er 
am  27.  März  1607  brieflich  an  den  Historiker  Goldast  gerichtet  hatte  (in  der 
Sammlung  ist's  der  I43ste  Brief),  ein  vollkommen  berechtigtes:  Ipsi  Uranii  de 
€jus  (sc.  Wilh.  Tellii)  sede  non  conveniunt,  nee  familiam  aut  posteros  ejus 
ostendere  possunt,  cum  pleraeque  aliae  familiae  eorundem  temporum  supersint. 


|Co  I*    Der  Sagenkreis  von  TelL 

Ebengenannte  ist  Verfasser  einer  handschriftlichen  Sammlung 
der  über  Wilh.  Teil  handelnden  Traditionsquellen; 
diese  ausgedehnten,  mehrere  Abtheilungen  umfassenden  Akten 
haben  längere  Zeit  hindurch  uns  persönlich  vorgelegen  und  wir 
werden  die  aus  ihnen  geschöpften  Belege,  wo  wir  ihrer  hier  be- 
dürfen, stets  unter  dem  Namen  MüUeriana  citiren.  Schon  die 
nun  zunächst  in  Betracht  kommende  Urkunde  legt  uns  diese 
Pflicht  auf. 

Frz.  Vincenz  Schmid  hat  nemlich  in  seiner  AUgem.  Ge- 
schichte des  Freystaats  Uri  (Zug,  1788 — 90)  Th.  I,  S.  252,  erst- 
malig nachfolgendes  Urnerdecret  v.  J.  1387  producirt,  das  seither 
mehrfach,  namentlich  auch  durch  die  MüUeriana  kritisch  beleuchtet 
worden  ist  und  darum  auch  nach  deren  textueller  Wiedergabe 
hierher  gesetzt  wird. 

Im  Namen  Gottes,  Amen.  Wir  Ammann  und  eine  ganze 
Gemeinde  zu  Altorf  an  der  Gebreiten  versammelt,  haben  an- 
gesehen und  einander  ewiglich  uffgesatzt:  An  der  Kreutzfarte 
nach  Steina,  üseren  lieben  Eidgnossen  zu  Schwize-Gebiete,  so  in 
iren  höchsten  Nöten,  im  Jar  des  Herren  1307  zahlt,  üseren 
lieben  altvorderen  mit  ihnen  haben  geordnet  und  getan,  wie  bis- 
harre si  auch  ze  uns  nach  Bürgelen  kommen  sind;  und  aber  das 
mit  grossen  Kosten  lang  nit  bestan  möge  —  (so  haben  Wir  darum) 
geordnet,  ze  geben  den  üseren  einem  jeden  fünf  Plapert,  so  mit- 
geht, US  allen  Kilchhörinnen  üseres  Lands  zu  Ure ;  und  (verordnen) 
allweg  ze  genn  im  Monat  Maje  mit  dem  Helgen  Krütz  und  Bild- 
nuss  Sant  Kümmerniss  und  einem  Priester,  und  da  ze  opfern 
eine  Wachskerzen  jährlichen.  Auch  han  wir  angesehen  und  üs 
uffgesatzt,  ze  hän  eine  Predig  zu  Bürglen  an  dem  Orte,  wo 
Users  liebes  Landmanns,  ersten  widerbringers  der 
Freyheit,  Wilhelm  Teilen  hüs  ist,  ze  ewigem  Danke  Gotte 
und  sinem  Schütze  (Schutz).  Geben  ze  Ure  am  7.  Tag,  war's 
sontag  des  Monats  Maji,  im  jar  des  Herren  gezalt  ein  tusend  dri 
hundert  achtzig  und  darnach  im  siebenten  jare.  Vs  Gebotte  der 
Landlütten:  ich  Konrad  von  Unteröwen,  ir  Ammann  erwählt. 

Dieses  falsche  Urnerdecret,  das  schon  in  ImhofTs  Tellianis 
hatte  Aufnahme  finden  sollen,  befindet  sich  zwar  nicht  darin,  war 
aber  brieflich  voraus  angekündigt  gewesen  und  sollte  in  einer 
späteren  Sendung  nachfolgen.  Erstmalig  erschien  es  dann  in 
Schmids  Urnergeschichte ,  ohne  jede  Angabe  des  Fundortes. 
Gerade  diese  Verumständungen  erklären  uns  den  Ursprung  des 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  IJi 

DatumsfeMers,  an  dem  die  Urkunde  leidet.  Der  von  ihr  genannte 
Ausstellungstag:  »Sonntag,  7.  Mai  1387«  ist  nfemlich  kein  Sonn- 
tag, sondern  ein  Dienstag  gewesen.  Dagegen  fiel  der  Sonntag, 
als  der  Tag,  an  welchem  die  Landesgemeinden  abgehalten  werden, 
gerade  in  dem  damaligen  Jahre  1758,  da  Im  ho  ff  seine  Beweis- 
mittel sammelte,  allerdings  auf  den  7.  Mai,  und  ebenso  auch  im 
Jahre  1786,  als  zu  derjenigen  Zeit,  da  Schmid  am  ersten  Bande 
seiner  1788  erschienenen  Umergeschichte  arbeitete.  Die  versuchte 
Ausrede  also,  als  ob  jener  Datumsfehler  von  einem  Abschreiber 
herrühren  könne,  muss  gegenüber  den  Gründen,  warum  Schmid 
hier  falsch  rechnete,  verstummen.  Ein  anderes  positives  Zeichen 
der  Fälschung  ist  die  Phrase:  »Teil,  unser  liebe  Landmann  und 
erster  Wiederbringer  der  Freiheit;«  denn  hiemit  wird  eine  ur- 
sprüngliche Umer  Freiheit  vorausgesetzt,  welche  erst  durch  Teil 
wiedergebracht  worden  sei  (Schneller,  in  Russens  Chronik,  S.  63). 
Aber  auch  der  die  Urkunde  ausstellende  Umer  Ammann  von 
Unteröwen  (auch  Unteroyen  geschrieben)  ist  ein  ähnliches  Mär- 
chen. Denn  am  6.  März  1387  und  am  4.  Brachmonat  1388  ist 
Walther  der  Meier  von  Erstfelden  urkundlicher  Landammann  zu  Uri 
gewesen.  Geschichtsfreund  Bd.  8,  68;  und  Bd.  12,  29.  31.  Der 
Name  des  angeblichen  C.  von.Unteroyen  erscheint  niemals  in  den 
bezüglichen  Ammannslisten  und  ist  einzig  und  allein  aus  Tschudi 
(I,  541)  entlehnt,  der  ihn  hinwiederum  aus  der  dem  Klingenberg 
fälschlich  zugeschriebenen  Chronik  entlehnt  hat.  Diese  sagt  nem- 
lich:  »der  aidtgenossen  houptmann  ze  Wesen  hiess  Amman  von 
den  ouwi  ....  die  von  -Uri  die  iren  ammann  och  da  verloren 
hatten.«  Darauf  gestützt  berichtet  Tschudi,  was  keine  andere 
Quelle  vor  ihm  zu  sagen  weiss,  dass  Conrad  von  Unteroyen,  als 
der  Urner  Hauptmann  und  Vogt  zu  Wesen  im  Gaster,  dorten  bei 
dem  nächtlichen  Ueberfall  vom  22.  Februar  1388  sammt  der  Be- 
satzung niedergemacht  worden  sei.  Der  vom  Pseudo- Klingen- 
berger  genannte  Amman  von  den  Ouwi  war  für  Tschudi  un- 
passend, da  er  diesen  Personennamen  in  Uri  nicht  vorfand,  er  ver- 
drehte ihn  darum  in  Unteroyen,  weil  eine  Umer  Ortschaft  »undir 
Dien«  in  einer  Urkunde  vom  Q.Juni  1284  vorkommt.  G.  v.  Wyss, 
Abtei  Zürich,  Beil.  No.  287.  Rilliet,  Ursprung  u.  s.  w.,  S.  355. 
Die  zwingende  Gewalt  dieser  vorstehenden  Grüode  wird  von 
den  Apologeten  Teils  schmerzlich  empfunden.  Die  Mülleriana, 
pg.  48  sagen  hierüber:  »Wenn  diese  Urkunde  betreffs  des  Kreuz- 
ganges nach   Steinen,   vom  Jahre    1387,   unterschoben    sein   soll, 


j  c  2  ^*     I^«r  Sagenkreis  von  Teil. 

welche  die  einzige  ist,  die  des  Namens  Wilhelm  Teil  einmal  er- 
wähnt und  ihn  urkundlich  darstellt  als  den  Befreier  des  Vater- 
landes ;  wenn  Kunrad  von  Unteroyen  nie  Landaman  gewesen  sein 
sollte,  dann  wäre  durch  die  Wegräumung  dieses  Fundamentes 
unser  ganzer  Bau  in  Gefahr,  in  Trümmer  zu  zerfallen.« 

Doch  noch  ist  ein  Anhaltspunkt  übrig,  da  die  Urkunde  sich 
ja  auf  jenen  andern  Kreuzgang  beruft,  welchen  gleichzeitig  und 
alljährlich  die  Schwyzer  von  Steinen  aus  nach  Bürglen  zu  Teils 
Haus  zu  machen  angelobt  hatten.  Auch  sie  mussten  doch  ihre 
besonderen  wichtigen  Gründe  zu  einer  so  weiten  und  keineswegs 
gefahrlosen  Wallfahrt  über  den  Föhn-bestrichnen  Umersee  gehabt 
haben.  »Worin  also  mag  wohl  die  Wichtigkeit  bestanden  haben, 
welche  veranlasste,  zu  Teils  Wohnung  alljährlich  eine  Procession 
zu  thun  und  da  eine  Predigt  abhalten  zu  lassen?«  So  fragen  die 
Mülleriana,  Abthl.  2,  S.  18,  und  antworten  sogleich  darauf: 

»Etwa  weil  Teil  den  Landvogt  erschossen  ?  Schwerlich  1  denn 
des  Herrn  Gebot,  du  sollst  nicht  tödten,  war  den  Vätern  auch 
1 387,  im  Stiftungsjahre  der  Procession,  zu  wohl  bekannt,  sie  hatten 
zu  grossen  Abscheu  vor  Missethaten,  als  dass  sie  deswegen,  dem 
Teil  zu  Ehren  jährlich  eine  Predigt  zu  halten,  hätten  geloben 
können.  Hatten  sie  ja  doch  an  der  entscheidenden  Schlacht  zu 
Morgarten  und  bei  einem  übermächtigen  Feinde  jene  fünfzig  Ver- 
bannte nicht  unter  sich  mitkämpfen  lassen,  um  durch  deren  Misse- 
that  nicht  die  Ungunst  des  Himmels  auf  sich  selbst  herab  zu 
ziehen.  Deswegen  also  werden  die  frommen  Väter  dieses  Ge- 
löbniss  nicht  gemacht  haben,  nein!  Wohl  aber  darum,  weil  Teil 
beim  Apfelschusse  das  Allerhärteste  erduldet  hatte,  was  einem 
Vaterherzen  begegnen  kann,  und  weil  ihn  der  blosse  Gedanke  an 
das  durch  ihn  Vollbrachte  in  seinem  Innern  folterte  und  aufs 
Tiefste  schmerzte.  Deswegen  rief  er  nach  dem  Schusse  das  ge- 
fahrbringende Wort  aus :  Wenn  ich  mein  Kind  getroffen,  so  würde 
ich  den  Vogt  mit  diesem  andern  Pfeil  erschossen  haben  1  In  An- 
erkennung dieses  masslosen  Bedrängnisses  des  Vaters,  das  er  aus 
Liebe  zum  Vaterlande  und  dessen  Freiheit  erdulden  musste, 
konnten  die  versammelten  Männer  Uri's  einen  Kreuzgang  nach 
Teils  Wohnstätte  zu  Bürglen,  und  einen  zweiten  zur 
Kapelle  z)i  Steinen  in  Schwyz  beschliessen  und  abhalten. 
Denn  nicht  der  Mord  an  Gessler  war  es,  den  die  Urner  kirchlich 
feierten,  sondern  Teils  furchtbare  innere  Büssung,  nachdem  er 
den  Apfelschuss  vollzogen;  die  Leiden  seiner  Frau,  die  dieses  in 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  Ita 

ihrer  Mutterseele  miteräuldet  hatte;  seiner  Kinder  Hilflosigkeit, 
nachdem  der  Vogt  den  Vater  ausser  Landes  in's  Gefangniss  ent- 
führte. Wie  also  der  Apfelschuss  die  wahre  Ursache  an  Teils 
zweiter  Gefangennahme  gewesen  ist,  die  dann  erst  Gessler's  Tod 
veranlasste,  so  ist  er  auch  der  Anlass  für  die  Umer  geworden, 
das  Herzeleid  des  Vaters,  übernommen  und  erduldet  für  des 
ganzen  Landes  Freiheit,  durch  kirchliche  Bittgänge  zu  feiern. 
Denn  zum  Dank  für  eine  solche  Ausdauer  des  Vaterherzens  darf 
man  wohl  vor  Gott  betend  die  Hände  falten.« 

So  weit  diese  Stelle,  Sie  ist  mit  viel  Empfindung  und  noch 
reichlicher  mit  Moral  ausgestattet;  aber  darum  passt  sie  nun  um 
so  weniger  in  die  angehobene  kritische  Untersuchung  und  wird 
hier  durch  ihre  eigenen  Consequenzen  sofort  wieder  lahm  gelegt. 
Es  ist  an  das  scharfrichterliche  Wort  zu  erinnern,  das  Em.  von 
Haller  schon  i.  J.  1760*)  gegen  ähnliche  Declamationen  schrieb: 
iMoralischer  Seits  sei  keine  Ursache  sich  auf  einen  meuchel- 
mörderischen  Todtschläger  viel  einzubilden,  "der  mit  seinem  ver- 
wegenen Betragen  dem  ersten  heiligen  Bunde  der  Freiheit  leicht 
einen  fatalen  Stoss  hätte  geben  können.  Das  Gute  der  Folgen 
haben  wir  der  Weisheit  Gottes,  nicht  dem  Verbrechen  zu  ver- 
danken. Letzteres  zu  rechtfertigen,  müsse  man  dem  Moralsysteme 
des  Jesuitenordens  überlassen.« 

Kehren  wir  also  zu  der  hier  immer  noch  schwebenden  Frage 
zurück:  Was  veranlasste  die  Umer  Gemeinde  Bürglen,  hinab 
über  den  Waldstättersee  nach  Steinen  in  Schwyz,  und  was  die 
Schwyzer  Gemeinde  Steinen,  ebenso  hinauf  nach  Bürglen,   Beide 


♦)  (Balthasar's)  Schutzschrift  f.  W.  Teil.  Sammt  der  Vorrede  eines 
Ungenannten  (verfasst  von  Em.  v.  Haller),  Zürich  1760.  —  In  Jak.  Ruoffs 
zu  Zürich  1542  aufgeführtem  Teilen-Schauspiele  ruft  Gesslers  Knecht,  da  er  den 
Herrn  fallen  und  sterben  sieht;  »Wer  hat's  thon?  Gewüss  kein  Biderman!« 
—  In  Pfannenschmid's  Schrift,  Der  myth.  Gehalt  der  Tellsage,  heisst  es  S.  20: 
Die  Tödtung  des  Tyrannen  bleibt,  nach  der  Schilderung  der  Sage,  stets  ein  Mord, 
ja  sogar  ein  recht  feiger.  Teil  mordet  aus  Rache.  Von  Blutrache  kann  man 
hiebei  nicht  reden,  weil  ja  das  Kind  nicht  getroffen  wird.  Wäre  diese  That  über- 
haupt je  vorgekommen,  sie  würde  im  Sinne  des  Mittelalters  gewiss  als  eine 
schwarze,  strafwürdige  gebrandmarkt  worden  sein,  gewiss  ihre  Sühne  gefunden 
haben.  Das  Gehässige,  das  ihr  anklebt,  hat  selbst  im  neunzehnten  Jahrhtmdert 
der  gepriesene  Dichter  des  Teil  nicht  zu  überwinden  vermocht.  —  G,  Waitz,  in 
den  Götting.  Gel.  Anz.  1857,  II,  S.  742:  Ich  meine,  die  Geschichte  verliert  nichts, 
wenn  die  Freiheit  eines  Volkes  nicht  auf  eine  That  privater  Rache  eines  Einzelnen 
zurückgeführt  wird. 


ItA  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

alljährlich  und  am  gleichen  Tage,  in  Kirchenprocession  zu  gehen? 
Man  antwortet,  die  Urner  kamen  in  die  Kapelle  nach  Steinen  als 
in  Werner  Staufachers,  und  die  Schwyzer  ebenso  nach  Bürglen 
gegangen,  als  in  Teils  ehemaliges  Wohnhaus.  Keineswegs!  denn 
eine  altkatholische  Kirchfahrt  kennt  nur  kirchlich  anerkannte  Ziele, 
keine  politischen.  Beide  Gemeinden  mussten  darum  zwei  gleich- 
organisirte  kirchliche  Bruderschaften  sein,  die  sich  deshalb  an 
ihrem  gemeinsamen  Stiftungstage  gegenseitig  bewallfahrteten  und 
hiebei  hatten  sie  denn  weder  dem  Teil,  noch  dem  Staufacher, 
sondern  ihrem  gemeinschaftlichen  Schutzpatron  ihre  Andacht  zu 
weihen,  nemlich  dem  in  ihren  beiderseitigen  Kapellen  aufgestellten 
Holzbilde  der  heiligen  Prinzessin  Kümmerniss.  Gar  zu  lächer- 
lich I  wird  man  vielleicht  sagen;  freilich  lächerlich,  aber  wahrt  ' 
antworten  wir.  Oder  verordnet  es  nicht  schon  jenes  falsche  Ur- 
nerdecret  von  1387,  dass  jeglicher  Urner  zu  jener  Sanct  Kümimer- 
niss  in  Steinen  jährlich  eine  Kreuzfahrt  mache  und  dorten  opfere,, 
weil  die  Leute  dorten  in  Steinen  »wie  bishare  auch  ze  uns  nach 
Bürgelen  komen  sind?« 

Freilich  sagt  uns  der  Umer  Geschichtschreiber  Schmid  nicht,, 
wie  er  in  Besitz  der  producirten  Urkunde  gelängte,  und  sie  steht 
auch  sonst  nirgends  als  nur  in  seinem  Buche.  Dennoch  lässt  sich 
seine  Quelle  nachweisen  und  damit  gelangt  man  auch  zur  Be- 
stimmung des  wirklichen  Alters  der  Urkunde.  Sie  gehört  erst 
der  Mitte  des  siebenzehnten  Jahrhunderts  an  und  ist  veranlasst 
durch  den  katholischen  Polemiker  Caspar  Lang.  Dieser  gebome 
Zuger,  gestorben  1692  als  Pfarrer  und  Dekan  in  thurgauisch 
Frauenfeld,  hatte  in  seinem  Foliowerke  »Historisch -theologischer 
Grundriss  der  etc.  Christlich  Catholischen  Helvetia,f  Einsiedeln 
1692,  der  Kreuzfahrt  zur  hl.  Kümmerniss  in  Steinen  denselben 
politischen  Entstehungsgrund  gegeben,  welchen  und  wie  Schmid 
ihn  meldet;  nur  weiss  Lang  noch  nichts  von  jenem  Urner-Lands- 
gemeindebeschluss,  sondern  erzählt  statt  dessen  folgende  Bei- 
fügung: Als  Staufacher  1307  sich  nach  Uri  begeben,  um  sich 
mit  seinen  Vertrauten  daselbst  heimlich  gegen  Gessler  zu  be- 
rathen,  habe  seine  Heimatsgemeinde  Steinen,  um  dieser  Berathung 
den  Schutz  der  Heiligen  zu  erflehen,  zu  derselben  Zeit  von  der 
Kümmerniss-Kapelle  in  Steinen  aus  eine  allgemeine  Kreuzfahrt 
nach  Uri  unternommen  zu  dem  andern  in  der  dortigen  Bürglener 
Kapelle  verehrten  Kümmernissbilde  (Lang  I,  S.  780,  No.  12;  und 
S.  786,  No.  18).     Lang',  der  sonst  seine  Quellen  immer  anfuhrt, 


j 


8.    Geschichte  der  jdrei  Teilskapellen.  irr 

hat  hier  keine  zu  nennen;  gleichwohl  stimmen  er  und  Schmid  im 
Wortlaute  ihrer  Erzählung  überein.  Schmids  Urkunde  betont: 
>Die  höchsten  Nöthen  unsrer  lieben  Vorfahren,«  Lang  ebenso: 
»Die  schweren  Trangsale  der  lieben  Altvorderen.«  Aus  diesen 
verrätherischen  Umständen  hat  schon  Rilliet*)  den  Schluss  ge- 
zogen, dass  Lang  hier  das  Original  für  das  von  Schmid  fabricirte 
Landsgemeinde-Decret  gewesen  ist.  Woher  schöpfte  nun  Lang? 
Antwort:  aus  der  spanischen  Wilgefortis-  oder  Kümmemiss  -  Le- 
gende, welche  zu  seiner  Zeit  bereits  in  officiellem  Druck  erschie- 
nen und  durch  die  von  den  Jesuiten  Ad.  Walasser  und  Pet.  Cani- 
sius  gefertigten  Martyrologien  in  weite  Verbreitung  gesetzt  ge- 
wesen war.  Auf  die  Frage  um  den  Inhalt  der  Kümmemiss- 
legende  und  wie  dieselbe  in  den  Kapellen  zu  Steinen  und  Bürglen 
localisirt  worden  ist  (auch  noch  an  anderen  Orten  der  damaligen 
Schweiz),  wird  von  uns  nicht  hier,  sondern  im  Gesslerischen 
Sagenkreise  und  zwar  im  Abschnitte:  Staufachers  Haus  zu 
Steinen,  des  Näheren  eingetreten.  Hier  ist  nur  noch  aus  den  Ur- 
kunden zu  zeigen,  dass  die  Bürglener  Tellskapelle  und  deren 
amtlich  veranlasste  Bewallfahrtung  erst  mit!  dem  Ende  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  in  Schwang  gekommen  ist,  und  damit  hat 
alsdann  die  angehobene  Beweisführung  ihr  vorgestecktes  Ziel  er- 
reicht. 

Die  Bürglener  Kapelle  ist  1582  gestiftet  und  erbaut,  am 
IG.  Mai  1584  eingeweiht  worden  in  honore  SS,  Sebastiani  Mar- 
tyriSf  Wilhelmi  et  Rochi  confessorum.  Geschichtsfr.  XX,  93.  Unter 
den  hier  nachfolgenden  hievon  handelnden  Urkunden  sind  die 
ersten  drei  Nummern  MüUeriana  (Erster  Anhang,  pag.  13  ff.),  die 
übrigen  nennen  ihre  weiteren  Quellen  besonders. 

Stiftungsurkunde.  In  dem  Jahr,  als  man  zahlt  von  der 
Geburt  Christi  Jesu  1582  Jahr,  duo  hat  Peter  Gissler,  der  Zeit 
Landsfendrich  zu  Uri,  und  Hans  Schärer,  Alt  Landvegt  zu  Livinen, 
diesere  Kapellen  gebüwen  und  mit  isenen  Gätteren  verschlossen 
in  ihren  Kosten.  Und  hat  Frauw  Anna  Im  Ried  den  Platz  dazu 
geschenkt,  und  Meister  Franz  Sermund,  der  Glockengieser  von 
Bären,  hat  dieses  Glögli  in  diesere  Kapellen  geschenkt;  und  sind 
diese  gemelte  Personen  Stifter  und  Anfänger  dieser  Kapellen  gsin, 
so  sich  nämbt  des  Wilhelm  Teilen  Kapellen.     Und   das  ist  ge- 


*)  Les  Origines  de  la  Conf^d^tion   Suisse  etc.    Seconde  Edition.     Gen^ve 
1869,  pag.  397. 


ie6  ^*    I^er  Sigenkreis  von  Teil. 

schächen  Gott  dem  Allmächtigen  zu  Lob,  und  Maria,  der  reinen 
Magd  und  Mutter  Gottes,  zuo  Ehren,  und  des  frommen  Land- 
manns Wilhelm  Teilen,  des  ersten  Eidgenossen,  zuo  einer  Ge- 
dächnuss,  der  dann  auf  diserem  Platz,  daruf  dise  Kapellen  ge- 
bouwen  ist,  sin  Hus  hat  gehan  und  mit  Wib  und  kinderen  da 
sässhaft  gsin  ist;  und  auch  zuo  einer  Erinnerung  allen  frommen 
Eidgenossen,  die  wollen  zuo  Herzen  füehren,  wie  wir  so  unter 
einem  schwären  joch  der  Tyrannen  warent  und  aber 
durch  die  Gütigkeit  Gottes  und  durch  das  Mittel  des  Wilhelm 
Teilen  zuo  einer  hochberüemten  und  auch  ruhwigen  F;yheit  kom- 
men sind;  und  dass  ein  jeder  flissig  betracht  Tag  und  Nacht, 
dass  wir  die  Gaben  Gottes  nit  verschitten  und  die  köstlig  Fryheit 
und  gut  Lob,  so  wir  von  üsern  frommen  Eltern  empfangen, 
widerum  üseren  Kinderen  und  Nachkommen  mögen  verlassen  und 
sie  sich  deren  mögen  geniessen.  Amen,  1582.  Landsfahndrich 
Gissler. 

Hernach  stand  die  Zügen  (festes)  der  Gloggen  dieser  Ka- 
pellen. Pannerherr  Sebast.  Heinr.  Kuon  hat  gän  Gl.  6;  Vogt 
Heinr.  Troger  Gl.  2;  Fähndrich  Heinr.  Schintler  Gl.  8,  10  Dohler;  , 
Heinr.  Fürst  Gl.  9.  Witer  hant  andere,  die  nit  Zügen  sint  gsin,  j 
ze  hilf  und  Stü'r  an  disere  Kapellen  gewänt :  ^Altlandamman  Peter 
von  Pro  Gl.  2,  4  Seh. ;  Vogt  Werner  Käss  Gl.  7 ,  28  Seh. ;  Vogt 
Balliser  im  Ebnet  Gl.  20;  Heinr.  Mart.  Imhof  Gl.  4. 

Diser  Glögli  in  Wilhelm  Teilen -Capellen  wigt  86  Pfd.,  ist 
durch  den  geistl.  Ehrw.  Hr.  Dächan  Heinrich  Heil,  Kilchherr  zu 
Altorf,  geweiht  worden  in  der  Ehr  der  hl.  göttl.  Dryfaltigkeit  und 
Sant  Wilhelmus  und  alles  himmlischen  Heers. 

Stiftung  hlr.  Messen.  Und  wann  dan  Hr.  Mathias  Käss 
sich  der  lobl.  Fryheit,  so  durch  den  frommen  Wilhelm  Teilen 
erhalten  worden,  auch  voUenz  des  türen  Schweiss  und  Bluts,  so 
üsere  Altfordem  zu  Erhaltung  derselben  vergossen,  dadurch  wir 
sämmtliche  dise  geliebte  Friheit  besitzen  thünd,  und  aber  dero 
wenig  durch  uns  gedenkt  wird:  derohalben  zuo  Trost  und  Heil 
deroselben  an  diese  Kapelle  vertestamentirt  hat  Guldi  tusend, 
daraus  zu  vierzähen  Tagen  Im  eine  hl.  Messe  gehalten  werden 
soll  und  da  denne  dem  Priester,  so  solche  Messen  lesen  wird,  für 
jede  Schillig  30  geben  werden  solle.  Und  soll  auch  an  der 
Kirchweihung,  an  S.  Wilhelms  Tag  und  an  S.  Sebastian  und  S. 
Rochus,  und  an  den  Jahrziten  dem  Priester,  so  das  Amt  hat,  auch 


j 


I  8.    Geschichte  der  drei ,  Tellskapellen.  icy 

I  Schillige  30  geben  werden,  und  dem  Sigrist  Schillig  10.  Iri  festo 
5.  Wilkehni,  die  10  Febrario  ao,  1S92.     Landschreiber  Gissler. 

Dass  diese  Copia  dem  Original  durchaus  gleich  laute,  bescheint 
i  Job.  Seb.  Ant.  Wipfli,  d.  Z.  Pfarrer  in  Bürglen.  —  Dass  dieses 
von  dem  Original  in  Trüwen  abcopirt  und  demselben  gleichlaute, 
bescheine,  25.  August  1754:  Joh.  Franz  Seb.  Crivelli,  zu  Uri 
Landschreiber. 

1593,  »Dem  Alexander  Brüntz  von  Orieltz  wurde  vfferlegt 
von  der  Landgenieind  zuo  Betzlingen,  an  des  Tällen  Cappell  zu 
geben  vnd  hat  zalt  Gl.  200. c  Auszüge  aus  einem  handschriftl.  Land- 
leutenbuche  von  Uri,  abgedruckt  im  Geschichtsfreund,  Bd.  27, 
S.  270. 

Uff  Pfingstmontag  ao.  161 1  hat  Hr.  Landshauptmann  Pet. 
Gissler,  Ritter,  dem  Kilchenvogt  Hans  Stadler,  dem  Hn.  Vogt 
Töpfer  und  den  Käthen  zu  Bürglen  (für  die  Kapelle),  so  er  Herr 
Landsfahndrich  Schärer  het  buwen  lassen  in  der  Ehr  St.  Wil- 
helmi,  ze  Gedächniss  des  ersten  Eidgnossen  Wilh.  Teilen,  geben 
bis  dato  Gl.  50,  38  Seh.,  2  H.  Beschächen  in  Bywäsen  Hrn. 
Pfarherr  Joh.  Melchier  Zukäss,   Sextari.  —  Landschriber  Gissler. 

Wir  unterschriebene  bezügen,  dass  diese  Copia  der  alten  Ur- 
kunde zu  Bürglen  durchaus  gleich  laute:  Jodoc  Ant.  Christen, 
Prespiter;  Jos.  Seb.  Ant.  Wipflin,  Parochus  in  Bürglen;  Jos.  Al- 
phons  Imhof,  Curatus  in  Silenen.  —  Vidimirt  in  Bürglen,  24.  Au- 
gust 1754. 

165s,  22.  Mai  beschliesst  die  Obrigkeit  des  Landes  Schwyz, 
der  Kirchgang  Steinen  solle  für  seinen  Kreuzgang  nach  Bürglen 
einen  Beitrag  aus  dem  Landesseckel  erhalten,  und  wurden  für 
den  betreffenden  Jahrgang  ip/a  Gl.  zugesprochen.  —  Dettling, 
Schwyzerische  Chronik  (1860)  S.  179. 

1792.  Jos.  Thom.  Fassbind  verfasste  »Geistliche  Alterthümer 
des  Landes  Schwyz«  (Handschrift  der  Aargau.  Kant.-Bibliothek, 
hier  bezeichnet:  Nova,  43  folio)  und  arbeitete  daran  laut  seiner 
eigenhändigen  Notiz  (tom.  II,  pag.  iS9b)  »bis  auf  gegenwärtiges 
Jahr  1792.«  Er  giebt  darin,  tom.  II,  pag.  141,  eine  Beschreibung 
der  Kreuzgänge,  wie  sie  zu  seiner  Zeit  nach  Bürglen  und  Steinen 
stattfanden  und  schreibt,  wie  nun  nachfolgt. 

Von  Kreuzgängen  nach  Steina.  Es  geschechen  wirk- 
lich noch  ansehnliche  öffentliche  Jährliche  Kreuzgäng  zu  der  ur^ 
alten  St.  Jacobs-Kirch  und  Kilchhöri  Steina,  als  Erstens  uon  denen 
von  Vri  auss  dem  Kirchgang  Bürglen,   uon  oberkeits  wegen,  in^ 


icg  I,  Der  Sagenkreis  von  TeU. 

dem  die  Hochheit  zu  uri  die  Wahlfarter  bestellt  und  belohnt, 
einen  Rathsherr  mitschikt.  Die  kommen  also  nacher  Steinen  mit 
einer  zweipfündigen  opferkerzen  und  mit  der  bildnuss  der  ge" 
kreuzigten  hl.  Jungfrawen  Wilgefordis  oder  Kümmernuss, 
und  halten  da  eine  Anred.  Dann  die  bittfahrt  ist  in  Nöthen  der 
Eignossenschafft  1307  aufkommen  [Fassbind  streicht  letzteres 
Wort  aufkommen  hier  wieder  durch  und  ergänzt  am  Rande: 
»laut  urkund  jm  archiv  zu  uri  de  anno  1387,  ist  1387  Sie  auf 
immer  festgesezt  worden.«],  und  wird  wechselseitig  entrichtet  im 
Maj,  massen  die  uon  Steina  auch  nacher  Bürglen  auf  gleiche 
weis  wahlfarthen  gehn.  Dessgleichen  kommt  das  gotzhus  Ein- 
sidlen  auch  jährlich  im  Majen  mit  Kreuz  und  fahnen  und  3  prie- 
Stern  und  bringen  auch  Ihre  gekreuzigte  Jungfraw  Wilgefordis, 
aber  in  Silber,  mit.  Worauss  auf  die  Ehmalige  achtbarkeit  disses 
uralten  Kirchgangs  zu  schliessen  ist.  Seith  undenklichen  Zeit 
befindt  sich  da  (zu  Steinen)  ein  hölzenes  Kreuz,  daran  die  bild- 
nuss der  hl.  Jungfraw  und  Martirin  Wilgefordis,  Kümmernuss 
insgemein  genent,  mit  einem  langen  bart,  hanget,  ganz  gleich 
dero  zu  Bürglen  und  Einsidlen,  deren  sich  die  Steiner  in  Ihren 
Kreüzgängen  bedienen.  Die  Steiner  tragen  gar  grosse  andacht  zu  disser 
bildnuss  und  war  lange  Zeit  mitten  der  Kirch  ob  dem  Kleineren 
altar  aufgestelt  und  heisset  in  Ihren  alten  Schrifften  das  hl.  Bild. 
Und  hat  sich  einsmals  gar  wunderlich  zugetragen,  dass  als  man 
eines  Jahrs  die  Bittfahrt  nach  Bürglen  unterlassen,  dise  bildnuss 
durch  übernatürliche  KrafFt  uon  da  wegkommen  und  morgendess 
zu  Bürglen  in  der  Kirch  gefunden  worden.  Worauf  die  Bittfahrt 
neuerdings  und  mehrerem  Eifer  wider  uor  genohmen  und  bis  auf 
heutigen  Tag  fortgesetzt  wird,  ita  Lang  in  seinem  Grundriss, 
und  die  Tradition. 

Die  sogenannte  Tellskapelle  zu  Bürgein  in  Uri,  sowie  die 
Staufacherskapelle  zu  Steinen  in  Schwyz  waren  und  sind  also 
Kümmernisskapellen. 

Quod  erat  demonstrandum! 


{ 


8.  Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  ICq 

2.    Die  Kapelle  auf  der  Tellenplatte  und  die 

Sprungsage. 

Im  siebenten  Decennium  des  15.  Jahrhunderts  wird  die  durch 
Teils  Wagesprung  seither  namhafte  Tellenplatte  als  solche  zum 
erstemnale  von  einer  Schweizerchronik  genannt,  vom  Weissen 
Buche.  Hierauf  währt  es  genau  ein  weiteres  Jahrhundert,  bis  die 
drei  Chronisten  Russ,  Etterlin  und  Tschudi  auf  einander  gefolgt 
sind  und  die  gleiche  Locahradition  berichtet  haben.  Keine  dieser 
vier  Chroniken  kennt  und  nennt  die  auf  der  Platte  dem  Teil  er- 
baute und  bewallfahrtete  Kapelle;  dies  thun  erst  etliche  zweifel- 
hafte Schriftstücke  seit  und  aus  dem  17.  Jahrhundert.  Darum  stellen 
wir  im  Folgenden  die  Chronisten  als  die  älteren  Gewährsmänner 
wie  billig  voran  und  werden  sie  dabei  untereinander  selbst  und 
über  jene  Schriftstücke  mit  gutem  Erfolge  abhören. 

Die  kleine  Chronik  des  Weissen  Buches  ist  vom  Obwaldner 
Landschreiber  Schälly  zwischen  1467  — 1480  zusammengetragen 
und  von  G.  v.  Wyss  1856  in  einem  Sonderabdrucke,  nach  welchem 
wir  citieren,  veröffentlicht  worden.  Auf  S.  9  wird  Teils  Seefahrt 
und  Rettungssprung  erzählt :  du  der  Tall  kam  untz  (bis)  an  die 
ze  Teilen  blatten,  du  ruft  er  sy  (die  SchifTsgenossen)  all  an 
und  sprach,  das  sy  all  vast  (an  den  Rudern)  zügen;  kämen  sy 
für  die  blatten  hin,  so  betten  sie  das  böss  überkon  (überstanden). 
Also  zugen  sy  all  vast  (angestrengt),  und  du  jnn  dücht,  das  Er 
zu  der  Blatten  komen  möchti,  du  swang  er  den  Nawen  (Nauen) 
2u  hinn  und  namm  sin  schieszüg  und  sprang  üs  dem  Nawen  üf 
die  blatten  und  stiess  den  Nawen  von  jmm  und  Hess  sy  swangken 
a  dem  se,  und  luf  dur  die  berg  üs,  so  er  vastest  mocht,  und  luf 
dur  Switz  hinn  schattenhalb  (nordwärts)  dur  die  berg  üs  untz 
gan  Küsnach  jn  die  holen  gass,  dar  was  er  vor  dem  her- 
ren  (»dem  lantvogt  gesler«).  Und  als  sy  kämen  Riten,  du  stund 
er  hinter  einer  stüden  und  spien  sin  armbrest  und  schoss  ein 
pfyl  in  den  herren  und  luff  wider  hinder  sich  jnhinn  gan  Ure. 

Melchior  Russ,  der  Jüngere,  Gerichtschreiber  zu  Luzem,  be- 
gann seine  Chronik  am  i.  Weinmonat  als  am  Leodegarsabend 
1482,  setzte  sie  bis  in's  Jahr  1488  fort  und  verfasste  das  Vorwort 
dazu  zwischen  1501 — 15 13;  denn  in  dieser  Zueignungschrift  an 
die  Räthe  Luzerns  werden  die  Städte  Basel  und  Schaff  hausen  als 
Glieder  »des  grossen  Bundes«    betitelt,   ohne  dass   das  erst  151 3 


l6o  I-     ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

in  diesen  eidgenössischen  Bund  aufgenommene  Land  Appenzell 
gleichfalls  hier  mitgenannt  ist.  Dies  sei  nur  gesagt,  um  der 
Chronik  Alter  richtiger  zu  bestimmen,  als  bis  jetzt  geschehen  ist. 
Etwa  vier  Fünftel  des  ganzen  Werkes  sind  aus  der  um  60  Jahre 
älteren  Bemer  Stadtchronik  justingers  blindlings  abgeschrieben. 
Bezüglich  der  Teilensage  beruft  Russ  sich  auf  ein  ihm  bekannt 
gewesenes  Lied,  theilt  es  aber  mit  keiner  Silbe  mit.  Der  Schuss 
auf  den  Landvogt,  letzterer  bleibt  durchaus  ohne  Namen,  ge- 
schieht schon  auf  dem  Umersee  unmittelbar  von  der  Platte  aus^ 
Die  bezügliche  Stelle,  hier  abgekürzt  folgend,  lautet: 

Als  sy  nun  uff  den  sew  koment,  als  villicht  ouch  gott  wolte, 
do  kam  semlich  ungestümkeytt  von  winden,  das  jung  und  alt^ 
wib  und  kindt,  mit  kläglicher  nott  zu  gott  und  den  helgen  schrü- 
wen.  Und  wan  nun  wilhelm  thell  ein  boumstarcker  man  für 
ander  man,  so  jm  schiff  warent,  was  und  ouch  mit  faren  vast 
wol  (umgehen)  kondt,  und  also  mochtent  die,  so  jm  schiff  warent,. 
das  schiff  nit  gehebenn  und  ruftent  alle  den  landvogt  an,  das  man 
Wilhelm  Teilen  ledig  liesze.  Und  wan  nun  der  landvogt  sin  leben 
ouch  gern  behalten  hette,  da  sprach  er  zu  jm:  möchtest  und  ge- 
trüwest  uns  zum  landt  zu  schalten  (stossen),  so  wolte  er  jn  ledig 
laszen.  Da  antwurte  jm  Wilhelm  thell ,  Er  wollte  sy  mit  gottz 
hilff  wol  zu  landt  füren,  wan  er  dan  frist  und  sicherheytt  gehaben 
möchte.  Also  liesz  man  jn  ledig.  Da  für  er  in  maszen  und- so 
manlich,  das  er  mit  gottz  hilff  zu  einer  blatten  kam.  Da  schal- 
teth  er  das  schiff  binden  zu  der  blatten,  die  selb  blatt  heysz 
noch  hüt  by  tag  wilhelm  Teilen  blatt,  und  nam  sin  arm- 
brest,  so  binden  uff  dem  bort  lag,  und  sprang  uff  die  blat- 
ten, und  spien  uff  unerschosz  den  landvogt.  Unn 
mochtent  sy  vor  groszer  ungstümigkeytt  das  schiff  nit  wider  zu  der 
blatten,  noch  an  das  lanndt  pringen.  (Vgl.  Ausg.  von  Jos.  Sfchneller 
1834,  und  Wurstemberger  im  Schweiz.  Gesch.-Forscher,  Bd.  X,  1838. 

Petermann  Etterlin,  Gerichtschriber  zu  Luzern,  »Houptmann 
in  den  Kriegen  wider  Herzog  Karly  von  Burgund« ,-  lässt  seine 
»Kronika«  zu  Basel  1507  in  Druck  gehen.  Die  Teilenbegebenheit 
schreibt  er  aus  dem  Weissen  Buche  aus,  nur  dass  er  deren  Aus- 
drucksweise  wörtlich  überbietet  und  aus  dem  Vogtsnamen  Gesler 
einen  Grissler  macht*).     Von  der  Platten,  die  er  an  den  Axen- 

*)  Noch  im  Jahre  1768  wurde  dieser  Name  Gryssler,  als  der  des  von  Teil 
erschossenen  Vogtes,  an  der  Inschrift  der  Küssnacher  Tellenkapelle  neu  an- 
gebracht. 


8.    Geschichte  der  drei ' Tellskapellen.  l5l 

berg  situirt,  sagt  er  emphatisch:  die  man  sydhar.allwegen  und 
noch  hüt  by  tag  Tellenblatten  nennet.  Der  bei  Küssnach  in 
der  Hohlen  Gasse  lauernde  Schütze  verbirgt  sich  da  hinter  einem 
iposchenstüden  und  hört  allerley  anschlegen,  so  über  jn  gien- 
gent.  Mit  diesem  Beisatze  wird  der  Meuchelmord  entschuldigt, 
und  dieses  gleiche  Motiv  erborgt  und  erweitert  dann  auch 
Tschudi. 

Diese  drei  Chronisten  stehen  hier  wörtlich  ausgezogen,  um 
aus  ihrem  Munde  das  Zeugniss  zu  haben,  dass  sie  zu  ihrer  ^eit 
von  einer  auf  der  Tellenplatte  gestandenen  Kapelle  noch  nichts 
wissen.  Von  ihr  redet  erst  Tschudi,  f  1572,  obschon  er  sonst 
alle  übrigen  Einzelheiten  der  Tellensage  dem  Weissen  Buche  und 
dem  Etterlin  treulich  nacherzählt.  Bei  ihm  heisst  es  von  dem 
entspringenden  Teil:  und  wie  Er  kam  nah  zu  einer  Blatten,  die 
sidhar  den  Namen  des  Teilen  Blatten  behalten  und  ein 
Heilig-Hüsslin  dahin  gebüwen  ist,  etc.  Dieser  Umstand 
gab  Eut.  Kopp  Anlass  zu  folgenden  Schlüssen: 

»Tschudi  kennt  die  Benennung  Kapelle  sonst  in  seinen 
Schriften  wohl:  Chronik  i,  155  b,  i6oa.  Soll  ihm  dieses  soge- 
nannte Heilig  Hüsslin  eben  dasselbe  bedeuten,  was  eine 
bischöflich  geweihte  Kapelle  ist,  in  der  ordentlicher  Gottesdienst 
mit  Predigt  gehalten  und  zu  welcher  Bittgang  und  Procession 
vorgenommen  werden  konnte?  Und  wofern  die  Kreuzfahrt 
am  See  schon  zu  Tschudi's  Zeit  in  Uebung  war,  warum  sollte 
er  bei  dem  Anlasse,  da  er  das  Heilig  Hüsslin  erwähnt,  gerade 
die  Bitt fahrt  als  minder  erheblich  verschwiegen  haben?  Dem- 
nach dürfte  sich  wohl  der  Schluss  nicht  abweisen  lassen,  dass  auf 
der  sogenannten  Tellenplatte  vor  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  noch 
keine  Kapelle  gestanden  habe.  Und  findet  sich  in  ganz  Uri  kein 
Landmann,  der  den  Namen  Teil  trug,  so  bricht  auch  die  mäch- 
tigste Stütze  der  Behauptung  zusammen,  dass  auf  diesen  Namen 
die  sogenannte  Tellenfahrt  der  Urner  zur  Platte  im  See  unter- 
nommen worden  sei.«     Gesch.-Blätter  i,  317;  2,  326. 

Gegen  so  kühne  Folgerungen  rücken  nun  die  Umer  mit  einer 
Reihe  von  Urkunden  heraus,  aus  denen  das  Wichtigstscheinende 
hier  abermals  zur  Untersuchung  vorgelegt  werden  muss.  Vorzu- 
bemerken  ist  i)  dass  alle  diese  Schriftstücke  zu  denjenigen  ge- 
hören, die  der  Urner  Pfarrvicar  Joh.  Imhoff  unterm  30.  Mai  und 
4.  Brachmonat  1759  an  Em.  v.  Haller  in  Bern  übersendet  hatte 
und  die  seitdem  auf  der  Berner  Stadt-Bibliothek  unter  dem  Namen 

R  o  ch  h  o  1  z ,  Teil  und  Gessler.  1 1 


l62  !•   Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Telliana,  H.H.  4p,  deponirt  sind ;  2)  dass  dieselben  abschriftlich 
auch  in  jenen  Sammlungen  des  AI  torfer  Hauptmanns  R.  L.  Müller 
niit  enthalten  sind,  welche  wir  mit  »MüUeriana«  bezeichnet  haben. 

Für  das  Alter  der  Plattenkapelle  führt  man  ein  Zeugniss  an, 
welches  Hans  Zumbrunnen,  der  1469  Umer  Landammann  und  1481 
auf  dem  Stansertage  Gesandter  gewesen  war,  hinterlassen  haben 
soll,'  folgenden  Wortlautes : 

»Ich  habe  in  einer  alten  Schrift  in  dem  Jahre  1460  gefunden, 
dass  die  E r  p k a pe  1 1  e  *),  bei  Wilhelm  Tellensprung  am  See,  buwen 
worden  zu  ewigem  Dank  und  Gedechniss,  von  einer  Lands  ge- 
meinde befolchen,  im  Jar  ein  tusend  drihundert  achtzig  und  dar- 
nach im  achten  Jar,  darby  über  114  Mann  gesin,  die  den  Teil 
gekänt  hän.  Hans  Zumbrunnen,  Ammann  anno  1469.«  —  Dass 
diese  Copia  dem  Original  durchaus  gleich  laute,  das  bezeugen 
wir :  eher.  Jauch,  Josepf  Andreas  von  Mentlen  und  ich  Jos.  Ant. 
Arnold  von  Spiringen,   1760  zu  Uri  geschwomer  Landschreiber. 

Auf  die  Frage,  warum  weder  Tschudi,  der  doch  das  Urner 
Landesarchiv  untersucht  und  benutzt  hatte,  noch  alle  auf  ihn  fol- 
genden Historijcer  von  dieser  Urkunde  etwas  wissen  konnten,  ist 
zu  antworten,  wieil  dieselbe  erst  1759  von  dem  vorgenannten  Pfr. 
Imhoflf  an*s  Tageslicht  gebracht  wurde,  worauf  dann  sogleich  1760 
F.  V.  Balthasar  zuerst  sich  auf  sie  berief  in  seiner  »Vertheidigung 
des  W.  Teil«,  S.  23.  Das  Schriftstück  ist  längst  als  eine  Aben- 
teuerlichkeit verurtheilt.  Jene  114  Mann,  welche  auf  der  Lands- 
gemeinde des  Jahres  1388  für  die  persönlichen  Bekannten  des 
Teil  sich  ausgaben,  der  1315  als  noch  am  Leben  letztmalig  ge- 
nannt wird  (Püntiner);  wie  alt  wären  sie  denn  damals  zusammen 
gewesen  1  Und  sodann  der  hier  begegnende  Name  Erpkapelle, 
hebt  er  nicht  den  so  eifrig  verfochtenen  Namen  Tellskapelle  ge- 
radezu auf?  »Die  ganze  urkundliche  Aussage  ist  völlig  unmoti- 
viert; entweder  hat  Teil  etwas  Bedeutendes  für  seine  Landsleute 
gethan,  dann  wird  er  in  der  dankbaren  Erinnerung  des  Volkes 
fortgelebt  haben:  oder  er  hat  das  nicht,  und  dann  war  ein  amt- 
liches Zeugniss,  ihn  gekannt  zu  haben,  eben  so  überflüssig,  weil 
das  Land  kein  Interesse   daran  hatte.     Die  ganze   amtliche  Aus- 


*)  Der  Personenname  Erp  leitet  ab  vom  altdeutschen  Arbo  und  Aribo ;  die 
letztere  Namensform  findet  sich  in  Förstemanns  Namensbuch;  ein  Erb  erscheint 
auch  in  den  Zunftrodeln  der  Stadt  Zofingen  vom  Jahre  1500,  der  gleiche  Name 
wird  von  einem  im  Aargau  noch  bestehenden  Geschlechte  getragen. 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  163 

« 

sage  sieht  gerade  so  aus,  als  wenn  sie  Jemand  gemacht  hätte, 
um  die  Zweifel  an  der  Existenz  des  Teil,  die  sich  besonders  im 
vorigen  Jahrhundert  erhoben,  niederzuschlagen.«  Alf.  Huber,  die 
Waldstätte,  Insbruck  i86i,  S.  126.  —  Betrachten  wir  nun  das 
über  die  Bittfahrt  handelnde  Schriftstück. 

Im  Anniversarienbuch  der  Pfarrei  Altorf  steht  fol.  28  nach- 
folgende Notiz  eingeschrieben: 

Ao.  Dm.  1582  haben  Gemeine  Kilchgenossen  zu  Altorff  ver- 
ordnet das  jahrzeit,  wofern  man  des  wetters  halben  zu  dess  Tei- 
len Capellen  nit  fahren  mag,  zu  halten  jährlichen  in  der  Pfahr- 
kirch  am  freytag  nach  der  Auffarth  unseres  Herren  oder 
am  ..... 

Die  hier  scheinbar  ausgefallene  Stelle  hat  alsdann  Megnet, 
1646  Kirchenvogt  daselbst,  folgender  Massen  dazu  eingetragen: 

Sunst  (man)  beim  Teilen  selbenn  tags  dort,  wie  vor  altem 
har,  mit  3  hl.  Ambteren  und  predig  haltet;  ist  ein  feurtag.biss 
man  heimkombt  vom  Teilen.  Da  fart  man  von  Flüelen,  Bauwen 
und  den  umbligenden  orten  mit  betten  zum  Teil  und  der  gross 
nauwen  von  Altorff  mit  Creutz  und  fahnen  in  oberkeitlichen 
Kosten,  da  man  ordinarie  von  der  fryheit  die  predig  haltet  und 
Gott  dankh  sagt.  — 

Bezeugt  ao.   1646  Kilchenvogt  Megnet  in  Altorf. 

Am  Jahrzeit  wird  verlesen :  Also  heut  haltet  man  das  Jahr- 
zeit unser  lieben  ersten  Eidgnossen  zu  Ehr  der  heiligen  Dreifaltig- 
keit, zu  Trost  und  Heil  derer  Seelen  und  welche  ihr  Leben  für's 
Vaterland  und  hochgelobten  Freyheit  dargegeben.  So  gedenket 
dann  um  Gotteswillen  Walter  Fürsten  von  Ättinghusen,  Wilhelm 
Teilen  von  Bürglen,  Werni  Stauffacher  von  Schwiz,  Erni  aus  dem 
Melchthal,  was  des  alten  Heini  an  der  Halten  Sohn;  Kuonrad 
vom  Baumgarten  Nid  dem  Wald;  Werner  Fryherr  von  Ätting- 
husen ze  Ure,  Landammann ;  W^alter  von  Spiringen,  Hans  Imhof, 
Uli  von  Gruba,  Ei...  N.  von  Rudenz  von  Underwalden. 

(Nach  dieser  Formel,  zu  Ende  der  Festpredigt  gesprochen, 
folgt  der  Segen  über  Menschen,  Thiere  und  Land,  sowie  die 
Wegsegnung  und  Wegbeschwörung  alles  Schädlichen,  also  be- 
gimiend :)  Zu  Ehren  der  heiligen  Dreieinigkeit,  erkennend,  dass  ein 
jegliches  geistige,  thierische  oder  leblose  Geschöpf  aus  dieser 
erschaffenden  Dreieinigkeit  sein  Dasein  habe  und  seine  Beschaffen- 
heit, und  dass  von  Ihr  über  alle  Dinge  gewaltet  werde,   wie  der 

heilige  Augustin  besagt  Von  der  wahren  Religion,  u.  s.  w. 

II» 


iQa  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

So  weit  reichen  die  anzuführenden  Schriftstücke.  Ihren  ver- 
schiedenen  Bestimmungen  ist  zu  entnehmen,  dass  die  Fahrt  zur 
Teilenplatte  seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert  bestand,  eine 
obrigkeitlich  angeordnete  Betfahrt  war  und  je  am  Kreuzfreitag,, 
d.  i.  am  Freitag  nach  der  Auffahrt,  statt  hatte.  Die  Woche- 
aber,  in  die  des  He/ren  Auffahrt  fällt  (meist  im  Mai;  nur  wenn 
Ostern  am  23. — 25.  April  fällt,  ist  sie  im  Brachmonat),  wird 
schon  von  der  altchristlichen  Kirche  als  Bitt-  oder  Kreuzwoche 
(Rogatianum)  gefeiert,  um  in  der  gefährlichsten  Zeit  der  Frühlings- 
fröste durch  Bittgänge  über  die  Felder  für  diese  des  Himmels 
Schutz  zu  erflehen.  Es  finden  darum  an  demselben  Kreuzfreitage 
zu  Uri  an  dreierlei  Orten  solche  seit  Langem  daselbst  festgesetzte 
Processionen  statt.  Die  Landsgemeinde  zu  BezHngen  beschloss 
1566  eine  solche  Kreuzfahrt  auf  einen  Tag  im  ganzen  Lande 
abzuhalten  »um  Erlangung  fruchtbaren  Wetters,  Bewahrung  vor 
Feuersnoth  und  vorab  dess  Fönen  wegen.«  Das  Schachdorfer- 
Jahrzeitbuch  bestimmt  den  Kreuzfreitag  zu  feiern:  zur  Behütung^ 
der  Bucheckern  und  anderer  Früchte  vor  Hagel  und  Ungewitter. 
Das  Kirchenbuch  von  Silinen  will,  dass  man  ihn  begehe  in  einem 
Bittzuge  mit  Kreuz  und  Fahne  zu  unsrer  lieben  Frauen,  gegen 
Ungewitter  und  Hagel.  Kopp,  Gesch.-Bl.  i,  318.  Dass  also  das 
Urnerland  auf  den  gleichen  Kreuzfreitag  einen  allgemeinen  Bitt- 
gang anordnete,  ist  nicht  verwunderlich,  sondern  nur,  wie  aus  dem 
altkatholischen  Bittgange  allmählich  die  sogenannte  Tellenfahrt  am 
See  sich  herausbildete.  Die  f^rklärung  hierüber  kann  nicht  schwer 
fallen.  Die  Procession  zu  Schiffe  wird  als  landschaftlicher  Brauch 
hier  gewiss  sehr  alt  sein  können,  den  positiven  Namen  aber  als 
eines  geschichtlichen  Erinnerungsfestes  an  Teil  hat  man  ihr  eben 
so  gewiss  erst  seit  der  Zeit  beigelegt,  welcher  die  mitgetheilten 
Schriftstücke  angehören.  Altkirchliche  Processionen  zu  Schiffe 
kennt  die  Schweiz,  die  so  manchen  stark  umwohnten  See  zählt, 
seit  frühesten  Zeiten  und  zwar  mit  dem  beurkundeten  Zwecke, 
die  den  Seeanwohnern,  der  Laien-  und  Priesterschaft,  unentbehr- 
liche »Fischweide«,  als  eine  örtliche  Nahrungsquelle,  rituell  ein- 
segnen zu  lassen.  Gerade  bei  der  fast  noch  ungemischt  katholischen 
Bevölkerung  am  Waldstättersee  haben  sich  daher  zwei  solcher 
Schiffprocessionen  fort  erhalten,  die  am  Seehaupt  in  Uri,  und  die 
am  See-Ende  in  Luzern.  Letztere  ist  die  berühmte  Museggfahrt, 
urkundlich  seit  dem  Jahre  1252  auf  Unsrer  Lieben  Frauen  Abend 
im  März  angesetzt.    Alljährlich  umfahrt  sie  ausserh^ilb  der  Brücken 


j 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  165 

«der  Stadt  den  See  in  Hunderten  von  Kähnen,  und  wie  da,  laut 
Stiftungsbriefe,  jedem  daran  theilnehmenden  Priester  und  zugleich 
allen  Armen  und  Kranken  der  Stadt  sonst  Fische  ausgetheilt 
werden  mussten,  so  erhalten  sie  heute  noch  nach  fünfhundert  Jahren 
»das  Fischgeld«  ausgetheilt.  Cas.  Pfyffer,  Der  Kant.  Luzem  i, 
.322.  Diese  Fischweiden  also  sind  wirklich  jene  »Felder  am  See«, 
deren  Vorhandensein  bei  Altorf  und  deren  kirchliche  Einsegnung 
noch  neulich  ein  katholischer 'Geschichtsforscher  *)  so  befremdlich 
hat  finden  wollen.     Auch  am   benachbarten  Zugersee  wird  noch 

I  eine  ähnliche  Schiffprocession  jährlich  abgehalten.  Seit  wann  aber 
die  Urnerische  den  historischen  Namen  Tellenfahrt  angenommen 
hat,   dies   erhellt  aus  zwei  sie  begleitenden  geschichtlichen  Um- 

i  ständen  ebenfalls,  welche  zusammen  den  Jahren  1581  bis  1583 
angehören.  Denn  binnen  dieser  Frist  sind  die  Urner  Tellendenk- 
mäler  zu  Altorf,  Bürglen  und  auf  der  Platte  der  Reihe  nach 
restaurirt  oder  auch  erbaut  worden  und  ist  zugleich  die  Abhaltung 
-der  Festpredigt  auf  der  Platte  dem  Altorfer  Kapuzinerorden  aus- 
schliesslich übergeben  worden.  Diese  Angaben  sind  der  Gresch. 
des  Kantons  Uri  von  Dr.  K.  Franz  Lusser  zu  entnehmen,  Ausg.  v. 
1862,  S.  250. 

1582  beschloss  Uri,  die  schon  seit  1561  angeordnete  alljähr- 
liche Kreuzfahrt  zur  Tellenplatte  mit  grösserer  Feierlichkeit 
und  mit  Zuziehung  der  öffentlichen  Beamten  in  deren  Amtstracht 
zu  begehen.  In  eben  diesem  Jahre  wurde  in  Bürglen,  auf  der 
Stelle,  wo  Teils  Wohnung  gestanden  haben  soll,  eine  Kapelle 
erbaut,  weil  jene  daselbst,  wo  der  Sage  zufolge  schon  im  Jahre 
1387  gepredigt  worden  sein  soll,  inzwischen  baufällig  geworden 
war.  1583  wurde  dann  in  Altorf,  ungefähr  an  der  Stelle,  von 
welcher  aus  Teil  den  Pfeil  nach  dem  Apfel  abschoss,  ein  steinerner 
Brunnen  erbaut  und  mit  des  Schützen  Bildsäule  verziert. 
Dies  alles  meldet  Lusser;  die  Beisätzchen,  mit  denen  er  die  so 
jungen  Denkmäler  antikisiren  möchte,  brauchen  uns  hier  nicht 
aufzuhalten.  Der  Umstand  aber,  dass  gerade  die  Kapuziner,  die 
nicht  vor  dem  Jahre  1581  nach  Altorf  gekommen  sind,  seit  dieser 


*)  Dr.  Hidber,  in  der  Allg.  Augsb.  Ztg.  1860,  Beil.  No.  201.  Was  konnte 
öas  allbekannte  Fest  der  Republik  Venedig,  wobei  der  Doge  sich  mit  dem  Meere 
vermählte,  ursprünglich  anderes  gewesen  sein,  als  eine  kirchliche  Einsegnung  des 
Meeres,  der  Speise-  und  Vorrathskammer  jener  Lagunenstadt.  In  der  Gruftkirche 
2u  München  wurde  alljährlich  ein  Goldring  geweiht  und  in  den  Wallersee,  gegen 
dessen  Ausbruch  geworfen.     Panzer,  Baier.  Sag.  i,  No.  28. 


l66  !•     I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

Zeit  bis  heute  ausschliesslich  die  Festpredigt  auf  der  Platte  zu 
halten  haben,  ist  ein  sehr  durchsichtiger  und  wird,  von  Eut.  Kopp 
zu  folgenden  Schlüssen  verwerthet.  Wenn,  sagt  er,  diese  Fest- 
predigt stets  von  einem  der  Kapuziner  aus  Altorf  gehalten  wird,, 
so  muss  man  fragen,  warum  die  Pfarrgeistlichkeit  von  Uri,  wofern 
die  Bittfahrt  zu  Ehren  ihres  Landsmannes  Teil  schon 
vor  Einführung  der  Kapuziner  stattgefunden  hätte, 
diese  Ehrenpredigt  sich  habe  aus  den  Händen  reissen  lassen  zu 
Gunsten  eines  ursprünglich  fremden  Ordens.  Wurden  also  Kreuz- 
fahrt und  »Ehren-Predigt«  an  der  Platten  seit  der  Ansiedlung 
der  Kapuziner  in  Uri  aufgenommen  und  angeordnet,  so  wäre  diese 
Fahrt  kein  gewichtiges  Zeugniss  mehr  fiir  eine  historische  Begeben- 
heit aus  dem  Anfang  des  vierzehnten  Jahrhunderts.  So  Kopp- 
Somit  ist  man  nun  der  Fabeln  ledig,  mit  denen  die  freie  Aussicht 
hat  verbaut  werden  sollen,  und  es  bleibt  nur  noch  der  eine  Grund 
anzugeben,  warum  die  Altorfer  Festfahrt  gerade  nach  der  Platte 
geschehen  und  gerade  dieserhalben  auf  Teil  ausschliesslich  bezogen' 
worden  ist.  Der  Grund  liegt  in  der  eben  dorten  localisirten 
Sprungsage. 

Der  von  Dämonen  bekämpfte  Gott,  der  von  der  Feinde  Ueberzahl : 
bedrängte  Held,  der  von  den  Heiden  zum  Tod  bestimmte  Heilige  oder 
Bekehrte  entschwingt  sich  den  Verfolgern  durch  einen  Wundersprung 
und  lässt  auf  der  Erde ,  wo  er  eben  noch  gestanden,  seine  Fuss- 
spuren  zurück.  Ganze  Landstriche,  wie  die  Inseln  Ceylon  und  Sar- 
dinien (diese  hiess  daher  Sandaliotis)  galten  als  Fussstapfen  Got- 
tes ;  das  Ueberspringen  der  Meerenge  auf  Rhodus  war  ein  antikes 
Sprichwort.  Oder  wo  Phaethon,  Ikarus  und  Vulkan  vom  Himmel 
gestürzt  kamen,  da  wurde  Berg,  Thal  und  Fluss  nach  ihnen 
benannt.  Glaukos-Pontios  war  ein  Fischer  gewesen,  in^s  Meer 
gesprungen  und  wurde  in  der  Böotischen  Stadt  Anthedon  als 
Gott  verehrt;  dorten  am  Meeresufer  hiess  eine  Stelle  Glaukos^ 
Sprung.  Die  Fischer  nannten  ihn  ihren  Stammvater,  und  bei 
grossem  Sturme  war  es  sprichwörtlich  zu  rufen:  Heraus,  Glaukos I 
Welcker,  Griech.  Götterlehre  i,  646 — 648.  Der  Raubritter 
Eppelein  von  Geilingen  in  Franken  befehdet  die  Stadt  Nürnbergs 
wird  gefangen  und  auf  dortiger  Burg  gethürmt;  doch  sobald  er  dorten 
sein  Leibross  bekommt,  setzt  er  vom  Walle  aus  über  den  ganzen 
Burggraben,  so  dass  seitdem  daselbst  die  Hufspuren  in  den  Mauern 
des  Wallgrabens  zu  sehen  sind.  Alsbald  hernach  sind  ihm  auch 
die  Würzburger  auf  der  Ferse.    Ohne  Ausweg  vor  der  Ueberzahl^ 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  167 

erreicht  er  zu  Rosse  einen  letzten  Felsen  am  Mainufer,  setzt  hinab 
und  gewinnt  das  jenseitige  Ufer.  An  der  Stelle,  wo  Mann  und 
Ross  unverletzt  landeten,  wurde  ein  Kreuz  in  den  Stein  gehauen ; 
der  Dichter  Lorichius  von  Hadamar  hat  den  Ort  besucht  und  in 
seinem  Hodoeporicon  besungen;  da  heisst  es!      ^ 

Dass  im  Strome  der  Zeit  solch  Wagniss  nimmer  verrausche, 
Gruben  sie  dort  in  den  Stein  sorgsam  ein  mahnendes  Kreuz. 

Achtung    wurde    dem     Felsen     und    ungeahnte    Ver- 
ehrung, 
Und  es  verlautet:   Ein  Gott  wohn^  in  der  rettenden  Fluth.*) 

Nun  mögen  einige  verwandte  Züge  aus  der  Kirchenlegende 
nachfolgen. 

Verfolgt  von  Seeräubern,  sprangen  heilige  Jungfrauen  aus 
dem  Schiffe  in's  Meer  und  tanzten  so  lange  auf  den  Wellen,  bis 
ein  Felsen  heraus  getanzt  war,  um  welchen  nachmals  die  Insel 
Helgoland  (das  Heiligland)  entstanden.  Der  Frauen  Fussspuren, 
in  den  Boden  gedrückt,  waren  daselbst  so  lange  zu  sehen,  bis 
das  Stück  Land  wieder  vom  Meere  weggespült  wurde.  MüUenhoff, 
Schlesw .-Holstein.  Sag.  128.  Zur  Zeit  einer  den  Christen  geltenden 
»Durchächtung«  entkam  die  heilige  Aurelia  dadurch  den  heidnischen 
Nachstellungen,  dass  sie  von  Fussach  aus,  eine  Meile  vom  Boden- 
see entfernt,  in  Einem  Schritte  bis  zur  Stadt  Lindau  schritt. 
Hievon  trägt  Fussach  selbst  den  Namen,  und  Lindau  weist  der 
Heiligen  Fussspur  in  zwei  Klippen  auf,  welche  beim  dortigen 
Eisenbahndamm  aus  dem  See  ragen.  Die  Folgezeit  hat  dieselben 
die  Hexensteine  genannt,  eine  Hexe  habe  ihre  beiden  Fusssohlen 
drein  getreten,  als  sie  von  hier  aus,  in  Einem  Satze  den  See 
überschreitend,  an's  Schweizerufer  hinüber  gieng.  Sebast.  Münster, 
Cosmographey  (Basel,  1567),  S.  788.  Schöppner,  Baier.  Sagenb. 
2,  S.  30.  Aehnlichlautendes  gilt  in  Unterwaiden.  Hier  thut  von 
der  Balm-Kapelle  am  Bürgenberge  hinweg  bis  zur  Brücke  am 
Rotzloch  (über  zwanzig  Minuten  weit)  die  Pfaffenkellnerin  (Priester- 
Concubine)  einen  Sprung  und  lässt  im  Brückenstein  die  Spur  von 


*)  Incola,  quo  factum  hoc  aliqua  ratione  notaret, 
In  saxo  pinxit  signa  videnda  crucis. 
Nunc  honor  accedit  quaedam  et  reverentia  rupi, 
Hocque  loco  fluvii  creditur  esse  deus. 
Alex.  Kaufmann,    Nachträge   zu   den   Quellen -Angaben    zu   den  Rhein-   und 
Mainsagen.     1870,  25.  —  Reuss,  im  Anzeiger  des  Gennan.  Museums  1854,  No.  10. 


l68  !•     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Geissfiissen  zurück.  Lütolf,  Fünfort.  Sag.,  35.  Bei  Hinter-Iberg, 
im  schwyzer  Muotathal,  liegt  am  Wege  ein  grosser  Stein  mit 
vielen  Vertiefungen  auf  der  Oberfläche ;  der  heilige  Sigmund  hat 
einst  zu  Pferde  vom  Hochgebirge  herunter,  ohne  Schaden  zu 
nehmen,  den  Sprung  auf  diesen  Felsen  ausgeführt.  Meyer-Knonau, 
Beschreib,  des  Kt.  Schwyz,  287.  St.  Mangs  Fusstritt  wird  in  den 
Glarner  Alpen  hergezeigt,  und  an  den  Bergwänden  im  Bündner- 
Pusclav  ebenso  des  heiligen  Remigius  Fussspuren;  die  Redensart 
far  un  salto  dt  S.  Rometlo,  bezeichnet  dorten  einen  Riesensprung. 
Fernere  einschlägige  Legendenzüge  stehen  zu  lesen:  Argovia 
III,  62flF. 

Woher  die  Anhäufung  solcher  bis  in  die  altdeutsche  Kirchen- 
geschichte hinein  sich  erstreckenden  heidnischen  Sagen  ?  Offenbar 
aus  dem  Respecte  der  Germanen  vor  der  Kunst  des  bei  ihnen 
so  sehr  gepriesnen  und  geübten  Weitsprunges.  Der  Heide  trug 
diese  Kunst  auf  alles  für  göttlich  Gehaltene  über.  Als  der 
angelsächsische  Dichter  Cynewulf  (um  das  Jahr  1006)  das  Leben 
Jesu  paraphrasirte,  bereitete  er  die  Erzählung  von  der  Himmelfahrt 
damit  vor,  dass  er  Jesum  erst  sechs  Wundersprünge  thun  lässt, 
deren  letzter  dann  der  zum  Himmel  zurückführende  ist.  Haupt, 
Ztschr.  9,'l  203.  Und  so  hat  denn  die  spätere  Kirche  die  im 
Steine  des  Qelbergs  seit  der  Himmelfahrt  zurückgelassenen  Fuss- 
spuren Christi  an  gar  vielerlei  Orten  trümmerweise  hergezeigt 
und  verehrt. 

Nun  wenden  wir  uns  zur  Tellenplatte  zurück,  deren  Local- 
sage  in  ihfem  früheren  Bestände  gleichfalls  den  jetzt  vergessenen 
Charakter  des  Riesenhaften  an  sich  getragen  hatte.  Teil,  erzählte 
man  vormals,  vermochte  Uebermenschliches  vermöge  seiner 
Zauberkünste  zu  leisten  (vgl.  unser  Kapitel:  Teil  als  Zauber- 
schütze). Beim  Sprunge  auf  die  Platte  nahm  er  nicht  bloss 
Köcher  und  Armbrust,  sondern  auch  zugleich  sein  Söhnlein  mit 
hinüber.  Diese  Behauptung  findet  sich  schon  bei  Loriti  Glareanus, 
dem  Lehrer  Tschudi's ;  und  steht  in  Glareans  1 5 19  in  zweiter  Auflage 
erschienenen,  von  dem  Luzerner  Osw.  Mykonius  commentierten  und 
den  regierenden  Kantonen  dedicierten  Gedichte :  Descriptio  de  situ 
Helvetiae  (Basel,  bei  Joh.  Froben,  40),  pag.  14.  Nachdem  hier 
erzählt  ist,  wie  die  Leute  im  Schiffe  den  Anordnungen  Teils 
gehorchen  und  nun  die  Platte  in  Sicht  kommt,  heisst  es :  Parent^ 
raditur  saxum.  Gulielmus,  filiolo,  arcu  et  teils  acceptis  (kaec 
omnia  navi  cum  eo  fuerant  iniecta) ,  in  hoc  ipsum  repentino  saltu 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  169 

infertur  et  pedibus  puppim  qüantis  potest  viribus  in  altutn  pro- 
adcat. 

Man  möchte  diese  Stelle  vielleicht  für  einen  persönlichen 
Einfall  des  Dichters  und  seines  Commentators  halten;  allein  sie  findet 
sich  auch  in  einer  handschriftlichen  Chronik  des  Klosters  Muri,*) 
die  um  ein  ganzes  Jahrhundert  später,  da  sie  mit  dem  Jahre  1607 
abschliesst.  Hier  lautet  die  Erzählung  also :  »Ettliche  schribend, 
das  sein  kind  auch  bey  ihm  sey  gsein,  dasselbig  habe  er  sampt 
dem  schiesszüg  erwütscht  vnd  (sei)  vss  dem  schiff  gesprungen.  Er 
yhlte  den  stotzigen  berg  durch  wiltnus  vnd  gestüd,  kam  erstlich 
vfF  Morsach,  da  hatte  er  ein  hassen,  deren  befilcht  er  sein 
kind,  darnach  gienge  vnd  stiege  er  vber  alle  rüche  vngleitsame 
wäg  witer,  biss  zur  Holengassen,  dardurch  der  Landvogt  ritten 
müest.c 

Wirft  man  uns  ein,  dass  die  bisher  angeführten  Sagen-Parallelen 
nur  der  Tellischen  Wasserfahrt  und  dem  Sprunge  auf  den  Felsen 
entsprechen,  nichts  aber  von  den  dazu  gehörenden  andern  Sagen- 
theilen  enthalten :  der  Stange  mit  dem  Hute,  dem  Meisterschusse, 
der  Tödtung  des  Tyrannen  —  so  weiss  die  nordische  Wilkina- 
und  Niflunga-Sage  auch  hierauf  zu  antworten ;  denn  sie  vertheilt 
die  Schuss-  und  die  Sprungsage  auf  die  an  Nidungs  Königshofe 
gefangen  gehaltenen  Heldenbrüder  Eigil  und  Wieland.  Während 
der  erstere  den  Apfelschuss  thut,  schwingt  Wieland  in  seinem 
magischen  Fluggewande  sich  über  die  Schlossmauern  in  die  Freiheit. 
Wo  aber,  fragt  man,  bleibt  da  der  Hut  auf  der  Stange?  Dieser 
hat  sich  in  die  schwedische  Volkssage  von  König  Erich,  f  833,  verirrt, 
steht  heute  noch  in  Schweden  aufgepflanzt,  und  sogar  ein  Devotions- 
brauch knüpft  dorten  sich  an  ihn.  Eine  schroffe  Klippe  nemlich 
im  Mälarsee,  im  Fahrwasser  zwischen  Stockholm  und  Strengnaes 
gelegen,  heisst  der  Königshut  (Kungshatt)  und  ist  mit  einem  auf 
hoher  Eisenstange  befestigten  Kupferhute  geschmückt.  Die  unter 
dem  Volke  gangbare  Sage  erzählt:  König  Erik  Emundsson, 
mit  dem  Beinamen  Wetterhut,  sei  bis  auf  diese  Klippe  hinaus 
verfolgt  worden,  habe  mit  dem  Rosse  in  die  Fluth  gesetzt,  sich  ge- 
rettet,' darüber  aber  den  Hut  verloren.  Seitdem  herrscht  die  Schiffer- 
Sitte,  dass  der  zum  ersten  male  an  dieser  Klippe  Vorbeifahrende 
den  eignen  Hut  ziehen  und  das  Haupt  entblössen  muss.  So  die 
Schiffersage.     Die  Kirchenlegende  dagegen  bezieht  jenen  Kupfer- 


*)  Auf  der  Aargauer  Kantons-Bibliothek  bezeichnet:  Ms.  Bibl.  Mur.  No.   61. 


ITO  !•    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

hut  auf  Olaf  den  Heiligen ,   der  hier  den  seinigen  auf  der  Flucht 
vor  dem  Feinde  verloren  habe.     Afzelius,  Schwed.  Sag.  i,  297. 

Es  giebt  also  ausser  der  Tellenplatte  noch  immer  eine  Zahl 
ähnlicher  und  namhafter  Sprungplatten,  denen  zugleich  ein  heid- 
nischer, oder  ein  christlicher,  oder  sogar  ein  nationeller  Cultus 
anhaftet.  Theils  tragen  sie  die  Zeichen  kirchlicher  Weihe :  Helgo- 
land entsteht  durch  heilige  Jungfrauen ;  der  Eppelins-Sprung  trägt 
ein  Kreuz  eingehauen.  Theils  haben  auf  ihnen  die  missstalteten 
Füsse  der  hier  wirksam  gewesenen  Dämonen,  Zauberer  und  Hexen 
sich  abgeprägt;  der  Hexenstein  im  See  zu  Lindau  u.  s.w.  Theils 
schwankt  des  einen  Steines  Ursprung  und  Bestimmung  zwischen 
zweierlei  Urhebern  zugleich,  einem  Nationalhelden  und  einem 
Kirchenheiligen,  einer  frommen  Einsiedlerin  und  einem  gigantischen 
Hexenweibe.  Hat  es  sodann  jenen  riesenhaften  Kirchenheiligen, 
dem  Martinus,  Romedius,  Sigmund,  Mang  und  der  Petronella  — 
welche  in  den  Alpen  die  Berge  und  Felswände  durchtraten,  nirgend 
an  örtlichen  Kapellen  und  diesen  wiederum  eben  so  wenig  an 
Bittgängen  gemangelt,  so  wird  auch  die  Urner  Fahrt  zur  Sprung- 
platte am  Axenberge,  flir  die  nur  so  späte  Zeugnisse  vorliegen^ 
schon  in  einer  viel  früheren  Zeit  stattgehabt  haben,  eben  in  einer 
solchen  Vergangenheit,  da  Teil  noch  als  Riese  galt,  der  hier 
seinem  Verfolger  im  Wagesprunge  entrinnt  und  ihn  gleich- 
zeitig erlegt. 


3^   Die  Kapelle  an  der  Hohlen  Gasse  in  Küssnach. 

Die  j  üngste  Localisation  der  Tellensage  knüpft  sich  an  die, 
Küssnacher  Tellskapelle ;  folglich  sollte  deren  Geschichte  darum 
'auch  die  kürzeste  sein  können.  Allein  eben  hier  liegt  die 
Tradition  von  jeher  in  einem  nicht  auszugleichenden  Kampfe  mit 
sich  selbst.  Sie  behauptet  erstlich  ein  ganz  specielles  Factum, 
Gesslers  Ermordung,  das  doch  nicht  einmal  im  Allgemeinen  bis- 
her erwiesen  werden  kann;  sie  knüpft  sodann  dasselbe  an  zwei 
Oertlichkeiten  an,  durch  deren  topographische  Lage  das  ganze 
Factum  zur  Unmöglichkeit  gemacht  wird.  Und  zuletzt,  ihres 
Schwankens  selber  geständig,  giebt  sie  dem  Ermordeten  die  zweier- 
lei Geschlechtsnamen  Grissler  und  Gessler;  während  deren  einer 
gar  nicht   und   niemals   bestanden  hat,^   dagegen  der  andere    ge- 


I 


8.    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  171 

schichtlich  so  deutlich  und  genau,  dass  gerade  er  den  Irrthum 
der  Sage  vollständig  aufdeckt.  Kann  somit  weder  die  Person, 
noch  der  Ort,  noch  die  Handlung  hier  zu  Recht  bestehen,  so  ist 
nur  das  Eine  noch  fraglich,  woher  jene  Tellskapelle  ihren  an- 
spruchsvollen Namen  habe;  und  es  wird  sich  ergeben,  dass  sie 
und  ihre  zwei  Schwesterkapellen  nicht  nach  einer.  Persönlichkeit, 
sondern  nach  einer  ähnlichlautenden  Oertlichkeit  zubenannt  worden 
sind.    Es  sind  schlechtweg  Namenssagen. 

Zum  Beginn  wird  hier  ein  neuzeitlicher  Fall  aus  der  deut- 
schen Alterthumsforschung  vorangeschickt,  weil  die  topographische 
Streitfrage,  welche  dabei  zum  Entscheide  kam,  der  Küssnacher- 
Frage  so  ähnlich  ist,  wie  ein  Ei  dem  andern. 

Das  Nibelungen-Abenteuer,  wonach  Held  Siegfried  auf  der 
Jagd  an  einem  Brunnen  trinkt  und  darüber  durch  Hagen  von 
Tronegg  meuchlings  mit  der  Lanze  durchschossen  wird,  hatte 
unlängst  den  Gfeh.  Rath  Dr.  Knapp  in  Darmstadt  auf  den  Einfall 
gebracht,  diese  Mythe  könnte  eine  wirkliche  Begebenheit  sein, 
deren  Schauplatz  sich  in  die  Darmstädter  Nachbarschaft,  und  zwar 
in  die  Gegend  der  dortigen  Spessartsdörfer  Hilfertsklingen  und 
Grasellenbach  verlegen  lasse.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  nun  die 
Gegend  durchforscht  und  durchfragt  und  dabei  die  Sage,  auf 
deren  Entdeckung  man  auszugehen  vorgab,  unter  den  Bauern 
möglichst  in  Umlauf  gesetzt.  Allein  zunächst  bedurfte  man  ört- 
licher antiquarischer  Zeugnisse.  Knapp  legte  daher  einem  Wald- 
brunnen bei  Grasellenbach  den  Namen  Siegfriedsbrünnlein  bei, 
obschon  im  Dorfe,  nur  eine  halbe  Stunde  von  dem  Brunnen  ent- 
fernt. Niemand  diesen  Namen  auch  nur  kannte,  obschon  derselbe 
weder  in  den  Flurbüchern,  noch  auch  auf  der  Generalstabskarte 
sich  findet.  Femer  musste  nach  irgend  eines  Dorfschulzen  Er- 
zählung an  diesem  Brunnen  »Ritter  Hagen  den  Ritter  Siegfried, 
welcher  Hörner  gehabt  habe,€  erschlagen  haben,  und  man  berief 
sich  auf  alte  Leute,  die  überdies  gewusst  hätten,  wie  der  Held 
in  dem  Momente,  als  er  zum  Trinken  am  Quell  sich  niederbeugte, 
von  seinem  »Schwager«  erstochen  worden.  Auch  von  einem  da- 
selbst liegenden  Denksteine,  dann  wieder  von  behauen  gewesnen, 
nun  aber  nicht  mehr  vorhandenen  Steinen  gieng  die  angebliche 
Volksmeinung.*  Diese  krausen  Meldungen  setzte  hierauf  Knapp 
1853  seinen  gelehrten  Darmstädtem  im  Archiv  f.  Hess.  Gesch. 
und  Alterthumskunde  IV,  2  und  3  mit  entsprechender  Wichtigkeit 
auseinander. 


172  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

Durch  dieses  alles  aufmerksam  gemacht,  beschloss  im  gleichen 
Jahre  der  verdienstvolle  Alterthums-  und  Sagenforscher  J.  W. 
Wolf  die  Sache  an  Ort  und  Stelle  zu  untersuchen.  Schon  in 
Hilfertsklingen  wurde  ihm  die  Knappische  Siegfriedssage  gedruckt 
angeboten.  Weiter  in  Grasellenbach  erzählte  man  ihm  von  dem 
neuen  Denksteine,  der  inzwischen  wirklich  gesetzt  und  sogar  mit 
der  bezüglichen  Nibelungenstrophe  beinschriftet  worden  war,  ja  auch 
die  plumpe  Bauemspeculation  war  schon  erwacht  und  wollte  sich 
zum  Führer  aufdringen  nach  den  berühmten  Waldpunkten.  Der 
freche  Betrug  lag  auf  der  Hand,  aber  womit  ihn  entschieden  und 
für  immer  widerlegen  ?  Nothwendig  mit  dem  Dokumente  selbst, . 
auf  das  er  sich  stützte.  So  geschah's;  die  Beweisführung  war 
kurz  diese.  Das  Nibelungenlied  lässt  nemlich  jenen  Brunnen,  an 
welchem  Siegfried  erschlagen  wird,  gar  nicht  im  Spessart,  sondern 
weit  entfernt  von  diesem  liegen;  während  es  das  Unglück  wollte, 
dass  der  Brunnen  Knapps  gerade  im  Spessart  liegt.  Dieses  neueste 
Muster  zeigt,  wie  schiefe  Liebhaberei  und  persönliche  Eitelkeit 
noch  am  hellen  Tage  Sagen  in  das  Volk  hinein  fragt,  um  sie  hier- . 
auf,  als  aus  dem  Volksmunde  stammend,  in  die  Landesgeschichte 
hinein  verlegen  zu  können,  und  so  findet  sich  Vorstehendes  des 
Weiteren  erzählt  in  J.  W.  Wolffs  Hess.  Sag.  (1853)  S.  207—10. 

So  wenig  nun,  als  Siegfried  am  Spessarter  Siegfriedsbrunnen 
von  Hagen,  eben  so  wenig  und  aus  ganz  gleichem  Grunde  kann 
Gessler  bei  der  Kapelle  an  der  Hohlen  Gasse  von  Teil  erschossen 
worden  sein.  Flecken  und  Schloss  Küssnach  ist  erst  zu  Anfang 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  mit  dem  Lande  Schwyz  vereinigt 
worden. 

Was  also  hätte  hier  der  Schwyzer  Landvogt  Gessler  zu 
schaffen  gehabt.  Doch  hiezu  tritt  noch  ein  viel  stärkerer  Wider- 
spruch. Wer  die  Wegstrecke  zwischen  Küssnach  und  Immensee 
aufmerksam  begeht,  oder  sie  nach  Düfours  Karte  studiert,  der 
wird  nicht  begreifen  können,  warum  der  von  Uri  eben  nach 
Küssnach  heimgekehrte  Burgvogt  nicht  hier  auf  sein  Schloss  geht, 
sondern,  im  Bügel  bleibend,  noch  in  die  stundenweit  entlegne 
Tellskapelle  hinaus  reitet  und  dort  den  Tod  findet.  Am  Fusse 
des  Rigi,  hart  beim  Flecken  Küssnach,  liegt  die  sogenannte  Gess- 
lerburg.  Der  Vogt,  von  Uri  her  in  Küssnach  landend,  hatte  nur 
etliche  hundert  Schritte  zu  thun,  um  in  seine  Veste  hinauf  zu 
steigen  und  von  den  Schrecken  der  Seefahrt  endlich  auszuruhen. 
Er  thut  dies  nicht;  die  übliche  Geschichts-Erzählung  will  es  nicht, 


8.    Geschichte  der  drei  Teilskapellen.  17^ 

denn  ihr  ist  hier  nfcht  die  Burg,  sondern  die  Kapelle  Ziel  und 
Hauptsache.  Soll  aber  diese  Kapelle,  welche  so  weit  ab  von  der 
Burg  liegt,  nun  mit  in  die  Begebenheit  hereingezogen  werden 
können,  so  muss  man  Gesslem  einen  ganz  anderen  Weg  ein- 
schlagen lassen.  Der  heimgekehrte  Vogt  lässt  darum,  trotz  der 
Sturmnacht  und  den  eben  überstandenen  Todesängsten,  seine 
Burg  gleichgiltig  bei  Seite  liegen  und  reitet  unverweilt  die  Strassen- 
strecke  weiter,  welche  vom  Küssnacher  See  bis  an  den  Zugersee 
fuhrt,  verräth  aber  mit  keiner  Aeusserung  oder  Massnahme, 
welches  Ziel  er  dorten  suche.  So  kommt  er  denn  in  der  Nähe 
des  Zugerdorfes  Immensee  an  jene  geringe  Strassenvertiefung, 
welche  Hohle  Gasse  heisst.  Dorten  zur  linken  Seite  des  Weges 
steht  jenseits,  ausser  Schussweite,  eine  Kapelle,  und  von  hier  aus 
schiesst  Teil  den  Reiter  vom  Rosse.  Hätte  er  ihn  doch  schon 
auf  dem  Hinwege  zur  Burg  viel  sicherer  erlauem  und  treffen 
können  1 

Was  folgt  nun  aus  dieser  Reiterfabel?  Teil  musste  einen 
Vogt  erlegt  und  dafür  an  der  Stelle  der  That  eine  Gedächtniss- 
kapelle erhalten  haben;  und  da  diejenige  an  der  Hohlen  Gasse 
zu  weit  ab  von  des  Vogtes  Schlosse  lag,  so  musste  ihr  der  Vogt 
selber  nachreiten.  Dies  ist  der  geheime  Gedankengang  der  hie- 
von  berichtenden  Chronisten.  Betrachten  wir  mm  deren  Aessse- 
rungen  selbst,  so  sind  sie  alle  nur  unsicher,  widerspruchsvoll,  klein- 
laut und  inhaltslos,  aber  auf  die  Kapelle  zielen  alle. 

Bei  Etterlin  heisst  der  Landvogt  noch  nicht  Gessler,  sondern : 
»Landtuogt  Gryssler,  eyn  edelman  uss  dem  Thurgow;«  Teil  er- 
legt denselben  »mit  eym  pfyl  zuo  Küssnach  in  der  holen  gassen 
hinder  eynem  poschenstüden.«  Aus  Etterlin  copiert  Tschudi; 
in  seinem  handschriftlich  hinterlassnen  Entwurf  zur  Chronik  nennt 
auch  er  den  Landvogt  allenthalben  stabil  Gryssler  und  hat  ihn 
erst  später  daselbst  in  Gessler  umcorrigiert.  Auch  das  »Heilig 
Hüssli  ob  der  holen  Gassen,  so  noch  da  stat,«  entnimmt  er  aus 
Etterlin.  Diesen  Angaben  allen  widerspricht  Melchior  Russ,  als 
ob  er  gemerkt  hätte,  in  welche  Sackgasse  hier  seine  Mitchronisten 
sich  hinein  erzählen.  Er,  ein  Städter  von  Luzern,  dessen  Vater- 
stadt eigne  Höfe  im  Bann  von  Küssnach  besass,  der  selbst  diesem 
Schauplatze  der  Begebenheit  so  nahe  wohnte,  er  weiss  von.  dem 
ganzen  Küssnacher- Vorfall  noch  nichts,  sondern  erzählt  statt 
dessen  über  Teil :  »der  landtvogt  vieng  jn  vnd  Hess  jm  ally  vier 
zusammen  binden  jn  der  meynung,  das  erjn  gon  schwitz  in 


174  ^'     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

das  schloss  jm  sew  füren  wölt.«  (Schwyz  besitzt  kein 
anderes  Seeschloss  als  den  Thurm  Schwanau  auf  dem  Inselchen 
des  Lowerzer  Sees.)  Letzterer  Plan  kommt  indess  auch  nicht 
zum  Vollzuge,  weil  Russ  den  Vogt  gleich  auf  der  Tellenplatte 
selbst  erschossen  werden  lässt.  Bei  solchem  Durcheinander  wuss- 
ten  nun  die  späteren  Chronisten  sich  nicht  anders  zu  behelfen, 
als  indem  sie  die  beiden  sich  ausschliessenden  Angaben  mit  ein- 
ander paarten  und  so  ein  geographisches  Ungeheuer  hervor- 
brachten. So  verfuhr  im  sechzehnten  Jahrhundert  der  Basler 
Stadtpfarrer,  nachmalige  Stadtarzt  und  Professor  Heinrich  Panta- 
leon.  In  seinem  daselbst  1568  erschienenen  zweitheiligen  Folio- 
werk »Teutscher  Nation  Heldenbuch«  erzählt  er  (Th.  2,  S.  388) 
Teils  Sprung  auf  die  Platte,  lässt  da  den  Gessler  gleichfalls  an 
der  Platte  landen  und  fährt  dann  so  weiter:  »Als  Wilhelm  an 
das  gestad  kommen,  hat  er  dess  Landuogts  reiss  fleissig  acht  ge- 
nommen. Wie  nun  derselbig  auch  zu  land  kommen  vnd  in  einer 
tieffen  holen  ga3sen  gegen  Vry  zu  geritten,  hat  Teil  mit 
aufgespannenem  bogen  oberhalb  JCissnach  dessen  gewartet 
vnd  einen  pfeyl  in  diesen  geschossen,  Von  Christi  gepurt  1312  jar.« 

Gehen  wir  nun  zur  Kapelle  und  deren  Documenten  über. 
F.  V.  Balthasar  handelt  hierüber  auf  S.  18  seiner  Schutzschrift 
für  Teil,  die  er  in  obrigkeitlichem  Auftrage  gegen  Freudenbergers 
Fad/e  Danoise  1760  veröffentlichte.  Daselbst  rückt  er  seinem 
skeptischen  Gegner  mit  folgendem  pfiffigen  Sätzchen  zu  Leibe: 
»Auf  ein  Märchen  hin  Capellen  bauen?  das  wäre  ja  Gottes  und 
der  heiligen  Religion  gespottet.  Wer  wird  wohl  dieses  von  unsem 
ersten  Schweizern  sagen  dörfen,  die  so  fromme  Leuthe  waren?« 
Hiefür  erhielt  er  ein  huldvolles  Schreiben  von  der  Urner  Regierung 
nebst  zwei  Goldmedaillen.  Balthasar  meldet  nun,  die  Kapelle  sei 
1644  an  der  Stelle  einer  älteren  erbaut  worden  und  ursprünglich 
den  vierzehn  Nothhelfern  geweiht  gewesen.  Diese  Angabe  grün- 
det sich  jedoch  allein  auf  nachfolgende  Inschriften,  welche  an  dem 
Neubau  gestanden  haben  sollen,  aber  erst  seit  4.  Brachmonat 
1759  zur  Kenntniss  gebracht  worden  sind.*) 

Ein  Cappelli  in  der  hoUen  gassen  zu  Küssnacht,  wo  Teil  den 
Tyrann  erschossen,  ist  1644  neuw  erbauwet  worden  auss  Consens 


♦)  Mittels  Briefes  von  obigem  Datum,  womit  Jos.  Imhoff,  Pfarrvikar  zu  Schad- 
dorf  in  Uri  »Extracte  und  Urkunden,  auf  die  Teilenbegebenheit  bezüglich«,  an 
Em.  V.  Haller  überschickt.     Telliana  Hii,  40,  pag.  55. 


/ 

8,  Geschichte  der  drei  Teilskapellen.  175 

dess  Lands  Schweitz  (Schwyz),  dessen  Ehrenwappen  daran  noch 
2u  sehen  sambt  dem  Jahrzahl,  gemähl  und  Versen,  wie  folgt: 

alss  man  gezelt  1644  Jahr, 

War  dis  Capel,  sag  ich  fiirwar, 

auferbauwt  zu  ehren 

dem  höchsten  Gott,  unsrem  Heren, 

Und  der  hl.  Märtyrin  Margarithae  der  Jungfrauwen 

weil  unss  erspiesslich,  in  unser  Noth  gebauwen. 

Da  auf  diesem  plan 

hat  Wilhelm  Teil,  der  dapfer  man, 

den  blutgirigen  Zwingherm 

mit  sinem  scharpfen  pfeil  durchschossen, 

Uns  aufgethan  die  freyheit, 

dero  wir  vor  genossen. 

[»seyd  anno  (Jahrzahl  fehlt).     Copia  der  Zeugnuss  Herrn  Doctor 

Sitlers  zu  Kissnacht.«] 

So  weit  geht  die  Meldung  in  der  vorhin  von  uns  angeführ- 
ten Quelle  TelHana.  Die  Kapelle  erhielt  1768  ein  von  Wolf  aus 
Zürich  gemaltes  historisches  Bild,  unter  welchem  folgende  In- 
schrift stand: 

Hier  Ist  Grisslers  Hochmuoth  vom  Thäll  erschossen 
und  die  Schweitzer  Edle  Freyheith  Entsprossen. 
Wie  Lang  Wird  aber  Solche  Währen, 
Noch  Lang,  Wenn  Wir  die  alte  währen. 

Diesen  Spruch  schrieb  sich  Marschall  Fidel  von  Zurlauben  ab, 
als  er  am  30.  März  1772  die  Kapelle  besuchte,  und  bemerkt 
dazu  in  seiner  Sammlung:  HeLveticae  Cariae,  tom,  II,  497 a:  La 
chapelle  est  dediee  a  S.  Charles  Borromee  et  au  Bienheureux 
Nicolas  de  FHie,  dont  les  Images  en  bois  se  voient  aux  deux  coins 
de  Vautel. 

Das  heut  zu  Tage  dorten  vorhandene  Gemälde  ist  von 
Beutler,  der  obige  Inschrift  falsch  drunter  geschrieben  hat. 

Als  die  gegen  die  Tellensage  veröffentlichten,  französisch 
verfassten  Flugschriften  in  Frankreich  bekannt  wurden,  ward  am 
Versailler  Hofe  dem  Marschall  Fid.  von  Zurlauben  die  Frage  ge- 
stellt, warum  denn,  wenn  Teil  apokryph  sei,  die  Kapelle  zu  Küss- 
nach  Tellenkapelle  genannt  werde.  Zurlauben  antwortete  hierauf 
in  einer  ,eignen  Druckschrift:    Guill.   Teil,  Lettre  a  M""-  le  Pres, 


i . 


176  I»    ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Henaut  Paris  jyöjy  und  sagt  dorten,  S.  31 :  On  Vapelle  le  grand 
chemin  entre  Art  et  Kussnack  encore  aujourd hui  Hole  gass. 
La  chapelle  au  dessus  de  ce  chemin  se  nomme  bey  dem  Teilen, 
Hiemit  versuchte  Zurlauben  den  Beweis  zu  fuhren,  dass  der  dortige 
Localname  einen  Personennamen  ausdrücke.  Ob  seine  Behaup- 
tung damals  etwa  durch  den  Volksmund  begründet  gewesen  war* 
ist  heute  nicht  mehr  zu  entscheiden;  die  gegentheilige  Meinung 
aber  ist  eine  nicht  minder  berechtigte,  weil  sie  sich  auf  drei 
örtliche  Urkunden  stützt.  Zu  jeder  der  drei  Tellenkapellefn  lässt 
sich  nemlich  ein  urkuÄdlicher  Localname  aufweisen,  welcher  fiir 
dieselben  der  namengebende  gewesen  sein  kann. 

Die  Angabe,  Teils  Heimatsort  sei  Bürglen  in  Uri  gewesen, 
wo  eine  Tellskapelle  steht,  kann  entsprungen  sein  aus  dem  Namen 
des  dortigen  Geländes  Tellingen  in  Ribshausen,  gelegen  zwischen 
Attinghausen  und  Erstfelden.  Chuonradus  in  Teigingen  (Schächen- 
thal),  Urkunde  vom  Jahre  1294.  Geschichtsfreund  3,  235.  Ein 
Jenni  (auch  Heini)  von  Telligon  ist  am  6.  August  1 387  nebst 
vielen  andern  Landleuten  gerichtlicher  Zeuge  zu  Samen  in  Ob- 
walden.  Geschichtsfreund,  Bd.  20,  231  und  Bd.  27,  332.  Im 
Attinghausner  Jahrzeitbuch  steht  pag.  14  unter'm  27.  Februar: 
Richenza,  die  hat  gesetzt  ein  fiertel  nussen  von  einem  Acherli^ 
daz  heist  Tellingen  ze  Ribshusen.  (Mülleriana.)  Der  Name  Telling 
ist  ein  auf  das  Stammwort  und  den  Localnamen  Teile  zurück- 
weisendes Patronymikum. 

Aehnliches'gilt  auch  vom  Namen  der  Tellenplatte.  A.  Buser^ 
Kaplan  in  Brunnen,  Kanton  Schwyz,  ist  Verfasser  eines  hand- 
schriftlichen Werkes:  Etymologische  Nomenclatur  von  Schwyz^ 
Uri  und  Unterwaiden;  dasselbe  stammt  aus  den  fünfziger  Jahren, 
hat  uns  vorgelegen  und  wir  entnehmen  ihm,  Blatt  28,  folgende 
Notiz:  Die  Bevölkerung  von  Sisikon  am  Axenberge  leitet  den 
Namen  der  Tellenplatte  nicht  vom  Tellensprung  ab,  sondern 
nennt  dieselbe:  »An  der  Teilen.«  Es  gilt  mithin  dorten  der  Ort 
nicht  als  eine  dem  Teil  nachbenannte  Platte,  sondern  als  eine 
See -Einbuchtung,  welche  man  die  Delle  nennt.  Zunächst,  wo 
die  dortige  Plattenkapelle  steht,  ist  die  Tellenrüti  gelegen, 
d.  h.  ein  in  einer  Teile  liegendes,  durch  Roden  urbar  gemachtes 
Landstück.  Mithin  kann  auch  der  Name  der  dortigen  Kapelle 
nur  eine  solche  bei  der  Teilen  liegende  bezeichnen.  Unsere 
Voraussetzung  wird  nun  durch  die  Öffnung  von  Küssnach  zur 
Gewissheit   erhoben.     Diese  Öffnung  trägt  zwar  keine  Jahreszahl, 


8.  Geschichte  der  drei  Teilskapellen/  I77 

bezieht  sich  aber  wiederholt  auf  die  Herzoge  von  Oesterreich  als 
auf  die  gewesnen  Grundherren  in  Küssnach  und  Art:  vnsere 
Herren  die  herzogen.  Sie  nennt  zwei  innerhalb  der  Küssnacher 
Gemeindemarke  gelegne  Sonderhöfe  mit  der  Bestimmung,  dass 
denselben  kein  Trieb-  iind  Azungsrecht  auf  jene  Güter  zustehe, 
welche  ebendaselbst  das  Gotteshaus  Luzern  besitzt.  Diese  zwei 
Küssnacher  Höfe  heissen  in  der  Öffnung  die  zwei  Teilen:  bedy 
Tall.     Grimm,  Weisthümer  IV,  359. 

Haben  wir  nun  zu  Küssnach  schon  zwei  sesshaft  gewesne 
Teilen,  so  wäre  es  doch  ein  sonderbares  Missgeschick,  wenn  sich 
dorten  nicht  auch  der  dazu  unentbehrliche  Gessler  mit  vorfinden 
Hesse.  Und  siehe,  ein  solcher  ist  daselbst  wirklich  vorhanden, 
zwei  Urkunden  führen  ihn  als  einen  Küssnacher  Grundbesitzer  an 
Es  erkaufen  im  Jahre  13 14  Johannes  Gessler  und  dessen  Söhne 
Gotteshausgüter,  welche  der  luzerner  Stifts- Almosnerei  zinspflichtig 
und  theils  in  der  Pfarre  Luzern,  theils  in  der  Pfarre  Küssnach 
gelegen  sind.  Darüber  verzeichnet  das  Luzerner  Probstei-Urbar 
(Census  Prepositure  Lucernensis),  eine  IG  Quartblätter  haltende, 
mir  durch  den  Luzerner  Stadtarchivar  Jos.  Schneller  abschriftlich 
mitgetheilte  Pergament-Handschrift,  nachfolgende  Stellen: 

In  parrochia  Küssenach:  In  berggeswile  filii  Ge sselers 
et  volricus  goner  de  bona,  quod  ibi  habent:  Solidos  77«  ^^  V«  <i^<^^' 
tale  vini.  Item  filii  g  es  seier  s  de  bono  ibidem,  empto  de  petro 
de  Brügtal:  SoL  5,     (Blatt  VI,  2  b.) 

In  parrochia  Lucem:  Johanyies  Gessler  SoL j.  super  orto 
Ao.  Dni,  M-,  CCC-.  XIIj-.     (Blatt  VII,  i  a.) 

Die  hier  genannten  Höfe  Brüggtal  und  Bergiswil  waren  beide 
Eigenthum  des  Luzerner  Leodegarstiftes  und  lagen,  der  erstere 
innerhalb  des  Luzerner  Pfarrkreises  in  der  Richtung  gegen  das 
Dorf  Ebikon;  der  letztere,  im  Bezirke  des  Hofes  zu  Küssnach, 
und  besass  da  Sonderrechte,  über  welche  gleichfalls  urkundliche 
'  Zeugnisse  aus  dem  14.  Jahrhundert  in  Grimms  Weisthümer  IV, 
370  vorliegen.  Der  Hofname  ist  verschollen.  Den  Eigenthümer 
dieser  Höfe,  den  Vater  Johannes  Gessler  kennt  man  urkundlich 
seit  dem  1 3.  Januar  1 309.  Er  ist  ein  unfreier  Bauer  aus  aargauisch 
Meienberg,  nimmt  aus  der  Hand  des  habsburger  Landadels  Zins- 
güter im  Eigenamte  und  im  Freiamte  in  Pacht,  kauft  sie  von 
Frohndienst  und  Vogtsteuer  los,  kommt  als  Rosshändler  in 
Verkehr  mit  Herzog  Leopold  dem  Aelteren,  leiht  demselben 
100  Pfund  Pfennige,    erhält   statt    deren  Rückzahlung  den  Titel 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  12 


1 

178  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

eines  herzoglichen  Küchenmeisters  und  stirbt  als  solcher  1315. 
Sein  ältester  Sohn  Heinrich  vermehrt  das  väterliche  Erbe,  wird 
Ritter,  steht  vorübergehend  am  Hofe  der  Herzoge  zu  Wien  und 
vertritt  da  die  Ansprüche  der  Stadt  Luzem.  Dies  ist  jener 
Gessler,  aus  dessen  Namen  die  schweizerischen  Chrpnisten  ein 
Instrument  zu  fortgesetztem  Geschichtsbetruge  gemacht  haben. 
War  dieser  beurkundete  ritterliche  Diener  der  Herzoge  dem  Pfeile 
Teils  zum  Opfer  gebracht,  so  schien  ja  damit  der  urkundlich 
nicht  nachweisbare  Teil  thatsächlich  erwiesen;  und  dass  beide, 
Schütze  und  Erschossener,  nur  die  zwei  unentbehrlichen  Hälften 
einer  und  derselben  Sagen-Composition  seien,  daran  dachte  die 
arglose  Vorzeit  noch  nicht,  dies  begann  erst  dem  vorigen  Jahr- 
hundert zu  dämmern.  Als,  da  Freudenberger  seine  Schrift  gegen 
Teil  hatte  erscheinen  lassen,  folgt  auf  sie  eine  scheinbare  Gegen- 
schrift,*) vielleicht  durch  Freudenberger  selbst  veranlasst,  in 
welcher,  S.  14,  die  Tellengläubigen  mit  folgender  ironischen 
Herausforderung  gehänselt  werden:  »Ich  frage  die  Gegner  der 
Geschichte  des  Teil,  ob  sie  den  gewaltsamen  Tod  Gesslers 
glauben  oder  nicht ;  eine  Begebenheit,  die  mit  dem  andern  Theil 
der  Empörung  doch  so  genau  verbunden  ist,  dass  sie  davon 
nicht  kann  getrennt  werden?  Ist  er  nun  umkommen?  Warum 
weigert  Ihr  euch  dann,  dass  der  Urheber  seines  Todes  W.  Teil 
geheissen  habe?«        ' 

Schon  hiemit  hatte  sich  die  richtige  Einsicht  ausgesprochen, 
allein  die  Beweismittel  mangelten  ihr  noch»  Letztere  sind  erst 
seit  Eut.  Kopps  urkundlichen  Forschungen  njöglich  geworden 
und  fassen  sich  nunmehr  in  folgende  Fundamentalsätze  zusammen. 

Eine  Person,  Namens  Hermann  Gessler,  die  angeblich 
bis  1 307  als  österreichischer  Vogt  in  den  Urkantonen  regierte  und 
dorten  getödtet  wurde,  besteht  in  der  Gessler-Sippschaft  damaliger 
Zeit  noch  'gar  nicht.  Ein  Hermann  Gessler  von  Brunegg  hat 
bis  und  nach  1307  gleichfalls  nicht  gelebt,  weil  das  aargauische 
Schloss  Brunegg  damals  und  später,  ohne  Wechsel  des  Besitzers, 
bei  den  Adelsfamilien  von  Hedingen  und  den  Schenken  von 
Büttikon  war  und  erst  von  diesen  an  Ritter  Heinrich  (IL)  den 
Gessler    kam,    der    1403    starb.     Noch   viel   weniger  hat  je  ein 


*)  Schreiben  von  M.  J.  an  M.  K.,  betreffend  eine  kleine  Schrift,  unter  dem 
Titel:  W.  Teil,  ein  dänisches  Märchen.  Aus  dem  Journal  Helvetique,  Mars  1760 
übersetzt.     MDCCLX.    8".     16  Seiten. 


I 


Gessler  die  Burg  Küssnach  am  Waldstättersee  besessen  oder 
bewohnt.  Diese  gehörte  von  1296  bis  1347  dem  Rittergeschlechte 
der  Eppone  von  Chussinach  an,  nach  dessen  Erlöschen  dem 
Edeln  Walther  von  Tottikon,  kam  hierauf  durch  dessen  Tochter 
an  deren  Gemahl  Heinrich  von  Hunwil  und  endlich  1402  durch 
Kauf  an  das  Land  Schwyz,  ohne  jemals  bei  einem  Gessler  ge- 
wesen zu  sein.  Von  einem  an  den  Gesslern  jemals  verübten 
Morde  wissen  deren  Urkunden,  die  wir  vom  Jahre  1250  bis  1530 
gesammelt  haben,  nichts. 

Das  Alte  hat  bis  zu  seinem  Tode  das.  Recht  der  Verthei- 
digung,  das  Neue  ebenso  das  Recht  des  Angriffes,  bis  es  seine 
feste  Stellung  sich  erobert  hat.  Diese  ist  hier  gefunden  und  un- 
angreifbar gemacht. 


8,    Geschichte  der  drei  Tellskapellen.  17g  V 


12* 


/ 


IX. 
Drei  Teilenlieder  von  1477,  1672  und  1633. 


Ca.   1477. 

Ein  schön  Lied  vom  Vr  Sprung  der  Eydgnossenschafft 
vnd  dem  ersten  Eydgnossen,  Wilhelm  Thell  genandt,  auch  von 
dem  Bundt  mit  sampt  einer  lobl.  Eydgnoschafft  wider  Hertzog 
Carle  von  Burgund  vnd  wie  er  ist  erschlagen  worden.  Getruckt 
zu  Basel  bey  Johann  Schröter.    1623.    Kl.  8<^.  , 

[Holzschnitt:  Teil  mit  zweien  seiner  Kinder  vor  Gessler  stehend,  der  unter 
einem  Baume  sitzt.]  Aargau.  Kantons- Biblioth.,  hier  bezeichnet:  Rariora  I  8°, 
No.  2.  —  Haller,  Biblioth.  der  Schweiz.  Gesch.,  verzeichnet  einen  Druck  vom 
Jahre  1674.  Uns  selbst  liegt  ein  fernerer  vor,  der  als  zweites  zu  drei  Tellen- 
liedem  erschien:  Basel  im  Jahre  Christi  1765« 

1.  Von  der  Eydgnoschafft  will  ich's  heben  an, 
dessgleichen  g'hört  noch  nie  kein  Mann, 
jhn'  ist  gar  wol  gelungen ; 

sie  händ  ein'  wysen  vesten  bundt, 

ich  will  euch  singen  den  rechten  grund, 

wie  ein  Eydgnoschafft  ist  entsprungen. 

2.  Ein  Edel  Land,  recht  als  der  kern, 
das  lyt  verschlossen  zwischen  berg 
viel  vester  dann  mit  muren: 

da  hub  sich  der  Bundt  am  ersten  an, 
sie  band  der  Sachen  wysslich  g'than 
jn  einem  land,  heisst  Vry.     . 

3.  Nun  merkend,  heben  Eydgnossen  gut, 
wie  sich  der  Bundt  am  ersten  erhub. 


9.    Drei  Tellenlieder  von  1477,   1672  und  1633.  181 

daz  lönd  euch  nit  yerdriessen: 

das  einer  seinem  liebsten  söhn 

ein'  öpflfel  von  seiner  scheytlen  schon 

mit  seinen  henden  musst  schiessen. 

4.  Der  Landvogt  was  ein  zornig  Mann, 
g'sach  Wilhelm  Thellen  gantz  vbel  an: 
»komm  har,  ich  muss  dich  fragen, 
welches  ist  dein  liebstes  Kind, 

das  bring  mir  dar  gar  schnell  und  gschwind, 
von  dem  solt  du  mir  sagen.« 

5.  Der   Wilhelm   Thell,   der  antwort   schon, 
ich   han   so   gar    ein'  jungen   söhn, 

der   frewt   mich   auss   der  massen, 
darzuo   sein  Mutter,  mein  Ehlich  Wib, 
wir  wurden   wagen  vnser  beyder  Lib, 
ehe   wir  jn   wolten   verlassen. 

6.  »Was   lyt   mir  an   deinem  jungen    Sohn, 
waz   ich    dir  büt,   must   du   thun, 

oder  dich  wird   es   nicht   nutzen, 
du  bist   des   schiessens   also  bericht, 
das   man   es   von   dir   hört   vnd   sieht 
vnder   allen  Armbrust-Schützen.« 

7.  Wilhelm   Thell   herwider   sprach: 
Herr,    sind   mir    vor   diesem   Vngemach, 
solt'   ich   zu   mei'm   Sohn  schiessenl 

der   Landvogt   sprach:   schweig,   es   muss   sein, 
obschon   dich   staltest  wie   ein   schwein! 
es   that  ihn    sehr  verdriessen. 

8.  Der  Landvogt   sprach  zu  Wi^lhelm  Thell: 
»nun   lug,  das   dir   dein   kunst  nit  fäl* 
vnd   merck  mein  red   gar   eben: 
triffstu  jn    nit   mit   dem   ersten   schütz, 
ftirwar,  es   bringt  dir  keinen   nutz 

vnd   kostet  dich   dein  leben.«*) 


*)  Str.  8  wird  wörtlich  wiederholt  in  Strophe  4  des  Teilenliedes,  das  in  der 
1501  von  Ludw.  Sterner  verfassteu  Chronik  der  Burgunderkriege  steht  und  mit 
neuen  Zusätzen  um  das  Jahr  1540  in  Zürich  bei  Augustin  Fries  gedruckt  worden 
ist.    Siehe  Liliencron,  Die  histor.  Volksll.  11,    109 — 115. 


I 

L 


l82  !•   I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

9.  Zwentzig  vnd  hundert  schritt,  die  must  er  stän, 
ein  pfyl   vff  seinem   Armbrust  hän, 
da   was   gar   wenig  schertzen; 
er  sprach   zu  seinem  liebsten   söhn: 
ich   hoff,    es    soll   vns   wol   ergohn, 
hab   Gott  in   deinem   hertzenl 

10.  Da  bäht  er  Gott   tag   vnd   nacht, 
daz   er   den  öpffel  zun   ersten  traff, 
das  that   den  Landvogt  verdriessen; 
die   gnad   hat  er  von   Gottes   krafft, 
das   er   vss  rechter  Meisterschafft 
so   höflich  konnte  schiessen. 

11.  Da   er   den   ersten   schütz   hat  thön, 
ein  pfyl   hat   er  in  seim  göller   stön: 
hett'  ich  mein^  Sohn   erschossen, 

so   sag  ich  euch,   Herr  Landvogt   gut, 
so   hat'  ich  das  in   meinem  muht, 
ich   wölt'  euch   auch  hän  troffenl*) 

12.  Damit  macht'  sich  ein  grosser  stoss, 
davon  entsprung  der  erste  Eydgnoss, 
Gott  wolt  die  Landvögt'  straffen; 

sie  schuhen  weder  Gott  noch  fründ', 
so  eim*  gefiel  Wyb  oder  Kind, 
weiten*  s  bey  jhnen  schlaffen. 

13.  Grossen  vbermut  triben  sie  im  land, 
vil  böser  g'walt,  der  währt  nit  lang, 
also  findt  mans  g'schriben. 

Es  händ's  des  Fürsten  Landvögt'  thön, 
drumb  ist  er  vmb  sin  Herrschafft  k6n 
vndt  auss  dem  Landt  vertrieben. 

14.  Ich  will  euch  singen  den  rechten  grund, 
sie  schwuoren  einen  vesten  Bundt, 

die  jungen  vnd  die  alten; 

Gott  wöll'  sie  lenger  in  Ehren  hän, 


•)  Strophe  ii.     Hier   gilt  eben  das,  was  schon  über  Str.  8  bemerkt  wordea. 


9.   Drei  Teilenlieder  von  1477,   ^^72  und  1633.  '  183 

als  er  bisshar  auch  hat  gethan, 

so  wend  wir^s  Gott  län  walten. 

* 
«  * 

15.  Die  EydgnoschafFt  ist  aller  Ehren  voll, 
Zürich  ich  billich  loben  soll 

vor  Fürsten  vnd  vor  Heren; 
dessgleichen  lob'  ich  die  Edlen  von  Bern 
vnd  auch  die  Weysen  von  Lucem, 
sie  leuchten  all^  in  Ehren. 

16.  Die  Weysen  von  Vry  sind  vor  genant, 
Schwytz,  das  ist  mir  wol  bekandt, 

die  Vesten  von  Vnderwalden, 
Zug  vnd  Glaris  ich  hiemit  preiss,   . 
die  Acht  Ort  sind  vest  vnd  weiss, 
Gott  wöir  sie  in  Ehren  halten  1*) 

17.  Solothum,  du  alter  stamm; 

von  Freyburg  ich  nie  kein  böss  vernam, 
Biel  lob'  ich  mit  schallen. 
Appenzell  stät  auflf  vestem  grund, 
SchafThausen  hört  auch  in  Bundt, 
mit  einem  Apt  von  Sant  Gallen.**) 

18.  Das  ist  die  rechte  EydgnoschafFt, 
darvon  der  Bundt  soll  haben  krafift, 
Gott  wöU'  sie  hän  in  Ehren, 

dz  wünsch'  ich  jhnen  auss  trewen  mut, 
nun  frewend  euch,  lieben  Herren  gut, 
der  Bimd,  der  will  sich  mehren. 

19.  Sit  ich  die  warheit  reden  soll, 

der  Bundt,  der  g'falt  den  Leuten  wol, 
das  mögend  jr  wol  erkennen, 
die  edlen  Herren  sind  ausserwölt, 
sie  händ  sich  selber  in  Bundt  gesteh, 
drl  Hertzog  will  ich  nennen: 


*)  In  Strophe  15  und  16  sind  die  Acht  alten  Orte  aufgezählt,  deren  Zahl 
im  Jahre  1481  auf  zehen  stieg. 

*•)  Strophe  17.  Die  "genannten  Orte  sind  in  den  Bund  eingetreten  und  zwar 
Solothum  und  Freiburg  anno  1481;  Biel  1496;  Appenzell  15 13;  Schaffhausen 
1501;  St.  Gallen  1454. 


iS^  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil, 

20.  Hertzog  Sigmund  von  Oesterreich 
thet  eim^  frommen  Fürsten  gleich, 
hat  sich  wol  dar  gelassen, 

Leib  vnd  Guot  vnd  was  er  hat, 
fürsach  er  das  mit  seinem  Raht, 
hat  er  in  Bundt  verschlossen.  *) 

■ 

21.  Der  Edle  Hertzog  von  Meyland, 
der  hat  gelobt  mit  seiner  hand, 
that  sich  inn  Bundt  verschreiben, 
als  seine  vordem  hing  gethan, 
damit  wolt'  er  sein  herschafft  bTian, 
darbey  län  ich's  bleiben.**) 

22.  Hertzog  Reinhart  von  Lottringen, 
derselb  thut  auch  nach  Ehren  tringen, 
dem  ist  gross  G'walt  geschehen, 
Burg  vnd  Stett  wurdend  jm  gn6n, 
das  wolt  er  nit  vngerochen  16hn, 

das  hat  man  wol  gesehen.***) 

23.  Ich  hoff*,  Qx  hab^  ein'  guten  grund, 
Strassburg,  das  hört  auch  in  Bundt, 
sie  teten  als  die  weissen; 
Colmar,  Schlettstat  desselben  gleich, 
Basel,  Mülhausen  im  Römischen  Reich, 
die  fünff  Stett  wil  ich  preisen,  f) 


*> 


^)  Strophe  20.  Oesterreichische  Erbeinigung  mit  den  fünf  Orten  1477  ;  mit 
den  zwölf  Orten  151 1. 

**)  Strophe  21.  Zwischen  Galeazzo  Maria  Sforza  und  der  Eidgenossenschaft 
kam  1474  ein  Bündniss  zu  Stande.  Allein  im  Verlauf  des  Burgunder  Krieges 
hatte  man  in  der  Schweiz  Anlass,  mit  Galeazzo' s  Haltung  sehr  unzufrieden  zu 
sein.  Am  30.  Januar  1475  schloss  er  ein  Bündniss  mit  Burgund  und  während 
des  ganzen  Krieges  flössen  mailändische  Söldner  dem  burgundischen  Heere  reich- 
lich zu.  Obige  Strophe  kann  also  wohl  1474,  nicht  aber  erst  1477  gedichtet  sein; 
denn  ein  Schweizer,  der  1477  dichtete,  hätte  jene  Thatsachen  schwerlich  un- 
berücksichtigt gelassen,  so  wenig  als  den  Umstand,  dass  Galeazzo  mittlerweile 
am  26.  December  1476  ermordet  worden  war.  Liliencron,  Die  histor.  VolksU., 
Bd.  2,  S.  112,  Note. 

***)  Strophe  22.     Vertrag  mit  Lothringen  1476.    »' 
f)  Strophe  23.    Evangelisches  Burgrecht  mit  den  genannten  fünf  Städten  im 
Jahre  1529. 


9-    Drei  Tellenlieder  von  1477,   1672  und  1633.  18 

24.  Hiemit  macht'  sich  ein  grosser  Bundt, 
straft  Hertzog  Carle  von  Burgund, 
sein  Vnglück  will  sich  machen; 

der  anfang,  der  ist  gut  gesin 
vor  EUengurt  vnd  Pünterling, 
das  sönd  wir  wol  betrachten.*) 

25.  Zu  Orben  geschach  ein  raucher  stürm, 
sie  wurflfend  die  Fygend  auss  dem  Thurn, 
Plomund  ward  gar  zerbrochen, 
SafFoyerland  ward  gar  zerstört, 
dessgleichen  hat  kein  Mann  erhört, 

der  schad  stuond  vngerochen. 

26.  Das  vernam  der  Hertzog  von  Burgund, 
er  sprach  zum  Graifen  von  Reymund: 
den  schaden  will  ich  rechen, 

sobald  ich  das  nun  fiigen  kan, 
solt'  ich  verlieren,  was  ich  hin. 
die  wort  hörf  man  jn  sprechen. 

27.  Zu  Gransee  hat  er  ein  Mordt  gethan, 
Gott  wolt's  nit  vngerochen  län, 

da  ist  ein  streit  beschehen, 
er  verlohr  ein  Herrn  von  Tschetigung, 
sein'  liebsten  Fründ,  daz  säg  ich  nun, 
das  hat  man  wol  gesehen.**) 

28.  Das  Sacrament  vnd  Heilthumb  rein, 
Silber,  Gold  vnd  Edelgstein 

must  er  alls  hinder  jhm  lassen; 
Büchsen  vnd  Zelten  theten  jhm  zoren, 
Sieg  vnd  Paner  hat  er  verloren, 
das  klagt  er  auss  der  massen. 

29.  Der  spott  thet  jhni  billich  wee, 

vor  Murten  wölt  er^s  versuchen  mee 


*)  Strophe  24.  Die  hochburgundischen  Orte  Ericourt  (Schlacht  daselbst 
13.  Nov.  1474)  und  Pontarlier.  —  Die  in  der  folgenden  Strophe  genannten  Orte 
Blamont,   Orbe  etc.  sind  aus  dem  burgundischen  Kriege  genugsam  bekannt. 

**)  Strophe  27.     Tschetigung:  Chateau-Guyon. 


l86  I«    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

darnach  jm  wämden  summer; 
die  Eydgnossen  hand^s  bald  vernön, 
*     sind  gar  tröstlich  zsamen  kön, 
dess  kam  er  in  schweren  kummer. 

30.    Sie  zugend  durch  ein*  grünen  Wald, 
sie  waren  frölich  jung  vnd  alt, 
jhre  Paner  theten's  aufFschwingen ; 
auf  einer  Heyden,  die  was  wyt, 
zugend^s  frölich  an  den  Strit, 
als  woltens  an  Dantz  gin  springen. 

31.'  Die  Bundtsgnossen  griffen  d  frölich  an 
mit  mengem  vnverzagten  Mann, 
nach  ehren  wolt  man  fachten, 
zu  Ross  vnd  Fuess,  das  staht  jhnen  wol, 
wo  man  das  von  jhnen  sagen  sol 
vor  Ritter  vnd  auch  Knächten. 

32.  Der  Bischoflf  von  Sitten  ist  ein  fürstlich  Mann, 
hat  sein  allerbestes  gethan 

zu  denselben  Zeiten; 
Vnd  auch  die  Walliser  wolgemut 
hand  gewunnen  Ehr  vnd  Gut 
mit  stürmen  vnd  mit  streiten. 

33.  O  Hertzog  Carle  von  Burgund, 

du  hast  verachtt  den  grossen  Bundt, 
das  hört  man  von  dir  sagen; 
so  hat  man  dir  gezelter  Mann 
viervndzwentzig  tusend  auff  einem  plan 
ertrenckt  vnd  auch  erschlagen. 

34.  Dannoch  wolt  er  nit  haben  ruh, 

Er  meint,  es  war'  noch  nienen  gnue. 
Er  wolt'  es  wieder  bringen; 
so  mag  ich  mit  der  warheit  sag'n, 
er  ist  im  veldt  zu  todt  erschlagen 
vor  Nanse  in  Lottringen. 

35.  Gott,  Himmels  schöpffer  vnd  Erdrkh, 
behüet  vns  jemer  vnd  ewiglich 


9.  Drei  Tellenlieder  von  1477,    1672  und  1633.  187 

vor  solchem  grimmen  Fürsten; 
dann  dein  ist  das  Reich  vhd  die  Kraflft, 
o  Herr,  mach  mich  deins  Tods  theilhaflft, 
so  wird  mich  nimmer  dürsten. 

ENDE. 

Vorstehendes  Lied  trägt  in  Ludw.  Sterners  Handschrift,  geschrieben  1501, 
nun  im  Besitze  der  Familie  Diesbach  zu  Freiburg  in  Uechtland,  nur  die  Ueber- 
schrift  »von  der  eidgenossen  pundt«,  und  nach  jenem  Texte  steht  dasselbe  abge- 
druckt in  den  Histor.  Volksliedern  der  Deutschen,  von  Liliencron,  Bd.  2,  No.  147. 
Letzterer  schickt  über  das  Alter  und  das  allmählige,  stückweise  Zustandekommen 
des  Liedes  etliche  Bemerkungen  voraus,  die  auch  an  dieser  Stelle  ihren  Zweck 
haben. 

»In  seiner  vorliegenden  Gestalt  ist  das  Lied  nicht  vor  dem  Jahre  1477  ge- 
sungen, weil  es  mit  dem  Tode  Karls  von  Burgund  schliesst.  Auch  ist  es  nicht 
später  gesungen,  denn  der  Bund  mit  Oesterreich  und  die  Burgunderkriege  bilden 
den  Inhalt  seiner  zweiten  Hälfte.  Es  könnte  aber  allmählig  entstanden  sein. 
Vielleicht  enthielt  es  anfänglich  nur  Strophe  i  bis  13,  denn  diese  letztere  Strophe 
Uingt  nach  einem  Liedschluss.  Dazu  kam  wohl  zunächst  die  Aufzählung  der 
Orte,  Strophe  15  bis  18.  Daran  wurden  weiter  etwa  die  Strophen  19  bis  24 
von  der  Vermehrung  des  Bundes  durch  die  drei  Herzoge  von  Oesterreich, 
Lothringen  und  Mailand  und  durch  die  Niedere  Vereinigung.  Strophe  23,  gehängt, 
was  1474  geschehen  sein  müsste ;  und  nach  dem  Schlüsse  des  grossen  Krieges  1477 
kamen  dann  noch  die  übrigen  Strophen  dazu.  Das  Lied  selbst  erregt  einiger- 
Blassen  den   Verdacht  dieses   Herganges,   vergl.  die  Anmerkung  zu  Strophe  21. < 


1672. 

Joh.  Casp.  Weissenbach,  fürstl.  Einsidlischer  Raht  vnd 
gewessner  Obervogt  der  Herrschafft  Gachnang,  mit  dem  Dichter- 
namen Dämon,  verfasst:  Eydgnoszsisches  Contrafeth 
Auff-  vnnd  Abnemmender  Jungfrawen  Helvetiae  etc. 
von  der  Burgerschafft  Löbl.  Statt  Zug  durch  offentl.  Exhibition 
den  14.  vnd  15.  Sept.  1672  vorgestellt.  Zug,  getruckt  bey  Jac. 
Ammon  1673.    8^  — 

Actus  I,  Scena  VI:     Wilhelm  Teil.     Sein  Sohn. 

Sohn:  Ach  Vatter,  was  hab  ich  gethan, 
Dass  du  mich  also  bindest  an? 

Teil :    Mein  Kind,  schweig  still,  mein  Hertz  schonst  gross. 
Ich  hoff,  es  werd  mein  Pfeil  vnd  G'schos 


l88  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Kein  Schaden  dir  nicht  bringen  (bereiten). 
Du  trägst  kein  Schuld  vnd  ich  kein  Sund, 
Ruif  nur  zu  Gott  mit  mir,  mein  Kind, 
Gott  wird  den  Pfeil  schon  leithen. 
Denn  sterben  eh  belieben  thut, 
Als  ehren  den  aufFg^steckten  Hut, 
Ach  der  betrengten  Zeiten! 
Halt  auif  dein  Haupt,  rieht  dich  nur  auff, 
In  Gottes  Namen  schiess  ich  drauflf. 
Der  gerechte  Gott  soll  leben. 

(Teil  schiesst  aus  freier  Hand  den  Apfel  ab.) 
Sohn:  Ach  Vatter  mein,  Gott  mit  vns  halt, 

Der  Apfel  von  der  Scheytel  falt, 

Gott  hat  den  Segen  geben. 
Landvogt:   Was  ist  diss  für  ein  ploderment, 

Sag  mir,  dein  Pfeil  zu  was  flir  end 

Thut  noch  im  Kocher  stechen? 
Teil:  Weil  ich  Gott  hab  aFs  heimbgestelt. 

So  wüsse,  hat'  der  Schutz  gefehlt, 

Wolt*  ich  an  dir  mich  rechen. 
Landvogt:   Mit  jlim  hinweg  vnd  nur  gschwind  fort. 

Ich  will  jhn  setzen  an  ein  Orht, 

Dass  er  wird  schon  vergessen 

Sein  Duck,  den  Schalck,  den  er  im  Kopflf, 

Hinweg  mit  disem  schlimmen  TropfF, 

Ich  will  jhm  d^  Schmach  einmessen. 

(Carl  Wolfgang  Wickart,  Hauptmann  und  Stadtschreiber  von 
Zug,  spielte  den  Teil,  Carl  Joseph  Brandenberg  den  Sohn  Teils, 
und  Christoph  Petermann  den  Vogt  Gry  dl  er  (st.  Gryssler). 

Vorstehende  Verse  finden  sich  wieder  in  der  Monatsschrift 
Französische  Miscellen  (lo  Bde.)  von  L.  Achim  v.  Arnim 
und  Helmina  v.  Hastfer,  geborne  v.  Klenck  (spätere  Chezy).  In 
Bd.  III  (Tübingen,  Cotta  1803)  S.  82  heisst  <es  aus  Arnims  Reise- 
tagebuch: Gestern  wanderte  ich  durch  Art  (Kt.  Schwyz)  und 
las  auf  dem  grössten  (Haus-) Giebel  neu  aufgefrischt: 

Teil:  Zu  Ury  bey  den  Linden 

Der  Vogt  steckt  auf  den  Huth 
Und  sprach:  Ich  wÜl  den  finden. 
Der  dem  kein'  Ehr  anthut. 


9.    Drei  Tellenlieder  von  1477,  1672  und   1633.  189 

Ich  that  nicht  Ehr  dem  Huthe, 
Ich  sah  ihn  kühnlich  an; 
Er  sagt:  du  traust  dem  Muthe, 
Will  sehn,  ob  du  ein  Mannl 
Er  fasst  den  Anschlag  eitel, 
Dass  ich  nun  schiess  geschwind 
Den  Apfel  von  dem  Scheitel 
Meinem  allerliebsten  Kind. 

Darauf  folgen  hier  die  beiden  ersten  Reden  zwischen  Vater 
und  Sohn  aus  dem  vorgenannten  Schauspiele  Weissenbachs, 
welche  sammt  der  obigen  Stelle  nachmals  übergegangen  sind 
in  Des  Knaben  Wunderhorn  mit  der  Bemerkung:  »Abge- 
schrieben von  einem  Hausgiebel  in  Arth.« 


Ein  schön  Nev^ 
Lied 

Von  Wilhelm 

Thell:   Durch   Hieroriimum 
Muheimb  von  newem  gebes- 
sert vnd  gemehret. 

Im   Thon,    Wilhelmus    von 
Nassawe,  bin  ich  von  etc. 


h 


Der  Apfelschuss  in  Holzschnitt. 

Getruckt     im    Jahr     1633. 
(8  Oktavseiten.) 

(Auf  der  Beraer  Stadt-Bibliothek:  »Telliana  Hii.<r) 

I.    WJlhelm  bin  ich  der  Thelle, 
von  heldesmuth  vnd  blut, 
mit  meinem  gschoss  vnn  pfeile 
hab  ich  die  Freyheit  gut 
dem  Vatterlandt  erworben, 
vertriben  tyranney, 
ein  vesten  bundt  geschworen 
händ  vnser  g' seilen  drey. 


I 

[ 


IQO  ^-     I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

2.  Vry,  Schwytz,  Vnderwalden, 
gefreyet  von  dem  Reych, 
litten  gross  zwang  vnn  gwalte 
von  Vögten  vnbillich, 

kein  Landtman  dörfft  nit  sprechen, 
das  ist  mein  eygen  gut, 
man  nam  ihm  also  fräche 
die  Ochsen  von  dem  Pflug. 

3.  Dem,  der  sich  wolte  rechen 
vnd  stellen  in  die  Wehr, 

thät  man  d' Augen  auszstechen, 
nun  höret  Bossheit  mehr, 
zu  Altorff  bey  der  Linden 
der  Vogt  steckt  auff  sein  Hut, 
er  sprach:  ich  will  den  finden, 
der  dem  kein  Ehr  anthut. 

4.  Das  hat  mich  vervrsachet, 
dass  ich  mein  Leben  wagt, 
den  Jammer  ich  betrachtet, 
dess  Landtmans  schwere  Klag; 
vil  lieber  wolt  ich  sterben, 
dann  leben  in  solcher  schand; 
dem  Vatterlandt  erwerben 
wolt  ich  den  freyen  Standt. 

5/  Den  Piltz  wolt  ich  nit  ehren, 
den  auflfgesteckten^Hut, 
verdrösse  den  Zwingherren 
in  seinem  Vbermuht, 
er  fasst  ein  anschlag  eytel, 
dass  ich  musst  schiessen  gschwind 
ein'  ApfFel  von  der  Scheitel 
meinem  dem  liebsten  Kind. 

6.    Ich  bat  Gott  vmb  sein  güete 
vnd  spannet  aufF  mit  schmertz, 
vor  angst  vnn  zwang  mir  blüetet 
mein  vätterliches  Hertz, 
den  Pfeil  kondt  ich  wol  setzen, 
bewahret  war  der  Knab, 


g.  Drei  Tellenlieder  von  1477,  '^72  tind  1633.  iqi 

ich  schoss  jhm  ohn  verleteen 
vom  Haupt  den  Apffel  ab. 

7.  Auflf  Gott  steht  all  mein  hoffen, 
Er  leitet*  meinen  Pfeil, 

doch  hett^  ich  mein  Kind  troffen, 
ich  wolt*  fürwahr  in  eyl 
den  Bogen  wider  spannen, 
auch  treffen  an  dem  ort 
den  Gottlosen  Tyrannen, 
vndt  rechen  solches  mordt. 

8.  Das  hat  der  Bluthund  gschwinde 

gar  wol  an  mir  vermerckt  (verschmeckt), 

dann  ich  ein  Pfeil  dahinden 

in  mein  Goller  gesteckt; 

was  ich  darmit  thät  meinen, 

wolt  er  ein  wissen  han, 

ich  kondt^  es  nicht  verneynen, 

zeigt  jhm  mein  meinung  an. 

'9.    Er  hat  mir  zwar  versprochen, 
er  wolt  mir  thuon  kein  leyd, 
jedoch  hat  er  gebrochen 
sein  wort  vnd  auch  sein  Eyd, 
Ja  zu  derselbigen  stunde 
mit  zom  er  mich  angriff, 
liess  mich  gar  hart  gebunden 
hinführen  in  ein  Schiff. 

10.  Ich  gnadet  meinem  gsinde, 
dass  ich  jhr  musst  verlan, 
mich  jammert  Weib  vnn  Kinde, 
mit  manchem  Bidermann, 

ich  meynt  sie  nit  mehr  zufinden, 
vergoss  so  manchen  Thran, 
vor  hertzleid  thet  mir  gschwinden, 
dess  lachet  der  Tyran. 

11.  Er  wolt  mir  han  zur  busse 
beraubt  der  Sonnen  schein, 

zu  Küssnach  auff  dem  Schlosse 


192 


I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

mich  ewig  speren  eyn. 
mit  trutzen  vnd  mit  pochen 
führten  sie  mich  dahin, 
das  liess  Gott  nit  vngerochen, 
vnnd  halfF  dem  Diener  seyn. 

12.  Dem  Wind  that  er  gebieten, 
der  kam  im  stürm  dahar, 
der  See  fieng  an  zu  wüeten, 
dz  Schiff  stund  in  gefahr, 

der  Vogt  hiess  mich  lossbinden 
vnnd  an  das  Ruder  stän. 
Er  sprach,  hilff  vns  geschwinde 
mir  vnnd  dir  selbst  darvon. 

13.  Das  thet  ich  gern  erstatten, 
ich  saumpt  mich  da  nit  lang, 
als  ich  kam  zu  der   Blatten,    * 
zum  Schiff  hinauss  ich  sprang, 
ich  eylt^  so  wunder  schnelle 
durch  hohe  Berg  hind  an, 
den  Winden  vnd  den  Wällen 
befahl  ich  den  Tyrann. 

14.  Er  brüelet  wie  ein  Lcewe 
vnnd  schrey  mir  zornig  nach, 
ich  achtet  nit  sein  traewen, 

zu  fliehen  ward  mir  gach; 
Ja  inn  der  holen  Gassen 
wolt  rechen  ich  den  Trutz, 
mein  Armbrust  thaet  ich  fassen 
vnnd  rüsf  mich  zu  dem  Schutz. 


15.    Der  Vogt  kam  jetz  geritten 
hinaufF  die  Gassen  hol, 
ich  schoss  jhn  durch  die  mitten, 
der  schuss  war  gerahten  wol, 
zu  todt  hab  ich  jhn  gschossen 
mit  meinem  Pfeile  gut, 
er  fiel  bald  ab  dem  Rosse, 
dess  ward  ich  wol  zu  muth. 


9.    Drei  Tellenlieder  von   1477,   1672  und  1633.  Iqj 

16.  Als  David  auss  der  Schlingen 
den  grossen  Goliat 

mit  einem  Stein  geringe 
zu  boden  gworifen  hat: 
also  gab  Gott  der  Herre 
mir  sein  Genad  vnd  Macht, 
dass  ich  mich  gwalts  erwehret, 
den  Feind  hab  vmb  gebracht. 

17.  Mein  Gsell  hats  auch  gewaget, 
bewiesen  kein  Genad, 

dem  Landenberg  gezwaget 
mit  einer  Axt  im  Bad, 
der  sein  Eheweib  mit  zwange 
wolt  haben  sein  Mutwill, 
dess  schont  er  jhm  nit  lange, 
schlug  jhn  zu  tod  in  eyl. 

18.  Kein  ander  Gut  noch  beute 
suchten  wir  in  gemein, 

dann  den  gwalt  auss  zu  reuten, 
das  Land  zu  machen  rein; 
wir  funden  ja  kein  rechte, 
kein  schirm,  kein  Oberkeit, 
darumb  mussten  wir  fechten, 
Gotts  gnad  war  vns  b'reit. 

19.  Da  fieng  sich  an  zu  mehren 
ein'  wehrte  Eydgnoszschaft, 
im  angriff  bald  zum  Wöhren ; 
der  Feindt  der  kam  mit  krafft, 
den  ernst  wir  da  nicht  sparten 
vnd  schlugen  dapffer  drein, 
wol  an  den  Morengarten 
musst  er  erschlagen  seyn. 

20.  Wir  schlugen  da  den  Adel 
mit  aller  seiner  Macht, 
gestraufft  han  wir  den  Wadel 
dem  Pfaw,  der  vns  verachtj 
ein  Pfeil  hat  vns  ge  warn  et, 
das  Glück  stund  auff  der  Wag, 

Rochholz,  Teil  tind  Gessler.  I3 


lO^  !•   Der  Sagenkreis  von  Teil. 

gar  sawr  hand  wirs  erarmet  (erarnet), 
zween  Sieg  am  selben  Tag. 

2  1.    Der  Feind  that  vns  angreiffen 
mehr  dann  an  einem  ort, 
den  SchimpfF  macht  er  vns  reiffen, 
wir  mussten  lauffen  fort 
an  Brüenig  zu  dem  streite, 
zu  hilfF  den  Freunden  gut, 
da  gab  der  Pfaw  die  weite, 
das  kost  vil  Schweiss  vnd  Blut. 

2  2.    Da  merckt,  fromb  Eydgenossen, 
gedencket  offt  daran, 
das  Blut,  für  euch  vergossen, 
lasst  euch  zu  hertzen  gähn, 
die  Freyheit  thut  euch  zieren, 
darumb  gebt  Gott  die  Ehr, 
soltet  jhr  die  verlieren, 
sie  wurd^  euch  nimmermehr. 

23.  Mit  müeh  ist  wol  gepflantzet, 
mit  ewer  Vätter  Blut, 
Freyheit,  den  edlen  Krantze, 
den  halten  wol  in  hut, 

man  wirdt  euch  den  abstechen, 
besorg  ich,  zur  selben  zeit, 
wann  Trew  vnnd  Glaub  wird  brechen 
der  eygen  Nutz  vnd  Gelt  (Geit). 

24.  Mir  ist,  ich  gsehe  kommen 
so  manchen  Herren  stoltz, 
bringen  »in  grossen  summen 
dess  Gelts  vnd  rohten  Golds, 
damit  euch  ab  zu  marchen, 
zu  kauffen  ewer  Kindt, 

die  noch  ein  wort  nit  sprächen 
vnnd  in  der  Wiegen  sind. 

25.  Ich  thu  euch  dessen  warnen, 
weil  Warnung  noch  hat  platz, 
gespannt  sind  euch  die  Garne, 


f 


9.   Drei  Tellenlieder  von  1477,  1672  und  1633.  loq 

die  Hund'  sind  auff  dem  Hatz; 
gedencket  an  mein  trewe, 
kein  Thell  kompt  nimmermehr, 
euch  wird  kein  Freunde  newe 
geben  ein  besser  lehr. 

26.  Thut  euch  zusammen  halten 
inn  Fried  vnnd  Einigkeit, 
als  ewere  fromme  Alten, 
betrachtet  Bundt  vnd  Eyd; 
lasst  euch  das  Gelt  nit  müessen, 
die  Gaaben  machen  blind, 
dass  jhr  nit  müesset  büessen 
vnd  dienen  zletst  dem  Feind. 

27.  Den  Thellen  sollen  wir  loben, 
sein  Armbrust  halten  wehrt, 
das  vns  vom  grimmen  toben 
der  Herren  hat  erret  (emert), 

vil  Staett  vnd  Schloesser  brochen, 
geschliessen  auff  den  grundt, 
erret  von  schwerem  joche, 
gemacht  der  Schweytxer  Bund. 

28.  Nempt  hin,  fromb  Eydgnossen, 
die  noch  aufFrichtig  sind, 

diss  Lied  hiemit  beschlossen, 
thut  schlagen  nit  in  Wind, 
der  Muchheimb  hats  gesungen, 
gedichtet  vnd  gemehrt, 
zur  Warnung  g'lehrt  den  Jungen, 
dem  Vatterlandt  verehrt. 

ENDE. 

Abdruck  nach  dem  Fl.  Bl.  vom  Jahre  1633  auf  der  Berner  StaÖt-Bibliothek. 
Dr.  med.  Schild  in  solothumisch  Grenchen  besitzt  das  Lied  in  einem  Drucke  von 
1673;  und  einen  andern  von  1698  verzeichnet  Koch,  Kompend.  der  Literatur  i,  271. 


13* 


igg  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Anmerkung  zum  Muheim'sghen  Tellenliede. 

Unserer  Ausgabe  von  1633  und  späteren  steht  am  Titel  vorgedruckt:  Zu 
singen  Im  Ton  Wilhelmus  von  Nassawe.  Gemeint  ist  damit  die  in  Hol- 
land jetzt  noch  lebende  Volksweise  des  von  Philipp  van  Mamix  zwischen  1568 
und  1569  gedichteten  niederdeutschen  Kriegsliedes,  anfangend: 

Wilhelmus  van  Nassouwen 
Ben  ick  van  duytschem  Bloedt. 

Der  niederdeutsche  Text  steht  abgedruckt  in  Hoffmanns  Horae  Belgicae  II,  96. 
Der  besungene  Held  ist  Wilhelm  I.,  Graf  von  Nassau ,  welcher  sich  Prinz  von 
Oranien  nannte,  General-Capitän  der  gegen  die  Spanier  insurgirten  Niederlande 
war  und  1584  durch  Meuchelmord  fiel. 

Schon  im  Jahre  1582  war  Mamixens  Lied  in  hochdeutscher  Version  gesungen 
und  damals  übergegangen  in  das  Ambraser  Liederbuch,  hier  unter  dem  Titel: 
»Ein  schön  Lied,  zun  ehren  gemacht  dem  Prinzen  von  Uranien.  Im  Thon  wie 
der  Graff  zu  Rom,<r  Bergmann' s  Ausgabe  des  Ambraser  Liederbuchs,  S.  187.  Zum 
Beweise,  dass  dasselbe  durch  das  Muheim'sche  Teilenlied  ausgeschrieben  worden 
ist,  werden  diesem  letzteren  die  aus  dem  Wilhelm  von  Nassau  entlehnten  Text- 
stellen hier  nach  der  Strophenzahl  gegenüber  gestellt. 

Str.  I :    Wilhelmus  von  Nassawe 

bin  ich  Von  teutschem  blut, 
dem  Vaterland  getrawe 
bleib  ich  bis  in  den  tod; 
Ein  printze  von  Uranien 
bin  ich  frey  unerfehrt, 
den  könig  von  Hispänien 
hab'  ich  allzeit  geehrt. 

Man  sieht,  dass  die  zwei  Anfangsverse  der  Strophe  in  den  beiden  Liedem 
von  Älamix  und  von  Muheim  wörtlich  sich  gleichen.  Welcher  der  beiden  Autoren 
ist  nun  in  diesem  Falle  unser  Original?  Dies  kann  nur  derjenige  sein,  welcher 
seine  Liedstrophe  so  richtig  baut,  dass  sie  in  allen  ihren  Theilen  mit  der  sie 
begleitenden  Melodie  correspondirt.  Dies  thut  Mamix;  seine  vorliegende  Strophe 
ist  singbar,  weil  in  ihr  die  logische,  rhythmische  und  melodische  Periode  zu- 
sammentreffen. Gegen  diesen  dreifachen  Vorzug  des  wahren  Volksliedes  sündigt 
Muheim,  darum  ist  seine  Strophe  gesangwidrig ;  denn  sie  bindet  den  Vers  4  und  5 
in  Eine  grammatische  Construction  zusammen  und  zerreisst  dadurch  Beides:  das 
logische  Ebenmass  der  zwei  Strophenhälften  und  das  rhythmische  der  sie  beglei- 
tenden Melodie.  Bei  Marnix  ist  die  Strophe  ihrer  Melodie  auf  den  Leib  ge- 
schnitten, bei  Muheim  ist  sie  ein  entlehntes  und  darum  falsch  sitzendes  Kleid. 
Jene  besteht  mit  und  durch  ihre  Melodie,  sie  lebt  mit  der  Volksweise  im  Volks- 
munde fort;  diese  ist  ein  Product  der  tauben  Schreibstube,  Niemand  weiss  mehr 
ihren  »Ton«  zu  singen.  Hiemit  ist  die  Frage  über  das  geistige  Eigenthumsrecht 
erledigt.  Leichter  fällt  nun  der  Nachweis,  wie  ungelenk  der  schweizerische  Co- 
piste  den  Gedankengang  des  Holländers  »ver-urnert«f.  Er  setzt  schon  in  Vers  3 
des  Teilen  »Geschoss  und  Pfeil«  voran,  wo  Marnix  mit  patriotischer  Vernunft  das 
Vaterland  angesetzt  hat,  und  lässt  dieses  dann  erst  in  Vers  5  nachhinken.  Er 
bricht  schon  in  Vers  6  voreilig  heraus  mit  der  Phrase  »vertrieben  Tyranney«f, 
welche  bei  Marnix   erst  in   Strophe  6  erscheint:    »Die  Tyrraney  vertreiben«.     Er 


9.   Drei  Tellenlieder  von  1477,  1672  und  1633.  \^j 


schliesst    seine    erste    Strophe    mit  der   eben  so   sehr  verfrühten   Erwähnung    des  1 

Bundes  im  Rütli:  »Ein  vesten  bundt  geschworen  händ  vnser  g' seilen  Drey«.  Mar- 
nix,  der  hier,  seinen  einen  Helden  allein  zu  besingen  hat,  schweigt  darum  über 
den  Dreimänner-Bund,  über  welchen  hier  zu  sprechen  auch  er  ganz  berech- 
tigt gewesen  wäre.  Er  hatte  nemlich  die  niederländische  Compromiss-Acte  ent- 
worfen gegen  die  Einführung  der  spanischen  Inquisition,  und  die  zwei  ihm  Bei- 
tretenden: Herzog  Ludwig  von  Nassau  und  Heinrich  von  Brederode,  hatten  feier- 
lich gelobt,  »mit  Leben  und  Gut«  einander  beizustehen. 

Muheims  Strophe  4  steht  vorausgeschrieben  beiMarnix'  Strophe  2,  Vers  i — 4; 
Strophe  5,  V.  4 — 8 ;  und  Strophe  9,  V.  3 — 8. 

In  Gottes  forcht  zu  leben 
hab'  ich  allzeit  betracht, 
darumb  bin  ich  vertrieben, 
umb  land  u.  leut'  gebracht.  — 
Für  Gottes  wort  geprisen 
hab'  ich  frey  unverzagt, 
als  ein  held  sonder  forchten, 
mein  edel  blut  gewagt.  — 
Darnach  so  thut  verlangen 
mein  fürstlich  gemüt. 
Das  ich  doch  möge  sterben 
mit  ehren  in  dem  feld, 
ein  ewigs  reich  erwerben, 
als  ein  getrewer  held. 

Muheims    Strophe  9,   Vers  5   steht  wörtlich   im  flämischen   Volksl.   von   Graf 

Egmond,  Strophe  6:  ' 

Bald  to  der  sülven  stunde 

de  graf  vam  Home  gut,  etc. 

Dieses  Lied,  in  derselben  Strophen-  und  Versart  verfasst,  wie  das  Teilenlied, 
liegt  vor  als  Fl.  Blatt  vom  Jahre  1568,  und  hochdeutsch  als  Fl.  Blatt  von  1569. 
Siehe  Uhlands  VolksU.  No.  356  und  S.  1040.  Dasselbe  ist  also  gleichfalls  um  ein 
Jahrhundert  älter  als  Muheims  Teilenlied. 

Muheims  Strophe  16  ist  Marnixens  Strophe  8,  und  hier  also  lautend: 

Als  David  muste  fliehen 
vor  Saulo  dem  tyrann, 
so  hab'  ich  müssen  weichen 
mit  manchem  edelman; 
Aber  Gott  thet  jhn  erheben, 
erlösen  aus  der  not, 
ein  königreich  gegeben 
in  Israel  sehr  gross. 

I  Muheims   Strophe  19   wiederholt  den   Gedankengang    und    die    Formeln    von 
Mamix'    Strophe  4: 

Leib  und  gut,  alls  zusammen, 
habe  ich  nit  gespart, 
meine  brüder,  hoch  mit  namen, 
haben  euch  auch  verwart. 


Iq8  I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Graf  Adolff  ist  geblieben 
in  Friesland  in  der  schlacht, 
sein  seel  im  ewgen  leben 
erwardt  den  jüngsten  tag. 

Der  Ton  des  Wilhelm  von   Nassaue   ist   ursprünglich   kein   anderer  als  der 

des  Nibelungenliedes;  selbst  die  vier  Hebungen  in  der  achten  Strophenzeile  brechen 

noch  oft  genug  durch,  um  mehr  als  zufallig  zu   sein.     (Soltau ,   VolksU. ;   Zweites 

Hundert,  S.  45.)     Nach   dem  Namen  der  mehrfachen  in  diesem  Tone  besungenen 

Helden   hat    denn    die  Liedweise    ihren  Namen    oft  geändert    und  nennt  sich  der 

Reihe  nach: 

Hildebrandston.     Hierüber   vergl.  Jak.  Grimm,   Meistergesang   S.  136;   und 

Uhland,  VolksU.  H.  S.   1013. 

Graf  von  Rom:    Uhland,  VolksU.  No.  299. 

Rümensatel:    Uhland,  VolksU.  No.  127. 

Der  Benzenauer:   Zubenannt  nach  dem  Liede  von  der  Belagerung  des  tiroler 

Schlosses  Kufstein  im  Jahre  1504-    Ein  hüpsch  lied  von  dem  Benzenouwer, 

wie   es   im   ze   Kopfstein   ergangen.       LiUencron ,     Die   histor.   VolksU.  IL 

No.  246.     Die  Melodie  dazu,  1.  c.  Bd.  V,  No.  XIII. 

D  er  Bruder  Veit. 

Das    Spottlied:    »Gott  griiss  dich,    Bruder  Veite«,   womit   die  schweizerischen 

Söldner  während  der  Mailänder  Feldzüge  ihre  Gegner,  die  deutschen  Landsknechte 

verhöhnten,  ist  verloren.     Die  landsknechtische   Antwort  darauf  hat  -sich  erhalten. 

Sie  erfolgte  nach  der  Niederlage  der  Schweiz^rtruppen  bei  Marignano  1515,  nennt 

sich  »Bruder  Veit  wider  Heini,  Ain  lied  von  den  schweützeren«  (Uhland,  VolksU.  II, 

S.  1019),   ist  in   der   Strophenform   des   vorausgegangenen  schweizerischen  Liedes 

gedichtet,  wie  aus  dessen  vorhandenen  zwei  Anfangsversen  erhellt,  und  hält  auch 

denselben  Ton,    was   sich   daraus    erweist,    dass  es  gesungen  worden  ist  nach  der 

Melodie : 

Lobt  Gott,  ihr  Christen  alle 

In  teutscher  Nation. 

LiUencron,  1.  c.  Bd.  3,  No.  292.  Die  Melodie  zu  letzterem  Texte  steht 
ebenda,  Bd.  5,  No.  XV. 

»Bis  zum  Anfang  des  siebzehnten  Jahrhunderts  gab  es  Lieder  zum  blossen 
Lesen  noch  nicht;  Wort  und  Weise  waren  noch  zwei  von  einander  untrennbare 
Seiten  desselben  Kunstwerkes,  die  erst  gemeinsam  mit  einander  ein  Lied  bilden. 
Kein  Dichter  liess  ein  Lied  ausgehen,  ohne  dass  er  ihm  entweder  in  einer  neuen, 
oder  in  einer  von  einem  älteren  Liede  entlehnten  Melodie  auch  die  Form  seines 
Lebens  und  Wirkens  mit  auf  den  Weg  gab.  Wählte  der  Dichter  eine  im  Volke 
schon  umlaufende  Melodie ,  dann  wird  entweder  Schönheit  und*  Beliebtheit  der 
Melodie  seine  Wahl  bestimmt  haben;  oder  nicht  minder  häufig  und  entscheidend 
war  irgend  eine  Verwandtschaft  und  Beziehung  seines  neuen  Liedes  zu  dem  älteren. 
Dadurch  hatten  die  Liedersänger  einen  nicht  zu  verkennenden  Vortheil,  denn 
durch  die  Beziehung  auf  das  ältere  Lied  vermochten  sie  gleich  mit  der  ersten 
Zeile  ihres  neuen  Liedes  gewisse  bestimmt  gerichtete  Empfindungen  im  Hörer 
anklingen  zu  lassen. 

»Nun  ist  es  bekannt,  dass  die  Dichter  es  damals  liebten,  wenn  sie  die  Melodie 
eines  Liedes  zu  einem  neuen  benutzten,  auch  seine  Eingangszeile  entweder 
ganz  beizubehalten,  oder  sie  dem  Hörer  durch  einen  Anklang  daran  in  die 


9.    Drei  Tellenlieder  von  1477,   1672  und   1633.  igg 

Erinnerung  zu  rufen,    um   auf  diesem  Wege  ihr  neues  Lied  um  so  fester  an  die 
bekannte  Melodie  zu  knüpfen.«     Liliencron  1.  c,  Bd.  5,  S.  i  und  82. 

Das  Lied  von  Wilhelm  von  Nassau   hatte    seine  Verbreitung  und  Beliebtheit 
besonders  seiner  hübschen  Weise   zu  verdanken.     Seine  Melodie   ist   eine  so  an- 
genehme, schreibt  Joh.  Mattheson  im  Mithridat  (Hamburg  1749,  S.  12 — 14),  dass 
es  nicht   nur  schon  vor  mehr  als   anderthalb   hundert  Jahren   auf   allen  Thürmen 
geblasen,   mit   den  Glockenspielen  geläutet,    auf  allen  Gassen   gesungen    und  ge- 
sprungen (getanzt)  wurde,  »sondern  dass  es  noch  bei  dem  heurigen  Friedensfeste, 
13.  Juni  1749,  zu  Maestricht  und  im  Hag  hat  feierlich  erklingen  müssen.«     W^ei- 
marer  Jahrbücher  4,    163,      Nach  Melch.   Lusser's    Bericht   in    der    Statistik   des 
Kantons  Uri  (wiederholt  in  Osenbrüggens  Neue  Culturhistorische  Bilder  1864,   119) 
wird  bei  Eröffnung  der  Urner  Landsgemeinde  von  der  Musik  die  Arie  des  Tellen- 
liedes  aufgespielt.     Diese  Notiz  gilt  jedoch  heute  schon   nicht  mehr.    Der  Altorfer 
Musikverein,  der  bei  der  Landsgemeinde  zu  spielen  pflegte,    hat  sich  vor  längerer 
Zeit  aufgelöst,  aber  auch  er  kannte  die  Weise  des  Tellenliedes  nur  in  ihrer  einen 
Hälfte  und  war  also  genöthigt,  die  achtzeilige  Liedstrophe  als  zwei  melodisch  sich 
gleiche  Vierzeilen  vorzutragen.    Ein  solches  Melodienfragment  kann  von  der  Blech- 
musik geblasen,  nicht  aber  kann  darnach  ein  Volkslied  abgesungen  werden.     Die 
Weise  des    Tellenliedes   ist   also   auch  im    Umer  Volksgedächtnisse   ausgestorben. 
So  berichtet  man  uns  aus  Altorf  von  Seite  eingeborner  und  musikalisch  gebildeter 
Männer,  und  zwar  unter  Beischliessung  jenes  Fragmentes,  das  weder  alt,  noch  von 
musikalischem  Werthe,  noch  überhaupt  echt  ist. 


s 
I 


X. 

Die   Teilenschauspiele  in  der  [Schw^eiz  vor 

Schiller 

(geschrieben    1863). 


Erster  Abschnitt. 

Uebersicht  der  politischen  Zustände  der  Schweiz  seit  Ende  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts. —  Die  damalige  Volkspoesie.  —  Das  ältere  Tellenlied  und  das  Umerspiel 

über  Wilhelm  Teil. 

Das  Vorhandensein  von  Volksschauspielen  über  den  Wilhelm 

t 

Teil  und  den  Tellenschuss  lässt  sich  in  der  Schweiz  seit  vierthalb 
Jahrhunderten  nachweisen.  Der  Fluss  dieser  Dichtung  war  aus 
dem  Volksliede  entsprungen,  und  erst  seitdem  er  durch  Schillers 
Wilhelm  Teil  zum  Stehen  gebracht  ist,  hat  das  schweizerische 
Landvolk  bei  den  jahreszeitlichen  Festumzügen  um  Neujahr, 
Ostern  und  Pfingsten  aufgehört,  Scenen  aus  jenem  alten  Spiel 
aufzuführen,  wnd  sich  dagegen  des  Schillerschen  Textes  bemäch- 
tigt. Echte  würdige  Volkspoesie  hat  bei  dieser  Umwandlung  des 
Volksgeschmackes  keine  Einbusse  erlitten.  Denn  der  Text  des 
alten  Teilenspieles  war  allmälich  bis  auf  die  allerletzten  Schlag- 
wörter in  Vergessenheit  gerathen,  die  noch  erinnerliche  Scenen- 
folge  wurde  höchstens  als  ein  Rahmen  benutzt,  um  alles  Andere, 
Altes  und  Neues,  gelegenheitlich  mit  einzufügen.  Man  hat  noch 
in  den  dreissiger  fahren  zu  Bern  ein  Zuschauer  solcher  halb  im- 
provisirter  Aufführungen  sein  können.  Spielte  man  da  um  Ostern 
oder  Pfingsten  in  der  dortigen  Marktgasse  und  Kreuzgasse  den 
Teil,  so  gieng  dies  vor  allem  nie  ohne  zwei  gewaltige  Theater- 
bären in  Scene,  die  man  fälschlich  für  Berner  Wappenbären  an- 
sah, während  sie  ein  Ueberrest  jenes  traditionellen  wilden  Bären 


lo.    Die  Teilenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  20I 

I 

waren,  der  im  mittelalterlichen  Schauspiel  die  Geschwätzigkeit 
der  zuschauenden  Weiber  und  Kinder  einschüchtern  und  geschwei- 
gen  hatte  müssen.  Einer  von  jenen  beiden  erschien  in  weissem 
Pelze,  d.  h.  in  der  damaligen  Parteifarbe  der  eben  an's  Staats- 
ruder gekommenen  Weissen  oder  Radicalen,  der  andere  in 
schwarzem  Pelze,  also  in  der  Berner  Standesfarbe;  abwechselnd 
tanzten  sie  vor  dem  Wohnhause  eines  Mitgliedes  des  neuen 
Regierungsrathes  oder  eines  aus  dem  Regimente  abgetretenen 
Patriciers  und  fiengen  da  die  paar  Batzen  auf,  die  man  ihnen  aus 
den  Fenstern  zuwarf.  Einige  Harlequine  machten  hierauf  Platz 
unter  der  Volksmenge,  der  mitgekommene  Bacchuswagen  mit 
seinen  als  Weingötter  maskirten  Küferknechten  fuhr  bei  Seite, 
ein  Haufen  Berittener  in  russischen  Pelzen,  in  Ritterharnischen, 
ja  sogar  in  den  Rothfräcken  der  damals  aufgelösten  französischen 
Schweizergarde  zog  in  den  Ring  herein  und  schloss  ihn  ab. 
Immer  noch  kam  kein  Teil,  dagegen  einstweilen  ein  Männlein  in 
gelbledernen  Hosen,  immergrünem  Landjägerfrack,  mit  einem 
schwarzen  Stutzhütchen.  Dieser  begann  von  einem  eigenen  Ge- 
rüste herab  dem  Auditorium  vorzuerzählen ,  er  sei  Napoleon,  sei 
von  seiner  Gemahlin  betrogen  worden  und  darüber  auf  Helena 
gestorben.  Nachdem  er  hierauf  in  einen  besonders  bereit  gehal- 
tenen Sarg  gelegt  und  schonend  über  das  Gerüste  herabgetragen 
worden  war,  sah  man  ihn  drunten  alsbald  wieder  auferstehen,  sein 
kurzes  Pfeifchen  stopfen  und  tabakrauchend  unter  den  Berner 
Lapdmädchen  umherscharmutzieren.  Plötzlich  aber  entsteht  Lärm : 
der  Gessler  kommt  I  Ein  reichgekleideter  Bauer  ruft  mit  gebie- 
terischer Stimme  vom  Ross  herab :  Tau  I  d.  h.  Teil.  Ihm  gegen- 
über kommt  hierauf  ein  stämmiger  Kerl  in  geschlitztem  Wamms 
mit  einem  Büblein  und  einer  Armbrust  aus  der  nächsten  Keller- 
wirthschaft  unter  den  städtischen  Lauben  heraufgestiegen  und  tritt 
vor  den  Landvogt.     Dieser  schreit  ihn  an: 

Tau!  du  trutzige  Rebäu  (Rebell), 
Wellis  isch  di's  liäbst  Chingf 

Teil  zeigt  stumm  auf  den   mitgebrachten  Knaben.     Gessler  fährt 

fort: 

Su  gang  und  schiess  dim  Ching 

Der  Oepfel  ab  sim  Chringl   (Grind). 

Pieser  Phrase  wird   man  nachher  im  ältesten  Tellenspiel  wieder 
begegnen.)     Die  Trabanten  machen  einie  Gasse  gegen  ein  voraus- 


202  !•   I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

gesetztes  Ziel,  dem  Kinde  wird  ein  Apfel,  in  welchem  ein  Pfeil 
steckt,  aufs  Haupt  gelegt,  unter  manchen  Gesticulationen  drückt 
der  Schütze  ab,  und  in  der  Freude  über  den  gelungenen  Meister- 
schuss  beginnt  der  dicke  Bacchus  mit  dem  Hanswurste  sogleich 
einen  Fangtanz  um  die  aufgeladenen  Weinfässer.  Letztere  sind 
inzwischen  durch  die  Freigebigkeit  der  zunächst  wohnenden  Zu- 
schauer mit  Lacote  gefüllt  worden,  Gessler  und  Teil  stossen  an 
auf  die  hohe  Regierung,  auf  die  Freiheit,  auf  die  Stadt  Bern, 
auf  den  freigebigen  Weinkeller.  Alles  reitet  und  fährt,  wie  es 
gekommen,  wieder  zum  Thore  hinaus,  dem  heimatlichen 
Dorfe  zu. 

Dies  waren  während  der  dreissiger  Jahre  im  Gedächtnisse  des 
Berner  Landvolkes  die  letzten  Ueberbleibsel  vom  Tellenspiel.  Die 
Kantone  regenerirten  sich  damals  politisch  und  warfen  sich  zu- 
gleich auf  die  Regenerirung  der  Volksschule,  die  überaus  vernach- 
lässigt gewesen  war.  Die  Berner  Regierung  verbreitete  in  den 
unteren  Schichten  würdigere  Anschauungen,  indem  sie  unter 
Anderem  Schillers  Teil  zum  Schulbuche  machte  und  die  vater- 
ländische Geschichte  zum  Lehrgegenstand  erhob.  Mit  ein  Product 
dieses  Umschwunges,  welcher  seither  in  der  allgemeinen  Urtheils- 
weise  eingetreten  ist,  ist  auch  nachfolgende  Untersuchung,  die 
sich  ausschliesslich  die  Geschichte  des  dramatisierten  Wilhelm 
Teil  vor  der  Schillerschen  Epoche  zu  ihrem  Gegenstande  ge- 
wählt hat. 

Die  Ursprungsgeschichte  der  uns  bekannten  ältesten  Teilen- 
spiele gehört  selbstverständlich  der  Schweiz  allein  an,  fuhrt  uns 
aber  keineswegs  auf  jene  literargeschichtlichen  Vorfragen  zurück, 
wie  das  Volksschauspiel  hier  zu  Lande  überhaupt  sich  gestaltet 
habe,  sondern  versetzt  uns  mitten  in  die  Politik  der  fürstlichen 
Cabinete  und  der  demokratischen  Kantone. 

Nach  den  glorreichen  Siegen  über  Burgund  war  die  Schweiz 
nahe  daran,  aus  einem  Hirtenlande  in  einen  Militärstaat  sich  zu 
verkehren.  Mit  den  damaligen  WafTenerfolgen  erwachte  gleich- 
zeitig der  erste  Keim  einer  nationalen  Literatur,  und  auch  sie 
war  eine  kriegerische.  Gewesene  Feldhauptleute,  wie  Petermann 
Etterlin  von  Luzern,  wurden  Chronisten,  und  ihre  Jahrbücher 
giengen  von  dem  stolzen  Plan  aus,  die  Schicksale  des  helvetischen 
Landes  von  den  mythischen  Zeiten  der  Karolinger  an  bis  auf  die 
selbst  erlebten  Tage  von  Murten  und  Grandson  immer  siegreich 
wie    in    einer   zusammenhängenden  Reihe    von   Trophäen   darzu- 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  203 

Stellen.  Das  ältere  Volkslied  vom  König  Dietrich  von  Bern,  vom 
Tannhäuser  und  der  Frau  Verene  machte  gleichermassen  dem 
historischen  Schlacht-,  Spott-  und  Ehrenliede  Platz,  und  dieses 
wieder  dehnte  sich  zu  unförmlich  grossen  Reimchroniken  aus. 
Unwillig  feiernde  Söldner  und  Büchsenmeister,  nicht  minder  auch 
die  Land-  und  Stadtschreiber,  die  Mönche  und  ihre  geistlichen 
Notare,  städtische  Schulhalter,  Zunft-  und  Schützenschreiber  ver- 
suchten damals  in  meistersängerisch  monotonen  Reimsprüchen  ihr 
poetisches  und  politisches  Feuerlein  anzuzünden,  kleinste  Orts- 
begebenheiten stabil  an  die  mächtigsten  Weltbegebenheiten  an- 
schliessend. Bereits  hatte  die  älteste  Befreiungsgeschichte  der 
drei  Waldstätte  ihre  dichterische  Verkörperung  in  Volksromanzen 
gefunden ;  dies  erweist  uns  Melchior  Russ ,  dessen  Prosachronik 
auf  ein  altes  Tellenlied  verweist.  Ebenso  war  das  Lied  von 
Winkelrieds  Opfertod  im  Munde  des  Volkes  gewesen,  wie  das 
Fragment  daraus  in  Tschudi's  Chronik  zeigt.  Doch .  die  rasch- 
gehende Zeit  von  den  siebenziger  Jahren  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts an  bis  zu  dessen  Ende,  wo  alsbald  auf  den  sogenannten 
Schwabenkrieg  die  Mailänder  Feldzüge  folgten,  stand  zu  der 
ruhigen  Einfalt  des  alten  Volksliedes  in  keinem  Verhältnisse  mehr, 
auch  dieses  musste  sich  in  die  beweisführende  Breite  und  Länge 
des  chronikalen  Pragmatismus  ausspinnen  lassen,  abgerechnet  die 
eitle  Weisheit  des  Politikers,  oder  die  rohe  Eitelkeit  des  Soldaten, 
welche  wechselweise  mit  in  diese  alten  Liedertexte  hineinpfuschten. 
So  geschah  es,  dass  wir  das  Winkelriedslied  hur  noch  in  der 
meistersängerischen  Ausgedehntheit  und  Strophenmasse  besitzen, 
welche  Halbsuter  in  seinem  Liede  von  dem  Streit  zu  Sempach 
unziemlich  daran  gehängt  hat;  oder  dass  das  Tellenlied  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  nur  in  der  politischen  Parodie  übrig  ist, 
welche  ihm  im  siebzehnten  der  Urner  Muheim  gegeben  hat.  Diese 
poetischen  Verirrungen  waren  nur  eine  Folge  der  vorausgegangenen 
politischen.  Das  Land,  das  durch  seine  kühne  Selbstvertheidigung 
zu  einem  europäischen  Ruf  gelangt  war ,  liess^  sich  durch  einhei- 
mische und  fremde  Staatsmänner  zu  dem  Glauben  verleiten,  es 
sei  ihm  von  nun  an  auch  eine  Rolle  in  der  auswärtigen  Diplo- 
matie angewiesen,  und  die  Folge  dieser  Selbsttäuschung  war  das 
Söldnerwesen,  das  bald  jedes  Oertlein  der  Schweiz  beschäftigte 
und  jedem  gedenkbaren  Winkel  des  Auslandes  Soldaten  lieferte. 
Es  kam  die  Reformation.  Die  schweizerischen  Kirchenrefor- 
matoren sind  zugleich  schweizerische  Patrioten;   neben   den  Miss- 


204  ^'    ^^'  Sagenkreis  von  Teil. 

brauchen  in  der  Kirche  suchen  sie  auch  die  im  Staate  eingerisse- 
nen Uebel   mit  einer  dem   republikanischen  Bürger   zustehenden 
poHtischen  Entschiedenheit  auszutilgen.     Dies   unterscheidet  einen 
Zwingli  um  ein  .Namentliches  von  der  politischen  Willenslosigkeit 
Luthers.     Zwingli  hat  die  Uebel  des  Söldnerdienstes  während  der 
Mailänder  Feldzüge    als  Augenzeuge   kennen  gelernt    und   uner- 
schrocken  als   Priester   dagegen   gepredigt.      Bald   handelte   das , 
reformirte  Zürcherland  in  dieses  Mannes  Sinne,   die  noch  vorhan- 
denen Capitulationen  wurden  mit  ihrer  Ablaufszeit   für  erloschen 
erklärt,   der  Abschluss   neuer  für  immer   verboten.     Mit  seinem 
Tode  und  der  gleichzeitigen  Niederlage   der  Züricher  bei  Kappel 
konnte   ein   Zustand  momentaner  Erschöpftheit  nicht   ausbleiben, 
und  alsbald   erschien   auch    der   fremde    Versucher   wieder.      Es 
handelte   sich  darum ,  im  Namen  der  gesammten  Schweiz  neue 
Capitulationen  mit  Frankreich  abzuschliessen ;    alle  Kantone  sind 
bereits  dafür  gewonnen,  Zürich  schwankt  noch.     Da  tritt  Zwingli's  i 
Amtsnachfolger,   Heinrich  Bullinger,   vor  den  Züricher  Rath,   um 
auch  im  Namen  der  Kirche  Bericht  zu   erstatten:    »Ob   es   einer  i 
christlichen  freien  Stadt  und  Land   Zürich  heilsam  sei ,   sich  mit  \ 
der  Krone    Frankreich   zu   verbünden.«     Er   ruft  dem  Rath   die  | 
Bibelstelle    i.  Samuel  8,   in  Erinnerung:    »Der  König   wird  eure 
Söhne  nehmen  zu   seinen  Wagen   und  Reitern,   eure  Töchter  zu 
seinen   Köchinnen    und    Bäckerinnen,    eure   besten   Aecker    und 
Weinberge  Wird  er  nehmen  und  sie  seinen  Knechten  vertheilen.« 
Alsdann  berechnet  er  die  Niederlagen,   welche  bisher  die  Werbe-  ! 
truppen  im  Auslande   erlitten,   und  erweist,   dass  man  von  1512! 
an  bis  zum  damaligen  Jahre  1 549,  also  innerhalb  blosser  achtund- 
dreissig  Jahre,  mehr  Leute  eingebüsst  habe  als  in  allen  vorherigen 
Kriegen  seit  Entstehung  der  Eidgenossenschaft   (die  er  von  13 161 
datirt),   also   seit   ganzen   233  Jahren.     Sein,  Schlusswort  heisst: 
»Die  Väter  band  also  ihre  Kinder  dem  König  (von   Frankreich), 
zur    Metzg    erzogen.«      (Hds.    Samml.    Bd.  35,    Fürträg    der 
Züricher  Geistlichen,  in  der  Bibliothek  der  Aargau.  Histor. 
Gesellschaft.)  —  Dass  Bullinger  hier  nicht  missrechnete,  wird  sich 
sogleich  ergeben;   die  Geschicke  aber  nahmen  damals  ihren  Ge- 
wohnheitsweg,  und  die  Schweiz   ergab   sich  fernerhin  dem  Aus- 
lande, mochte  nun  ein  einzelner  Stand  wie  Zürich  opponieren  oder 
nicht.    Freilich  zögerte  manche  regenerierte  Kantonsregierung,  ihre 
Landeskinder  hinzugeben  an  katholische  Staaten  wie  Frankreich, 
und  sie  dort   zur   Bekämpfung   und  Ausrottung  der   reformirten 


j 


lo.   Die  Teilenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  205 

Kirche  verwenden  zu  lassen,  für  deren  Lehre  sie  selbst  eben  erst 
gewonnen  waren.  Aber  gerade  infolge  der  Glaubensspaltung  der 
Schweiz  wuchs  nun  auch  die  Reisläuferei  wieder,  indem  man  hier 
protestantische  j  dort  katholische  Allianzen  aufsucl^te.  Mit  dem 
gewohnten  Geldinteresse  verschwisterte  sich  der  confessionelle 
Hass,  man  stempelte  die  Miethstruppen  zu  Stützen  des  Glaubens, 
und,  wo  von  nun  an  in  Europa  ein  Staatsstreich  im  Grossen  ver- 
sucht wird,  sind  schweizerische  Söldner  dabei  Werkzeuge  gewesen. 
Ein  Beispiel  genügt,  dasjenige  der  Pariser  Bartholomäusnacht. 
Man  hatte,  um  diese  sogenannte  Bluthochzeit  in's  Werk  zu  setzen, 
damals  die  Truppen  und  Hauptleute  der  fünf  kleinen  oder  katho- 
lischen Kantone  eigens  nach  Paris  verlegt.  Das  Gemetzel  gegen 
die  Reformirten  dauerte  nicht  etwa  eine  Nacht,  sondern  sieben 
Tage  fort  und  raffte  5000  Menschen  hin.  Als  der  bekannte 
Rechtsgelehrte  Franz  Hottomann,  damals  Professor  zu  Bourges, 
mit  Hilfe  deutscher  Studenten  dem  Tode  entronnen  war,  schreibt 
€r  von  Genf  aus  an  Johann  Haller  in  Bern  und  an  Heinrich 
BuUinger  in  Zürich:  »Die  schweizerische  Leibwache  hat  bei  der 
Blutarbeit  die  Palme  errungen.  Martin  Koch  von  Freiburg 
(Uechtland)  erstach  den  Admiral  (Coligny)  mit  einem  Schwein- 
spiess;  er  hat  10,000  Kronen  erbeutet  und  ist  Lieutenant  worden. 
Moritz  Grüner  von  Nieder-Urnen  riss  ihn  aus  dem  Bette.  Moritz 
Klein  von  Ölten  hat  2000  Kronen  in  Gold,  100  Kronen  in  Silber- 
geschirr und  des  Admirals  Röcklein.  Ungefähr  um  die  neunte 
Stunde  (Morgens,  24.  Aug.  1572)  ist  man  mit  dem  Metzgen 
der  (calvinistischen)  Edelleute  fertig  gewesen.«  (Escher- Hottinger^ 
Schweiz.  Archiv  2,  449.)  Die  Medaille,  welche  Papst  Gregor 
;  der  Dreizehnte  auf  diesen  Sieg  des  Glaubens  prägen  Hess,  wird 
I  bis  heute  zu  Rom  fortgeprägt  und  vertheilt,  und  ein  Befehl  des 
päpstlrchen  Maestro  del  sacro  Falazzo  vom  Februar  1864  schränkt 
gegenwärtig  den  Brauch  nur  dahin  ein,  dass  blosse  Privatbestel- 
lungen nicht  femer  ausgeführt  werden  sollen.  Die  Medaille  selbst 
verbleibt  mithin  in  ihrer  bisherigen  Geltung,  sowie  auch  die  Reis- 
läuferei,  trotz  der  Einsprache  der  schweizerischen  Bundesregierung, 
bis  dahin  ihren  letzten  Schlupfwinkel  im  Römischen  hatte.  Noch 
immer  hat  der  sonntägliche  Prediger  von  der  Pfarrkanzel  der 
Luzemer  Hofkirche  herab  für  die  katholischen  Söldner  folgendes 
vorgeschriebene  Gebet  zu  sprechen:  »Gieb  Kraft  und  Stärke  und 
glückseligen  Sieg  unsern  christkatholischen  Kriegsleuten,  verleihe 
ihnen    kräftige    Ueberwindung     aller    Feinde     des     katholischen 


2c6  ^*     ^^'  Sagenkreis  von  Teil. 

Glaubens,  und  nach  dem  eine  fröhliche  Ankunft  in  ihr 
Vaterland.«  Diese  Gebetsformel  steht  bei  Marzohl-Schneller, 
Liturgia  Sacra  2,  276,  einem  von  dem  jüngst  verstorbenen  Bischof 
von  Solothurn  durch  besondere  Approbation  empfohlenen  Werke. 
Wohin  alle  diese  von'  den  Söldnern  erfochtnen  und  von  der 
Kirche  sanctionirten  Siege  für  die  -Schweiz  selbst  gefuhrt  haben, 
ist  aus  einer  vorhin  angeführten  Berechnung  des  Reformators 
Bullinger  schon,  zu  ersehen  gewesen.  Verödung,  Entvölkerung 
und  Armuth  des  Landes,  politische  Schwäche  nach  Aussen,  zu- 
nehmende Unterdrückung  und  Obscuranz  im  Innern  mussten 
unausbleibliche  Folgen  sein.  Da  aber  der  weniger  unterrichtete 
Leser  dasjenige,  was  er  selbst  nicht  zu  erweisen  vermag,  gern  im 
Ganzen  zu  bezweifeln  pflegt,  so  soll  hier  seiner  Einsicht  durch 
ein  drastisches  Rechenexempel  nachgeholfen  werden.  Als  die 
Kantone  wegen  der  Soldrückstände,  die  für  ihre  französischen 
Werbetruppen  aufgelaufen  waren,  wiederholt  und  mit  mehrfachen 
Gesandtschaften  in  Paris  zur  Audienz  erschienen,  fand  sich  Minister 
Louvois  belästigt  und  liess  endlich  gegen  eine  abermalige  Am- 
bassade  die  übelgelaunte  Aeusserung  fallen,  mit  den  bereits  an 
die  Miethstruppen  bezahlten  Fünflivrethalern  Hesse  sich  eine 
Chaussee  von  Paris  bis  Basel  pflastern.  Sogleich  erwiderte  darauf 
General  Suppa:  Mit  dem  für  Frankreich  vergossenen  Schweizer- 
blute lasse  sich  ein  schiff"barer  Kanal  gleichfalls  von  Paris  bis 
Basel  füllen.  Beide  hatten  gleich  Recht.  Denn  vom  elften  bis 
zum  vierzehnten  Ludwig  hatten  die  Schweizer  den  Franzosen 
geliefert  1,110,799  Mann  und  dafür  das  Rekrut'engeld  empfangen 
von  1,146,868,623  Gulden.  (Schlözer,  Briefwechsel  4,  Heft  32.) 
Achtzehn  elende  Livres  monatlich  waren  fast  durchgehends  der 
Lohn,  für  welchen  der  Gemeine  fremden  Potentaten  seinen  Kopf 
darbot,  indess  die  regierenden  Familien  in  den  Städte-  und  Länder- 
kantonen sich  mit  der  Anwerbung  der  Mannschaft,  dem  Verkauf 
der  Chargen  und  der  Regimentsverwaltung  bereicherten.  Man 
hatte  das  Stichwort  der  französischen  Gloire  bereits  in's  Schweizer- 
deutsche '  übersetzt ;  mit  der  Unüberwindlichkeit  der  Schweizer- 
waffen und  mit  deren  Beruf,  allenthalben  die  von  Gott  gesetzte 
Obrigkeit  aufrecht  zu  erhalten,  glorificirte  man  dem  gemeinen 
Mann  seine  armselige  Existenz.  Dies  blieb  der  amtliche  Ton  bis 
zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts.  Der  unter  obrigkeitlicher 
Censur  erschienene  Berner  Kalender  von  1761,  genannt  der 
Hinkende  Bote,    theilt  die   gleichzeitige  Begebenheit  mit,   wie  zu 


i 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  207 

Lissabon  ein  portugiesisches  Regiment  darüber,  dass  ein  straf- 
fälliger Soldat  fünfzig  Fuchtel  mit  der  flachen  Klinge  erhalten 
soll,  in  Meuterei  ausbricht  und  von  der  daselbst  stehenden 
Schweizergarde  zu  Paaren  getrieben  wird.  Der  Staatskalender 
der  Berner  Regenten  leitet  nun  diese  Geringfügigkeit  mit  folgenden 
Wachtmeistergedanken,  ein : 

»Es  ist  gewiss,  dass  unsre  Nation  nicht  nur  eine  der  be. 
rühmtesten  in  der  Welt,  sondern  auch  so  zu  reden,  eine  der 
nützlichsten  Mitgliedern  unter  allen  europäischen  Nationen  ist. 
Wie  oft  hat  sie  durch  ihren  Beistand  ganze  Königreiche  vom 
augenscheinlichen  Untergang  errettet!« 

Wozu  nun  aber  dieser  kriegsgeschichtliche  Excurs  in  einer 
Arbeit,  welche  sich  die  Entstehung  und  Fortbildung  der  Schau 
spiele  über  Wilhelm  Teil  zur  Aufgabe  gesetzt  hat?  Die  Antwort 
hierauf  lautet:  Ohne  einen  Ueberblick  gewonnen  zu  haben  über 
die  militärischen  und  politischen  Parteiungen  der  Schweiz  des 
fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts,  bleibt  das  damals 
entstandene  früheste  Schauspiel  Wilhelm  Teil  sammt  seinen 
gleichnamigen  Nachfolgern  späterer  Zeit  so  gut  wie  unbegreiflich. 
Das  Verhältniss  der  republikanischen  Schweiz  gegenüber  dem 
monarchischen  Auslande  macht  den  politischen  Inhalt  aller  Schau- 
spiele über  Wilhelm  Teil  aus,  und  die  verschiedenartigen  Auf- 
fassungen, die  über  dieses  Verhältniss  in  der  Schweiz  selbst 
herrschend  werden,  ergeben  zugleich  die  verschiedenen  drama- 
tischen Redactionen  und  Bearbeitungen,  die  hier  zu  Land  die 
Tellengeschichte  erlebt  hat.  Hat  doch  sogar  Schillers  Teil 
schliesslich  ebenfalls  kein  anderes  Ziel  gefunden.  Auch  dort 
hängt  ein  Ulrich  von  Rudenz  nicht  seiner  Heimat,  sondern  dem 
österreichischen  Adelsprunke  an ;  auch  er  meint,  mit  seinem  Blute 
Oesterreichs  Kriege  zu  zahlen,  sei  das  Ruhmvolle.  Allein  ganz  im 
Sinne  schweizerischer  Reformatoren  und  Patrioten  erwidert  ihm 
darauf  (Aufzug  2)  sein  Oheim  Attinghausen : 

Nein,  wenn  wir  unser  Blut  dran  setzen  wollen, 
So  sei's  für  uns;  wohlfeiler  kaufen  wir 
Die  Freiheit  als  die  Knechtschaft  ein. 

Dieses  Wort  Attinghausens  war  bereits  im  fünfzehnten  Jahr- 
hundert das  Schlagwort  politisch  weitsichtiger  Männer  gewesen; 
fremder  Herren  und  fremder  Pensionen  müssig  gehen,  war  der 
Tagsatzungen  Beschluss   gewesen,   und   daher  schärft  der  Herold 


208  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

in  jenem  Tellenspiele,  das  nach  seinem  Schauplatze  zu  Uri  unter 
dem  Namen  Umerspiel  vorhanden  ist,  es  zum  Schluss  des  Stückes 
den  Zuhörern  besonders  ein: 

Wie  Miet'  und  Gaben  verblenden. 

D^ss  alles  dies  gegen'  die  Soldierer  und  Pensionierer  unter 
fremden  Fahnen,  gegen  die  sogenannten  welschen  »Kronenfresser« 
gerichtet  gewesen  ist,  bedarf  keines  Beweises.  Am  entschiedensten 
aber  singt  hierüber  das  Teilenlied  selbst,  aus  dessen  Wortlaut 
sich  das  Teilenspiel  erst  aufgebaut  hat.  Hier  eröffnet  Teil  seinen 
Landsleuten  folgende  Zukunft: 

Str.  24.   Mir  ist,  ich  g'sehe  kommen 
so  manchen  Herren  stolz 
bringen  in  grossen  Summen 
des  Gelts  und  rothen  Golds, 
damit  euch  abzumarkten, 
zu  kaufen  eure  Kind, 
die  noch  kein  Wort  nicht  sprechen 
und  in  der  Wiegen  sind. 

Str.  25.    Ich  thu  euch  dessen  warnen, 
weil  Warnung  noch  hat  Platz, 
gespannt  sind  euch  die  Garne, 
die  Hund'  sind  auf  der  Hat^. 

Str.  26.   Lasst  euch  das  Gelt  nicht  müssen. 
Die  Gaben  machen  blind, 
dass  ihr  nicht  müsset  büssen 
und  dienen  z'letst  dem  Fiend. 

In  seiner  echten  Gestalt  ist  uns  das  älteste  Tellenspiel  ver. 
loren,  nur  spätere  Redactionen  sind  davon  übrig.  Man  nennt 
dasselbe  das  Urnerspiel,  gemäss  seinem  älteren  Titel: 

Ein  schönes  Spiel,  gehalten  zu  Vry  in  der  Eydgnoszschaft 
von  Wilhelm  Thellen,  ihrem  Landmann  und  Ersten  Eydgnossen. 
Getruckt  zu  Basel  bey  Samuel  Apiario  1579,  repetirt  1648  und 
1698.  Nach  dieser  letzterwähnten  Ausgabe,  welche  sich  in  der 
gottschedischen  Schauspielsammlung  der  Weimarer  Bibliothek  vor- 
findet und  bereits  in  Kochs  Compendium  i,  271  verzeichnet  steht, 
ist  neuerlich  das  Stück  abgedruckt  worden  in  den  Weimarer  Jahr- 
büchern von  Hoffmann-Schade,  Band  5,  52.  Noch  spätere  Drucke 
sind    von   den  Jahren    1740,    1765.      Mir   selbst    liegt    wohl   der 


lo.    Die  Teilen  Schauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller,  20Q 

neueste  vor:  »Basel  bei  J.  H.  v.  Mechel,  1830.  Samt  dem 
Thellen-Lied.«  Da  dieses  Stück,  wie  eben  erwähnt,  neu  gedruckt 
vorliegt,  so  darf  sich  der  hier  folgende  Auszug  daraus  ganz  kurz 
fassen;  er  sucht  besonders  diejenigen  Parallelstellen  hervorzuheben, 
die  das  Tellenspiel  mit  dem  Tellenliede  gemeinsam  hat. 

Viererlei  Herolde  erklären  der  Reihe  nach  in  Vor-,  Zwischen- 
und  Schlussreden  die  Geschichte  der  Waldstätte.  Der  erste  Herold 
vergleicht  in  gezwungener  Gelahrtheit  die  Begebenheit  des  römi- 
schen Sextus  und  der  Lucretia  mit  der  Tellengeschichte ;  dabei 
wiederholt  er  nach  Motiv,  Gedanken  und  Ausdruck  den  Inhalt 
des  Tellenliedes  und  der  Chroniken  also : 

Wann  einer  hatt'  Weiber  oder  Kind, 
Dessgleichen  Ochsen  oder  Fründ, 

die  dem  Landvogt  geüelen  wol 

so  wollten  sie  es  haben  bald, 

galt  ihnen  gleich,  mit  Lieb  oder  G'walt. 

Darum  der  fromme  Wilhelm  Teil 

auch  musste  darum  schiessen  schnell 

ein  Apfel  ab  dem  Scheitelein 

seim  liebsten  Sohn  nicht  ohne  Pein. 

Ich  will  diess  jetzmals  lassen  stöhn, 

will  reden  wie  man  in*s  Land  ist  kon. 

Die  andere  Vorrede  des  zweiten  Herolds  erzählt  darauf,  wie 
Hunnen  und  Gothen  unter  ihrem  gemeinsamen  Könige  Achalia 
(Attila)  nach  Italien  gekommen  und  letztlich  unter  Totila  ge- 
schlagen worden  sind.  Fliehend  erreichten  sie  den  Gotthard  im 
Jahre  588  und  setzten  sich  »wie  in  alten  Chroniken  beschrieben 
ist«  in  Uri.  Die  von  Schwyz  sind  aus  Schweden,  die  Unter- 
waldner  aus  Rom  hergekommen  und  haben  das  Land  vom  römi- 
schen Reich  erworben.  —  Unter  den  alten  Chroniken  ist: 
i)  die  fabelhafte  Geschichte  gemeint,  die  Job.  Püntiner  aus  Uri, 
1441  Landesstatthalter  und  dann  Landammann,  als  Chronica 
miscella  schrieb;  sie  soll  1799  bei  dem  Brande  von  Altorf  mit- 
verkommen sein.  2)  Die  gleichfalls  verlorene  Schrift  von  Johann 
Fründ  aus  Schwyz,  1440  geschrieben,  über  der  Schwyzer  Her- 
kommen. Püntiner  nimmt  eine  gothische,  Fründ  eine  schwedische 
Einwanderung  in  die  Waldstätte  an,  beide  in  dem  phantastischen 
Geschmacke   der  althochdeutschen   Kaiserchronik.     Tschudi  hebt 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  ^^ 


2IO  !•    ^c'  Sagenkreis  von  Teil. 

einige  Stellen  aus  diesen  Chronisten  aus,   um  sie  in  seiner  Gallia 
comata  zu  widerlegen. 

Der  dritte  Herold  erzählt,  dass  Kaiser  Karl  der  Grosse  die 
Urner  von  der  Abgötterei  zum  Christenglauben  bekehrt  habe, 
und  springt  schnell  auf  den  Grafen  Rudolf  von  Habsburg  über, 
der  1243  die  drei  Länder  beredet  habe,  sich  seiner  Herrschaft 
gütlich  zu  untergeben: 

Als  aber  nachdem  er  Kaiser  ward, 
wurden  sie  bevogtet  streng  und  hart, 
welcher  Vogt  gross  Muthwillen  trieben, 
es  war  mit  Mann,  Kind,  Vieh  und  Wiben. 

Hierauf  beginnt  das  Stück  selbst.  Der  Landvogt,  er  fuhrt  im 
Stücke  noch  keinen  eignen  Namen,  redet  zu  der  urner  Gemeinde- 
versammlung und  erklärt,  Herzog  Albrecht  von  Oesterreich  habe 
ihn  als  Vogt  in's  Land  gesetzt;  sie  sollen  gehorsamen,  oder  er 
werde  ihnen  sonst  die  Näthe  noch  heftiger  bestreichen.  »Nun 
geht  Wilhelm  Teil  an  ein  Ort  neben  sich .  und  ihm  gefallt  die 
Sach  nicht.«  Staufacher  von  Schwyz  und  Erni  aus  dem  Melchthal 
in  Unterwaiden  treten  zu  ihm ;  letzterer  erzählt,  wie  er  eben 
daheim  entflohen  und  sein  Vater  geblendet  worden  sei.  Teil  giebt 
den  Rath,  man  möge  sich,  sobald  einem  etwas  anliege,  am 
»Rütlein«  zur  Versammlung  einfinden. 

Inzwischen  hat  der  Vogt  durch  seinen  Knecht  Heinz  Vögeli 
den  Hut  am  Platze  aufstecken  lassen.  Teil  begrüsst  den  Hut 
nicht  und  redet  sich,  vor  den  Vogt  gebracht,  mit  den  Worten  des 
Tellenliedes  aus: 

Denselben  zu  ehren,  war  nit  gut, 
so  es  doch  nur  war  ein  Filzhut. 

Dann  im  weiteren  Verhör  folgt  jene  etymologische  Deutung 
des  Namens  Teil,  wie  sie  in  Etterlins,  Tschudi's  und  der  unter- 
waldner  Chronik  (Weisses  Buch)  sich  wiederholt: 

War'  ich  vernünftig,  witzig  und  schnell, 
so  wär^  ich  nicht  genannt  der  Teil. 

Als  dann  der  Vater  dem  Vogt  gehorchen  muss  und  sein  Kind 
zum  Ziele  stellt,  reden  beide  über  ihr  Herzeleid  in  den  Worten 
jenes  Tellehspruches,  den  Brentano  von  einem  arther  Hausgiebel 
abschrieb  und  im  Wunderhom  drucken  liess.  Das  Tellenlied  und 
das  Stück  lassen  schliesslich  den  Vogt  fragen,  was  Teil  mit  jenem 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  211 

zweiten  Pfeile   im  Groller    »meine«;   da  Teil  hierauf  seine  Absicht 
gesteht,   spricht  der  Vogt  abermals  mit  den  Worten  des  Liedes: 

Ich  will  dich  lan  verschliessen 

in  einen  Thum,  ^da  musst  du  büssen; 

dich  soll  b'scheinen  weder  Sonn  noch  Mon, 

er  muss  gen  Kissnacht  auf  das  Schlossl 

Nachher  während  des  Seesturmes  spricht  der  Vogt  wiederum 
in  den  Worten  des  Liedes  zu  Teil: 

Drum  lond  ihn  aufbinden  zur  Stund! 
Hilf  uns  und  auch  dir  selbst  davoni 

Als  der  Vogt  erschossen,  erzählt  Teil,  nach  Uri  zurückkehrend, 
das  Abenteuer  genau  wie  der  Liedtext: 

Ein  Pfeil  daselbst  ich  in  ihn  schoss, 
dass  er  todt  abfiel  von  dem  Ross. 

Zum  Ende  dieser  Scene  tritt  ein  »Cuno  Appenzeller  von 
Unterwaiden«  auf;  es  ist  dies  die  Verdrehung  des  Namens  Kuno 
ab  Alzellen.  Letzterer  berichtet,  er  habe  dem  Vogt  (Landenberg), 
der  ihm  das  Eheweib  verführen  wollen,  mit  der  Axt  das  Bad 
gesegnet.  Mit  demselben  Wortlaut  steht  dies  auch  im  Tellenliede. 
Darauf  giebt  Teil  den  Genossen  und  dem  versammelten  Umervolk 
den  Bundeseid  an;  es  folgt  Schwur  und  Schluss. 

Als  Epilog  erscheint  der  vierte  Herold  und  führt  die  Erzählung 
der  weiteren  Begebenheiten  bis  auf  die  Gegenwart  fort.v^  Der 
TeUenschuss,  sagt  er,  sei  1 296  geschehen ;  ein  Jahr  darauf  hätten 
sich  die  Länder  an  König  Adolf  den  Frommen  ergeben,  so  seien 
sie  aus  Oesterreichs  Hand  wieder  an's  Reich  gekommen.  Besonders 
habe  sie  Kaiser  Ludwig  der  Bayer  gegen  der  Österreicher  Herzoge 
Verdruss  geschützt,  bis  Herzog  Leopold  1315  bei  Morgarten 
geschlagen  war.  Hierauf  folgen  die  weiteren  Schicksale  der  Schweiz 
bis  zu  der  Periode  der  mailänder  Feldzüge,  wobei  als  letztes  und 
neuestes  Factum  der  sogenannte  »Winterfeldzug«  genannt  ist, 
eine  misslungene  Unternehmung  der  Urkantone  gegen  Malland  im 
Winter  1511.  Der  Herold  endigt  wie  Muheims  Schlussstrophe  mit 
der  Moral:   Wie  Mieth^  und  Gaben  verblenden. 

Dies  ist  der  Umriss  des  Tellenspieles,  zwar  nicht  nach  dessen 
alter  ursprünglicher  Fassung,  jedoch  auf  diese  gestützt  und  im 
Einklang   mit  den  Angaben  der  Chronisten  und   mit  dem  Texte 

14* 


212  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

des  Volksliedes.  So  wurde  das  Stück  in  den  Waldstätten,  nament- 
lich zu  Uri,  bis  in  die  Reformationszeiten  fortgespielt.  Es  war 
auf  den  Grundgedanken  gebaut,  dass  die  Schweiz  in  ihrer  Freiheit 
und  Sitteneinfalt  ungekränkt  verbleiben  werde,  so  lange  sie  sich 
nicht  ausländischen  Einflüssen  ergebe.  Nun  war  die  Reformations- 
zeit angebrochen,  ihr  Licht  riss  plötzlich  jeder  Heuchelei  den 
Schleier  vom  Gesichte.  Nicht  bloss  das  herkömmliche  religiöse 
Schauspiel,  wie  es  sich  aus  den  mittelalterlichen  Mysterien  (Ministerien) 
her  vererbt  hatte,  nicht  bloss  das  Kirchenlied  musste  sich  nun  in  allen 
deutschen  Landstrichen  mit  reformieren,  auch  das  Tellenspiel  das  einst 
für  die  ganze  Schweiz  gegolten  hatte,  musste  sich  mit  umgestalten» 
seitdem  das  Land  in  zweierlei  confessionelle  Heerlager  geschieden 
war.  Und  selbst  für  die  Waldstätte  konnte  das  alte  Stück  nicht 
länger  gelten,  insofern  sie  gegen  die  Sitten-  und  Staatsreform,  die 
man  ihnen  zumuthete,  mit  gewohnter  Zähigkeit  sich  zu  sträuben 
fortfuhren.  Denn  wie  wollten  diese  Söhne  Teils,  Staufachers  und 
Melchthals  auf  der  Bühne  ihres  Landes  den  feierlichen  Schwur 
wiederholen  lassen,  aller  fremden  Herren  und  Pensionen  müssig 
zu  gehen,  während  sie  allen  Herren  und  Gassen  der  Fremde 
zuliefen.  Sie,  deren  Ahnen  schon  der  blosse  Hut  eines  fremden 
Vogtes  in  Aufruhr  gesetzt  hatte,  trugen  nun  den  Federhut  aller 
Fürsten,  prunkten  in  allen  Soldatenlivreen  des  Auslandes  und 
wussten  ihre  eignen  Landsleute  in  dasselbe  fremde  Röcklein  zu 
stecken.  Es  war  damals  eine  selbstbewusste  freche  Heuchelei 
unter  diesen  urner  Oligarchen,  ähnlich,  wie  heute  die  urner  Lotterie 
eine  solche  ist,  die  zum  Vortheil  von  ein  paar  Familien  das 
Publicum  ausbeutet  und  dabei  vorgiebt,  »zur  Unterstützung. der 
Landesarmen«  zu  bestehen.  Es  ist  seit  1518  in  den  Waldstätten 
alles  Hazardspiel,  ausser  das  Spiel  um  Kastanien  und  Nüsse,  bei 
scharfer  Busse  verboten.  Gleichwohl  führen  die  Muheime, 
wirkliche  oder  blosse  Namensvettern  dessen,  der  das  Tellenlied 
überarbeitete,  dort  seit  1825  das  Lotteriegeschäft,  dass  der  Verlust, 
den  das  spielende  Publicum  jährlich  dadurch  erleidet,  über  eine 
halbe  Million  Francs  berechnet  wird.  So  besagt  es  das  Gut- 
achten, welches  hierüber  Landammann  Etlin  aus  Unterwaiden  der 
Gemeinnützigen  Gesellschaft  der  Schweiz  1862  zu  Samen  vor- 
gelegt hat,  und  einstimmend  äusserte  hierbei  ein  Eidgenosse  aus 
den  Ländern:  Es  sei  in  Uri  minder  gefährlich,  gegen  die  päpst- 
liche Religion  oder  gegen  die  Wahrhaftigkeit  der  Tellengeschichte 
zu   reden,   als   die   muheimische  Lotterie  anzufechten.     (Aargauer 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  21 3 

Nachrichten,  9.  Oct..  1862.)  Wie  heute  die  öffentliche  Empfindung 
nicht  säumig  ist,  ein  allgemeines  Uebel  in  seiner  Wurzel  auf- 
zuspüren und  zu  vertilgen,  so  verstand  auch  das  sechzehnte 
Jahrhundert,  lügenhaft  gewordene  Verhältnisse  und  angemasste 
Privilegien  -zu  entdecken  und  an  dem  Sonnenschein  der  öffent- 
lichen Discussion  wie  blindes  Gewürm  hinsterben  zu  lassen.  So 
reagirte  damals  die  Stadt  Bern  antipapistisch,  und  das  Ergebniss 
waren  dort  die  mehrfachen  Reformationsschauspiele  von  Nikolaus 
Manuel,  welche  von  der  Bürgerschaft  in  der  Kreuzgasse  abgespielt 
wurden.  Eine  ähnliche  volksthümliche  Reaction  politischer  Art 
folgte  zu  Zürich  auf  die  vorausgegangene  religiöse ;  sie  bemäch- 
tigte sich  des  Tellenspieles  und  formte  es  in  ein  politisches  Tendenz- 
stück um,  in  welchem  die  damaligen  Machthaber  der  Urkantone 
nicht  als  die  echten  Nachkommen  Teils,  sondern  als  die  Pensionierer 
und  Soldierer  aller  monarchischen  Fremdherm  wahrheitsgemäss 
dargestellt  wurden. 


Zweiter  Abschnitt. 

Jakob  Ruoffs  Etter  Heini  aus  Schweizerland  und  desselben  erneutes  Spiel  von 
Wilhelm  Teil,  v.  J.  15 14  bis  1545.  Historischer  Nachweis  über  die  gleichzeitig 
wechselnde  Zahl  der  angeblichen  drei  Landvögte  und  der  drei  ersten  Eidgenossen. 

Der  erste  und  der  letzte  bekannte  Dichter,  der  den  Stoff 
Wilhelm  Teil  dramatisirt  hat,  sind  beiderseits  Schwaben:  Ruoff 
und  Schiller.  Lebensgang  und  Thätigkeit  des  ersteren  ist  wenigen 
Lesern  bekannt;  deshalb  soll  hier  einlässlicher  über  ihn  geredet 
werden. 

Jakob  Ruoff  war  geboren  zu  Konstanz,  wahrscheinlich  im 
Beginn  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Nach  den  über  ihn  vor- 
handenen Angaben  wanderte  er  trst  in  das  St.  Gallische  Rhein- 
thal aus  und  von  dort  nach  nur  kurzem  Aufenthalte  nach  Zürich. 
Als  Wundarzt,  nach  damaligem  Deutsch  Steinschneider  und 
Bruchschneider  genannt,  machte  er  die  beiden  Feldzüge  der 
Zürcher  1529  und  15  31  gegen  die  katholischen  Kantone  mit  und 
wurde  für  seine  im  Treffen  bei  Kappel  bewiesene  Haltung  mit 
dem  Zürcher  Stadtbürgerrecht  beschenkt.  Daselbst  lebte  er  in 
vertrauter  Freundschaft  Konrad  Gessners,  damals  des  berühmtesten  . 


214  ^'    ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Naturforschers,  und  gab  verschiedene  ärztliche,  physikalische  und 
kalendarische  Schriften  heraus.  Die  verbreitetste  scheint  sein 
Hebammenbuch  zu  sein,  das  er  im  Auftrage  der  Züricher  R^e- 
rung  zur  Gründung  von  Hebammenschulen  verfasste.  Es  ist 
betitelt :  Ein  schön  lustig  Trostbüchlein  von  Empfengknussen  und 
Geburten  der  Menschen.  Zürich,  Froschower  1554.  4**.  Dasselbe 
st  1580  bei  Feyerabend  zu  Frankfurt  a.  M.  wieder  erschienen 
und  1591  in's  Holländische  übersetzt  worden.  Mehre  seiner  natur- 
wissenschaftlichen  Schriften  sind  nach  seinem  Tode  durch  Konrad 
Gessner  herausgegeben  worden.  Als  Dichter  verfasste  Ruoff 
sieben  Schauspiele,  die  sämmtlich  zu  Zürich  aufgeführt,  mehrfach 
im  Druck  aufgelegt  worden  und  alle  uns  erhalten  sind.  Seine 
geistlichen  oder  biblischen  Stücke  mögen  als  von  minderem 
Werthe  hier  voraus  aufgezählt  werden. 

i)  Hiob,  »Jobenspiel«  zu  Zürich  auf  dem  Münsterhof 
durch  die  Burgerschaft  gespilet  28.  Juni  1535.  Dieses  Schauspiel 
erlebte  vier  Auflagen  (der  erste  vollständige  Druck:  Zürich  bey 
Augustin  Friess  o.  J.  (circa  1540)  liegt  auf  der  Münchner  Staats- 
bibliothek. Zur  Aufführung  gab  die  Stadt  ausser  dem  Bedarf 
an  Wein  baar  100  Pfund  her. 

2)  Ein  Spiel  von  des  Herren  Weingarten,  nach  12 
Lucas,  20  Cap.  Gespielt  zu  Zürich  von  der  löblichen  Burger- 
schaft 26.  Mai  1539,  am  Pfingstmontag.  Liegt  handschriftlich 
auf  der  St.  Galler  Stadtbibliothek.  (Scherer,  St.  Gallen.  Hss. 
1859,  68.) 

3)  Das  Leiden  Christi  1545,  gewidmet  dem  Ambrosius 
Blavrer  zu  Konstanz.  In  5  Acten,  auf  2  Tage  der  Vorstellung 
vertheilt,  von  94  Personen  aufgeführt,  mit  Musik.  Liegt  in 
München. 

4)  Von  Erschaffung  und  Fall  Adams  und  Heva, 
gespielt  von  der  Zürcher  Burgerschaft  am  9.  und  10.  Juni  1550. 
Personenzahl:  106;  darunter  Teufel  8,  Engel  8,  der  Stamm 
Adams  mit  63  Personen,  der  Stamm  Kains  mit  16.  Zwischen 
den  Scenen  spielt  Musik,  zu  den  Aufmärschen  der  Riesen- 
geschlechter (Nephilim)  blasen  die  Trompeten.  Zur  Vertreibung 
der  Teufel  wird  das  Geschütz  abgelassen.  Zuletzt  bricht  unter 
Noah  die  Sündfluth  los :  man  lässt  drei  Rasenhaufen  mit  darunter- 
gelegtem Feuerwerk  in  die  Luft  fliegen,  dann  springen  und  rinnen 
jählings  die  Wasser,  Geschütz  und  Feuerwerk  brennt  los. 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  215 

5)  Von  der  keuschen  römischen  Matrone  PauHne,  welche 
im  Tempel  der  Isis  durch  Betrug  der  Priester  geschändet  worden. 
Geschrieben  um  1 540.  Ist  als  Druck  und  Handschrift  beides  noch 
unsicher;  vgl.  Kottinger  XXVI:  J.  Ruffs  Etter  Heini. 

Von  weitaus  grösserer  Wichtigkeit  sind  durch  ihren  sitten- 
geschichtlichen Inhalt  Ruoffs  historische  Stücke;  mit  ihnen  lenkt 
unsre  eigne  Arbeit  wieder  in  ihr  Thema  ein. 

6)  Eyn  nüwes  spil  vom  wol-  vnd  übelstand  eyner 
löblichen  eydgnoschaft.  Zugleich  in  zwei  Handschriften 
vorliegend,  deren  eine  dem  Stück  den  Titel  giebt:  Etter  Heini 
vss  dem  Schwyzerland.  Unter  letzterem  Namen  hat  es  Kottinger 
in  Quedlinburg  1847  herausgegeben.  Es  soll,  wie  Ettmüller 
(Handb.  der  Lit.-Gesch.  313)  angiebt,  Ueberarbeitung  eines  schon 
15 14  vorhandenen  älteren  Schauspiels  sein  und  ist  1542  von 
Ruoff  verfasst  worden.  Es  hat  5  Acte,  jeder  mit  Musik  schliessend, 
und  31  spielende  Personen.  Darunter  sind  5  Teufel:  Luzifer, 
Sathan,  Beizebock,  Bell,  Runzifall;  ferner  die  7  Weisen,  die  6 
Eidgenossen  und  2  junge  Knaben. 

Inhalt.  Der  alte  Eidgenoss  und  sein  Vetter  Heini  gewahren, 
wie  im  Schweizerland  die  alte  Ehrenhaftigkeit  und  Treue  vergehe, 
und  berathen  deshalb  die  sieben  weisen  Meister.  Gegen  deren 
guten  Rath,  so  zu  handeln,  wie  das  Leben  der  Altvordern  es  als 
Muster  vorzeichne,  intriguiren  nun  sämmtliche  Teufel  der  Hölle, 
und  als  es  dem  ungeachtet  nach  langer  Säumniss  gelingt,  die 
Landsgemeinde  zur  Entscheidung  einzuberufen,  stellen  sich  dabei 
auch  die  Teufel  mit  Blasebälgen  ein,  soufliren  damit  ihren 
schweizerischen  Gesinnungsgenossen,  und  suchen  die  Versammlung 
in  deren  schlimmen  Gewohnheiten  weiter  bestärken  zu  lassen.  Als 
sodann  Vetter  Heini  den  Antrag  an  die  Gemeinde  bringt,  aller 
Fürsten,  Herren  und  Fürstenpensionen  müssig  zu  gehen,  so  er- 
heben sich  hiergegen,  mit  Ausnahme  des  Wilhelm  Teil  selbst, 
alle  diejenigen  Helden,  welche  im  alten  Tellenspiel  in  der  Rolle 
der  Landesbefreier  aufzutreten  haben:  Hans  Staufacker,  Haupt- 
mann Emi  von  Unterwaiden,  Rudi  ab  Alzellen,  sogar  Junker 
Fridli  Teil,  Teils  eigener  Sohn.  Sie  alle  stimmen  fiir  Beibehaltung 
der  fremden  Dienste  und  Militärcapitulationen.  Allein  gegen  die 
Teufel  und  die  von  ihnen  vollgeblasenen  Pensionierer  erscheint 
zuletzt  der  warnende  getreue  Eckart..  Durch  seinen  guten  Rath 
wird  die '  Landsgemeinde  überzeugt,  und  mit  Stimmenmehrheit 
wird  die  Söldnerei  abgeschafft. 


2i6  !•     ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Man  hat  hier  eine  der  frühesten  politischen  Komödien  unsrer 
Literatur  vor  sich.  Der  Etter  Heini  ist  der  Repräsentant  der 
damaligen  Gesinnungen  des  Zürcher  Landes;  sein  Name  beweist 
dies,  bis  in  unsre  Jahre  pflegte  man  in  der  deutschen  Schweiz 
jeden  Zürcher  apellativ  einen  Züri-Heiri  zu  nennen.  Seine  Gegner 
sind  die  damaligen  Pannerherren  »und  Kriegshauptleute  aus  den 
Urkantonen,  die  sich  ebenso  heftig  brüsten,  die  allein  echten 
Abkömmlinge  Teils  zu  sein,  als  sie  hier  und  in  Wirklichkeit  für 
die  Fortdauer  des  Söldnerdienstes  und  für  die  Anbetung  des 
fremden  Filzhutes  sich  ereifern.  Dies  ist  die  Ideenverbindung,  in 
welcher  der  Etter  Heini  mit  dem  folgenden  und  letzten  Schauspiel 
Ruoffs  steht. 

7)  Ein  hüpsch  vnd  lustig  Spyl,  vorzyten  gehalten  zuo  Vry 
in  dem  loblichen  Ort  der  Eydgnoschaffl,  von  dem  frommen  vnd 
ersten  Eydgnossen  Wilhelm  Thellen,  jrem  Landtmann.  Jetzt 
nüwlich  gebessert,  corrigiert,  gemacht  vnd  gespilt  am  nüwen 
Jarstag  von  einer  loblichen  vnd  jungen  Burgerschaft  zuo  Zürich 
im  Jar  MDXLV.  Per  Jacobum  Ruef,  urbis  Tigurinae  chirurgum. 
getruckt  zuo  Zürich  bei  Augustin  Friess. 

Ruoffs  Teilenschauspiel  hat  35  Personen,  solche  mit  activen 
Rollen  dagegen  nur  folgende: 

Landvogt  Grisler. 

Heinz  Vögeli  sammt  dem  andern  Knecht  des  Landvog^es. 

Landvogt  Landenberg  zu  Samen,  sammt  zwei  Schlossknechten. 

Die  Vögtin  zu  Sarnen  und  ihre  Jungfrau. 

Wilhelm  Teil  von  Uri,  das  Haupt  der  4  Eidgenossen. 

Dessen  Frau  und  seine  drei  Kinder,  sämmtlich  ohne  Namen. 

Stoffacher  von  Schwyz,  Erster  Eidgenosse. 

Erni  vss  Melchthal,  von  Unterwaiden  ob  dem  Wald,  Zweiter 
Eidgenosse. 

Vly  von  Gruob,  von  Unterwaiden  ob  dem  Wald,  Dritter 
Eidgenosse. 

Cuno  ab  Alzella,  von  Unterwaiden  nid  dem  Wald,  Vierter 
Eidgenosse. 

Zwölf  Bauern  der  Landsgemeinde. 

Drei  Schiffknechte. 

Erster  Herold,  als  Prolog  und  in  den  Zwischenacten  aut- 
tretend. 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  217 

Zweiter  Herold,   ein  Stadtschüler  Zürichs,   spricht  das  Argu- 
ment des  Stückes  und  den  Epilog. 

Der  Platznarr,  stumme  Person. 

Musik  in  den  Zwischenacten. 

Die  Bühne  war  ein  Theil  des  Züricher  Münsterplatzes.  Die 
Mitspielenden  sitzen  rings  im  Kreise,  erheben  sich  und  treten  vor, 
wenn  an  sie  die  Reihe  kommt.  Der  Herold  leitet  die  Bühnen- 
Ordnung.  Die  Zuschauer  sind  durch  Schranken  abgesperrt  und 
werden  durch  die  Pritsche  des  Platznarren  in  Ruhe  gehalten.  Der 
hier  nächfolgende  wort-  und  sachgetreue  Auszug  wünscht  dem 
Leser  einen  Einblick  in  jene  Wirkungen  zu  gewähren,  die  dieses 
Stück  mit  seinen  naiven  Empfindungen  und  politischen  Schlag- 
schatten einst  unbezweifelbar  hervorgebracht  hat.  Auch  über  die 
allinähliche  Bildung  und  schliessliche  Feststellung  der  Tellentradi- 
tionen,  über  die  Bildung  des  Bundes  und  über  die  ursprüngliche 
Zahl  der  Bundesglieder  giebt  dieses  Schauspiel  bedeutsame  Auf- 
schlüsse. 

Vorspiel. 

Der  erste  Prolog  erzählt  das  Schicksal  der  vier  Welt- 
monarchien, weil  gleich  ihnen  jegliches  Reich  zu  Grunde  geht, 
welches  statt  einig  zu  sein,  sich  parteiet  durch  die  Laster  von 
Geiz,  Neid,  Gehässigkeit,  Sucht  nach  zeitlichem  Gute,  Uebermuth 
und  Verachtung  des  Rechtes.  Durch  diese  Sünden  zerfielen  die 
vier  Weltreiche:  das  assyrische  unter  Nebukadnezar ,  das  persi- 
sche unter  Cyrus,  das  des  macedonischen  Alexanders  und  das 
Römerreich. 

Vf  das  jetz  dan,  so  ist  min  Bitt 

An  jung  vnd  alt  hie,  wyb  vnd  man, 

Ir  lassind  üch  das  z^herzen  gan, 

WöUind  den  frommen  Wühelm  Thellen 

Zum  Byspü  üch  für  d'ougen  stellen, 

Wie  jn  der  Adel  vnd  der  Gwalt 

Hab  gekestiget  (kasteiet),  pyniget  manigfalt, 

Ouch  all  sin  gsellen  nebend,  bsyts 

Die  zu  Vnderwalden  warend  vnd  ouch  z'Schwytz. 

Hier  wendet  sich  der  Wappenherold  mit  seinem  SchUd  zu 
dem  neben  ihm  stehenden  Knaben,  einem  Züricher  Stadtschüler: 

Dem  jungen  hie  gib  ich  gewalt,. 
Vor  üch  ze  reden  was  jm  gYalt. 


l. 


21 8  !•    I^er  Sagenkreis  von  TeJl. 

Der  wirt  üch  buchten  vss  sim  mund 
Des  anfangs  trom  (Trumm),  End  vss  dem  grund, 
mit  hilf  vnd  trost  göttlicher  Kraft,  * 

Von  einer  loblichen  Eydgnoschaft. 

Drum  Knäbli,  nimm  von  mir  den  schilt, 

Das  Argument  sag,  wann  du  wilt! 

Jetzt  giebt  der  Herold  dem  jungen  Knaben  den  Schild.  — 
Dieser  beginnt  mit  dem  Gebete:  Gott  wolle  dieses  Schauspiel 
gut  von  statten  gehen  lassen,  das  zu  Ehren  der  Landesobrigkeit 
über  Ursprung  und  Anfang  der  Eidgenossenschaft  verfasst  ist. 
Gleichwie  vorher  von  dem  Ursprung  und  Verfall  der  vier  Welt- 
monarchien die  Rede  war,  so  handelt  nun  dieser  zweite  Prolog 
vom  Ursprung  der  drei  Waldstätte.  Die  Erzählung  scheint  wohl 
aus  Püntiners  und  Friinds  verlornen  Schweizerchronikeh  entlehnt, 
soweit  wir  dieselben  durch  Tschudi's  Auszüge  kennen,  und  lautet: 

Das  Volk  der  hunnischen  Gothen  zieht  aus  Scythien  erobernd 
bis  Rom  im  Jahre  (5)  72  und  wird  588  aus  Italien  vertrieben. 
Es  zieht  über  den  Gothard  in's  Urnerland,  wird  unter  Karl  dem 
Grossen  zum  Christenthum  bekehrt  und  zum  Reiche  geschlagen. 

Ein  zweites  Volk  von  schwedischem  Stamme  kommt  nach 
Schwyz  und  Unterwaiden  eingewandert  und  verbindet  sich  poli- 
tisch mit  der  ersten  Waldstatt.  Diese  drei  beredet  (ein)  Graf  Ru- 
dolf von  Habsburg  (historisch  der  sogenannte  Aeltere),  sich  in 
seinen  Schirm  zu  begeben ;  doch  sobald  er  (historisch  der  Jüngere) 
Kaiser  geworden  ist,  setzt  er  ihnen,  statt  ihrer  Reichsvögte  seine 
Landvögte.  Jetzt  bricht  also  auch  in  den  drei  Ländern  dieselbe 
Zeit  des  hoffärtigen  Regentenübermuthes  an.  Jedoch  im  Jahre 
1 296  erledigten  sich  die  Länder  dieser  Vögte  und  ihres  Stammes, 
und  traten  unter  König  Adolf  (»dem  Frommen«)  gefreit  wieder 
an  das  Reich.  Doch  dies  verdross  Oesterreich,  es  setzte  den  drei 
Ländern  abermals  Vögte:  (den  Landenberg  zu  Sarnen,  den 
Wolfenschiess  zu  Alzellen,  den  Grisler  zu  Altorf  und  zu  Küssnach). 
Mit  letzterem  schliesst  der  Prolog: 

Der  Landtvogt  ist  yetz  vfF  der  fart, 
vnd  stond  die  Landtlüt  vfF  der  wart. 
Was  er  wöU  sagen  mit  sinr  stimm: 
Allsand  wir  hie  wend  losen  jm. 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  210 

I  AQtus  primus. 

I  Die  Musik  bläst  auf;  unter  ihrem  Schall  kommt  der  Land- 
|vogt  Grisler  selbdritt  (mit  seinen  zwei  Trabanten)  zu  Uri  in  die 
Landsgemeinde  und  eröffnet  ihr :  Herzog  Albrecht  von  Oesterreich 
habe  ihm  die  Leute  hier  in  Gehorsam  gegeben;  soferne  sie  ihm 
nicht  Ranzung  (Lösegeld,  Fallgeld),  Steuer  und  Zins  willig  ent- 
richten, so  werde  er  ihnen  das  Leder  besser  beschneiden,  ihnen 
die  Näthe  besser  bestreichen  und  sie  von  hinten  aufnesteln. 
Dreierlei  Bauern  nehmen  das  Wort,  erbieten  Steuerzahlung,  ent- 
ischuldigen  sich  aber  mit  der  Gemeinde  Armuth,  mit  den  übel- 
zeitigen Jahrgängen  und  mit  des  Landes  Rauheit.  Ein  einziger 
iürner  stimmt  diesem  Ergebenheitstone  allein  nicht  bei;  es  ist 
^ilhelm  Teil,  der  unter  einem  solchen  Landvogt  keinerlei  Ab- 
änderung der  Uebel  mehr  erwartet:  * 
i 

Nit  darf  kein  Landtman  änderst  denken, 

Dann  das  Er  (Grisler)  vns  wirt  wenig  schenken. 
Gott  will  ich  d'sach  befolhen  han. 
Der  vns  dann  wol  erretten  kan. 

Der  Vogt  wiederholt  seine  Bedrohungen  und  zieht  unter  dem 
Spiel  der  Musik  ab,  die  Gemeinde  zerstreut  sich. 

»Yetz  gadt  Wilhelm  Thell  mit  der  Landtsgmeind  hinweg  vnd 
[falt  jme  die  sach  nüt  vnd  redt  allein  mit  jm  selb: 

Von  unserm  Vogt  nüt  kan  ich  sagen  1 

Dann  Gott  allein,  dem  wil  ichs  klagen. 

Sol's  darru  kon  in  unserm  Land, 

Das  wir  z'recht  bracht  vnd  buwen  hand 

mit  grosser  sorg  vnd  übelzyt:  , 

dass  mutwill,  bracht  vnd  s'Landtvogts  gyt  (Geiz)  . 

Vns  gwaltigklich  vnd  wider  rächt 

Bezwingen  wü  grad  eben  schlächt? 

So  helflf  Gott  vns  vnd  allen  armen, 

der  wöU  sich  vnser  thun  erbarmen! 

dann  dieser  Vogt  hochprächtig  man, 

gwüss  kein  erbarmd  wirt  er  nit  han 

mit  vns,  den  armen  schlechten  lüten, 

Er  wirt  vAs  vs  dem  land  verhüten  (verweisen). 

Ich  hör  wol,  gValt  wirt  syn  das  rächt, 

Nüt  gilt  by  jm,  (als)  das  sine  gmächt. 

Auch  was  er  täglich  sinnt  vnd  macht 


220  I-     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

vss  mutwil  vnd  sim  öden  bracht, 
das  muss  mit  gwalt  den  furgang  han. 
Er  sieht  nit  Gott  noch  Billichs  an, 
Noch  das  wir  hand  ein  hartes  laben 
mit  wenig  spyss,  tranck,  vnd  damäbeh 
Hand  wir  sunst  gnug  der  angst  vnd  not, 
In  vnsern  hüsern  wenig  brot. 
Und  münd  darby  gross  arbeit  lyden, 
Noch  will  er's  vns  vorm  mul  abschnyden! 
Drumb  rufF  ich  Gott  von  herzen  an  1 

(Pausando.) 
Von  wytnuss  g^sen  ich  dort  ein  man. 
Wer  er  doch  syge,  das  wundert  mich. 
Von  wann%n  lands,  vss  welchem  rych, 
Das  ich  vast  gern  dann  wüssen  wett; 
Gon  wil  ich,  jn  fragen  vff  der  stett. 

Der  Staufacher  von  Schwyz  tritt  auf  und  klagt  seine  Lage 
Er  komme  eben  von  Brunnen  über  den  See  nach  Uri,  um  sich 
hier  Raths  zu  holen,  denn  der  schwyzer  Vogt  habe  ihm  sein  neu- 
gebautes hübsches  Haus  genommen  und  drohe  ihn  sammt  det 
Familie  auszutreiben. 

Auf  diese  Geschichte  hin  bricht  Teils  Unmuth  neuerdings  los: 

Der  Tüfel  steckt  in  disem  g^sind. 

In  vnsern  Vögten  vnd  regenten ! 

Sy  bringend  vns  vmb  näpf  vnd  brenten  (Milchbütte), 

Von  hab  vnd  gut  in  vnserm  land, 

Vmb  ku  vnd  kalb,  vmb  sack  vnd  band. 

Das  sy  allsand  angang  der  ritt  (Fieber)! 

Das  sy  der  Katzen  siechtag  schütt  (schüttle)! 

Aber  Teil  mahnt  zugleich  jetzt  zu  vorsichtiger  Verchwiegeft 
heit,  da  man  diese  Gewaltthätigen  nicht  alsbald  schon  aus  defl 
Lande  zu  verdrängen  vermöge,  sondern  erst  dann,  wenn  d 
gleichgesinnten  Freunde  viele  sich  zu  demselben  Zwecke  in  d 
Stille  verbänden. 

Erni  aus  Melchthal  tritt  zu  ihnen  und  erzählt  auf  Befrageft 
Er  sei  aus  dem  unterwaldner  Lande  entronnen.  Der  dortig 
Landvogt  habe  ihm  die  Ochsen  vom  Pfluge  nehmen  lassen;  al 
Erni  sich  dem  widersetzt  habe,  sei  sein  eigner  Vater  geblend 
und  um  Haus  und  Hof  geschätzt  worden. 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  221 

Schon  der  Staufacher  erklärte,  er  sei  im  Unmuth  über  den 
Schwyzervogt  »unbsinnter  Weise«  von  Brunnen  bis  Uri  um  Hilfe 
gelaufen;  Emi  behauptet,  er  sei  nahe  daran,  über  sein  Leiden 
toll  und  irrsinnig  zu  werden.     Teil  beruhigt  den  Klagenden  mit 

[dem  vorhin  schon  gegebenen  Rath  und  warnt  noch  einmal  vor 
allzurascher    Gegenwehr.      Man    müsse    erst    die   Majorität    (ein 

Imichle  zal)  des  Volkes  gewinnen,  eher  führen  Aenderungen  in 
einem  Lande  nicht  zum  Guten.  Mit  einem  Handschlag  geloben 
sich  die  Drei  Verschwiegenheit,  jeder  wolle  in  seiner  Heimat  sich 
mit  den  Freunden  zum  Zwecke  des  gesetzlichen  Widerstandes 
verbünden  und  von  dem  Erfolge  sich   gegenseitig  Bericht  geben. 

Schliesslich  hierauf  Teil : 

Drumb  so  wir  heim  gond  widerumm, 

So  lug  ein  yeder,  dass  ein  summ 

Ein  michle  (grosse)  zal  doch  vnser  werd, 

Verschwigen,  still,  mit  keiner  gferd; 

Verheissend  das  einanderen  b'hend, 

All  thüend  mirs  geloben  in  min  hend. 

Wo  aber  eim  etwas  lig  an, 

Der  sol  hieher  ins  Rütli  gan. 

Welches  im  Land  ze  mitlest  ist. 

Da  klag  ein  yeder  was  jm  prist  (gebricht). 

Sie  bieten  sich  die  Hände  und  scheiden.   Schluss  des  Actes.  — 

Actus  secundus. 

Grisler,  im  Begriffe,  aus  Uri  wegzureiten,  beauftragt  seinen 
Knecht  Heinz  Vögeli,  den  Vogthut  an  einer  Stange  unter  der 
Marktlinde  aufzustecken  und  diejenigen  anzuzeigen,  die  vorüber- 
gehend dem  Hute  nicht  Reverenz  thun.  Der  Diener  verspricht's, 
der  Vogt  geht. 

Erni  von  Melchthal,  der  auf  dem  Heimwege  ist,  begegnet 
hier  seinen  beiden  Landsleuten,  dem  Kuno  ab  Alzellen  und  dem 
Uli  von  Gruob,  beide  aus  Unterwaiden.  Er  fragt  sie  um  den 
Grund  ihres  Hierherkommens.  Kuno  ab  Alzellen  berichtet:  »Unser 
Herr  Landvogt«  habe  sich  bei  des  Erzählers  Eheweibe  ein  Bad 
bestellt  und  sie  zu  sich  in  die  Wanne  sitzen  heissen.  Der  aus 
dem  Walde  mit  der  Axt  heimgekehrte  Ehemann  habe  ihm  mit 
der  Axt  Warmes  also  zugegossen,  dass  der  Vogt  darüber  auf 
I  dem  Platze  geblieben ,   —   er   selbst  sei   aus    der  Mark  vor  des 


L 


222  I«    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Vogtes  Anhang  hierher  entronnen.     Uli  von  Grub,  gleichfalls  um 
sein  Erscheinen  befragt,   hat  keinen  besonderen  Fall  zu  melden, 
aber  das  Bleiben  daheim   unter  vögtischer  Bedrückung    verleide 
ihm  das   Leben.     Darauf  erzählt  Emi   Melchthal  diesen  Beiden  j 
zum  Tröste ,   er  sei  zu  Uri  beim  Staufacher  und  Teil   gewesen,  | 
habe  sich  mit  ihnen  auf  einen  bestimmten  Tag  in's  Rütli  bestellt  | 
und  nehme  auch  sie  Beide  hier  in  das  Bündniss  gegen  die  Vögte  i 
auf.    Hierauf  gehen  diese  Drei  von  einander  und  heim. 

(Wir  haben  also  nunmehr  fünf  Eidgenossen,  fünf  Stifter  des 
Bundes.) 

Zweite  Scene:  Die  Musik  spielt,  Heinz  Vögeli  setzt  den 
Vogthut  auf  die  Stange  und  verkündet  der  Gemeinde  den  neuen 
Erlass.  Drei  Bauern  der  Landsgemeinde  erklären  dieses  Gebote 
zwar  als  einen  Gewaltsmissbrauch,  fügen  sich  aber,  um  nicht 
unter  die  unruhigen  Köpfe  gezählt  zu  werden.  Während  sie  und 
viele  ihres  Gleichen  sich  verneigend  an  dem  Hute  vorübergehen, 
tritt  Teil  auf  ohne  Reverenz  zu  thun.  Auf  des  Knechtes  Drohung, 
ihn  deshalb  beim  Vogt  zu  verzeigen,  spricht  Teil: 

Was  eeren  wärt  ist  dieser  hut? 
Füm  frost  vnd  ragen  ist  er  gut, 
Darumb  ich  jn  nit  änderst  kan, 
Denn  für  ein  groben  filzhut  han. 

Inzwischen  ist  der  Landvogt  wieder'  erschienen,  hört  detf 
Vorgang,  befiehlt  seinen  beiden  Knechten,  den  Teil  gefangen  zu 
nehmen  und  gebunden  zur  Stelle  zu  führen,  und  lässt  den  Ge 
fangenen  sehr  hart  an: 

Du  grober  filz,  du  öder  pur, 
Die  hoffart  muss  dir  werden  sur! 
Was  ist  dich  nun  der  not  angangen. 
Das  Du  der  erst  bist  min  Gefangner? 
Vnd  dich  hast  gstelt  vSs  argem  mut 
Gar  wider  mich  vnd  minen  hut, 
Vnd  nit  wilt  halten  was  ich  büt, 
Darzu  nit  thust  wie  ander  lüt? 
Zudem,  du  wilt  mit  dinen  sachen 
Ander  mir  ouch  vnghorsam  machen? 
Darumb  yetzdan  in  Sonderheit 
Wirst  du  mir  gäben  guten  b'scheidtl 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  223 

Teil  entschuldigt  seine  Unterlassung  erstlich  mit  seiner  bäueri- 
schen Einfalt  und  zweitens  mit  dem  göttlichen  Gesetze,  worin 
vom  Filzhut  sich  nichts  geschrieben  finde;  so  habe  er  denn  nichts 
gegen  Gott  und  das  Gesetz  gethan.  Der  Vogt  nennt  diese  Ent- 
gegnung ein  Schwätzen  und  ein  Tanten  und  schickt  den  Knecht 
ab,  um  Teils  sämmtliche  Kinder  herbeizubringen.  Teil  entschul- 
digt nochmals  seine  Unzucht  mit  seinem  Unverstand,  will  wegen 
des  Filzhutes  nicht  streiten,  sondern  wünscht  vielmehr  Verzeihung 
und  Vergebung:     - 

Ich  wil's  nit  mee  thun  hin  fürbas, 

Dess  müsst  jr,  Herrvogt,  werden  innen. 

Ich  wil  mich  warlich  änderst  bsinnen, 

in  üwerem  Willen  allzyt  laben, 

Drumb  bitt  ich,  Herr,  thund  mir  vergäben  I 

Der  Landvogt  verbleibt  in  seiner  Aufregung  und  Ungnade: 
Ee  wett'  ich  drumb  werden  erstochen, 
Ee  du  mich  müsstest  überbochenl 
Wie  bald  yetz  kommend  dine  kind. 
Ich  temmen  wil  all  dine  fiind. 

Grislers  ICnecht  kommt  inzwischen  zu  des  Teilen  Frau  und 
verlangt  ihr  die  Kinder  ab: 

Die  wil  ich  einswägs  von  üch  haben, 
Es  syend  meitle  oder  knaben. 

Das  erste  Kind,  wie  es  der  Knecht  nimmt: 

War  Witt  vns  fiiren,  lieber  man, 
Das  solt  vns  kinden  zeigen  an. 

Das  andere  Kind: 

Nit  wend  wir  dich  vns  füren  Ion, 
Du  sagist  vns,  war  münd  wir  gon. 

Der  Knecht: 

Zu  üwerem  vatter  münd  jr  hin. 
Der  ist  lang  üwer  wartend  gsin. 

In  der  ersten  Ausgabe  des  Tellenspiels  findet  sich  ein  Nach- 
trag zu  dieser  Abschiedsscene  der  Mutter  von  ihren  Kindern  bei- 
gedmckt,  »von  zier  wegen  diss  Spyls  darzu  gemacht«.  Des 
Teilen  Frow,  so  die  kind  von  jr  gond  vnd  jr  genommen  werdend, 
spricht: 


224 


I.    Der  Sagenkreis  von  Teil, 


Muss  ich  min  frommen  biderman, 
ouch  mine  kind  also  Verlan, 
So  muss  es  Gott  im  Himmel  erbarmen; 
ich  trostloss,  eilends,  angsthafts  wyb, 
damit  ich  nit  kein  vnfür  tryb, 
anfach,  ald  bruche  selb  gen  mir, 
vnd  ich  im  leid  nit  gar  verirr  I 

Der  Landvogt,  wie  die  Kind  vor  jm  stond,  spricht: 

Vf  das  sag  mir,  Wilhelm,  yetz  nun, 

welches  ist  dir  der  liebste  sun? 
Teil:   Herr,  so  ich  üch  dann  d'  Wahrheit  sag, 

Glych  sinds  mir  lieb  gsyn  all  min  tag, 
Vogt:    Schlecht  kurzum,  Thell,  das  will  ich  han. 

Welchen  sun  hast  am  liebsten  ghan? 
Teil:    Min  Herr,  so  jrs  parfort  (gewaltsam)  wend  wüssen 

Den  jüngsten  ich  am  meisten  küssen. ' 
"Vogt:    Das  kindle  sol  hie  blyben  stan, 

die  andern  lond  all  heim  yetz  gan, 

so  wil  ich  lugen,  lieben  knechten, 

ob  ich  jm  mög  glegen  sin  prechten  (prahlen). 


Actus  tertius. 

Musica.     Platz   bei   der  Linde.      Teil    soll    dem    Kinde    dei 
Apfel  vom  Haupte  schiessen: 

Vogt:    Din  schiesszüg  han  ich  dir  lan  reichen, 
Wilhelm,  din  Herz  wil  ich  erweichen 
vnd  dich  hie  leren,  das  d^  solt  sin 
gehorsam  den  gebotten  min. 
Hast  du  din  gschoss  dann  wol  bereit 
vnd  kanst  wol  schiessen,  wie  man  seit, 
bist  du  der  kunst  gewärt  vnd  so  geschwind, 
so  mags  nüt  schaden  dinem  kind. 
Darumb  so  gib  den  willen  dryn. 
Denn  schlecht  kurzumb,  grad  muss  es  syn. 
Und  wer'  dir  noch  so  lieb  din  kind, 
so  must  jn  (den  Apfel)  schiessen  ab  sim  grind. 

Dies  ist  jener  Schlussreim,  übrig  geblieben  in  dem  Teilen] 
spiel,  das  die  Bauernschaft  herkömmlich  am  Hirsmontag  in  de^ 
Kreuzgasse  zu  Bern  aufzuführen  pflegte. 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  225 

Teil  beschwört  den  Landvogt  bei  Natur  und  Unnatur,   bei 
Gott  und  Recht,  bei  Mass,  Milde  und  Barmherzigkeit. 
Landvogt:  Nun  schwyg,  nun  schwygl  din  red  nit  gilt. 

Den  keiben  (das  kleine  Aas)  nemend,  fiirend  hin, 

Das  vnd  kein  andres  muss  nun  sin! 
Damit  legt  er  eigenhändig  den  Apfel  auf  des  Kindes  Haupt. 
Teil  fleht  zu  Gott : 

Leit  mir  das  pfyl  mit  diner  wyssheit. 

Send  mir  din  gnad  vnd  heiigen  geist. 

Das  ich  keinswägs  zu  keinen  stunden 

Ein  keib  (Verbrecher^  an  mim  kind  ward  g'funden. 

Temm,  straff  der  Herren  Übermut, 

Den  trengten  halt  in  diner  hut! 
Das  Kind  spricht  zum  Vater: 

Ach  vatter,  liebster  vatter  min, 

Dir  bin  ich  lieb  vnd  ghorsam  g^sin, 

Wilt  du  mich  des  lön  also  gniessen 

Und  mich  darumb  zHodt  erschiessen? 

So  sich  doch  an  mins  müterlin, 

min  schwösterlin  all  vnd  brüderlin, 

die  du  mit  müy  vnd  schwerem  last 

in  armut  vferzogen  hast. 
Teil:    Ach  sun,  min  allerliebstes  Kind, 

Dass  ich  dich  nienrin  bschulden  künd, 

Nit  kan  ichs  in  der  Wahrheit  min, 

Du  bist  mir  allwäg  ghorsam  gsin, 

Darumb  so  lass  din  herz  gestillen, 

Es  bschicht  alls  wider  meinen  Willen  I 

Vf  das,  so  knüw  yetz  nider,  sun, 

vnd  hilf  mir  Gott  anbäten  nun. 
Teil  betet  mit  dem  Kinde  ein  in  Reimen  gefasstes  Vater- 
unser, ohne  den  Zusatz  des  englischen  Grusses,  dann  heisst 
er  das  Kind  in  Gottes  Namen  sich  zum  Schusse  stellen.  Pause. 
Der  Apfel  ist  getroffen.  Teil  bricht  in  einen  Preis  Gottes  aus. 
Ueber  dieses  Wort  der  Frömmigkeit  spottet  der  Vogt : 

Geloub  ich  recht  im  Herzen  min. 

So  bist,  Wilhelm,  ein  priester  gsin, 

Aid  in  eim  Closter  vferzogen? 

Nit  hast's  von  diner  mutter  g' sogen, 

Das  d'  so  viel  seh  wetzest  vnd  reden  magst. 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  1$ 


226  !•    ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Jedoch  lobt  er  den  Meisterschuss  und  verlangt  nun  den  Zweck 
des  zweiten  Pfeiles ,  den  Teil  in's  GoUer  gesteckt,  zu  erfahren. 
Teil  entschuldigt  dies  mit  eineni  allgemeinen  Schützenbraache. 

Landvogt:   Nit  wirst  mich,  Thell,  also  betriegen, 

Dann  ich  mich  ouch  verstan  vf  liegen! 

Er  schwört  ihm  Sicherheit  des  Lebens  zu;  Teil  gesteht, 
dass  ihm  selbst  der  zweite  Pfeil  gegolten  hätte,  wenn  der  erste 
das  Kind  getroffen  hätte.  Der  Landvogt  beruft  sich  auf  seinen 
eben  geleisteten  Eid,  ihn  am  Leben  zu  schonen,  und  verurtheilt 
ihn  daher  zum  ewigen  Gefängniss  im  Thurm  zu  Küssnacht.  Er 
wird  gebunden  in  das  Schiff  gefuhrt,  um  gen  Küssnacht  gebracht 
zu  werden.  Abschiedsworte  an  Mutter  und  Kind  und  an  die  Land- 
leute. —  Musik  fällt  ein. 

Seesturm;  das  Schiff  füllt  sich  mit  Wasser,  der  Wind  ist 
entgegen,  die  drei  Schiffer  bitten,  man  möge  den  Teil  entfesseln 
und  an*s  Ruder  stellen.  Der  Vogt  gewährt's  und  verspricht,  ihn 
nach  glücklicher  Landung  ledig  zu  lassen.  Bei  der  Platte  springt 
Teil  mit  der  Armbrust  ans  Land  und  stösst  das  Schiff  in  den 
See  zurück,  der  Vogt  ruft  ihm  Drohungen  nach. 

Monolog  Teils  oben  auf  dem  Berge.  Weib  und  Kind  treten 
ihm  vor  Üie  Seele,  sein  Entschluss  steht  nun  fest: 

Sollt  es  mich  kosten  lyb  vnd  laben. 
Den  Ion  dem  landtvogt  wil  ich  gäben, 
Hie  wil  ich  mich  nit  län  verdriessen, 
jn  selber  wil  ich  z'lodt  erschiessen. 

Der  Landvogt"  gewinnt  das  Ufer;  in  einem  Monolog  ist 
auch  er  entschlossen,  den  Teil  sogleich  aus  dem  Wege  räumen 
zu  lassen: 

Wie  bald  ich  heim  gen  Küssnacht  kumm, 

So  muss  er  sterben  schlecht  kurzum. 

Ich  wU  jm  nacbgän  vff  pantoflFlen, 

Wie  er  im  schiff  mir.  ist  entioffen. 

:& Thell  verbirgt  sich  in  die  Holgassen,  erschüsst  den  Landt- 
vogt z'todt  und  flucht.« 

Die  beiden  Knechte  sind  bemüht,  die  Leiche  hinwegzutragen; 
der  Eine,  dem  Morde  nachsinnend,  fragt: 

War  hats  thon?     Gwüss  kein  Bidermanl 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  237 

Der  Andere  ist  sogleich  darüber  entschieden: 

Der  Thell  hats  thon,  das  sol  mich  kränken!  — 

Teil  tritt  vor  und  dankt  Gott  für  das  Gelingen.  —  Musik 
schliesst. 

[Auch  Schillers  Gessler  wird  in  dem  Augenblick,  da  er  er- 
neute Drohungen  gegen  das  kecke  Volk  ausstösst,  vom  Pfeil 
durchbohrt,  und  wie  hier  Ruoffs  Lanzenknecht  fragt:  War  hats 
thon?  so  rufen  bei  Schiller  viele  Stimmen:  Wer  hat  die  That 
gethan?] 

Actus  quartus. 

Teil  erklärt  in  einem  Monologe,  er  sei  entschlossen  abzu- 
stellen »den  Übermut,  mutwill,  hoffart  der  Vögte  vnd  Edellüt«,  und 
sie  alle  zu  Unterwaiden,  Uri  und  Schwyz  auszutreiben.  Er  trifft 
auf.  Uli  von  Grub  und  erzählt  ihm  den  ganzen  Verlauf  seines 
Schicksals  vom  Apfelschuss  an  bis  zum  Vogtschuss: 

Ich  han  in  heimlich  z'todt  erschossen, 
von  der  thaat  grad  kumm  ich  harl 

Als  Kuno  ab  Alzellen  und  Stoffacher  ebenfalls  hinzugetreten 
sind,  macht  er  sie  mit  dem  Plan  bekannt,  sogleich  einen  Bund 
der  drei  Länder  zur  Vertreibung  der  Vögte  aufzurichten.  So 
lange  auch  nur  einer,  wie  jener  im  Schlosse  zu  Sarnen,  noch  vor- 
handen ist,  werden  die  Länder  nicht  zu  ihrem  Rechte  kommen. 
Die  drei  stimmen  ihm  zu,  erheben  die  Hände  und  sprechen  ihm 
sogleich  den  Eid  nach: 

Ich  verheiss,  versprich  vss  mim  verstand, 
Das  ich  kein'  wütrich  mee  im  land 
Wonen,  dulden  wil  16n  blyben. 
All  wil  ichs  vss  dem  land  vertryben. 

Somit  begeben  sie  sich  zusammen  hinweg  zur  Landsgemeinde. 

Scene  auf  dem  Schlosse  zu  Samen. 

Der  Landvogt  meldet  seiner  Frau  Vögtin,  er  wolle  am  heu- 
tigen Weihnachtstage  mit  den  beiden  Knechten  zur  Kirche  gehen. 
Inzwischen  solle  Sie  das  Schloss  gegen  die  listigen  Bauern  behüten 
und  heute  keinen,  der  die  Weihnachtsgabe  überbringen  werde, 
bewehrt  eintreten  lassen.  Er  geht  ab,  die  Vögtin  lässt  das  Thor 
schliessen  und  die  Brücke  aufziehen.  —  Mußica. 

15* 


228  ^-    ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Actus  quintus. 
Wilhelm  Teil  steht  vor  versammelter  Landsgemeinde  sammt 
seinen  vier  Mitgesellen.  Jeder  von  ihnen  ergreift  der  Reihe  nach 
das  Wort  zur  Aufrichtung  des  Bundes  und  zur  Vertreibung  aller 
Vögte,  besonders  aber  zum  heutigen  Sturm  gegen  das  Schloss 
Samen.  Die  12  Bauern  (entsprechend  den  12  epischen  Pairs  der 
Tafelrunde)  stimmen  einzeln  bei.  Alle  bilden  einen  Ring,  erheben 
die  Hand,  Teil  spricht  ihnen  den  Eid  vor: 

Zu  Gott  streck  ich  die  finger  min, 

Willig  wil  ich  mich  h'g^n  dahin 

Mit  lyb  vnd  gut  in  all  gefar, 

Alls  wil  ich  wagen,  stellen  dar 

Für  d'Eydgnoschaft  vnd  vnsers  land. 

Das  d'  Vogt  vnd  der  Adel  b'herschet  hand, 

Dass  wir  sy  all  vnd  jrn  anhang 

Verderben  wollend  vnd  vssrüten, 

Ir  thürn  vnd  Schlösser  z'allen  zyten    ■ 

Stumpen,  stil,  keins  vfrecht  16n, 

Gott  verheiss  ich  das  in  sinem  thron  I 

Der  Plan  duldet  keinen  Aufschub,  damit  keiner  der  Gegnei 
gewarnt  werde.  Vom  Platze  weg  begiebt  man  sich  zum  Stun 
gegen  Samen,  doch  nicht  ohne  List.  Teil  nämlich  ertheilt  folgen- 
den Rath.  Die  Hälfte  der  zwölf  Bauern  überbringe  dem  Voi 
die  Weihnachtsbescherung,  Uli  von  Gmb  soll  sie  anführen;  wäl 
rend  die  übrigen  schleunig  sich  rüsten,  vor  dem  Schlosse  siel 
aufstellen  und  auf  einen  Hornstoss  warten,  mit  welchem  Teil  di 
Zeichen  zum  Angriff  geben  wird.  So  geschieht's,  der  Anschk 
gelingt,  das  Schloss  wird  gebrochen.  Die  entronnenen  Schlei 
knechte  melden  dem  vom  Kirchgang  heimkehrenden  Vogte  dj 
Ereigniss.  Er  ergrimmt  und  bricht  in  die  bekannten  Worte  aus 
welche  das  Junkerthum  gegen  die  Leibeigenen  so  oft  wiederholj 
hat:  Diese  Bauern  erfrechen  sich  gegen  unsre  Oberherrschal 
sie,  die  mit  Hab  und  Gut,  mit  Weib  und  Kind  unser  Eigenthi 
sind  I  Bis  auf  die  Speise  in  ihren  Eingeweiden ,  ihre  Eingeweide 
und  das  Blut  ihres  Körpers  sind  sie  mein  und  meines  Herrn  v< 
Oesterreichl  Aber  ich  schwöre,  sie  gänzlich  auszurotten  und 
vertilgen : 

Nit  sol  es  jn  nachgelassen  sin. 
Als  gwüss  als  ich  ein  Schwäbli  bin! 


10.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  22Q 

(Er  entweicht  aus  dem  Lande.  —  Der  Stichelname  Schwab 
bezeichnet  in  der  Schweiz  seit  dem  sogenannten  Schwabenkrieg 
den  deutschen  Eindringling.) 

Der  Herold  beschliesst  das  Spiel  mit  einer  Anrede  an  die 
Zuschauer,  er  hebt  den  Sinn  und  Gang  des  Stückes  noch  einmal 
hervor: 

Wie  d^Eydgnoschaft  nach  gross  verlangen 

Mit  mtiy,  arbeit  hab  angefangen, 

Was  Thell  vnd  sin  gsellen  allsand  hand 

Erlitten,  vnd  das  wider  Gott, 

Mit  mutwill,  vntrüw,  schand  vnd  spott 

Vom  Adel,  Vögten  mit  gewalt, 

Ee  sy  kommen  sin  vss  angst  zu  ruw: 

Das  hand  jr  ghört  vom  Vly  von  Grub, 

Vom  landtman  Stoflfacher  von  Schwytz, 

Vom  frommen  Emy  vss  Melchtal. 

Die  Obrigkeit  wird  auf  diesen  Muthwillen  der  Vögte  zurück- 
verwiesen und  ermahnt,  nun  ihrer  Leute,  besonders  der  Armen, 
mit  Barmherzigkeit  sich  anzunehmen;  denn  mit  Milde,  mit  Ab- 
legung der  Hoffart,  der  Ueppigkeit^  des  Geizes  und  Wuchers 
werde  das  Land  in  seiner  Freiheit  behauptet  werden. 

Der  junge  Ehrenhold  macht  mit  einem  Nachspruch  den 
Schluss.  Dabei  wendet  sich  dieser  Bürgersknabe  an  seine  liebe 
Vaterstadt  Zürich,  an  die  beiden  Bürgermeister  und  den  ver- 
sammelten Rath.  Ihnen  allen  wünscht  er  im  Namen  des  Wil- 
helm Teilen  und  dessen  Knaben  ein  glückhaftiges  seliges  Neu- 
jahr an. 

Den  Schlussworten  des  Ehrenholds  ist  zu  entnehmen,  dass 
Ruoffs  Tellenspiel  zur  Züricher  Neujahrsfeier  1545  aufgeführt 
worden  ist.  Darunter  ist  der  dort  sogenannte  Berchtoldstag 
(2.  Januar)  verstanden,  der  schweizerische  Stellvertreter  des  im 
Norden  zur  Feier  der  Wintersonnenwende  begangenen  Julfestes, 
.welcher  zu  Zürich  bis  heute  mit  Umzügen,  Versammlung  der 
Zünfte,  mit  Zunftschmäusen  und  öffentlichen  Gabenvertheilungen 
Jortbegangen  wird.  Auch  L.  Ambühls  in  der  Folge  noch  näher 
jZu  besprechendes  Tellenschauspiel  wurde  für  diese  Züricher  Fest- 
feier geschrieben  und  aufgeführt.  Nicht  zu  übersehen  ist  der 
spielende  Zufall  beim  Schiller'schen  Teil;  derselbe  trägt  in  der 
ersten  Ausgabe  folgenden  Titel:     Wilhelm  Teil,   Schauspiel   von 


i 


n 


230  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

Schiller.     Zum  Neujahrsgeschenk    1805.     Tübingen,    Cot- 
ta'sche  Buchhandlung.     1804.     Mit  3  Kupfern.  — 


Dritter  Abschnitt 

Die  Zeiten  des  kirchlichen  Schauspiels  und  des  gelehrten  Schuldramas.  Letzteres 
arbeitet  in  der  Schweiz  dem  französischen  Eunstdrama  vor,  und  solcher  Ent- 
stehung sind:  Grisler,  Tragödie  1762  (vom  Bemer  Samuel  Henzi).  —  Guil- 
laume  Teil,    Tragödie    par   le  Miferre  1767.  —  Nachtrag   über  die  Namen  Grisler 

und  Gessler. 

Bereits  am  Schlüsse  des  sechzehnten  Jahrhunderts^  war  im 
deutschen  Drama  an  die  Stelle  des  Volksthümlichen ,  Gesunden 
und  Thatsächlichen  verschrobene  Gelehrsamkeit,  grobsinniger  Pe- 
dantismus und  wundersüchtiger  Zelotismus  getreten.  Auf  katho- 
lischer Seite  dramatisirten  die  Mönchs-  und  Jesuitenschulen  ihre 
Legenden,  Ortsmirakel  und  theologischen  Controversen ;  auf  refor- 
mirter  Seite  die  gleich -ledernen  Prädiöanten  und  Präceptoren  ihre 
Zehn  Gebote  und  ihre  Katechismusfragen.  Dies  war  das  so- 
genannte Schuldrama,  welches  Possen  und  Dogmen,  Sittencasuistik 
und  grammatikalische  Casuslehre,  Armseligkeit  und  Prunk  zu- 
sammen in  endloseste  Allegorien  verwebte.  Wenn  da  der  Abt 
Augustin  von  St.  Urban  sein  Bürgerrecht  mit  Solothum  erneuerte, 
so  führten  seihe  Klosterschüler  ein  Singspiel  auf:  »Homerus,  der 
Siebenfache  Bürger.«  (Gedruckt  1752,  4®.  Aarauer  Bibliothek.) 
—  Oder  wenn  die  Bürger  der  Stadt  Lenzburg  spielten,  wie  Josua 
trocknen  Fusses  durch  den  Jordan  geht  und  Jericho  einnimmt 
{Basel  bei  Apiarius  1579),  so  mahnen  dabei  vier  verschiedene 
Masken  die  Zuschauer  zu  andächtigem  Stillschweigen:  ein  Narr, 
ein  rother  Engel,  ein  grasgrüner  Engel  und  ein  Bär: 

Ich  bin  ein  wilder  rücher  Bär, 
vss  der  Wilde  kommen  här. 

Für  diese  Schuldramen  öffnete  Magistrat  und  Pfarramt  die  Orts- 
kirchen ungebeten,  die  historischen  Stücke  dagegen  mit  politischem 
Charakter  verwies  man  auf  die  verregnete  Gasse  oder  stellte  sie 
als  staatsgefahrlich  unter  Censur.  Denn  in  Folge  der  Religions- 
kriege waren  die  schweizerischen  Republiken,  ziemlich  ebenso 
frühe  wie  die   monarchischen   Staaten,   auf  das  neue  Institut  der 


lo.   Die  Tellenscbauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  23 1 

Büchercensur  gerathen  und  übten  es  mit  nicht  geringerer  Strenge. 
Das  Staatsschreiben  der  katholischen  Kantone  an  die  reformirten 
v.J.  1585  (gedruckt  München  bei  Ad.  Bei^,  1588)  beklagt  sich 
wörtlich  über  »die  hochschmächlichen  zu  Bern  gehaltenen  vnd 
gedruckten  Comedien,  zu  geschweigen  auch  anderer  in  ewern 
Stätten,  gehaltenen  Spilen,  Comedien,  vnverschambten  eixiichten 
Redem  vnd  Predigen,  so  man  bei  euch  vff  der  Cantzlen  thut  der- 
gestalt,  dass  auch  die  kleinen  Kind  vffgewiesen  wendent,  vnsre 
Priester  vnd  Ordensleut  an  offnen  freyen  Strassen  vff  der  Gassen 
vnd  vss  den  Häusern  zu  verspotten  vnd  zu  beschreyen.«  So 
sah  sich  die  Tagsatzung  genöthigt,  schon  im  16.  Jahrhundert  die 
Büchercensur  auch  auf  Lieder  und  Schauspiele  auszudehnen.  Den 
kirchlichen  Spielen  dagegen  leistete  man  allen  möglichen  Vorschub. 
Ein  paar  Beispiele  hierüber  theilt  Hidber  mit  in  seinen  Gesam- 
melten historischen  Aufsätzen.  (Bern,  1864).  Der  römische  Legat 
zu  Luzem  verlieh  1597  der  Schauspielergesellschaft  daselbst 
sammt  deren  Musikanten  und  zukünftigen  Zuschauem  auf  volle 
sieben  Jahre  Sündenablass.  Diese  Gesellschaft  bildete  damals 
eine  besondere  kirchliche  Bruderschaft,  welche  nicht  bloss  gegen 
Juden  und  Ketzer,  sondern  auch  ganz  erstaunlich  gegen  Hunger 
und  Durst  ankämpfte.     Bei  ihrer  Vorstellung  des  Sündenfalles  im 

Jahr  1583  ass  sie  um  196  Fl.  33  Schilling  und  vertrank  222  Fl. 
32  Schilling,  jene  weiteren  140  Mass  Elsässerwein  nicht  mit  ge- 
rechnet, welche  Schultheiss  und  Rath  beim  blossen  Zuschauen 
consumirten.  Die  Stadtschüler  hatten  in  diesem  Schauspiel  um 
die  Altäre  zu  tanzen  und  ein  eigens  componirtes  jüdisches  Opfer- 
lied zu   singen;   wahrscheinlich  zur  Verspottung  des  Judenthums, 

I  wobei  folgende  geistreiche  Strophe  mit  vorkommt : 

I  Hiber  heber,  gabel  gobel. 

Wir  opferent  Cuntz  von  Tobel. 
Kykrion  und  übenvitz, 
Cuculus  und  spillenspitz, 
Nespelnstein  und  fliegenbein, 
Haselnüss  und  löchlein  drein,  etc. 

Während  dem  gieng  das  Wunder  des  Mannaregens  vor  sich, 
indem  man  aus  den  Estrichen  der  Häuser  800  Küchlein  und 
20,000  Himmelsbrodpartikel  (Oblaten)  auf  das  zuschauende 
Strassenpublicum  herunterwarf. 

Dass  auch  das  Schauspiel  der  reformierten  Schweiz  gleicher- 


232  !•    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

weise  in  den  Händen  der  Collegiatgeistlichkeit  und  ihrer  Schüler 
war  und  um  nichts  besser  beschaffen,  lehrt  ein  Vorgang  zu  Bern. 
Dort  gaben  1692  die  Berner  Studenten  unter  Anleitung  ihrer 
geistlichen  Professoren  ein  allegorisches  Stück,  worin  Ludwig  der 
Vierzehnte  von  Frankreich  als  Charaktermaske  auftritt,  mit  seinen 
Dragonern  und  Jesuiten  gegen  die  Hugenotten  wüthet,  die  dann 
von  König  Wilhelm  von  England  beschirmt  werden.  Auf  die 
Klage  des  französischen  Gesandten  Amelot  entschuldigte  sich  die 
Regierung,  es  sei  jüngsthin  auch  zu  Freiburg  im  Uechtland  König 
Wilhelm  von  England  als  Vatermörder  öffentlich  gespielt  und 
das  Stück  in  den  Kauf  gegeben  worden.  Nach  dieser  Ausrede 
prozessierte  man  gleichwohl  »die  Geistlichen  mit  ihrem  unbedachten 
blinden  Eyffer  wegen  dieser  schantlichen  Commedj  oder  vielmehr 
farce^y  strafte  sie  mit  Gefangenschaft  und  entzog  ihren  Komödien- 
spielen  die  Kirche. 

i  In   dem   eben  Entwickelten   liegen   die   Gründe,    warum  ein 

neues  Tellenschauspiel  in  der  Schweiz  oder  in  Deutschland  erst 
in  sehr  entfernter  Zeit  wieder  und  nur  unter  einem  gänzlich  ver- 
änderten Zeitgeschmack  hervorgebracht  werden  konnte.  Erst 
musste  die  alte  Gattung  unsrer  Volksschauspiele  und  Komödien 
an  ihrem  eignen  Missbrauch  absterben;  erst  musste  dann  das 
Schuldrama  uns  langsam  zur  Regelhaftigkeit  der  französischen 
Bühne  hinübergeleitet  haben ;  eine  Stadt,  auf  der  deutsch-welschen 
Sprachgrenze  liegend,  wie  Bern  oder  Neuenburg,  musste  ihr 
Bürgergeschlecht  an  französischer  Sprache  und  Literatur  erst  auf- 
geschult, zugleich  aber  auch  zur  verwegensten  Opposition  gegen 
die  einheimische  Despotie  grossgezogen  haben,  damit  beim  Eintritt 
der  neuen  Weltereignisse  die  deutsche  Schaubühne  wieder  er- 
stehen, den  nationalen  Gehalt  des  Tellenstoffes  neu  empfinden 
und  zu  künstlerischer  Darstellung  frisch  aufnehmen  konnte.  Bern 
und  Neuenburg  sind  daher  wirklich  die  beiden  Städte  der  Schweiz, 
in   denen  nach  langer  Pause  Wilhelm  Teil  neuerdings  seine  dra- 

\  matischen  Bearbeiter  findet.     Henzi    und  Mi^rre  werfen  daselbst 

j  diesem  Stoffe  das  Costüm  der  französischen  Koniödie  um. 

I  Henzi's  Leben  und  Schicksal    ist  so   massgebend  für  unsem 

ganzen  Zweck,  dass  wir  dasselbe  hier  der  Analyse  seines  Schau- 
spiels voranstellen.  Unsre  Angaben  über  diesen  ungewöhnlichen 
Mann  stützen  sich  auf  Leonhard  Meister  (Helvet.  Gesch.  3,  256), 
Balthasar  (Helvetia  i,  401.),  Fetscherin,  RR.  (Aufsätze  in  den 
Blättern  des  Berner  Literar.  Vereines.) 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  233 

Samuel  Henzi,  der  Sohn  eines  unbemittelten  Berner  Pfarrers, 
that  seit  seinem  vierzehnten  Lebensjahre  Schreiberdienste  bei  der 
Salzverwaltung.  Dieses  frühzeitig  getragne  Joch  hielt  ihn  nicht 
zurück,  eifrig  an  seiner  geistigen  Bildung  zu  arbeiten.  Er  erlernte 
alte  und  neue  Sprachen,  so  dass  er  seinen  Briefwechsel  französisch 
und  lateinisch,  ja  aus  Vorsicht  vor  polizeilichen  Spürem  sogar 
griechisch  zu  führen  wusste.  Er  war  eine  kleine  wohlgestaltete 
Figur  von  geistreichem  Gesichte.  Fortdauerndes  Missgeschick 
trieb  ihn  in  die  Fremde.  Es  war  ihm  geglückt,  sich  die  Stelle 
eines  Compagniechefs  in  modenesischen  Diensten  kaufen  zu 
können;  allein  nach  kurzer  Zeit  hatte  er  seine  Hauptmannsstelle 
wieder  aufgeben  müssen  und  dabei  einen  Theil  seiner  Ersparnisse 
eingebüsst.  Heimgekehrt  unterzeichnete  er  im  März  1744  mit 
etlichen  zwanzig  unzufriedenen  Stadtbürgern  eine  Bittschrift, 
worin  die  Regierung  in  bescheidenem  Tone  angegangen  war, 
weniger  schroff  auf  der  Scheidung  in  regierende  und  regierte 
Stadtbürger  zu  beharren,  auch  der  letzteren  Classe  das  Recht  der 
Stellvertretung  im  Rathe  einzuräumen.  Das  damalige  Bemer 
Regierungssystem  liess  nicht  mit  sich  markten.  Sechs  von  den 
Urhebern  der  Bittschrift  wurden  mit  Verbannung  aus  der  ge- 
sammten  Eidgenossenschaft,  Henzi  mit  fünfjähriger  aus  dem 
Kanton  bestraft.  Er  gieng  nach  Neuenburg  und  ergab  sich  hier 
der  französischen  Literatur,  die  er  nach  dem  damaligen  Geschmack 
der  gebildeten  Stände  auf's  höchste  schätzte.  Der  deutsche 
Schweizer  verwandelte  sich  in  einen  französischen  Autor,  rasch 
nach  einander  schrieb  er  hier  Couplets,  Oden,  Epigramme,  den 
Misodem  und  die  Messagerie  du  Finde,  wahrscheinlich  zugleich 
auch   seine  Tragödie  Grisler.     Als  ihm   ein  Strafjahr  in  Gnaden 

» geschenkt  war,  kehrte  er  heim  und  bewarb  sich  um  ein  Biblio- 
thekarsamt, musste  aber  diese  Stelle  einem  jungen  Patricierssohne 
überlassen.  Er  war  rathlos,  seine  Vermögensverhältnisse  hatten 
sich  während  des  Exils  abermals  verschlechtert;  in  seiner  miss- 
lichen Lage  immer  mehr  sich  verbitternd,  sann  er  jetzt  auf  eine 
Staatsumänderung.  Er  entwarf  dazu  einen  ausführlichen  Plan, 
eine  Denkschrift,  die  in  der  oben  erwähnten  Zeitschrift  Balthasar's 
abgedruckt  ist.  Hier  beklagt  er  sich  namentlich  über  das  damals 
zu  Bern  herrschende  Familienregiment,   in  dessen   Händen  auch 

I  das    ganze    holländische    Capitulationsgeschäft    als    Monopol    lag. 

I  Blutkram  hiess  dasselbe  beim  Volke.    Henzi  sagt  darüber:   »keine 

I  Obersten,  keine  Hauptleute,  als  nur  die,  so  von  den  Usurpatoren 


« 

234.  I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 

ein  Patent  haben,  dürfen  ein  Landeskind  auf  die  Schlachtbank 
fuhren;  ein  Bürger  darf  nicht  einmal  für  seine  Person,  ohne 
Specialerlaubniss  der  Bemischen  Recrutenkammer ,  sich  in  einen 
uncapitulirten  Solddienst  begeben.  Das  will  so  viel  sagen,  als 
sein  Blut  sei  ein  Eigenthum  der  May,  der  Wattenwyl,  der  Tscharner, 
der  Stürler  u.  s.  w.,  die  allein  das  Recht  haben,  es  um  hollän- 
dische Ducaten  zu  verkaufen.  Dieses  Seelengewerb  hat  einigen 
Familien  einen  ausserordentlichen  Reichthum  abgeworfen.  '  Mit 
dem  Blute'  vieler  tausend  Landeskinder  haben  die  May  und 
Stürler  foliantengrosse  Zinsbücher  vollgeschrieben,  die  Tscharner 
und  Wattenwyl  gassenlange  Paläste  aufgeführt.  Im  holländischen 
Dienst  stehen  24  Bürgere ompagnien,  deren  jede  jährlich  12 — 15,000 
Pfund  einträgt;  es  kommen  also  von  dem  Blut  des  Landes  un- 
gefähr 2  bis  300,000  Pfund  in  die  Familiensäcke.  Und  wenn 
ein  holländischer  Oberst  oder  Hauptmann  sein  Regiment  oder 
seine  Compagnie  gegen  30  Jähre  benutzt,  sich  ein  Kapital  von 
2 — 300,000  Pfund  gemacht  hat,  so  kommt  er  endlich  heim  und 
spricht  ein  Amt  an  von  jährlich  30,000  Pfund  Einkommens.  Ein 
Wattenwyl,  ein  Steiger  kann  den  Grisler  (Gessler)  spielen,  und 
wir,  weit  entfernt,  an  die  Regierung  nur  zu  sinnen,  sollen  uns 
noch  glücklich  schätzen,  wenn  sie  uns  nur  bei  Haus  und  Hof 
lassen.     Gott  gebe  uns  Stärke,   dieses  Joch  zu  zerbrechen!« 

Dieser  Herzenserguss  eines  gewesenen  Werbhauptmanns  ist 
nicht  bloss  instructiv  über  den  Bestand  des  damaligen  schweizer- 
ischen Capitulationswesens ,  er  dient  vielmehr  auch  dazu,  die 
historische  Wahrheit  jener  schon  besprochenen  Scenen  in  Ruoffs 
Etter  Heini  zu  bekräftigen,  in  denen  der  von  den  Urkantonen 
militärisch  betriebene  Menschenhandel  persifliert  ist.  Drehte  sich 
nun  Henzi's  Verschwörung  ausfuhrlich  um  solcherlei  Soldaten- 
wesen, so  war  sie  keineswegs  demokratisch  gemeint  oder  hatte 
die  bemische  Landesfreiheit  nicht  im  mindesten  zum  Zwecke. 
Henzi  suchte,  wie  Lessing  höchst  richtig  ihn  beurtheilt  (Sämmt- 
liche  Werke  3,  344),  nichts  als  die  Freiheit  der  Vaterstadt  bis  zu 
ihren  alten  Grenzen  wieder  zu  erweitern.  Dabei  gieng  er,  wie  ein 
Docent  der  Rechtsantiquitäten,  streng  conservativ  zu  Werke  und 
verlangte  folgerecht,  dass  statt  der  Geschlechterherrschaft,  statt 
der  patricischen  Oligarchie,  die  Gesammtbürgerschaft  der  Stadt 
Bern  regiere.  Die  Landschaft  Bern  war  dabei  noch  gar  nicht  mit 
eingerechnet,  vielmehr  sollte  diese  künftighin  wieder,  wie  vor 
Alters,  allein  der  Stadt  Bern  zu  huldigen  haben  und  nicht  mehr 


'» 


;.' 


'  V 


lo.    Die  Teilenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  235 

dem  ungeschichtlichen  Stand  Bern.  Eine  nicht  geringe  Anzahl 
Unzufriedener  war  für  diesen  Plan  gewonnen^  neben  Subaltem- 
beamten,  Soldaten  und  Studenten  auch  der  Sohn  des  Thorberger 
Landvogtes.  Die  beiden  Hauptagenten  waren  der  damalige 
Bemer  Polizeilieutenant  Em.  Fueter  und  ein  verarmter  Geschäfts- 
mann  Wemier. 

Am  13.  Juli  1749  sollte  der  Schlag  gefuhrt  werden,  man 
wollte  Räthe  und  Schultheiss  gefangen  nehmen,  bereits  hatte 
Fueter  sich  der.  Schlüssel  zu  den  Stadtthoren  bemächtigt.  Doch 
schon  am  2.  Juli  vorher  hatte  ein  mitverschworener  Geistlicher, 
'  sein  Name  ist  unbekannt  geblieben ,  den  Plan  verrathen ,  am 
dritten  befanden  sich  die  drei  Häupter  im  Gefängniss.  Fueter 
war  durch  einen  Pistolenschuss  betäubt,  Henzi  in  einem  Strassen- 
kampfe  gegen  Viele  förmlich  entwaffnet  worden.  Ein  Verzeichniss 
der  Mitverschworenen  trug  Henzi  im  Kleide  verborgen,  er  zerriss 
es  und  verschluckte  die  Stücke  Angesichts  der  Richter.  Auch 
die  Folter  ertrug  er,  ohne  einen  Namen  zu  nennen,  seine  eignen 
Plane  läugnete  er  nicht  ab.  Sobald  die  Untersuchung  mehr 
Theilnehmer  ergab,  als  die  Regierung  zu  hören  wünschte,  sprach 
man  den  drei  Hauptangeklagten  rasch  das  Todesurtheil  und 
vollzog  es  schon  am  17.  Juli  vor  dem  Obernthor.  Werniers 
Haupt  fiel  erst  mit  dem  dritten  Hiebe.  Henzi  war  verurtheilt 
Augenzeuge  zu  sein.  Auch  ihn  verwundete  der  erste  Hieb  nur. 
Darauf  soll  er  sich  zum  Scharfrichter  gewendet  und  gesagt  haben : 
Du  richtest,  wie  deine  Herren  urtheilen!  Nicht  einmal  der  zweite 
Streich  trennte  den  Kopf,  mit  einem  Messer  musste  er  vollends 
abgeschnitten  werden.  Fueter  erschien  als  gewesener  Stadt- 
Keutenant  der  Schuldigste,  deshalb  wurde  ihm  vor  dem  Tode  die 
rechte  Hand  abgehauen.  Er  blieb  standhaft.  Als  ihm  aber  der 
erste  Schwerthieb  in  die  Schulter  fuhr,  schrie  er  laut  auf,  der 
zweite  machte  seinen  Leiden  ein  Ende.  Die  Mitverschwomen 
und  einen  Theil  ihrer  Familien  traf  lebenslängliche  Landesver- 
weisung. Als  der  Zug  der  Verbannten  am  Ufer  des  Rheines 
ankam,  soll  Henzi's  Wittwe,  eine  Italienerin,  den  einen  ihrer  beiden 
unmündigen  Söhne  in  den  Strom  geworfen  und  an  den  Haaren 
wieder  in's  Schiflf  hereingezogen  haben,  auf  dass  er  nicht  vergesse, 
das  Blut  des  Vaters  zu  rächen.  Einer  dieser  Söhne  fand  in  den 
Niederlanden  eine  Stelle  bei  der  Leibwache  des  Prinz  Statthalters 
und   starb    dort.     Die    ihm   aufgetragne  Rache   übte  er   dadurch, 


236  I.   I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

dass    er    von    seinem    Wohlstand    armen   Bemerbürgem   in   der 
Fremde  edelmüthig  mittheilte. 

Ein  Enkel  des  Enthaupteten  wurde  der  Baron  von  Henzi, 
der  im  Jahre  1848  als  österreichischer  Oberofficier  eine  Zuschrift 
an  die  schweizer  Bundesregierung  richtete,  worin  er  sich  die 
Restitution  seines  Bemer  Namens  und  Bürgerrechtes  erbat.  Er 
ist  tapfer  fechtend  für  seinen  Kaiser  auf  den  Festungswällen  von 
Ofen  gefallen  gegen  die  unter  Görgey  stürmenden  Ungarn.  Ein 
anderer  Enkel  siedelte  sich  später  im  Aargau  an  und  erbaute 
das  Henzigut,  rechts  an  der  Heerstrasse  gelegen,  die  von  dem  ; 
Dorfe  Entfelden  nach  Suhr  und  Aarau  führt.  Unser  Dichter 
Lessing  fühlte  sich,  wie  er  sagt,  von  keiner  Begebenheit  der 
neuesten  Geschichte  mehr  gerührt,  als  von  diesem  Schicksal 
Henzi's.  In  seinem  Gerechtigkeitsgefühle  drängte  es  ihn,  diesen 
trostlos  lassenden  Schatten  zu  beruhigen.  So  sich  Horazens 
Wort  zurufend:  T^placantur  carmine  manesU  begann  er  das 
Trauerspiel  Samuel  Henzi  zu  schreiben.  Allein  die  Regierung 
von  Bern  rief  die  deutsche  Censur  gegen  den  Dichter  auf,  dann 
befahl  sie  ihrem  Em.  Haller,  des  grossen  Albrecht  Hallers  Sohn, 
in  der  Bibliothek  der  Schweizer  Geschichte  Lessings  Plan  anzu- 
bellen, und  das  Trauerspiel  Henzi  blieb  Fragment.  Auch  über 
den  Mann  selbst  ist  mit  Sicherheit  nicht  mehr,  als  hier  steht,  zu 
erfahren.  Auf  damaligen  Regierungsbeschluss  wurden  die  Ver- 
höre und  Verhandlungen  des  Hochverrathsprocesses  aus  dem 
Rathsmanuale  herausgeschnitten  und  mit  den  übrigen  Acten  vertilgt. 

Hier  folgt  nun  ein  Auszug  aus  dem  von  Henzi  geschriebenen 
Trauerspiel.  Das  Stück  ist  anonym  erschienen.  Dass  Henzi  der 
Verfasser  ist,  wurde  durch  Regierungsrath  B.  R.  Fetscherin  un- 
umstösslich  nachgewiesen  in  den  Blättern  des  Berner  Literarischen 
Vereins;  vergl.  auch  Sinner,  Schweiz.  Bibliographie  S.  141. 

Grisler,  ou  tambition  punie,  Tragedie  en  cinq  actes.  (Anonym, 
o.  O.)  1762.  8°.  T^  Seiten,  durchweg  in  gereimten  Alexandrinern. 

Acteurs. 

/.  Grisler,  Gouverneur  cPUri  et  de  Schwitz. 

2,  Leinhard,  Conseiller  secret  de  Grisler. 

J.  Werner,  Baron  dAttinghauss, 

4,  Adolphe,  fils  de  Grisler, 

5.  Teil,  Gentilhomme  Helvetieii. 


lo.  Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  237 

6.  Edwige,  fille  de  Teil, 

7.  Rosine,  Confidente  d" Edwige. 

Le  Conseil  Aulique.  Deux  pages  d Adolphe.  Troupe  dHel- 
vetiens  Gardes  de  Grisler,  — 

La  Scene  est  ä  Altorf. 

Act  I,  enthält  7  Scenen,  spielt  im  Schlossgemach. 

Leinhard,  Grislers  Rathgeber,  bewundert  seines  Herren  Plan, 
durch  einen  blossen  Hut  alle  Widerspenstigen  und  ihr  Complot 
ausfindig  zu  machen.  Wemher  Freiherr  von  Attinghausen  theilt 
nicht  den  Glauben  an  diesen  Erfolg  und  suchPt  vielmehr  zur  Milde 
zu  rathen.  Ebendahin  neigt  sich  Adolph,  Grislers  Sohn,  er 
bittet,  den  Hut  aus  den  Augen  des  gekränkten  Volkes  ganz 
hinwegzuräumen.  Dies  reizt  nur  den  Landvogt,  und  als  ein  Bote 
mit  der  Meldung  eintritt,  dass  ein  Mann  Namens  Wilhelm  Teil 
ohne  Verbeugung  eben  am  Hute  vorübergeschritten  sei,  freut  sich 
der  Vogt  und  schickt  jenem  Aufrührer  eilends  Häscher' nach. 

Act  II,  enthält  10  Scenen,  spielt  am  Schlossplatz.' 

Grislers  Sohn  Adolph  erzählt  seinem  Bekannten,  dem  Frei- 
herm  Werner  v.  Attinghausen  (mit  Gefolge)  die  Geschichte  seiner 
Liebe,  er  habe  Hedwig,  Teils  Tochter,  in  der  idyllischen  Schön- 
heit ihres  Hirtenlebens  kennen  gelernt,  ihre  Abkunft  erforscht 
(denn  ihr  Vater  ist  von  gutem  Adel)  und  sich  mit  ihr  verlobt. 
Um  sie  nun  Grislers  etwaiger  Missgunst  zu  entziehen,  wünscht  er 
sie  in  die  Verborgenheit  zu  flüchten.  Dafür  empfiehlt  ihm  Werner 
ein  befreundetes  Haus,  und  Adolph  geht  dahin  ab.  Werner 
überlässt  sich  der  Hoffnung,  dass  Hedwig  durch  die  Sanftmuth 
ihrer  Sitten  vielleicht  einst  noch  Grislers  Härte  zügeln  könnte. 
Zu  ihm  tritt  Teil  (ein  Edelmann)  und  begrüsst  ihn  als  einen 
wackem  Vorkämpfer  der  Freiheit.  Dieser  zeigt  ihm  eine  Wahr- 
sagung vor,  worin  der  »heilige  Nikolaus«,  ein  wegen  seiner  Sitten- 
reinheit in  ganz  Helvetien  berühmter  Einsiedler,  den  Sieg  der 
Schweizer  über  die  Tyrannei  verkündet.  (Ein  doppelter  Ana- 
chronismus; der  hier  berührte  Einsiedler  Nikolaus  von  der  Flühe 
gehört  in  die  Zeit  der  Burgunderkriege,  seine  angebliche  Weis- 
sagung über  eine  allerletzte  Weltschlacht  ist  noch  unter  dem 
katholischen  Volke  der  Urkantone  verbreitet.)  Teil  wendet  sich 
mit  begeisterten  Worten  an  das  Gefolge  Werners  und  verliest 
ihnen  des  Eremiten  Schreiben.  Unter  Versicherung*  ihrer  Treue 
gehen  sie  ab. 

Während  nun  Teil  Grislers   neu  erbaute  Zwingburg  mit  den 


238  !•  I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

Blicken  misst,   ist  ihm  der  Vogt  mit  den  Trabanten  auf  die  Spur   | 
gekommen    und    nimmt    ihn    gefangen.      Teil    betheuert,    einem 
Vater    kindlich    unterthan    zu    sein,    nie    aber    einem    Despoten 
schmeicheln  z^  wollen. 

Hierauf  berathen  Grisler  und  Leinhard,  wie  Teil  und  dessen 
Tochter  Hedwig  auf  die  Seite  geschafft  werden  können.  Leinhard^ 
räth :  der*  berühmte  Schütze  solle  gehalten  sein,  seiner  Tochter 
Hedwig  auf  200  Schritte  einen  Apfel  vom  Haupte  zu  schiessen. 
Verfehle  er  den  Apfel,  so  habe  er  das  Leben  verwirkt ;  treffe  er 
die  Tochter,  so  werde  der  Rasende  sich  selbst  das  Leben  nehmen. 
Von  diesem  Plan  aber  erfahrt  nun  auch  Werner  und  theilt  ihn 
an  Adolph  mit. 

Act  III,  hat  9  Scenen,  spielt  in  Hedwigs  Versteck. 

Hedwig  hat  bange  Ahnungen,  und  ihre  Freundin  Rosine  ver- 
grössert  diese  noch  durch  Meldung  von  des  Vaters  Gefangen- 
nahme. Alsbald  stürzt  Werner  herbei  mit .  der  Nachricht  von 
dem  Beschlüsse  gegen  ihr  und  ihres  Vaters  Leben.  Da  erscheint 
Adolph  zum  Tröste,  er  betheuert,  alles  Landvolk  aufbieten  zu 
wollen,  um  ihren  Vater  zu  befreien.  Allein  dies  ist  kaum  gesagt, 
so  zeigt  sich  auch  der  böse  Leinhard,  der  den  Adolph  schon  aus 
weiter  Feme  zwingt,  sich  hier  schnell  zu  entfernen.  Da  nun 
Leinhard  erschienen  ist,  um  die  Hedwig  in's  Gefängniss  abzuführen, 
so  wirft  sich  der  lauernde  Adolph  mit  gezogenem  Degen  zwischen 
beide;  Hedwig  aber  weist  ihn  zurück  und  folgt  freiwillig  und  auf 
ihr  Recht  bauend,  des  Vogtes  Befehlen.  Nun  wird  Adolph  von 
allen  Rathgebem  zugleich  bestürmt.  Rosine  will,  er  solle  sogleich 
alle  Gewaltthat  für  die  Rettung  der  beiden  Gefangenen  wagen; 
Werner  will,  er  solle  für  sie  beim  Vater  den  Gnadenweg  versuchen, 
und  da  Adolph,  um  letzteres  zu  thun,  hinweggeht,  bedauert 
Werner  doch  noch,  dass  dieser  Liebende  mehr  für  Hedwigs  als 
für  des  Landes  Rettung  bedacht  sein  werde. 

Act  IV,  mit  7  Scenen. 

Hedwig,  vor  Grisler  gefuhrt,  beruft  sich  auf  ihren  Rang: 

La  famille  des  Teils  a  produii  des  grands  homtnes, 

Meme  ils  sont  encore  grands  dans  le  silcle  6ü  nous  sommes, 

Du  moins  si  la  vertu  donne  la  qualiti. 

'  »Die  Familie  des  Teil  hat  grosse  Männer  hervorgebracht, 
ihr  Adelsgeschlecht  lebt  selbst  noch  in  unserem  Jahrhundert  fort, 
insofern  nämlich  die  Tugend  adelt.«     Fussfallig  bittet  sie  für  den 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  239 

Vater  und  für  ihren  Adolph.  Grisler  schwankt  zwischen  Liebe  und 
Grausamkeit,  befiehlt  bald  das  Mädchen  in  den  Kerker  zu  werfen, 
bald  sie  hier  zu  lassen,  und  muss  erst  durch  Leinhard  zu  einer 
dem  Herrscher  mehr  gebührenden  Haltung  gemahnt  werden.  Da 
aber  nun  Adolph  mit  unberufenen  Fürbitten  sich  einmengt,  lässt 
Grisler  den  vorwitzigen  Sohn  einthürmen.  Dann  auf's  neue  von 
des  Mädchens  Schönheit  hingerissen,  giebt  er  ihr  die  Wahl,  ihr 
Vater  solle  frei  sein,  wenn  sie  die  Liebe  des  Landvogts  gegen 
die  seines  Sohnes  eintauschen  wolle.  Mit  einem  gezückten  Dolch 
weist  sie  die  Umarmungen  des  alten  Sünders  zurück: 

Arrete,  bouc  infame  l  o  cieux!  permettez-vous  ? 
Mais  quoil  vois-tu  ce  fer  prtt  a  lancer  ses  coups? 

Dies  genügt;  er  lässt  sie  in  den  Kerker  werfen  und  erfüllt 
sich  mit  Racheplanen. 

Schlussscene  des  4.  Actes.  Adolph  kommt  (er  ist  eben  vorhin 
eingethürmt  worden  I)  zum  Freund  Werner  und  fordert  ihn  zur 
schleunigen  Befreiung  des  Vaterlandes  auf,  von  welcher  dieser 
schon  so  oft  gesprochen  habe.  Werner  vertraut  ihm  an,  dass 
hiefür  bereits  ein  Geheimbündniss  in  den  drei  Ländern  bestehe, 
und  dass  man  nun  den  einen  Mitverbündeten,  den  in  seinen  Ketten 
schweigsam  bleibenden  Teil,  befreien  werde. 

Act  V,  hat  sieben  Scenen. 

Hedwig  erhält  im  Kerker  Rosinens  Besuch.  Durch  das 
Gitter  hindeutend  auf  den  Lindenbaum  am  Schlosse,  schildert  sie, 
wie  ihr  dort  der  Vater  den  Apfel  vom  Haupte  geschossen  habe, 
wie  er  sogleich  darauf,  wegen  des  zweiten  Pfeiles  im  GoUer,  nach 
Küssnach,  sie  aber  wieder  in  diesen  Kerker  abgeführt  worden  sei. 
Leinhard  überbringt  dem  Mädchen  einen  Labetrunk.  Arglos  will 
sie  diesen  Giftbecher  ansetzen,  da  entsteht  draussen  Tumult,  und 
da  Leinhard  hinauseilt,  stürzt  er  todt  unter  Adolphs  Dolch  nieder. 
Die  Mädchen  vernehmen  vom  Geliebten,  Grisler  fahre  entfernt 
auf  dem  See,  die  drei  Länder  ständen  verbündet,  das  Volk  sei 
im  Losbruch,  der  Sieg  gewiss. 

Nun  folgt  Bote  auf  Bote.  Der  eine  meldet  den  Seesturm 
und  Teils  Entspringen,  der  andere  Grislers  Landung  bei  Küssnach 
und  wie  ihn  dort  Teils  Geschoss  vom  Rosse  geworfen  hat.  Der 
letzte  meldet,  der  Vogt  sei  noch  nicht  todt,  er  werde  als  Gefan- 
gener hieher  nach  Altorf  gebracht.  Da  erscheint  vorauseilend 
Teil,   jubelnd  begrüsst  von  den  Freunden,    und  hält  eine  Anrede 


240  !•    I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

an's  Volk.  Hedwig  und  Rosine  stehen  ihm  zunächst  —  aber 
auch  Grislers  Sohn,  Adolph. 

Schlussscene. 

Der  todtwunde  Grisler  wird  herbeigetragen,  bekennt  die  Irr- 
thümer  des  Despotismus,  segnet  ohne  Racheempfindung  Adolphs 
und  Hedwigs  Bündniss  und  stirbt.  Teil,  zur  Leiche  gewendet, 
spricht  das  historisch  bekannte  trop-tard: 

Ah!  tardive  vertut  Quelle  est  ton  triste  sortl 

Ton  Premier  rayon  meurt  dans  Vombre  de  la  mort 

Wir  haben  es  hier  auf  keine  ästhetische  Beurtheilung  der 
mitgetheilten  Dramen  abgesehen,  sondern  nehmen  die  literar- 
historische Wirkung  aller  zum  Ziele.  Auch  ohne.unsre  Beihilfe 
leuchten  jedem  Leser  die  dichterischen  Schwächen  ein,  an  denen 
Henzi's  Stück  leidet.  Der  Zufall  treibt  das  Ganze,  nicht  die  ur- 
eigne Bestimmtheit  des  Charakters,  weder  eines  Teil,  noch  eines 
Grisler;  es  ist  nicht  eine  Kette  von  sich  bedingenden  und  dadurch 
nothwendig  sich  steigernden  Handlungen,  sondern  eine  Reihe  zu- 
fälliger Ereignisse,  unabhängig  von  dem  Entschlüsse  der  Personen.^ 
Die  Scenen  gehen  nicht  aus  einander  hervor,  weil  nicht  treibende 
nicht  geistig  active  Personen  hinter  ihnen  stehen,  sie  folgen  nur 
bilderbogenartig  nach  einander.  Dieser  Leinhard,  Werner,  Adolph 
und  Rosine  sind  lauter  Schattenbilder;  auch  die  Hauptpersonen 
Teil,  Hedwig  und  Grisler  haben  keinen  Knochenbau.  An  di^ 
Stelle  von  Teils  Knaben  ist  eigenmächtig  ein  Mädchen  gerückt, 
und  der  Apfelschuss  wird  ^n  ihr  nur  zu  dem  eiteln  Zwecke  voll- 
zogen, um  mit  ihr  dem  Landvogtssohne  eine  um  so  interessanter^ 
Geliebte  geben  zu  können.  Welch  ein  Sohn,  dieser  Adolph,  der- 
während  sein  erschlagener  Vater  herbeigeschleppt  wird,  demo 
kratisch  jubelnd  sich  an  die  Seite  von  dessen  Mörder  stellt,  jJ 
Teils  Tochter  gleichzeitig  zum  Weibe  nimmt.  Und  dennocl 
hat  ein  grosser  Vorzug  an  diesem  Stücke  gehaftet  und  mua 
einmal  von  Wirkung  gewesen  sein,  wenn  schon  unsre  Zeit  beide 
nicht  mehr  darüber  zu  empfinden  vermag.  Darum  musste  ö 
anonym  und  ohne  Angabe  des  Druckortes  erscheinen  und  bliel 
auch  so  noch  der  damaligen  Censur  ein  dermassen  gefürchtete! 
Libell,  dass  man  auf  der  Bemer  Bibliothek  kein  Exemplar  mehi 
davon  besitzt,  und  auf  der  noch  reicheren  Züricher  Stadtbibliothei 
nur  dieses  eine  uns  vorliegende  Exemplar  unter  langem  Nach 
suchen  zuletzt  ausfindig  gemacht  hat. 


lo.    Die  Tellepschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  24 1 

Der  Name  Grisler,  unter  welchem  Henzi's  Stück  erschien, 
musste  damals  für  das  schweizerische  Publicum  ein  allgemein 
verständlicher  sein;  das  bedingt  schon  des  Verfassers  oder  seines 
nachherigen  Herausgebers  Zweck.  Heut  zu  Tage  verstände  unser 
Publicum  diesen  gleichen  Namen  nicht  mehr,  also  bedarf  es  hier 
einer  Erklärung,  wie  aus  einem  früheren  Landvogtsnamen  Grisler 
der  nun  allein  geltende  Gessler  hervorgegangen  ist. 

Im  Tellenliede  und  im  urner  Tellenspiel  führt  der  Landvogt 
noch  gar  keinen  Eigennamen.  Ruoffs  Tellenschauspiel  nennt  ihn 
Grisler;  ebenso  thut  Henzi's  Tragödie.  Dieser  Name  zeigt  sich 
bei  den  Chronisten  lange  Zeit  als  der  allein  giltige  Vogtsname. 
Eine  Zusammenreihung  der  Quellen  soll  dies  darlegen. 

Petermann  Etterlin  von  Luzem,  um  1507^  schreibt  Grissler, 
obschon  sein  Luzerner  Vorläufer  Melch.  Russ  (1488),  auf  den 
Etterlin  sich  stützt,  den  Vogt  ungenannt  lässt.  Sebastian  Frank, 
Chronica  der  Teutschen  (Augsb.  1538)  Fol.  CCVIIIb  schreibt 
»Grissler  in  Uri  und  Wilhelm  Teil.«  Stettier  von  Bern,  dessen 
Chronik  1627  zu  Bern  gedruckt  ist,  schreibt  Gryssler.  Joh.  Leop. 
Cysat,  Stadtschreiber  von  Luzern,  in  seiner  Beschreibung  des 
Luzemer  Sees  1659,  bespricht  Seite  207  »die  hole  Gass,  alwo 
Wilh.  Teil  ermelten  Vogt  Grissler  mit  einem  Pfeyl  über  das 
Pferdt  hinabgeschossen.«  Caspar  Diebolt,  Züricher  Pfarrer,  in 
seiner  171 5  erschienenen  Historischen  Welt,  schreibt  S.  1173: 
der  Geissler  oder  Gessler  zu  Ury.  Gotth.  Heidegger,  Professor  zu 
Zürich,  in  der  zweiten  Auflage  der  Acerra  philologica  1735,  pag. 
1015  erzählt  die  Geschichte  von  Grisslers  Hut  und  von  des  Teilen 
Armbrust.  —  J.  C.  Steiner  in  seinem  zu  Zug  1684  gedruckten 
»Spartier,  d.  i.  Schweitzerland«  nennt  S.  60  den  »Ritter  Grissler 
Urnerland  und  den  von  Landenberg  in  Underwalden.«  Josias 
•imler,  Regiment  der  Eydgnossenschaft,  Zürich  1722,  S.  49  sagt 
usführlicher :  der  erste  der  Vogt,  so  König  Albrecht  den  drey 
änderen  gegeben  hat,  war  Hr.  Grissler,  Ritter,  Landvogt  zu 
hweiz  und  L[rj.  Grysler,  oder  wie  ihn  verschiedene  andere 
utores  nennen,  Gessler,  deme  soll  das  Schloss  Küssnach  zuständig 
ewesen  seyn.  Von  dem  Geschlecht  der  Grisler  findet  sich  weiteres 
icht,  wol  aber  von  dem  der  Gessler,  welche  das  Schloss  Brunegk 
i  Hellingen  eingehabt  und  die  Herrschaft  Grüningen  1409  an 
ürich  verkauft  haben.  —  Fäsi,  in  der  Helvet.  Erdbeschreibung 
(Zürich  1765)  Bd.  i,  120.  Bd.  2,  149:  der  bekannte  Grissler, 
Vogt  im  Land  Schweiz ;  Grissler,  der  Tyrann  von  Uri  und  Schwyz. 

Rochh<^lz,  Teil  und  Gessler.  16 


242 


I.     Der  Sagenkreis  von  Teil.. 


—  Die  Kapelle  in  der  Hohlengasse  zu  Küssnach  wurde  1644. 
erneuert,  im  Jahre  1768  erhielt  sie  ein  von  Wolf  (aus  Zürich) 
gemaltes  Bild,  unter  dem  eine  Inschrift  mit  folgendem  Vers'J 
begann: 

Hier  Ist  Grisslers  Hochmuoth  vom  Thäll  erschossen  etc. 

Uriel  Freudenberger,  berner  Pfarrer  zu  Ligerz  am  Bielersee,, 
verfasst  die  berühmte  Schrift  Guillaume  Teil,  Fable  Danoise  1760] 
und  sagt  irrthümlich  daselbst  S.  16:  Petermann  Etterlin,  dei 
Chronist,  sei  der  erste,  welcher  den  von  Teil  erschossenen  Land- 
vogt Gessler  nenne,  et  non  Grrissler,  comme  an  le  nomme  com- 
munement  ' 

Aus  vorstehenden  Citaten  erhellt,  dass  die  Chronisten  um 
Schriftsteller  katholischerseits  und  in  den  drei  Ländern  ebensowohl, 
wie  ihre  gegnerischen  Landsleute  reformierterseits  Jahrhunderte 
lang  den  tyrannischen  Landvogt  nur  unter  dem  Namen  Grislei 
gekannt  haben  und  ihn  erst  dann  fallen  Hessen,  als  die  historische 
Kritik  erwachte  und  einen  urkundlich  nachweisbaren  Namen  ver^ 
langte.  Einmüthig  acceptirte  man  hierauf  den  schon  durcl 
Tschudi's  Ansehen  empfohlenen  und  durch  zahlreiche  Urkunde 
beglaubigten  Namen  Gessler,  bis  nun  auch  dessen  Unhaltbarkeil 
für  die  Teilenbegebenheit  durch  Kopps  Untersuchungen  dargethi 
worden  ist,  indem  ein  Landvogt  Hermann  Gessler  weder  zu  Ui 
noch  zu  Küssnach  je  regiert  hat  und  weder  vor  noch  nach  d< 
Tellenbegebenheit  urkundlich  in  den  Waldstätten  nachgewie« 
werden  kann. 

Wir  gehen  über  zu  dem  anderen  dramatischen  Zwillingsstück< 
das  über  Teil  die  französische  Schweiz  im  vorigen  Jahrhundei 
hervorgebracht  hat. 

Im  Jahre  1767  erschien,  gedruckt  zu  Neuenburg,  und  zu  Parif 
verlegt  bei  Vallat  la  Chapelle,  unter  Genehmigung  des  französische 
Staatskanzlers:     Guillaume    Teil,    Trage  die  par  Ant  Marin 
Mi^rre.    Dieser  Teil  war  bereits  ein  Jahr   zuvor  zu  Paris  durcl 
die  königlichen  Schauspieler  aufgeführt  worden;    »den  mit  anzuj 
schauen,  für  einen  ehrlichen  Schweizer  ein  wahrer  Bussartikel  ist,< 
heisst   es   darüber   in  einem  damaligen  Briefe,    gedruckt   in  de 
Monatsschrift  Isis,  Zürich  1805.     i,  213. 

Die  Personen  des  Stückes  sind :  Gessler,  Statthalter  von  UriJ 
Ulrich  sein  Vertrauter.  Die  vier  verschwornen  Schweizer :  WemerJ 
Melchthal,  Fürst  und  Teil.    Cleofa  ist  Teils  Gemahlin,  sein  Sol 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  343 

spielt  eine  stumme  Rolle.  Die  Scene  ist  zugleich  im  Gebirge, 
in  Altorf  und  am  flüelener  Seegestade.  Es  ist  ein  funfactiges 
Alexandrinerstück,  dem  aller  dramatische  Zuschnitt  fehlt,  nicht 
minder  schwach  ist  Personenzeichnung,  Handlung  und  Verwicklung, 
Fortschritt  der  Begebenheit  und  Zweck.  Um  so  schwieriger  fällt 
es,  in  Kürze  einen  Auszug  davon  zu  geben,  der  nicht  ganz  über- 
flüssig erscheinen  und  doch  die  Scenenfolge  einhalten  soll. 

I  Act.  Melchthal ,  auf  Besuch  bei  Teil  zu  Altorf,  erzählt 
diesem  das  Missgeschick ,  das  er  sich  und  seinem  alten  Vater  zu 
Uri  bei  dem  jüngsten  Zusammentreffen  mit  Gesslers  Trabanten 
zugezogen  habe.  Teil  beschwört  den  Freund,  nicht  bloss  den 
misshandelten  Vater  zu  rächen ,  sondern  auch  das  Umerland  zu 
befreien,  er  ruft  seine  beiden  Mitverschwornen  herbei,  Fürst  und 
Werner,  und  so  leisten  sich  die  Viere  den  Eid  gegen  den  Despoten 
Albrecht  und  dessen  Landvogt.  Teil  schärft  den  Abgehenden 
ein,  ihre  Weiber  ja  nicht  in  ein  unnützes  Vertrauen  über  den  Plan 
zu  ziehen  und  macht  davon  gegen  seine  eigne  Cleofa  sogleich 
eine  sehr  unhöfliche  Anwendung. 

n  Act.  Gessler  macht  seinem  Vertrauten  Ulrich  eine 
geschichtliche  Auseinandersetzung  in  aristokratischem  Stil.  Er 
hat  Anzeichen,  dass  eine  grobe  Bauembande  von  Unzufriedenen 
sfch  um  den  Flecken  Altorf  sammle.  Allein  diese  jetzigen 
Schweizer  sind  nicht  mehr  jenes  Volk  der  Helvetier,  das  seiner 
Freiheit  zum  Opfer  alle  seine  Ortschaften  niederbrannte  und  die 
Heimat  verliess,  einem  Cäsar  zum  Trotze.  Dieses  schwächliche 
fVölklein  bedarf  eines  nur  kleinen  Schreckmittels,  um  zu  gehorsamen, 
[dies  wird  der  Vogtshut  sein,  den  Ulrich  von  Stund  an  in  Altorf 
auf  die  Stange  pflanzen  soll.  Da  Ulrich  weg  ist,  tritt  dem  Vogt 
ein  Unbekannter  in  den  Weg,  Melchthal,  der  die  Freunde  suchend 
an  deren  Platze  Gesslern  findet.  Beide  kennen  sich  nicht.  Der 
pLandvogt  forscht  ihn  über  die  Volksstimmung  aus  und  erfährt, 
dass  man  nicht  sowohl  über  den  Kaiser  als  über  dessen  Vogt 
laufgebracht  sei.  Darüber  hat  sich  Melchthal  selbst  verrathen, 
wird  gefangen  gesetzt  und  darauf  im  Kerker  noch  durch  den 
Vertrauten  Ulrich  weiter  ausgeholt.  Die  Kunde  hiervon  verbreitet 
sfch,  Teil  mit  den  Landsleuten  beschliesst,  die  Burgen  aller  Vögte 
Zu  stürmen. 

III    Act.      Gesslers    Wachen   haben    einen    neuen   Verräther 
gefangen  eingebracht ;  da  man  ihn  nicht  kennt  und  seine  Kühnheit 

Erstaunen  erregt,  wird  Melchthal  herbeigeführt  und  gewahrt  den 

16* 


244  ^"     ^^'  Sagenkreis  von  Teil. 

Teil.  Nun  ist  das  Complot  entdeckt,  dieser  gefesselte  Unter- 
waldner  hatte  bei  dem  kühnen  Urner  Hilfe  und  Rath  gegen  den 
Landvogt  gesucht,  und  die  Beiden  pochen  auch  hier  noch  trotzig 
auf  ihr  Recht.  Werden  auch ,  sagt  Melchthal,  mein  Vater,  mein 
Freund  und  ich  dein  Opfer,  dennoch  bleiben  die  drei  Länder 
unsre  Gresinnungsgenossen.  Cleofa's  bittere  Klagen  unterbrechen 
diesen  Männerstreit.  Sie  bittet  mit  ihrem  Sohne  um  des  Gemahls 
Freiheit.  Gessler  gesteht  ihr  diese  zu,  aber  gegen  die  Aufgabe, 
dass  Teil  den  Probeschuss  thüe  nach  dem  Apfel  auf  des  Sohnes 
Haupte.  Während  der  Schütze  von  den  Wachen  hinweggefiihrt 
wird  zu  seinem  Standplatze  auf  dem  Markte,  wendet  sich  Cleofa's 
Schmerz  vergebens  gegen  die  Soldaten,  und  Gessler  schleppt  den 
gefesselten  Melchthal  mit  auf  den  öffentlichen  Platz  hinab. 

IV  Act.  Cleofa,  allein  in  den  doppelten  Bekümmernissen 
der  Gattin  und  Mutter,  erhält  von  Fürst  die  Nachricht,  dass  Teil 
den  Schuss  gethan;  noch,  bevor  er  ausgeredet  hat,  sieht  sie  den 
geretteten  Knaben  ihr  entgegenspringen.  Inzwischen  aber  hat  das  . 
verhängnissvolle  Gespräch  zwischen  dem  Vogt  und  Teil  stattge- 
funden über  den  Zweck  des  zweiten  Schützenpfeiles,  in  Folge 
dessen  der  Schütze  abermals  Gefangener  wird.  Doch  der  Jubel 
des  Volkes  über  den  gelungenen  Apfelschuss  schallt  dem  Vogt 
zu  heftig  im  Ohre  nach,  und  er  fühlt,  dass  die  beiden  gefangenen 
Aufrührer  hier  zu  Lande  nicht  wohl  verwahrt  werden  könnten. 
Sie  sollen  daher  schleunig  nach  Küssnach  übergeschifft  werden, 
und  er  selbst  macht  sich  reisefertig. 

V  Act.  Cleofa  verwünscht  den  Walter  Fürst,  dass  er  ein 
stillschweigender  Zuschauer  geblieben,  da  ihr  Mann  und  ihr  Sohn 
erst  von  Gesslers  Grausamkeit  missbraucht  und  nun  zum  zweiten 
Male  gefangen  hinweggefuhrt  worden  sind.  Sie  vernimmt  zur 
Beruhigung,  dass  Werner  bereits  über  den  See  vorausgeeilt  sei, 
um  die  Eingeschifften  zu  befreien.  Auf  ihre  zweite  Frage,  warum, 
Fürst  sich  nicht  selber  dabei  betheilige,  hört  sie,  dass  eben  in 
dieser  heutigen  Nacht  während  Gesslers  Abwesenheit  die  altorfer 
Burg  gestürmt  werden  solle.  Inzwischen  wird  die  Frau  mit 
Schrecken  des  Gewitters  gewahr,  das  sich  immer  drohender  über 
dem  See  zusammenzieht,  will  aber  ihren  Augen  kaum  trauen,  da 
sie  alsbald  den  athemlosen  Melchthal  eintreten  sieht,  der  ihr  vom 
Sturm  am  See,  von  Beider  Sprung  aus  dem  Schiffe  und  von  des 
Gemahles  baldiger  Rückkehr  berichtet. 

Während  Cleofa  und  Melchthal   nun   dem  Ufer  zueilen,   um 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller,  245 

den  kommenden  Gemahl  aufzusuchen,  ist  auch  dem  Gessler  die 
Landung  gelungen,  er  hat  die  nächste  Felswand  erklettert  und 
schreit  von  der  Höhe'  herab,  dass  man  ihm  den  Teil  einhole. 
Dieser  aber  erscheint  auf  dem  entgegengesetzten  Felsen  und 
schiesst  den  Landvogt  nieder.  Das  Volk  empfängt  den  Schützen 
als  Si^er  und  Eroberer  der  Freiheit,  die  Zwingburgen  lodern  in 
diesem  gleichen  Augenblicke  empor,  alles  ruft  Sieg  oder  Todl 
Teil  jedoch  ist  mit  diesem  Schlagwort  nicht  befriedigt ;  er  mahnt 
das  Volk  vielmehr  zur  Beharrlichkeit,  mit  ihr  allein  sei  selbst 
einem  Kaiser  Trotz  zu  bieten.  Dies  fasst  er  zusanmien  in  das 
epigrammatische  Schlusswort: 

Qui  veui  vaincre  ou  pirir^  est  vaincu  trop  souvetit; 
Jurons  d^itre  vainqueurs,  noiis  iUndrons  le  serment 


Vierter  Abschnitt. 

Die  bodmerische  Periode  der  schweizerischen  Bühnendichtung.  —  Bodmers  vier 
Schauspiele  von  Teil  und  vom  Schweizerbund,  1775.  —  J.  Ign.  Zimmermanns 
Trauerspiel  Wilhelm  Teil,  1777.  —  Der  Dreibund  von  Petri,  Basel  1791.  — 
Johann  Ludwig  Ambühl;  sein  Lebensabriss.  Aus  seinen  Jugendliedem.  Seine 
verschiedenen  Schriften.  Entstehungsart  seines  Schauspiels  Wilhelm  Teil  1791, 
Skizze  desselben.  —  Rückblick  auf  die  Persönlichkeit,  das  Schicksal  und  die 
poetische  Leistung  sämmtlicher  Tellendichter  von  RuofT  bis  auf  Schiller. 

Johann  Jakob  Bodmer,  geboren  1698  zu  Greifensee,  gestorben 
1783  als  Professor  zu  Zürich,  ist  durch  seine  langdauemden 
Fehden  mit  den  Leipzigern  und  Berlinern  und  durch  sein  Freundes- 
bündniss  mit  den  Dichterjünglingen  Klopstock  und  Wieland  be- 
rühmter geblieben,  als  durch  seine  fast  zahllosen  poetischen 
Producte.  Keines  derselben  hat  sich  lebensfähig  erwiesen.  In 
allen  Gattungen  und  Formen  hatte  er  sich  versucht,  seine  epischen, 
dramatischen,  lyrischen  und  didaktischen  Arbeiten  sind  zusammen 
vergessen.  Ueber  die  Befreiungsgeschichte  und  den  Befreier  der 
Schweiz  allein  hat  er  fünferlei  Bühnenstücke  geschrieben.  Alle 
fünf  sind  in  demselben  Jahre  1775  gedruckt,  vielleicht  auch  in 
derselben  Zeitfrist  von  ihm  verfertigt,  lauter  rohe  Fabrikarbeit, 
lauter  eilfertige  Nachahmung  bekannter  Originalwerke  der  eng- 
lischen Literatur,  sämmtlich  in  nachlässiger  Prosa  geschrieben,  oft 
nur  wenige  Druckseiten   haltend.     Eine   Analyse   ihres   Inhaltes 


I 

L 


246  !•     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

mitzutheilen  oder  sie  nach  ästhetischen  Grundsätzen  bemessen 
wollen,  wäre  überall  unnütz.  Bodmer  begnügt  sich  mit  dem 
historischen  Rohstoff,  das  Geschehene  allein  befriedigt  ihn,  nicht 
der  Geist  der  Geschichte  giebt  ihm  künstlerisch  zu  gestaltende 
Ideen  ein,  und  insofern  steht  er  mit  seinen  übrigen  Compatrioten, 
die  sich  damals  poetisch  an  der  Schweizergeschichte  versuchten, 
sogar  dem  Erzählungstalent  des  Chronisten  Tschudi  nach.  Das 
Widerwärtige  dieser  dramatischen  Arbeiten  liegt  in  der  Gemüths- 
kälte  und  Empfindungsarmuth  ihrer  Autoren.  Sie  bringen  ein 
von  Gott  für  die  Freiheit  voraus  bestimmtes  Volk  auf  die  Bühne 
mit  lauter  unverwundbaren  Freihe^iskämpfern  und  Siegesriesen; 
die  Gegner  sind  lauter  Scheusale  und  Sklavenseelen,  angefüllt  mit 
kindischer  Albernheit,  drachenhafter  Mordgier  und  stinkend  von 
Gotteslästerungen.  Durch  dieses  Heer  von  Bestien  lassen  sie  die 
Schweiz  als  ein  Paradies  der  Menschenunschuld  bekämpfen,  bis 
der  von  der  Vorsehung  berufene  Märtyrer  oder  Sieger  hervor- 
tritt und  jene  Widersacher  durch  eine  That  vertilgt,  die  dem 
Zuschauer  theils  unsichtbar,  theils  unbegreiflich  bleibt.  Bodmers 
hier  einschlägige  vaterländische  Schauspiele  sind  betitelt: 

Gesslers  Tod,  oder  das  erlegte  Raubthier.  Schauspiel.  1775. 
8°.  Seiten  14. 

Der  alte  Heinrich  von  Melchthal,  oder  die  ausgetretenen 
Augen.     Schauspiel.     1775.     8^.     Seiten  18. 

Der  Hass  der  Tyranney  und  nicht  der  Person,  oder  Same 
durch  List  eingenommen.     1775.    S.  24. 

Wilhelm  Teil,  oder  der  gefährliche  Schuss.     1775.     S.  15. 

Das  letztgenannte  Stück  hat  sieben  Auftritte.  Der  Schuss 
nach  dem  Apfel  geht  hinter  der  Bühne  vor  sich.  Ein  kurzer 
Dialog  zwischen  Gessler  und  Teil  folgt  hier  als  eiiie  Probe  alles 
Uebrigen,  wobei  nicht  zu  vergessen,  dass  auch  dieses  Gespräch 
nichts  ist  als  eine  rohe  Nachahmung  des  bekannten  Dialogs 
Falstaffs  und  des  Prinzen  in  Shakespeare's  Heinrichen. 

Gessler:   Was  kannst  du? 

Wilhelm:   Das  Steuer  halten,  mit  der  Armbrust  schiessen. 

Gessler:  Was  schiessest  du? 

Wilhelm:  Enten,  Auerhahnen,  Rehe. 

Gessler:  Das  sind  meine  Thiere;  du  bist  ein  Wilddieb  und 
hast  das  Leben  verschuldet. 

Wilhelm:  Herr,  ich  habe  für  eure  Küche  geschossen,  wenn 
der  fette  Mann,  der  in  derselben  regiert,  es  mir  befohlen  hat. 


lO.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  247 

Gessler:   Bist  du  verheirathet  ? 

Wilhelm:  Ja,  lieber  Herr,  mit  einem  Weibsbilde.  Es  sind 
itzt  acht  Jahre,  dass  ich  das  Joch  trage. 

Gessler:  Mit  einem  Weibsbilde?  Wunderbari  —  Hast  du 
Kinder  ? 

Wilhelm:  Mein  Weib  ist  nur  einmal  in  die  Wochen  ge- 
kommen, mit  einem  Knaben;  sie  sagt,  dass  ich  sein  Vater  sei, 
und  ich  glaube  es  auf  ihre  Ehre. 

Gessler:  Was  that  dir  die  Mütze,  dass  du  das  Knie  nicht 
bögest  ? 

Wilhelm:  Ich  gieng  daher  und  pfiff,  unterm  Pfeifen  vergass 
ich,  dass  die  Mütze  Augen  hätte.  Befehlet  ihr,  so  geh'  ich  den 
Augenblick  und  scharre  vor  ihr  so  viel  Knickfusse,  als  wenn  ein 
grosser  Kopf  in  der  Mütze  sässe  u.  s.  w.  — 

Würdiger  gedacht,  obwohl  nicht  mit  besserer  dramatischer 
Einsicht  behandelt,  ist: 

Wilhelm  Teil.  Ein  Trauerspiel  in  fünf  Aufzügen  von 
Joseph  Ignaz  Zimmermann.    Basel  1777.     8^  .  Seiten  92. 

Zimmermann,  1737  zu  Luzem  geboren,  war  daselbst  Jesuit 
und  verfasste  sein  Trauerspiel  wahrscheinlich  für  das  Luzemer 
Schultheater.  Die  bemer  Regierung  belohnte  ihn  für  sein  vater- 
ländisches Schauspiel  Petermann  von  Gundoldingen ,  er  trat  aus 
dem  Orden  und  wohl  auch  über  zur  reformierten  Kirche;  denn  er 
wird  Professor  der  Rhetorik  und  Poesie  zu  Bern  und  stirbt 
daselbst  9.  Januar  1797. 

I  Sein  Teil  hat  nur  sieben  Personen.  Der  Schauplatz  ist 
[nächst  Altorf  zwischen  Bergen  am  Waldstättersee.  Folgende 
kurze  Inhaltsangabe,  nach  Acten  geordnet,  lässt  erkennen,  dass 
r  Verfasser  noch  gänzlich  unbeeinfiusst  war  von  der  antiken 
ichtkunst,  über  die  er  doch  lehrte,  und  dass  er  statt  englischer 
uster,  wie  Bodmer  theilweise  that,  französische  Bühnenstücke 
nachzuahmen  suchte. 

Erster  Aufzug.  Teil  hat  sich  vor  dem  Hut  auf  der  Stange 
nicht  gebeugt  und  ist  darüber  gefangen  genommen  worden.  Auf 
den  Rath  des  Urners  Meinhart,  der  Gesslers  Werkzeug  und 
Teils  persönlicher  Feind  ist,  wird  Teil  unter  der  erniedrigenden 
Bedingung  losgegeben,  dass  er  knieend  vor  der  Stange  öffentliche 
Abbitte  thue.  So  hofft  sich  der  Urner  Meinhart  dafür  zu  rächen, 
dass  einst  Hedwig,  Wernher  Staufachers  Schwester,  seine  Liebes- 


248  !•     I^er  Sagenkreis  von  TelL 

Werbung    ausgeschlagen    und   statt   seiner   den   Teil   zum   Mann 
genommen  hat. 

Zweiter  Aufzug.  Hedwig,  Teils  Frau,  schickt  ihren  Knaben 
Walther  zu  Gessler,  mit  der  Bitte,  dem  Gemahl  die  verhängte 
Demüthigung  zu  erlassen.  Da  der  Knabe  hübsch  ist,  schliesst 
der  Vogt  auf  die  Schönheit  der  Mutter  und  verfugt,  diese  habe 
ihm  ihr  Gesuch  persönlich  vorzutragen.  Nun  aber  wird  Meinhart 
auch  noch  auf  Gesslers  Nebenbuhlerschafb  eifersüchtig. 

Inzwischen  haben  die  drei  Eidgenossen  ihren  Bundesschwur 
geleistet:  es  sollen  die  Burgen  der  Vögte  überrumpelt  und 
gebrochen,  die  Vögte  zwar  am  Leben  geschont,  aber  ausgetrieben 
werden.  Hierzu  ist  das  Volk  der  drei  Länder  vorbereitet, 
der  Landesadel,  vom  Vorhaben  noch  ununterrichtet,  wird  der 
gelungenen  Thatsache  freiwillig  beitreten. 

Dritter  Aufzug.  Hedwig  und  der  Knabe  Walther  bitten 
Gesslern  fussfällig,  dem  Teil  die  entehrende  Strafe  zu  erlassen. 
Auf  Gesslers  Frage,  warum  der  starrköpfige  Mann  nicht  selbst 
mit  erscheirfe,  geht  der  Knabe  ab,  ihn  herbeizuholen.  Inzwischen 
wagt  der  Vogt,  die  Frau  um  ihre  Gunst  zu  bitten,  so  liege  Teils 
Schicksal  in  ihrer  Hand.  Sie  verweist  ihn  keck  an  jenes  Bad, 
in  welchem  jüngst  der  Vogt  Landenberg  seine  Lust  gebüsst  hat. 
Darüber  bringt  Walther  den  Vater  herbei.  Der  Vogt  verfugt, 
der  Gemahl  einer  so  frommen  Frau,  der  Vater  eines  so  vorlauten 
Sohnes,  dieser  als  Schütze  so  berühmte  Mann  müsse  durch  ein 
besonderes  Strafmass  ausgezeichnet  werden ;  gleich  jetzt  solle  er 
dem  Sohne  einen  Apfel  vom  Haupte  schiessen.  Um  dies  auf  dem 
Marktplatz  zu  veranstalten,  begiebt  der  Vogt  sich  hinweg  und 
überlässt  die  drei  ihrem  Schrecken. 

In  der  nun  folgenden  Scene  ist  das  verschiedene  Mass  der 
Empfindung    dreier   gekränkter    Herzen   nicht   ohne    Glück   aus- 
gedrückt.    So    spricht  der  Vater  dem  Knaben  zu,    der  in  der' 
Angst   vor  dem  bevorstehenden  Ereigniss  auf  den  Knieen  liegt;] 
»Bester  Sohn,  viel  tausend  liebe  Kinder,  die  wirklich  leben  ode 
die   lang   nach   dir  in  künftigen  Jahrhunderten  geboren  werde 
müssen  einen  Gessler  fürchten,   der  sie  und  ihre  Eltern  grausa 
verfolgt.     Sag   mir,    wenn   du  alle  diese   frommen  Kinder,   ihr 
bekümmerten  Mütter,   ihre  im  Elend  schmachtenden  Väter  all 
auf  einmal   erretten  könntest  —  —  hättest  du  Muth  genug,  z 
sterben?«    Walther,   ihn  umhalsend,   antwortet:    »Wenn  nur  d 


lo.  Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  24O 

leben  bleibst,  sterb  ich  mit  Freuden!«  und  zur  Mutter  gewendet: 
»Weine  doch  nicht,  den  Apfel  trifft  der  Pfeil,  nicht  mich.« 

Hedwig:  Ach,  ich  bin's,  die  dieses  mörderische  Gebot  dem 
Wütherich  abgepresst  hatl  der  Lasterhafte  machte  mir  Ver- 
sprechen, bot  mir  Geschenke  an  .  .  . 

Teil:  der  Fluchwürdige!  dies  entscheidet  imser  Glück,  Grott 
krönet  deine  Treue,  besorge  nichts. 

Hedwig  blickt  den  Abgehenden  nach,  dann  mit  wieder 
erwachender  Mutterzärtlichkeit:  Halt!  es  ist  ja  auch  mein  Blut! 
(wieder  sich  fassend)  Es  fliesse!  Zum  Heil  des  Vaterlandes  hab 
ich  ihn  geboren!   O,  ihr  Mütter  alle,  eilet  her!  u.  s.  w. 

Vierter  Aufzug.  Der  Schuss  ist  bereits  geschehen.  Noch 
sind  die  Verbündeten  auf  dem  Marktplatze  zurückgeblieben ,  den 
Hergang,  die  Angst  des  Volkes  schildernd,  den  Aufschrei  nach 
der  That.  Gessler  und  bald  darauf  Teil  erscheinen  abermals  auf 
dem  Platze;  letzterer  verwünscht  sich  selbst  über  seine  unväter- 
liche Wagethat;  er  ruft  (S.  69):  »Die  Nachwelt  wird  es  nicht 
glauben  können;  sie  hat  recht  1«  Er  erbittert  sich  und  dringt 
heftig  redend  gegen  Gessler  vor.  Dieser  erblickt  iA  Teils  GoUer 
den  andern  noch  übrigen  Pfeil,  fragt  um  den  Zweck  dieser 
Bewaffnung  und  erhält  in  der  Hitze  des  Wortwechsels  den  be- 
kannten Aufschluss.  Da  lässt  er  ihn  sogleich  nach  Küssnach  ab- 
führen. Im  Abgehen  spricht  der  Gefangene:  »Gebunden  bleibet 
Teil  noch  Teil;  dies  sei  der  Gattin  Trost!«  Dies  Wort  ist 
endehnt  aus  Lavaters  Tellenlied,  Strophe  14: 

Gebunden  bleibt  der  Held  ein  Held, 
In  Ketten  Teil  noch  Teil. 

Gessler  geht  mit  nach  Küssnach  ab,  inzwischen  übergiebt  er 
seinem  Statthalter  Meinhart  die  Gewalt  über  das  Umerland. 
Dieser  hofft  sie  sogleich  gegen  Teils  Frau  anzuwenden. 

Fünfter  Aufzug.  Der  Knabe  Walther  meldet  der  Mutter  die 
Nachricht,  die  ein  heimgekehrter  Schiffer  verbreite,  der  Vater  sei 
entweder  im  Seesturm  ertrunken  oder  zu  Küssnach  vom  Vogt 
hingerichtet.  Dies  hat  Meinhart  ausstreuen  lassen;  nun  erscheint 
er  bei  der  bedrängten  Frau,  bedauert  ihre  Wittwenverlassenheit, 
aber  als  neue  Gattin  eines  Urners  seien  ihre  Reize  vor  Gesslers 
Absichten  beschützt,  und  sie  könne  noch  Segen  über  das  Land 
verbreiten.  Die  Verbündeten  treten  plötzlich  ein,  überbringen 
Teils  Gruss  nebst  der  Kunde  von  seiner  Befreiung  und  von  des 
Vogtes  Tod.      An    diesem   heutigen    Tag   schon   sind   die    drei 


250  !•     Der  Sagenkreis  von  TelL 

Schlösser  Lauwerz,  Samen  und  Rossberg  angegriffen  und  zerstört 
worden.  Meinhart  wird  von  seinen  Landsleuten  ausgestossen  und 
seiner  ewigen  Schande  überlassen. 

In  Begleitung  des  Volkes  tritt  Teil  ein.  Sein  Schlusswort 
heisst:  Nur  der  erste  Schritt  zur  Freiheit  ist  gethan.  Sie  wird 
noch  viele  Kämpfe  kosten,  erst  die  spätem  Enkel  werden  die 
Frucht  unsrer  Treue  gemessen.  — 

Wohl  das  misslungenste  unter  den  gleichen  Stücken  des 
vorigen  Jahrhunderts,  roh  in  Anlage,  Scenenfolge,  Stoffbehandlung 
und  Ausdrucksweise  ist  nachfolgendes  anonym  erschienene: 

Der  Drey-Bund.  Ein  vaterländisches  Original  -  Schauspiel 
in  vier  Aufzügen.     1791.     8°.     S.  78. 

Was  nützet  der  Väter  Tugend 
Ohne  Nacheifer? 

Der  Verfasser  ist  Joh.  Balth.  Petri  (vgl.  Gödeke,  Gnind- 
riss,  S.  1076),  der  nicht  angegebene  Dmckort  ist  Basel.  —  Teil 
erscheint  nicht  im  Personenverzeichnisfee,  dagegen  tritt  sein  Weib 
Therese  in  der  sechsten  Scene  des  Schlussactes  auf  als  stunune 
Person.  Das  Volk  reisst  die  Stange  mit  dem  Hute  nieder,  ver- 
brennt Gesslers  Wappenschild,  da  kommt  sie  mit  ihren  Kindern 
über  den  Platz  gegangen  »bitterlich  weinend« ;  denn  ihr  ist  Teils 
glückliches  Entkommen  noch  unbekannt.  Einer  aus  dem  Volks- 
haufen spricht  zu  ihr:  »Was  weinest  du,  Therese?  Siehe,  dein 
Mann  ist  der  Edelste  unter  uns.  Ihm  verdanken  wir  es,  dasswir 
frei  sind.  Glaube  mir,  Schweizer  vergessen  nie,  dass  er  ihr  Retter 
war.  XJnd  wenn  dein  Mann  nicht  mehr  ist,  so  wollen  wir  dich 
und  deine  Kinder  erhalten.«  Die  Menge  nimmt  Weib  und  Kin 
der  in  die  Mitte  und  ruft,  mit  ihnen  abgehend:  Es  lebe  Teil,  es 
lebe  die  freie  Schweiz,  es  leben  Teils  Nachkommen!   —  Schluss. 

Joh.  Ludwig  Ambühl  ist  1750  zu  Wattwil  im  Toggen- 
burg geboren,  in  jenem  Dörflein,  in  welchem  gleichzeitig  jener 
Leineweber  Ulrich  Bräker  lebte,  der  seine  eignen  Schicksale  in 
dem  vielgenannten  Buche:  Der  arme  Mann  im  Toggenburg,  so 
bleibend  schön  beschrieben  hat.  Ambühls  Vater  war  ein  über 
nächtlichen  Schreibereien  geschichtlicher  Compilationen  erblindeter 
Dorfschulmeister,  der  seinem  zwölfjährigen  Sohne  das  Schulamt 
abtreten  musste.  Der  junge  Gehilfe  hatte  von  nun  an  täglich 
sechs  bis  sieben  Stunden  Unterricht  zu  geben,  dann  die  laufen- 
den Geschäfte  in  Haus  und  Stall  mit  zu  besorgen,  um  schliesslich 
die  etwa  noch  übrige  Zeit  an  seine  eigene  Ausbildung  zu  wenden. 


lo.  Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  25 1 

So  lernte  er  frühzeitig  Mass  und   Werth  seiner  Kräfte   kennen, 
steigerte  sein  Selbstvertrauen  und  bildete  sich  jenen  männlichen 
Unabhängigkeitssinn ,    welcher    der    anerkannteste    Charakterzug 
Ambühls  gewesen  ist.     Er  rastete  in  seinem  geistigen  Trachten 
niemals.    Schon  als  Kind  hatte  er  auf  der  Cither  der  Mutter,  dann 
auf  der  Flöte  und  Geige  des  Vaters  spielen  gelernt.    Dann  wurde 
ein  um  geringen  Preis  erstandenes  Klavier  sein  Lieblingsinstru- 
ment; obgleich  er  keinen  Unterricht  genossen,  brachte  er  es  im 
Oi^elspiel  zu   einer   nicht  geringen  Stärke.     Beim  Pfarrer  erhielt 
er  nebenher  einige  Anweisung  in  alten  Sprachen,  so  dass  er  noch 
in  späteren  Jahren  seinen  lateinischen  Autor  zu  lesen  wusste,  und 
so  erwarb   sich  sein  Thätigkeitstrieb  alle  übrigen  Kenntnisse   in 
Nebenstunderi.     Als  er  in  seinem  zwanzigsten  Jahre  den  erblinde- 
ten Vater  und  die  an  der  Schwindsucht  leidende  Mutter  verloren 
hatte,  verblieb  ihm  die  Sorge  für  den  Unterhalt  und  die  Erziehung 
zweier  minderjährigen  Geschwister,  und  die  Deckung  der  Schulden, 
die  in  einem  von  der  Mutter  imglücklich  betriebenen  Kleinhandd 
erwachsen  waren.     Sein  fixes  Einkommen  betrug  wöchentlich  je 
vier  Kreuzer  von  jedem  Schulkinde,  deren  er  wechselnd  zwischen 
20  bis  50  hatte.    Gutgesinnte  Menschen  mögen  ihm  damals  seine 
Lasten  etwa  erleichtert  haben,  das  Meiste  that  jedenfalls  seine 
eigene  Anstrengung.    Schon  vor  Morgen  that  er  die  Dienste  der 
Hausmagd,  während  des  Schulhaltens  wies  er  die  Geschwister  zu 
den   laufenden  Arbeiten  an,   in  den  Zwischenstunden  fertigte  er 
Copiaturen  für  die  Landschreiberei  des  Nachbarstädtchens  Lichten- 
steig und  ass  oft  Wochen  lang  statt  Brod  nur  Kartoffeln.    So 
gelang's  die   Schulden  abzuzahlen  und  des  Bruders  Lehrjahre  zu 
bestreiten,  der  ein  tüchtiger  Schlossermeister  wurde.      Aus  dem 
Tagebuche  dieses  letzteren  erfahren  wir  Ambühls  erste  Liebe,  die 
zugleich  auch  seine  letzte  blieb.     Sie  verzweigt  sich  mit  einigen 
seiner  Jugendlieder  und  lässt  tief  in  sein  bescheidenes  Herz  blicken; 
mit  den   Worten    des    Bruder   Schlossermeisters   stehe   hier   ein 
Einzelzug. 

»Einer  von  unsern  Nachbarn  hatte  eine  Tochter,  die  von 
einem  herumziehenden  Dorfschulmeister  die  Orgel  schlagen  lernte. 
Mein  Bruder,  jünger  als  sie,  besuchte  sie  in  ihren  Unterrichts- 
stunden, sie  kam  in  ihren  Freistunden  ebenso  in  unser  Haus. 
Elise  war  von  feinem  Körperbau,  ihre  Rede  anmuthig,  ihre  Sing- 
stimme silberrein.  Als  der  Musiklehrer  abgeschafft  war,  hielten 
die  Zwei  ihre  Uebungsstunden  zusammen  und  begeisterten  sich, 


252  I-     ^®r  Sagenkreis  von  Teil. 

wenn  ihre   Stimmen   zu  Zweit  ihr  Spiel   begleiteten.     Doch  die 
Harmonie  beider  Kinder  war  nicht  auch  der  beiderseitigen  Eltern. 
Des  Mädchens  Eltern   hatten  von  dem  Vermögen  der  unsrigen 
eine  schlechte  Meinung  und  sahen  es  ungern,  dass  Elise  oft  in  unser 
Haus  kam.    Als  eine  gutartige  Tochter  mässigte  sie  ihre  Besuche; 
wie  geflogen  und  leise  kam  sie,  auf  gleiche  Art  verabschiedete 
sie  sich,  allemal  so  rührend,  als  ob  es  das  letzte  Mal  wäre.    Auch 
bei   diesem  beschränkten  Umgang  waren   Beide  zufrieden,  aber 
nun  wurde  ihr  Glück  plötzlich  vernichtet.    An  einem  Abend  spät 
kam  das  Mädchen  in  unser  Haus,  nicht  so  munter  wie  sonst,  mit 
langsamen,  leisen  Schritten,  als  ob's  an  einen  Leichenzug  gienge. 
Schluchzend   verbarg    es   sein   sonst   so   heitres    Gresicht    in   die 
Schürze,  setzte  sich,  als  ob  es  sich  müde  gelaufen,  auf  die  Bank, 
liess  dann  die  Hand  mit  der  Schürze  sinken  und  wollte  erzählen. 
Sobald  sie  aber  den  Namen  eines  ihr  bestimmten  Bräutigams  ge- 
nannt, konnte  sie  vor  Weinen   nicht  mehr  seinen.  Wohnort  mit- 
sagen.    Mit   gefalteten   Händen   trat  sie   vor   unsem  Vater  und 
Mutter  unter  einem  Stroni  von  Thränen  hin  und  bat,  sie  möchten 
es  doch  als  ihr  Kind  aufnehmen.    Der  Vater,  der  ihr  Lehrer  ge- 
wesen, machte  ihr  alle  möglichen  Vorstellungen,  dass  es  auf  diese 
Art  nicht  angehen  könne,  versprach  ihr  aber,  daheim  eine  Fürbitte 
einzulegen.     Der  Bruder  stand  neben  der  Mutter   und  sah   mit 
nassen  Augen  in  die   ihrigen,   um  drinnen  zu  lesen,  ob  sie  auch 
so  wie   der  Vater  gesinnt  sei.     Es  gelang  der  Mutter,  das  Mäd- 
chen ein  wenig  zu  beruhigen  und  es  zu  bewegen,  wieder  heim  zu 
gehen.    Dies  war  sein  letzter  Besuch,  bald  darauf  musste  es  sich 
ungeachtet  seiner  zarten  Jugend  verheirathen.« 

Mehrere  Lieder  in  An\bühls  lyrischen  Gedichten  beweisen 
den  tiefen  dauernden"^  Eindruck,  den  diese  Jugendliebe  auf  sein 
Herz  gemacht  hat.  In  seiner  Phantasie  behielt  Elise  eine  heilige 
Stelle,  er  starb  unbeweibt.  Nach  seinem  Tode  sind  seine  lyrischen 
Gedichte  durch  seinen  Freund  Gregor  Grob  herausgegeben  wor- 
den: St.  Gallen  und  Leipzig,  1803,  und  dieser  Ausgabe  sind  so- 
wohl unsre  Angaben  über  den  Dichter  als  auch  nachfolgende 
Verse  entnommen. 

An  den  Mond.    S.  58. 
Sieh,  da  träum'  ich  wieder.  Aus  der  kleinen  Hütte 

Lächle,  lieber  Mond,  Blickt  sie. nun  nach  dir! 

In  das  Thal  hernieder,  Mit  der  Liebe  Sitte 

Wo  mein  Mädchen  wohnt!  Träumt  sie  auch  von  mir; 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  253 

Denket  im  Gebete 
Vor  dem  Schöpfer  mein: 
Gute  Nacht,  Lisette, 
Ewig  bin  ich  deini 

Das  Hirtenmädchen.    S.  65. 

Vergnügt  mit  meiner  Herde  Und  schmeichehi  mir  und  scherzen 

Im  Hirtenthal,  Um  mich  im  Drang, 

Sitz'  ich  auf  grüner  Erde  Das  macht  mir  dann  im  Herzen 

Am  Sonnenstrahl,  So  wohl  und  bang: 

Und  singe  weide,  weide  I  Als  säss'  er  selbst  hieneben, 

Da  kommen  fer  Der  gute  Mann, 

Die  Schäflein,  meine  Freude,  Mit  dem  ich  einst  soll  leben. 

Aus  Büschen  her;  Und  sah*  es  an! 

Der  Mond  geht  auf  und  über 
Wie  selig  1    OhI 

Komm  bald,  komm  bald,  du  Lieber, 
Und  mach  mich  frohl 

Meine  Freuden.    S.  86. 

Ich  schliess  mich  gern  in's  Kämmerlein 
Und  spiele  mein  Klavier, 
Bald  still  und  bald  gejubelt  drein. 
Da  ist  so  wohl  dann  mir. 

Kein  König  hat  so  Freuden  viel! 
Und  kommt  mein  Mädchen  her, 
Dann  ist  mir,  ob  kein  Weltgewühl, 
Ob  ich  im  Himmel  war'. 

Ich  schmiege  mich  in  seinen  Arm 
Und  drück's  an  meine  Brust 
Mit  keuscher  Liebe  treu  und  warm. 
Und  athme  kaum  vor  Lust, 

Und  seufze:  Vater,  Gold  und  Geld 
Verlang'  ich  nicht  von  dir! 
Vertheile  deine  ganze  Welt, 
Nur  lass  mein  Mädchen  mir! 


2154  !•    ^cr  Sagenkreis  von  TelL 

Ambühls  sich  selbst  genügende  Zurückgezogenheit  missfiel 
den  Leuten  seines  Dorfes,  sein  gerechtes  Selbstvertrauen  hiess 
ihnen  Bettelstolz.  Die  Bauern  damaligen  Schlages  verlangten  für 
die  paar  Kreuzer,  die  man  dem  Schulmeister  wöchentlich  bezahlte, 
kriechenden  Dank,  der  Ortspfarrer  ebenso  knechtische  Unterwür- 
figkeit. Toggenburg  war  ein  Unterthanenland ,  die  Pfarrämter 
wurden  durch  die  regierenden  Orte'  besetzt,  der  Pfarrer  war  also 
meistens  ein  Fremder,  das  Glied  oder  der  stolze  Schützling  eines 
vornehmen  Städtergeschlechtes.  Ambühls  Lehrmethode ,  sein 
Kirchenbesuch,  seine  Zurückgezogenheit  und  Anderes  sollte  sich 
dem  herrischen  Zwang  des  Pfarrers  und  der  Kirchenvorsteher 
fügen.  Zwanzig  Lebensjahre  lang  hatte  er  dies  erduldet,  als  ihn  ein 
glücklicher  Fall  aus  solcher  Lage  befreite.  Jakob  Laurenz  Custer 
im  Löwenhof  bei  Rheineck,  ein  reicher  Industrieller,  suchte  einen 
Lehrer  für  seine  kleine  Stieftochter  und  nahm  Ambühl  ins  Haus. 
Hier  fand  sich  nun  alles  nach  Wunsch,  Liebe  zur  Musik,  kleine 
Hausconcerte,  Kenntniss  der  modernen  Literatursprachen,  Bücher- 
und  Kartensammlungen,  ein  freundschaftlich  liberaler  Ton  und 
Verkehr.  Custer  war  im  Philanthropin  zu  Haldenstein  erzogen 
worden  und  hatte  sich  als  Chef  der  alten  Handelsfirma  Heer  in 
Verona  in  der  Fremde  gebildet.  Seine  grossen  Reichthümer 
widmete  er  mit  opferbereiter  Liebe  seiner  Heimat;  er  gründete 
Schulgenossenschaften,  Lesebibliotheken,  Unterstützungscassen  für 
Lehrer,  regelte  das  Armenwesen  und  hinterliess  bei  seinem  1828 
erfolgten  Tode  den  Schul-  und  Armenfonds  der  rheinthalischen 
Gemeinden  ein  Vermächtniss  von  58,500  Fl.  (Vgl.  Steinmüller, 
Pfarrer  in  Rheineck:  Zum  Andenken  an  J.  L.  Custer  1828.  4°). 
Hier  lernte  Ambühl  die  Sprachen  und  Werke  der  Franzosen  und 
Italiener  kennen,  musicierte,  zeichnete  und  malte,  besah  auf  Lust- 
reisen die  Schönheiten  der  Schweiz  und  begann  seine  historischen 
und  statistischen  Schriften,  zu  denen  Custer  seit  Jahren  schon  die 
Urkunden  und  Hilfsmittel  vorgesammelt  hatte.  Dahin  gehört 
Ambühls  Geschichte  des  St.  Gallischen  Rheinthaies.  St.  Gallen, 
ZoUikofer  1805.  Custer  Hess  zu  dem  Werkchen  eine  Specialkarte 
stechen,  die  er  nach  eignen  Ausmessungen  mit  beträchtlichen 
Kosten  hatte  aufnehmen  lassen.  Drei  Jahre  begleitete  Ambühl 
seinen  Zögling  nach  Strassburg  und  Genf,  später  noch  in  Gesell- 
schaft des  Vaters  nach  Italien.  Nach  der  Heimkehr  war  seine 
pädagogische  Thätigkeit  beendigt,  sein  Herr  überwies  ihm  ein 
schönes  Gut  zu  Altstätten  und  setzte  ihn  grossmüthiger  Weise  in 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller,  255 

■ 

Stand,  ein  gemächliches  und  unabhängiges  Leben  zu  führen.  Sein 
einziges  Geschäft,  Custers  Einkünfte  in  dieser  Gegend  zu  verwalten, 
Hess  ihm  alle  Müsse  zu  seinen  mehrfachen  Producten  übrig.  Bei 
der  nachmaligen  Unabhängigkeitserklärung  des  toggenburger  und 
rheinthaler  Landes  entzog  sich  Ambühl  den  Wahlen  und  Stellen 
nicht,  zu  denen  ihn  das  Vertrauen  seiner  Landsleute  berief.  Als 
Statthalter  war  er  nachlässigen  Unterbeamten  und  Districtsvor- 
ständen  ein  unerschütterlich  strenger  Gebieter.  Als  Erziehungs- 
rath  des  Kantonö  St.  Gallen  versäumte  er  bei  schon  andauernder 
Kränklichkeit  und  auch  in  der  schlimmsten  Jahreszeit  keine  Amts- 
sitzung, trotz  der  weiten  Entfernung  seines  Wohnortes  vom 
Regierungssitze.  Er  starb  1800.  Sein  Erbe  fiel  dem  Bruder,  seine 
hübsche  Büchersammlung  der  rheinthaler  Lesebibliothek  zu.  Noch 
am  Grabe  des  Freundes  Hess  Custer  den  Armen  schöne  Geld- 
spenden vertheilen. 

Ambühls  Schriften  sind  ausser  den  beiden  schon  genannten, 
(Gedichte  und  Rheinthaler  Geschichte)  nachfolgende: 

Der  Schweizerbund,  ein  Schauspiel.     Zürich,  1779. 

Angelina,  Schauspiel.     Zürich,  1780. 

Brieftasche  aus  den  Alpen.  (Reisebeschreibungen)  4  Liefe- 
rungen von  1780 — 1785. 

Die  Mordnacht  in  Zürich,  Schauspiel.     Zürich,  1781. 

Briefe  einer  befreiten  Nonne.     St.  Gallen,  1783. 

Hans  von  Schwaben  und  Kaiser  Alberts  Tod,  Schauspiel. 
St.  Gallen,  1789. 

Wilhelm  Teil,  Schauspiel.    Zürich,  1791. 

Der  Neujahrstag,  oder  die  Eroberung  von  Sarnen  (ungedrückt). 

Zwei  Romane;  beide  vom  Verfasser  im  Manuscript  vertilgt. 

Vor  der  französischen  Revolution  schien  in  schweizerischen 
Unterthanenländern  der  Druck  eines  Buches  für  Verfasser  und 
Herausgeber  etwas  Bedenkliches,  wo  nicht  Gefahrliches  zu  sein; 
damals  erschienen  daher  Ambühls  Schriften  theils  anonym,  theils 
nannte  er  sich  pseudonym  J.  J.  Altdorfer,  hindeutend  aufsein 
zu  Altorf  spielendes  Theaterstück  Wilhelm  Teil.  Die  Ent- 
stehungsgeschichte dieser  besten  dramatischen  Arbeit  Ambühls 
knüpft  sich  an  die  Feier  des  Züricher  Berchtoldtages  und  ist 
folgende. 

Die  Vorstände  des  Carolinumgymnasiums  in  Zürich  hatten 
1791  im  schweizerischen  Museum  (Sechster  Jahrgang,  Heft  4,  289) 
eine  Prämie  von  12  holländischen  Ducaten  ausgeschrieben  für  ein 


l 


2s6 


I.    Der  Sagenkreis  von  Teil. 


schweizerisches  Nationalschauspiel,  das  nach  Inhalt  und  Form  sich 
zur  Darstellung  durch  die  dortigen  Schüler  eignen  sollte.  Die 
besondem  Anforderungen  waren  daher  folgende: 

Der  Stoff  des  Schauspiels  muss  aus  der  Schweizergeschichte 
genommen  sein,  wobei  nur  die  Geschichte  der  einheimischen  Feh- 
den ausgeschlossen  ist.  Poetische  Wahrscheinlichkeit,  nicht  minder 
aber  auch  historische,  müssen  diesem  der  Jugend  gewidmeten 
Stücke  Strengweg  eigen  sein.  Der  Unschuld  der  Jugend  gebührt, 
und  das  feine  moralische  Gefühl  des  Dichters  verlangt,  dass  die 
Behandlung  rein  sei  von  moralisch  schlimmen  Eindrücken,  (wor- 
unter jedoch  nicht  die  Entfernung  aller  schlechten  Charaktere 
verstanden  ist. 

Es  dürfen  keine  Weiberrollen  vorkommen,  weil  man  weder 
Knaben  in  Mädchengewänder  stecken,  noch  Mädchen  aufs  Knaben- 
theater bringen  kann. 

Das  Stück  soll  vielen  Knaben  zugleich  Gelegenheit  zum  Spiele 
geben  und  darf  also  keine  kleine  Zahl  von  Rollen  enthalten;  die 
spielenden  Knaben  sind  zwölf-  bis  vierzehnjährig. 

Diesem  Alter  entspricht  es,  dass  das  Stück  viel  Handlung 
und  desto  weniger  Declamation  habe. 

Ein  Stück  ohne  Scenenänderung  oder  Decorationswechsel 
wird  einem  mit  drei  oder  mehren  Theaterveränderungen  vor- 
gezogen. 

Das  Stück  soll  in  der  Auflfijhrung  weniger  nicht  als  zwei,  und 
mehr  nicht  als  drei  Stunden  spielen. 

Zum  Behuf  der  Schauspieler  und  Zuschauer  wird  von  dem 
tauglich  befundenen*  Stück  eine  kleine  Auflage  gedruckt,  aber 
nur  innerhalb  der  Stadt  abgesetzt.  Dem  Verfasser  bleibt  es  also 
überlassen,  sein  Werk  zu  seinem  Vortheil  zu  publiciren. 

Auf  diese  Ankündigung  hin  wurden  fünf  Stücke  eingesandt, 
darunter  entsprach  nur  dasjenige  Ambühls  der  Preisaufgabe,  wurde 
von  den  Zürichern  gedruckt,  mit  dem  Preise  gekrönt  und  am 
2.  Januar  1792,  als  an  dem  allgemeinen  Freudenfeste  des  Züricher- 
Berchtoldstages,  vor  dem  Publicum  aufgeführt. 

Die  damaligen  Herausgeber  beurtheilen  das  Stück  in  einem 
kurzen  Vorwort  folgendermassen : 

Dasselbe  bedarf  nichts  von  scenischem  Glanz  und  Bühnen- 
zuüiat,  es  schmiegt  sich  an  die  Geschichte  an  und  charakterisirt 
das  bedichtete  Zeitalter,  es  überstürzt  sich  nicht  in  gigantischen 
Freiheitsphrasen ,    sondern    geht    anmassungslos    in   bescheidener 


lo.   Die  Tellenschattspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller. 


257 


Sprache  auf  dem  kürzesten  Wege  seinem  Ziele  zu.  Jeder  neue 
Moment  der  Handlung  entwickelt  sich  natürlich  aus  dem  Vorher- 
gehenden, der  Hauptgegenstand  wird  nie  aus  dem  Gesichte  ver- 
loren, die  Aufmerksamkeit  bleibt  gespannt.  Nur  die  Charakter- 
zeichnung wird  matt  befunden.  Teil  zwar  ist  lobenswerth,  weil 
er  als  das  Bild  einer  mannhaften  Einfalt  aufgefasst  ist,  der  lako- 
nisch spricht,  ohne  Verbissenheit,  und  entschieden,  ohne  sententiös 
zu  werdea;  aber  auch  ihm  wird  mehr  Feuer  und  Raschheit  ge- 
wünscht. Gessler  ist  energielos,  Attinghausens  Rolle  bleibt  eine 
ganz  allgemeine,  die  Führung  des  Dialogs  ist  gedehnt,  die  Aus- 
drucksweise nicht  immer  würdevoll.       , 

Nachfolgende  Skizze  des  Stückes  hebt  drei  kurze  Scenen 
wörtlich  aus,  um  damit  eine  Probe  von  der  Dialogenfiihrung  und 
der  dramatischen  Sprache  des  Verfassers  zu  geben. 

Wilhelm  Teil,   ein  schweizerisches  National- 
schauspiel. 
Eine  Preisschrift  von   Herrn   am  Bühl.  —  Bnäus  erat  nobis.  — 
Zur  Aufliihrung  durch  die  Zürchersche  Jugend  am  Berchtoldstag 

bestimmt. 
Zürich  bei  Orell,  Gessner,  Füssli  u.  Comp.     1792. 

Personen: 
Hermann*)  Gessler  »von  Brauneck«,  Reichsvogt, 
von  Ospenthal,  österreichischer  Vogt  im  Urserenthal. 
Wolf,  Gesslers  Landsknecht. 
Wilhelm  Teil  und  sein  Knabe.    Bundesgenosse. 

dammann  zu  Attinghausen  in  Uri,  steht  nicht  im  Bunde. 
Walther  Fürst  in  Uri 
StaufTacher  von  Schwyz 
Arnold  von  Melchthal 
eter  Spiringer  von  Altdorf 
)hannes  im  Hof  von  Altdorf 
[ühn 


, Bundesgenossen. 


Loses 
(ans 

laus 


Bauern,  nicht  im  Bunde  stehend. 


*)  Der  Vorname  Hermann,   hier  lediglich  Ambühls  Erfindung,  und  hier  zum 
sten   male  genannt,    mag  von   da  in  Müllers   Schweizergeschichte  übergegangen 
in.     Vischer,  Die  Sage  von  der  Befreiung  etc.,  S.  202. 
Rochholz,  Teil  und  Gessler.  17 


2C8  !•    ^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

Erster  Aufzug. 
Platz  zu  Altdorf.     Erster  Auftritt.     Zwei  Söldner. 

Erster  Söldner:  Mach  doch,  so  werden  wir  einmal  fertig! 
sonst  kommt  der  Vogt  und  flucht  uns  etwas  vor. 

Zweiter  Söldner:  Landvogt  musst  du  sagen,  so  will  er's 
haben. 

Erster  Söldner:     Oder  gnädiger  Herr. 

Zweiter  Söldner:  Recht  so,  das  hört  er  noch  lieber,  das  g^ebt 
uns  ein  gewisses  Ansehen.  Aber  der  Hut  muss  angenagelt  werden, 
sonst  hält  er  nicht,  der  Wind  wirft  ihn  herab. 

Erster  Söldner :     Die  Bauern  werden  grosse  Augen  machen»  j 
wenn  sie  das' sehen.  i 

Zweiter  Söldner:  Gelt,  das  war  ein  Einfall  1  Er  sei  ihm  die 
Nacht  über  in  den  Sinn  gekommen,  sagt  er. 

Erster  Söldner:  Wenn  unser  Vogt  bei  Nachtzeit  etwas  aus- 
brütet, das  lässt  sich  bei  Tage  schon  sehen. 

Zweiter  Söldner:     Nimm  dich  in  Acht,  was  du  redst. 

Erster  Söldnet:   Da  kümmre  ich  mich  viel  darum.     Er  kamd 
mich  fortschicken;  lieber  heut  noch,  als  morgen.  ] 

Zweiter  Söldner:     In  die  Keller  zu  Küssnach! 

Erster  Söldner:     Er  macht   es  zu  arg!    das   thut  nicht  gul 
denk  an  michl    . 

Zweiter  Söldner:  Das  überlassen  wir  ihm.    Wir  sind  um  d< 
Sold. 

Erster  Söldner :    Ein  rechter  Sold,  wo  man  weder  Ruhe  no< 
Frieden  hat !    Tag  und  Nacht  müssen  wir  auf  der  Fahrt  sein, 
Leute  aufzuspüren,  die  ihm  verdächtig  sind. 

Zweiter  Söldner:  Wenn  du  ein  so  zartes  Gewissen  hast,  h 
sie  laufen,  schwätz  ihm  eins  vor. 

Erster  Söldner :  Alle  Augenblicke  sind  wir  nicht  sicher,  wei 
wir  auf  einem  nächtlichen  Zug  erschlagen  werden. 

Zweiter  Söldner:     Du  hast  gewaltige  Furcht. 

Erster  Söldner:    Ich  gehe  bei  keinem  Bauern  vorüber, 
ich   nicht  den   Kopf   in    die  Schultern    ziehe    und   denke:    jel 
jetzt  kommt  er  hinten  nach  und  versetzt  mir  mit  seinen  Knochi 
eins  in's  Genick. 

Zweiter  Söldner:    Das    lassen   sie   wohl   bleiben.      Die 
schichte  vom  alten  Melchthaler  hat  sie  schon  mürbe  gemacht. 

Erster  Söldner:    Der  Landenberg  ist  ein  Ungeheuer.     Wa 
einem  alten  achtzigjährigen  Mann  die  Augen  ausstechen,  weil 


lo.  Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  259 

I 

I  Sohn  nicht,  will  die  Ochsen  vom  Pflug  sich  wegnehmen  lassen  ? 
'Das  ist  unmenschlich  1 

Zweiter  Söldner:  Was  brauchte  aber  der  Bengel  mit  dem 
Stecken  so  drein  zu  schlagen? 

Erster  Söldner:  Was  brauchte  aber  auch  des  Vogts  Diener 
zu  sagen,  dass  die  Bauern  in  Zukunft  den  Pflug  selbst  ziehen 
könnten.    Er  hat  ihn  gereizt.  , 

Zweiter  Söldner:  Du  würdest  anders  sprechen,  wenn  er  dir 
die  Finger  so  zerquetscht  hätte. 

Erster  Söldner:     Wenn  wir  nur  noch  so  davonkommen I 

Zweiter  Söldner:  Ah!  was  wollten  diese  Bauern,  sie  dürfen 
ja  kaum  mehr  schnaufen. 

Erster  Söldner:  Glaubst  du?  die  Brüder  von  Art,  die  den 
Burgvogt  von  Schwanau  erschlugen,  und  der  Baumgartner,  der 
dem  Wolfenschiess  mit  einem  Beil  den  Kopf  entzwei  spaltete,  die, 
dünkt  mich,  haben's  gezeigt.  Landenberg  wird  es  wohl  auch 
Boch  erfahren. 

Zweiter  Söldner:  Wohl  mag  es  ihm  nicht  sein.  Er  spürt 
dem  jungen  Melchthaler  gewaltig  nach. 

Erster  Söldner:    Der  soll  sich   hier  herum  versteckt  halten. 

Zweiter  Söldner:  Das  würde  ein  Trinkgeld  absetzen,  wenn 
tir  den  ausspähen  könnten  I* 

Erster  Söldner:    Du  denkst  nur  an  das. 

Zweiter  Söldner :    Das  ist  jetzt  unser  Beruf. 

Erster  Söldner:     Leute  unglücklich  zu  machen. 

Zweiter  Söldner:    Man   merkt  dir's   an,    dass  du  noch  neu 
Wovon  willst  du  denn  leben  ?  Und  was  hast  du  zu  klagen  ? 

1er  macht  es  doch  wahrhaftig  lange  nicht  so  arg,    als   der 

denberg. 

Erster  Söldner :    Nein,  er  schickt  die  Leute  nur  nach  Luzern 

Rothenburg,  damit  man  sie  im  Lande  nicht  schreien,  ihre 
essein  nicht  schütteln  hört. 

Zweiter  Söldner:     So   muss  man  mit  den  Bauern  umgehen, 
enn's   helfen   soll.      Gessler  war  im  Anfange  so  freundlich  und 
linde  .  .  . 

Erster  Söldner:     Um  Schnepfen  zu  fangen. 
i       Zweiter  Söldner:    Eine   Obrigkeit  will   doch  Respect  haben. 

Erster  Söldner:  Höre,  davon  verstehen  wir  Beide  nichts, 
ilf  dafür  die  Stange  aufrichten,  so  kommen  wir  einmal  hier  weg. 
eh,  da  kommt  der  Landvogt  schon. 

17* 


26d  !•     I^er  Sagenkreis  von  Teil. 

Zweiter  Söldner:     Hurtig.     Das  ist  bald   gescheHbn.      Halt 
da!    Fest,  nur  fest! 

(Sie  richten  den  Hut  im  Hintergrunde  auf,  gehen  ab.    Gessler 
und  von  Ospenthal  treten  auf  mit  Wache.) 

Hier  ist  dieser  Söldnerdialog  erfolgreicher  und  fiir  den  Zweck 
des  Stückes  mehr  aufklärend,  als  dasselbe  Zwiegespräch  zwischen 
Friesshardt    und    Leuthold    in   Schillers   Teil,  3.  Act,    3.  Scene. 
Schillers    Friesshardt    ist   hier  Ambühls  zweiter,    an  Waffenwerk 
und  Subordination   hängender  Söldner;   während  Ambühls  erster*; 
Söldner,    wie    Schillers    Spiessknecht  Leuthold,   müde   ist    dieses i 
Aufspürerdienstes ,    der  eines   Reitermannes   unwürdig ,   so  wenig ; 
Lohn  beim  Vogte  und  so  viel  Lebensgefahr  unter  dem  Volke  miti 
sich  bringt. 

Zweite  Scene.  Gfessler  erscheint  am  Marktplatz  mit  denä 
Ritter  von  Ospenthal,  welcher  zugleich  Thalvogt  in  Urseren  ist 
Man  erfahrt  Gesslers  Plane.  Die  Burg  Zwing-Uri  steht  fertig  ge-_ 
baut  und  hat  bereits  Besatzung,  welche  man  bei  der  nächstea 
Gelegenheit  gegen  das  Volk  losschlagen  lassen  wird.  Nur  set^ 
dieses  allen  Reizungen  und  Neuerungen  bisher  einen  alles  lähmett^ 
den,  alles  verzögernden  passiven  Widerstand  entgegen.  Es  be^ 
zahlt  die  alten  und  neuen  Abgaben,  jedoch  unter  stetem  ProtesI 
am  kaiserlichen  Hofe  und  vor  dem  Vog^sgerichte.  Man  mui 
daher  einmal  den  Stolz  der  Massen  durch  Spott  reizen,  um  di< 
Stärke  der  Opposition  kennen  zu  lernen.  Wenn  am  heutigei 
Kirchweihfeste  die  Leute  von  überall  her  auf  diesem  Platze 
sammenströmen,  werden  die  Köpfe  beim  Anblicke  dieses  aufg 
pflanzten  Hutes  sich  erhitzen,  die  Unzufriedenen,  die  heimlich  V( 
bündeten  werden  sich  laut  machen.  Die  Wachen  haben  gemesi 
nen  Befehl,  leicht  kommt  es  zu  einem  Conflict.  Ein  solcher  lä 
sich  zum  Aufruhr  stempeln,  dies  giebt  ein  Recht,  Privilegien  ui 
Gesetze  zu  suspendiren,  kaiserliche  Kriegsvölker  in's  Land 
ziehen.  Ist  man  nur  einmal  im  Namen  des  deutschen  Reiclu 
hier  eingerückt,  so  ninmit  man  morgen  schon  im  Namen  di 
Österreicher  Herzogs  vom  Lande  Besitz ;  Schwyz  und  Unterwald< 
gehen  dann  mit  in  die  allgemeine  Rechnung. 

Dritte   Scene.     Sobald  der  Vogt  hinweg  ist,    erscheint 
Trupp  Bauern  bei  der  Stange.     Sie  drücken  ihr  Erstaunen  ai 
man  beginnt  unzufriedene  Reden  über   fremdes   Gericht,    neu< 
Zoll,  über  den  Schlossbau;   Landammann  und  Räthe  hätten  dei 
längst  Einhalt  thun  sollen.    Ein  Ausrufer  unterbricht  sie;  er  v< 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  201 

kündet,  man  habe  den  hier  aufgesteckten  Hut  ebenso  zu  beehren, 
als  ob  der  Kaiser  oder  sein  Landvogt  persönlich  zugegen  seien. 
Dieser  Titel  Landvogt  empört  die  Zuhörer,  Gessler  ist  nur  als 
Reichsvogt  hier,  sonst  wäre  Uri  nicht  Reichsland,  sondern  öster- 
reichisches Unterthanenland.  Man  bedroht  bereits  die  Wachen 
und  den  Hut.  Wahher  Fürst  beschwichtiget,  an  das  Beispiel  der 
Ahnen  erinnernd,  die  so  weislich  der  Uebergewalt  auswichen  und 
darüber  doch  zuletzt  ihre  Rechte  gewahrt  hatten.  Sein  Wort 
verfängt  nicht,  der  Tumult  wächst.  Attinghausen,  der  Landammann, 
erscheint  und  verspricht,  dieses  öffentliche  Aergerniss  solle  vom 
Platze  geräumt  werden;  aber  er  gebietet  allen  bei  ihrem  geschwor- 
nen  Eid,  ruhig  hier  hinwegzugehen.  Alle  gehorsamen.  Inzwischen 
ist  Teil  dazu  gekommen  und  sagt  auf  die  Warnung  der  Abgehen- 
den: »Ich  habe  schon  alles  vernommen,  der  Landvogt  hat  euch 
nur  zum  Besten,  er  wusste  im  Voraus,  dass  ihr  Alle  davonlaufen 
würdet.  Er  ist  nur  furchtbar,  weil  man  ihn  fürchtet;  hätten  die 
Leute  Muth,  so  würde  er  zittern.  Nein,  das  soll  man  nicht  sagen, 
idass  er  mit  seinem  Hute  die  Männer  wie  Spatzen  wegscheucht  U 
Teil  geht  seines  gewohnten  Weges  über  den  Platz,  unterlässt  die 
febotene  Begrüssung,  wird  festgenommen  und  von  der  Wache 
abgeführt. 

Zweiter  Aufzug. 

Des  Vogtes  Verhör  mit  Teil  bleibt  ohne  Ergebniss,  man 
tesst  deshalb  Teils  Knaben  heimlich  herbeiholen.  Inzwischen 
hildert  ein  Waffenknecht  die  waghalsigen  Thaten  des  Grefange- 
n  bei  Seestürmen  und  Ueberschwemmungen,  berichtet  von 
ichtlichen  Zusammenkünften  der  Bauern,  -auch  die  Flüchtlinge 
tauffacher  und  Melchthal  aus  den  Nachbarländern  seien  dabei 
erkt  worden.  Teil,  zum  anderen  Male  in's  Verhör  geführt, 
ausser  Stand,  über  das  angebliche  Complot  und  die  Ver- 
hworenen  Aufschluss  zu  geben.  Gessler  stampft  mit  dem  Fusse, 
uf  dieses  Zeichen  wird  Teils  Knabe  hereingebracht  und  dem 
hützen  schliesslich  die  bekannte  Aufgabe  gestellt.  Um  nicht 
Gefangener  zu  bleiben,  entschliesst  er  sich  zum  Schusse  und  wird 
heimgeschickt,  seine  Armbrust  zu  holen,  der  Knabe  verbleibt  als 
Pfand  bei  der  Wache  zurück. 

Dritter  Aufzug. 

Altdorfer  Marktplatz,    neben    dem   Rathhaus   der   Brunnen, 
hinten  der  Hut  auf  der  Stange ,   quer  über  die  Bühne  Schranken. 


262 


I.     Der  Sagenkreis  von  Teil. 


Die  Verbündeten  Stauffacher,  Fürst  und  Melchthal  beklagei 
Teils  voreilige  Kühnheit;  denn  durch  sie  ist  der  Landvogt  um 
das  Volk  zur  Unzeit  gereizt.  Ein  wilder  Volksaufruhr  wäre  jet2 
zwecklos.  Erst  diese  Nacht  kann  die  allgemeine  Zusammehkunl 
am  Rütli  stattfinden,  erst  nach  der  dort  getroffenen  Abrede  k 
man  sich  zugleich  in  den  drei  Ländern  erheben.  Also  muss  mi 
während  nun  der  Schuss  geschehen  soll,  ^ier  am  Platze  bleil 
und  die  Leute  zur  Ruhe  mahnen.  Teil  kommt  mit  seiner  Ai 
brüst  frei  über  den  Platz  her  und  stellt  sich  in  die  Schrankei 
Einige  bemitleiden  ihn,  er  beruhigt  sie  mit  seinem  Schützenglüc 
und  seiner  Entschlossenheit;  Andere  drängen  sich  schaulustig  hei 
und  wissen  keinen  andern  Rath  als  zu  beten.  Gessler  weist  d< 
.Schussziel  an. 

Gessler:   Nun,  Teil,  wie  es  scheint,  bist  du  entschlossen,  de 
Schuss  zu  thun? 

Teil:    Ich  muss.     Ihr  zwinget  mich  dazu. 

Gessler :     Du  sagtest,  so  lange  man  Muth  hat,  giebt  es  keii 
Grefahr.    Jetzt  hast  du  Gelegenheit,   deinem  Weidspruch  Ehre 
machen. 

Teil:    Ihr  sollt  hernach  spotten,  Herr.     Wo  ist  mein  Jung^ 

Gessler:  (zum  Spiessknecht  Wolf)  Hieher  I  (Wolf  tritt 
dem  Knaben  hervor.)  Dort  soll  er  sich  an  die  Rathhausmai 
hinstellen,  das  Gesicht  gegen  den  Vater.  (Zu  Teil) :  Und  hi 
am  Brunnen  ist  dein  Stand,  da  sollst  du  schiessen. 

(Wolf  will  den  Knaben  hinführen.) 

Teil :     Zurück,   rühr'  meinen  Knaben  nicht  an !     Ich  will 
schon  stellen.     Komm,  Wilhelm! 

Knabe:     Warum  sind  so  viel  Leut  da,  Vater? 

Teil:     Sie  wollen  sehen,  wie  ich  dir  einen  Apfel  vom  K< 
wegschiessen  kann.    Du  musst  jetzt  recht  fest  stehen. 

Knabe:    Ich  will  schon  stehen. 

Teil:    Du  darfst  dich  nicht  fürchten. 

Knabe:    Ich  fürchte  mich  nicht. 

Teil:    Aber  nur  fest  und  gerade!  den  Kopf  nicht  bewegt 

Knabe :  (macht  mit  dem  Finget  eine  unmerkliche  Beweg^ui 
Nicht  so  viel! 

Teil:    Komm,  in  Gottes  Namen. 

In  Schillers  Teil,  3.  Act,  3.  Scene  soll  sich  Teils  Knabe 
dem  Schuss   die  Augen  verbinden  lassen,   und   spricht   etwas 
vorlaut  und  gebrüstet: 


lo.   Die  Telleoschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  263 

Warum  die  Augen  1  denket  ihr,  ich  fürchte 
Den  Pfeil  von  Vaters  Hand?     Ich  will  ihn  fest 
Erwarten  und  nicht  zucken  mit  den  Wimpern. 
Frisch,  Vater,  «eig's,  dass  du  ein  Schütze  bist, 
Dem  Wüthrich  zum  Verdrusse  schiess  und  triff  1 

Die  Empfindung  hätte  hier  dem  Dichter  vorzuschreiben,  den 

grausamen  Schuss  nicht  vor  den  Augen  des  Zuschauers  abdrücken 

zu  lassen.     Schiller  lässt  daher  in  diesem  Momente  den  Landvogt 

durch  Bertha's  Fürbitte  bestürmen  und  zugleich  durch  Rudenz  in 

einen  heftigen  Wortwechsel  verwickelt  werdeii,    inzwischen  dann 

den  Schuss  ungesehen    fallen.      Selbstvergessen  aber  giebt   hier 

Ambühl    die    Handlung    folgendermassen    an:     »Teil    fuhrt   den 

I  Knaben  auf  die  Seite  des  Theaters,    wo  er  nicht  gesehen  werden 

j  kann.     Der  Spiessknecht  Wolf  geht  mit  dem  Apfel  nach.     Das 

'  Volk  ist   still  in  banger  Erwartung.     Teil  kommt  zurück,  drückt 

den  Hut  in's  Auge,  stellt  sich  an  den  Brunnen,  spannt,  zielt  und 

schiesst;  ein  allgemeines  Ah!  und  Geklatsch  hinten  nach.«    Nach 

dem  Schusse  will  Teil  ohne  Weiteres  heim.      Der  Vogt  hält  ihn 

auf  mit    der  Frage  um   den   Zweck  des   in's   GoUer    gesteckten 

zweiten  Pfeiles.      Er  erhält  darauf  die  bedrohliche  Antwort   und 

lässt  den  Schützen  abermals  gefangen  abfuhren.    Der  Volkshaufe 

macht  Miene,    vor-  die  Burg  zu  ziehen   und  den  Gefangnen  mit 

Gewalt    herauszuholen.      Landammann    Attinghausen    hält    die 

Masse  zurück  und  verspricht,   auf  der  Stelle  selbst  in's  Schloss 

zu  gehen. 

^  Vierter  Aufzug. 

Teil  in  Ketten  soll  Geständnisse  über  seine  Mitverbündeten 
^ablegen,  trotzt  und  wird  nach  zwecklosem  Wortwechsel  wieder 
in's  Gefängniss  zurückgebracht.  Attinghausen  verlangt  im  Namen 
des  Gesetzes  des  Gefangenen  Loslassung,  das  vor  dem  Schlosse 
stehende  Volk  warte  darauf  Gessler  verweigert's,  unter  Drohungen 
;  entfernt  sich  der  Landammann.  Auf  .die  Warnungen  des  Ritters 
von  Ospenthal  besinnt  sich  Gessler  und  lässt  den  Teil  durch  eine 
LHinterpforte  des  Schlosses  hinaus  zu  Schiffe  bringen.  Die  Ruder- 
knechte deuten  dem  Vogt  auf  den  vom  Föhn  zu  hohen  Wogen 
aufgejagten  See.  Doch  um  sein  Opfer  dem  Aufruhr  des  Volkes 
nicht  freigeben  zu  müssen,  überliefert  er  lieber  sich  selbst  dem 
Sturme  und  schifft  sich  mit  ein. 


L' 


264  ^'    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Fünfter  Aufzug. 

Platz  zu  Altdorf.  Das  Volk,  das  dem  Schiffe  nachgelaufen 
war  und  von  den  Anhöhen  es  eine  Strecke  weit  beobachtet  hat, 
wird  von  dem  entstehenden  Gewitter  in  den  Flecken  heimgetrie- 
ben. Hier  stehen  die  Verbündeten  noch  im  Grespräche.  Unter 
dem  Eindruck  des»  frischen  Vorfalls  und  bei  des  Vogtes  Abwesen- 
heit sind  die  Aeusserungen  weniger  zurückhaltend,  dem  Atting- 
hausen  wird  enthüllt,  dass  ein  Geheimbund  in  den  drei  Ländern 
bereits  bestehe.  Um  diesen  wichtigen  Mann  in  jedem  Falle  dem 
Lande  zu  erhalten,  habe  man  ihm  das  Bündniss  verborgen  und 
nur  sich  persönlich  aussetzen  wollen.  Mit  Leib  und  Seele  tritt 
Attinghausen  ihnen  bei,  heut  Abend  noch  wird  er  mit  ihnen  zur 
letzten  Feststellung  des  Planes  aufs  Rütli  ziehen.  Spiringer^ 
Imhof,  Stauffacher  erscheinen,  endlich  auch  vom  Seeufer  her  alles 
übrige  Volk.  Sie  berichten,  wie  ihnen  das  Schiff  in  der  Gegend 
des  Axenberges  aus  dem  Gesicht  verschwunden,  dort  müsse  es 
gescheitert  sein,  Teil  werde  mit  ertrunken  sein. 

Teil  kommt  hastig  über  den  Platz  her,  auf  die  Hutstange  zu 
und  will  sie  niederwerfen.    Alles  läuft  rufend  ihm  entgegen. 

Walther  Fürst:     Wie?  du  bist  gerettet,  Wilhelm? 

Teil :     Wir  Alle.     Gessler  ist  todt.    Wir  sind  frei. 

Kuhn :    Hört  ihr^s  ?    Er  kam  in  den  Wellen  um. 

Teil:     Nein.     Er  kam  an's  Land. 

Arnold :     Du  sagtest,  er  ist  todt  ? 

Teil:     Er  ist's I  er  ist's!     Ich  habe   mich  und  euch  gerächt! 

(Folgt  die  Erzählung  über  den  Sprung  aus  dem  Schiffe,  über 
das  Auflauern  in  der  Hohlen  Gasse:  »Und  wie  er  kam,  schoss 
ich  ihn  vom  Pferd,  c) 

Walther  Fürst:     Alles  wie  durch  ein  Wunder! 

Attinghausen:  Du  hast  uns  von  einem  Tyrannen  befreit, 
Wilhelm!  der  Segen  unsres  Landes  ruhe  ob  dir  und  deinem  Gre- 
schlecht ! 

Imhof:  Wir  wollen  eine  Kapelle  geloben  zu  ewigem  Ange- 
denken auf  den  Platz,  wo  Teil  sein  Leben  gerettet. 

Spiringer:     Und  eine  dahin,  wo  er  den  Tyrannen  erlegte. 

Moses:  Dahin  sollen  unsre  Söhne  wallfahrten,  neue  Treu 
dem  Vaterland  schwören. 

Kuhn :  Und  Hass  der  Unterdrückung,  Rache  jedem  Tyrannen. 

Arnold:  Und  hier  (auf  die  Stange  deutend)  wollen  wir 
schwören,  keine  Vögte  mehr  in  unsem  Grenzen  zu  dulden. 


lo.    Die  Tellenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  265 

Wilhelm  Teil:     Weg  mit  dem  Denkmal  unsrer  Schande! 

Attinghausen :  Lass  es  stehen,  Wilhelm!  .  Es  sollte  ein 
Zeichen  unsrer  Unterdrückung  sein,  durch  dich  ward  es  ein  Zeichen 
der  Freiheit. 

Stauffacher :  Und  für  die  künftigen  Zeiten  wird  es  ein  Denk- 
mal unsres  Bundes*). 

Walther  Fürst:  Kommt!  der  Wind  hat  sich  gelegt;  die 
Nacht  rückt  heran,  wir  wollen  uns  zur  Abfahrt  in's  Rütli  fertig 
machen. 

Attinghausen:  Geht,  werdet  die  Stifter  eines  glücklichen 
Volkes! 

Alle:     Wir  sind  frei,  sind  frei!  (bieten  sich  die  Hände). 

Teil:  Sind  frei!  Unsre  Nachkommenschaft  wird  es  sein,  so 
lange  sie  der  Freiheit  würdig  bleibt. 

Ambühls  Teil  enthält  ausdrücklich  keine  Frauen-Rollen,  weil 
er  zur  Aufführung  für  Schulknaben  geschrieben  war.  Er  musste 
also  auf  die  Frauenweisheit  der  Stauffacherin ,  auf  die  Mutter- 
güte in  Teils  Weib  verzichten  und  diesen  Stoffmangel  ersetzen 
durch  herzgewinnende  Gespräche  zwischen  Vater  und  Kind. 
Dasselbe  that  auch  Ruoffs  Teilenspiel,  in  welchem  Frauenrollen 
nur  nebenher  als  eingelegt  vorkommen.  Im  Personenregister  des 
Schillerschen  steht  ein  Ambühl  aus  Unterwaiden  mit  genannt,  er 
opponirt  am  Rütli  dem  Pfarrer  Rösselmann,  als  dieser  vorschlägt, 
sich  zum  Schutze  gegen  den  Vogt  lieber  unter  Oesterreichs  Ober- 
hoheit zu  stellen.  In  dieser  Namenserwähnung  liegt  freilich  ein 
blosser  Zufall,  und  doch  ist  es  ein  schöner  und  treffender;  denn  er 
charakterisirt  zugleich  Ambühls  kirchlich  ghibellinische  Denkweise. 
,  So  steht  nun  des  schweizerischen  Schauspieldichters  Namen  in 
Schillers  Teil  verewigt,  wie  auf  mittelalterlichen  Grabsteinen  zu 
Füssen  der  Ritterfigur  ein  Symbol  der  Treue,  des  Begrabenen 
Knappe,  mit  ausgehauen  liegt. 

Der  Vollständigkeit  des  Stoffes  wegen  seien  hier  noch  zwei 


•)  In  Schillers  Teil,  5.  Act,  i.  Scene: 
Mehrere  Stimmen: 

Zerstört  das  Denkmal  der  Tyrannenmacht  1 

Ins  Feuer  mit  ihm! 
Walther  Fürst : 

Nein,  lasst  ihn  aufbewahren! 

Der  Tyrannei  musst'  er  zum  Werkzeug  dienen ; 

Er  soll  der  Freiheit  ewig  Zeichen  sein! 


206  !•    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

dramatische  Arbeiten  erwähnt,  die  unmittelbar  vor  und  nach  Er- 
scheinen von  Schillers  Teil  aufgetreten  sind.  Die  eine  fällt  nicht 
in  unsre  Beurtheilung,  sondern  trifft  auf  Preussen ;  die  andere  hat 
einen  schweizerischen  Verlagsort  nur  fälschlich  auf  den  Titel 
gesetzt. 

Leonhard  Wächter  (pseudonym  Veit  Weber),  geb.  zu 
Uelzen.  1762,  gest.  zu  Hamburg  1837  als  Inhaber  eines  Er- 
ziehungsinstituts, folgte  als  Romanschriftsteller  der  durch  Göethe's 
Götz  angeschlagenen  Richtung  und  gab  heraus  (nebst  den  Sagen 
der  Vorzeit,  7  Bde.  1787)  Wilhelm  Teil,  ein  Schauspiel  in  Jam- 
ben. Berlin  1804.  S°.  Letzteres  ist  unabhängig  von  Schiller, 
dessen  Teil  später  erschienen.     (Gödeke,  Grundriss  1133.) 

A.  C.  Nieman  schrieb  eine  Satire: 

Wilhelm  Teil  der  Tausendkünstler,  oder  auch  der  travestierte 
Teil,  nach  Gefallen.  Ein  heroisch -komisch -historisch -lyrisch- 
und  poetisches  Schauspiel  mit  Gesang,  Tanz  und  Spektakel  in 
drei  Abtheilungen.  Mit  einem  illum.  Kupfer.  Uri  (Kratzsch  in 
Hamburg)  1805.   8°.  16  Groschen.  — 

Bei  dem  zu  Bern  gefeierten  Schillerjubiläum  1859  meinte  der 
Festredner  Howald,  obiges  Spottgedicht  sei  zu  Altorf  und  um 
Schillers  Schauspiel  dort  zu  verspotten,  erschienen.  (Die  Schweiz, 
lUustrirte  Monatsschrift  des  Bern.  Litt.  Vereines  1859,  November- 
heft 267.) 


Rückblick  und  Abschluss. 

Die  vollständige  Entfaltung  eines  Gedankens,  welcher  ein  na- 
tionaler, dem  ganzen  Volke  angehörender  werden  soll,  bedarf 
nicht  bloss  der  Geistesarbeit  etlicher  Generationen,  sondern  mehrer 
Jahrhunderte.  Wie  es  edle  Pflanzen  giebt,  die  ein  Mensch  in 
seinem  Leben  nur  einmal  blühen  sieht,  weil  ihnen  der  Lauf  eines 
Jahres  nicht  Sonnenschein  und  Regen  genug' zu  liefern  vermag  für 
den  unendlichen  Hergang  ihres  reichen  Lebens :  ebenso  hegt  auch 
die  Präformation  einer  Idee,  eines  Kunststoffes  lange  in  der  Seele 
der  Vorzeit  da,  still  und  reizlos.  Erst  wenn  die  Länge  der  Zeit 
ihre  epische  Weihe  darüber  gesprochen  hat,  wenn  schon  mancher 
Patriot  davon  geredet,  mancher  Dichter  und  Denker  seine  poetische 
oder  wissenschaftliche  Gestaltungskraft  daran  erprobt  hat,  und 
jeder  erneute  Versuch  immer  noch  nicht  für  voll  galt,  immer  noch 


lo.   Die  Tellenschauspiele  in  der. Schweiz,  vor  Schiller.  207 

nicht  national  durchschlug;  dann  einmal  kann  das  Wunderkind 
erscheinen,  jener  Rechte,  der  nach  der  zeitigen  Frucht  den  nur 
einmal  erlaubten  glücklichen  Griff  thut.  So  ist  Schillers  Teil 
durch  einen  einzigenv  Schöpfungsact  entsprungen,  nachdem  der 
progressive  Process  in  den  Seelen  seiner  poetischen  Vorläufer  der 
Gestaltung  seines  Werkes  sowohl  als  auch  der  Empfänglichkeit 
der  Gemüther  für  das  neue  Werk  lange  Zeit  schon  vorgearbeitet 
hatte.  Bei  allen  Vorgängern  wird  die  poetische  Form  für  den 
allgemein  anziehenden  Stoff  gesucht,  aber  bei  keinem  wird  sie  in 
dem  Masse  aufgefunden,  dass  sie  dem  Masse  aller  darüber  vor- 
handenen Vorstellungen  gleichkommt.  Immer  noch  konnte  das 
Volk  oder  der  Einzelne  von  dem  Stoffe  feuriger  erfüllt  sein  und 
allseitiger  ihn  fassen,  als  es  bisher  die  Dramen  aussprachen ;  denn 
diese  waren  erst  Stufen  und  Grade  des  zur  poetischen  Vollendung 
heranwachsenden  Stoffes.  Erst  von  Schillers  Teil  ist  des  Künst- 
lers und  des  Volkes  Seele  gleichmässig  erfüllt,  so  dass  diese 
Kunstgestalt  in  jedermanns  Vorstellung  schwebt  und  alle  nun 
davon  wissen  können,  ob  das  Bild  dem  Wesen  entspricht.  Ja 
schon  liest  das  Volk  diesen  Teil  nicht  mehr  als  ein  Product  des 
willkürlich  erschaffenden  Dichtergeistes  Schillers,  sondern  als  fac- 
tische  Geschichte,  man  liebt  ihn  nicht  bloss  in  jedem  Wort  und 
Verse,  man  glaubt  ihn  wie  einq  historische  Urkunde.  >Der 
Glaube  ist  des  Wunders  liebstes  Kind.« 

Doch  selbst  zu  dieser  nun  herrschenden  Stimmung  der  Geeister 
bedurfte  es  gleichfalls  noch  einer  dafür  vorbereitenden  Zeit.  Nicht 
sogleich  war  Schillers  Teil  ein  Volksliebling,  noch  weniger  ein 
Schosskind  der  Kritik.  Diese  Reihe  prächtiger  Erzählungen, 
epischer  Standreden,  schimmernder  Episoden,  an  denen  das  Stück 
reich  ist,  war  unter  Schillers  Zeitgenossen  nicht  ganz  vermögend, 
über  andere  Mängel  der  Composition  hinwegsehen  zu  lassen. 
Manche  von  Schillers  historischen  Dramen  hatten  sich  in  der  An- 
lage des  Stoffes  motivirter  erwiesen,  gewandter  in  der  Durch- 
führung, individueller  in  der  Zeichnung  der  Charaktere.  Daher 
sagte  damals  der  Brief  eines  Schweizers  in  der  Monatsschrift 
Isis  vom  Jahre  1804  (Zürich,  Erster  Band  1805,  212),  man 
habe  Schillers  Teil  damals  zwar  nicht  ohne  Beifall  gesehen,  aber 
doch  hin  und  wieder  etwas  flüchtig  gearbeitet  gefunden;  das  Stück 
springe  von  Teil  auf  die  Landesbefreiung  über,  voq  dieser  auf 
die  Liebschaft  zwischen  Rudenz  und  Bertha,  von  Teils  That  auf 
den  Kaisermörder  Johann  von  Schwaben,    beginne   lyrisch  und 


268  -^«     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

schliesse  historisch  nüchtern  vae  ein  Auszug  aus  Johannes  Müller. 
Letzteres  schien  Schiller  selbst  noch  zuzugeben;  bei  der  ersten 
Aufführung  Teils  zu  Weimar,  17.  März  1804,  Hess  er  den  ganzen 
fünften  Act  weg  und  wollte  also  des  Kaisermordes  nicht  mit  er- 
wähnt wissen.  Alle  diese  Missstände  der  poetischen  Composition 
im  Einzelnen  zugegeben,  wie  sich  denn  auch  das  allgemeine  Ur- 
theil  der  Literaturgeschichte  hierüber  längst  geeinigt  hat,  so 
haben  sie  doch  nicht  hingereicht,  den  ethischen  Werth  des 
Werkes  zu  vermindern.  »Man  kann«,  sagt  Gervinus,  »ästhetisch 
einen  andern  Teil  und  in  einem  Tone  denken,  der  dem  Naturalis- 
mus mehr  schmeichelt;  allein  ich  zweifle,  ob  die  Schweizerjugend 
einen  solchen  mehr  lieben  würde,  und  ob  Schillern  ein  kritischer 
Bewunderer  lieber  würde  gewesen  sein,  als  ein  patriotischer«. 
Denn  jugendfrischer,  dem  Idealismus  der  deutschen  Jünglings-  und 
Jungfrauennatur  verwandter,  mithin  volksthümlicher  ist  Schiller  in 
keinem  andern  Stücke  als  im  Teil.  Hier  bewegte  ihn  die  Idee 
mannhafter  nationaler  Freiheit  noch  einmal  und  kam  unsrer  eignen 
Empfindung  entgegen  geeilt,  er  begeisterte  sich  an  unsrer  ein- 
müthigen  Zustimmung,  wir  uns  an  dem  Adel  und  der  moralischen 
Würde,  die  er  unsrer  zustimmenden  Erwartung  lieh.  Eben  durch 
diese  gegenseitige  Uebereinstimmung  ist  er  ein  Liebling  aller 
demokratisch  gesinnten  Nationen,  und  die  Landsgemeinde,  die  er 
zuerst  auf  die  Bühne  brachte ,  hat  seitdem  allenthalben ,  in  der 
Presse,  in  den  Ständekammem  und  den  Volksvereinen  zu  debattiren 
begonnen. 

Wer  sind  nun  die  Dichter  des  Teil  vorzugsweise  gewesen? 
Politisch  und  religiös  unterdrückte  Deutsche  und  Schweizer.  Mit 
ihrer  Zeit  in  Fehde  liegend,  suchte  ihr  nach  innen  zurückgedräng- 
tes Freiheitsstreben  durch  die  Bearbeitung  der  Tellengeschichtc 
einen  Ausweg: 

Ruoff  verlässt  die  faule  Priesterstadt  Konstanz,  wandert  nach 
dem  geistig  bewegten  Zürich  aus,  ficht  hier  für  die  neue  Kirche 
zwei  Glaubensschlachten  mit  und  schreibt  dann  sein  politisch- 
religiöses Tendenzstück  Teil  für  seine  neuen  Mitbürger.  Der 
Berner  Stadtburger  Samuel  Henzi  hat  seinen  Geist  ein  halbes 
Leben  lang  gezeitigt  und  erntet  dafür  bei  seinen  Bemer  Oligarchen 
nichts  als  die  Landesverweisung.  In  dieser  Zeit  des  Exils  schreibt 
er  sein  Trauerspiel  Grisler,  kehrt  heim,  um  sich  gegen  seine 
politischen  Feinde  zu  verschwören,  und  wird  von  ihnen  auf's 
SchafTot  geschickt.     Als  dann  um  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 


lo.   Die  Teilenschauspiele  in  der  Schweiz  vor  Schiller.  269 

das  Licht  der  Vernunft  sogar  in  die  Klöster  dringt,  als  sogar  der 
Papst  die  Feder  ergreift,  um  die  Aufhebung  des  Jesuitenordens 
zu  unterzeichnen,  da  überlässt  sich  der  Luzemer  Priester  Joh. 
Ign.  Zimmermann  den  Schwingungen  der  Neuzeit,  tritt  aus  dem 
Orden,  bezieht  die  protestantische  Stadt  Bern  und  verfasst  seinen 
Teil.  Ambühl  ist  von  allen  Uebeln  des  Jahrhunderts  zugleich 
heimgesucht;  zu  Hause  von  der  äussersten  Armuth,  von  der 
Hartköpfigkeit  seiner  Bauern,  von  der  Herrschsucht  der  Orts- 
pfarrer, von  dem  Kastenstolze  der  regierenden  Herren  gegenüber 
dem  geknechteten  toggenburger  Unterthan.  Die  kühne  Antwort 
des  armen  Schulmeisters  an  seine  bald  darauf  verjagten  Landvögte 
ist  sein  Teil.  Nicht  anders  waren  Schillers  erste  und  letzte 
Dramen  ein  öffentlicher  Protest  gegen  geistliche  und  weltliche 
Despotie.  Mit  dem  Schauspiel  Die  Räuber  gieng  Schiller  flüchtig 
aus  Schwaben,  mit  dem  Schauspiel  Teil  sinkt  er  zu  Weimar  in 
sein  Grab.  Das  Umerspiel  war  eine  vorfrühe  Weissagung  des 
poetisch  zu  Erfüllenden,  Schillers  Teil  ist  ihre  patriotische  und 
künstlerische  Erfüllung.  — 


XL 

Teil  als  Personen-  und  Ortsname. 


I.    Der   Mannsname   Teil   urkundlich    in  deutschen    und 

fremden  Sprachen, 

Teil  als  historischer  Personenname  ist  in  unbezweifelt  echten 
und  alten  Urkunden  noch  immer  eine  grosse  Seltenheit.  Er  findet 
sich  zwar  schon  in  Quellen  des  6.  und  des  8.  Jahrhunderts,  diese 
aber  sind  in  ihrer  Abfassung  zum  Theil  sehr  unsicher,  zum  Theil 
gehören  sie  drei  verschiedenartigen  Sprachkreisen  an,  dem  kel- 
tischen, dem  rhäto-romanischen  und  deutschen.  Bei  solcher  sach- 
lichen Entlegenheit  und  sprachlichen  Fremdheit  der  Documente 
wird  es  rechtgethan  sein,  sich  hier  auf  die  genaue  Angabe  des 
Namensmateriales  zu  beschränken,  auf  eine  Namens-Erklärung 
hingegen,  welche  zumal  in  den  Keltismus  hinein  nöthigen  würde, 
ganz  zu  verzichten.  Den  ältesten  Tellonen  werden  sodann  hier 
noch  solche  angereiht,  welche  theils  vom  12.  bis  ins  15.  Jahr- 
hundert urkundlich  bestanden  haben,  theils  in  gleicher  oder  gleich- 
scheinetider  Namensform  noch  heute  bestehen.  Sie  alle  sind, 
soweit  sie  sich  erkennen  lassen,  blosse  Beinamen,  und  sollen  in 
möglichster  Kürze  den  Erweis  liefern,  dass  ein  Jäger,  der  auf  den 
blossen  Eigennamen  pirschen  geht,  seinen  Teil  bis  ins  heutige 
Rumänische  hinein  erjagen  kann. 

Anno  576.  Dieses  Jahr  fällt  in  die  Lebenszeit  des  Sanct 
T  e  1 1  i  u  s ,  welcher  dem  locus  F  e  c  h  -  T  e  1 1  e ,  einem  süd-irländischen 
Orte,  den  Namen  gegebeii  hat.  Colgan,  Acta  SS.  Hibemiae  /, 
15  und  713;  und  ebenda  in  der  Vita  S,  Ceroe,  Äbtissin  von 
Kiscreen.  —  Eine  andere  Chronologie  über  den  fraglichen  Namen 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  27 1 

hält  die  ICirchengeschichte  Portugals  ein ;  nach  deren  Erzählung  der 
vtia  S,  Tellonis  ist  der  erwähnte  Heilige  um  das  Jahr  1131 
Archidiakon  an  der  Kathedrale  zu  Coimbra  gewesen,  und  es  wird 
dies  daselbst  aus  der  Gründungsgeschichte  des  heiligen  Kreuz- 
klosters zu  Coimbra  erwiesen,  welche  gedruckt  ist  in  PortugalicB 
Manum.  I,  63 — 75.  (Potthast,  Wegweiser  900.)  In  dasselbe 
zwölfte  Jahrhundert  versetzen  diesen  St.  Tello  auch  die  BoUandisten, 
tom.  /,  ad  diem  6.  Februarii.  Er  heisst  bei  ihnen  der  heilige 
Telerich,  »wie  ihn  das  Volk  insgemein  nenne,«  sonst  auch 
Adelrich  und  Alderich,  ist  ein  entlaufner  Fürstenknabe,  kommt 
umherirrend  in  der  Gegend  von  Köln  und  Zülpe,  an  das  dortige 
Frauenkloster  zu  Fussenich,  Sti.  Norberti,  verdingt  sich  da  als 
Schweinehirte,  stirbt  21  jährig  und  liegt  daselbst  begraben.  Aus- 
führlich erzählt  über  ihn  der  Jesuiten-Pater  Jac.  Schmid:  Leben 
der  heiligen  Hirten  und  Bauren;  2.  Aufl.,  Augsb.  und  Würzb. 
1750,  4^,  Abthl.  2,  S.  58. 

741 — 44.  Tallo,  ein  Leibeigner,  wird  von  Beata,  Tochter 
Rachinberts  und  Gemahlin  Landolts,  im  Zürichgau,  an  das  Kloster 
Lützel-  und  Uffenau  im  Zürichsee  vergabt.  (Cod.  trad»  S.  GalL, 
no.  ig;  Wiederabdruck  durch  G.  von  Wyss,  No.  6;  Neugart 
Cod.  D.  I,  no.  13;  Zürich.  Antiq.-Mittheill.  2,  29.)  Die  von 
Historikern  gestellte  Frage,  ob  obiger  Tallo  tmjure  tallionis 
Verschenkter  und  etwa  erst  davon  zubenannt  worden  sei,  er- 
ledigt sich  damit,  dass  dieser  verschenkte  Tallo  der  erste  und  letzte 
seines  urkundlichen  Namens  unter  den  übrigen  unzähligen  Leib- 
eignen ist,  welche  sein  gleiches  Schicksal  zu  theilen,  nie  aber 
seinen  Namtn  zu  führen  hatten. 

758 — 784.  Tello,  Bischof  von  Chur  und  Abt  von  Dissentis, 
t  24.  Sept.  784.  ^  Tello  episcopus,  Coera  diddo^  [dictus  de  Coira, 
Chur  in  Bünden],  unterzeichnet  765  unter  Pippin  die  Convents- 
beschlüsse  von  Attigny  in  der  Champagne.  Pertz,  Legum  I,  30. 
Sein  Ttlestamentum^s^  vom  Jahre  jf^^  handschriftlich  im  Archivo 
Desertinensi,  erschien  zuerst  gedruckt  bei  Mabillon,  Annal.  Bene- 
dict. II,  707 — 10;  neuerdings  bei  Mohr,  Graubündner  Urkk.  i,  10. 
Er  ist  der  letzte  einer  rhätischen  Grafenfamilie  aus  dem  Hause 
der  Victoriden,  die  mit  erblicher  Präses- Würde  und  zugleich  mit 
bischöflicher  Gewalt  über  Rhätien  herrschte.  Tello  war  748  als 
Mönch  in's  Kloster  Kazzis  getreten  (Dorf  im  Bündner  Domleschg), 
wurde  Abt  in  Dissentis,  erhob  dies  Kloster  aus  den  Trümmern 
und  vermachte  demselben,    unter  Zustimmung  seines  Vaters,   des 


272  !•    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

Präses  Victor  IL ,  im  Jahre  ^66  '  ausgedehnte  Besitzungen  im 
Bündner -Oberlande  und  im  Sarganserlande,  bestehend  in  Höfen, 
Mühlen,  Dorfschaften,  mit  Alpen,  Wäldern,  Obstgärten,  Wein- 
bergen, Zinsbauern  und  Leibeignen.  Als  Bischof  gab  er  dem 
Dom  zu  Chur  dessen  jetzige  Gestalt.  Sein  Stammbaum,  im 
3>  Testamentum^  mit  aufgeführt,  enthält  weder  unter  den  genannten 
Zeugen  {jnilites)^  noch  unter  den  mit  aufgezählten  Eigenleuten 
(coloni)  einen  deutschen  Namen  und  ist  bis  auf  zwei  Frauennamen 
undeutsch;  diese  sind  seine  Mutter  Teutsuinda,  und  seine  beiden 
Nichten  Teutsuinda  und  Odda. 

Sowohl  diesen  Bischof  Tello,  als  auch  den  erstgenannten 
Leibeignen  Tallo  verzeichnet  Förstemann^s  Personen-Namensbuch 
und  reiht  an  sie  einen  Telo  aus  dem  8.  Jahrhundert,  der  in  die 
Freisinger  Bisthumsgeschichte  gehört  (bei  Meichelbeck,  no.  26), 
und  einen  gleichnamigen  Telo  aus  der  vita  S.  Severini,  ed.  Pez, 
Allein  Förstemann  lässt  es  unentschieden,  ob  diese  Namen  zum 
Wortstamm  tal,  vallis,  oder  zu  tail,  portioy  zu  stellen  seien, 
vergleicht  übrigens  damit  angelsächs.  deall,  {clarus,  superbus) 
und.  geräth  so  auf  die  eddischen  Namensformen  Heimdallr  und 
Dellingr.  Diese  beiden  aber  machen  in  der  Edda  selbst  schon 
zweierlei  Wortstämme  aus.  .Denn  Dellingr  ist  assimilirt  aus 
Deglingar  und  wird  in  Wafthrudnismal  der  Vater  des  Äsen- 
gottes  Dagr  genannt,  was  ersichtlich  eine  genealogisch  um- 
gedrehte Reihenfolge  ist.  Heimdallr  dagegen  scheint  benamit 
nach  der  Heimdäle  (Fichte),  schwed.  tall,  Schweiz,  däle. 

Die  nun  zunächst  folgenden  drei  Urkunden  sind  oberdeutsche, 
sie  bezeichnen  den  Mann  lediglich  nach  dessen  Wohnorte  in  der 
Teilen,  oberdeutsch  eine  Bodenmulde,  und  stellen  darum  diesen 
Beinamen  zum  Vornamen. 

1147,  4-  Ju^J»  Wien.  Eberhardus  de  teile ^  urk.  Zeuge, 
da  K.  Konrad  IIL  die  Vergabung  eines  Theiles  des  Beinwaldes 
an  das  Kloster  Waldhausen  (bei  Regensburg)  genehmigt.  Meiller, 
Babenberger  Regesten  S.  34,  no.  18. 

1373,  9.  März,  Freiburg  i.  Br.  Heini  Grennenbach,  Vogt  zu 
Laufen  (Badisch.  O.-Amt  Mülheim  im  Marggrafenlande)  urkundet, 
von  den  Klosterfrauen  zu  Sulzberg  (desselben  O.-Amtes)  eine 
Juchart  Reben  im  Laufener-Banne  i  empfangen  zu  haben,  welche 
gelegen  ist  im  Altenberg  neben  dem  Rebstücke,  welches  »waz 
etvvanne  Heintzen  Teilen  seligen. c  Graf  Ego  v.  Freiburg 
besiegelt.    Mone,  Oberrhein.  Ztschr.  16,  S.  463. 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  273 

14.  Jahrh.  »Chuenrat  der  Teile  in  dem  Teuffenpach« 
ist  genannt  in  dem  Fürstenbuche  von  Oesterreich,  verfasst  von 
Johann  dem  Enenchel.     Rauch,  Scriptor.  rer.  Austriac.  i,  419. 

Die  niederdeutsche  Namensform  Telo  stellt  sich  zu  ahd. 
Thilo.  Das  Hasborner  Weisthum  vom  Jahre  1 545  nennt  unter 
den  Gerichtsschöffen  den  Meier  Theel  von  Medeloissen  und  den 
Thelen  von  Rodda,  beider  Geschlechtsnamen  aber  lauten  eben- 
daselbst zugleich  Thiel.  Grimm  Weisth.  II,  95  und  96.  Tello 
Vetten  ist  1404  Sprecher  der  adeligen  und  der  bürgerlichen  Ge- 
richtsbeisässen,  als  die  Rechte  der  Grafschaft  Hülchrath  (südlich 
von  Neuss)  geöffnet  werden.  Grimm  Weisth.  VI,  698.  Telo 
Schurgijn  van  Bergheym,  Schultisse  upp  dem  vroenhoue  zo 
Reyde  (Reidt,  rechtsrheinisch  unterhalb  Bonn,  nordwestlich  von 
Siegburg),  hält  daselbst  mit  21  Geschwomen  das  ungebotne  Hof- 
gedinge. Unter  den  Gerichtszeugen  sind:  Telo  meister  van 
Cassel,  lantbode  in  dem  Nederlande  van  Lewenburgh;  Telo 
Hunnenbergh  van  Mundorpp.  Grimm  ibid.  III,  873.  Der  nord- 
deutsche Geschlechtsname  T  e  1 1  k  a  m  p  f  (Dr.  T  e  1 1  k  a  m  p  f ,  Reichs- 
tagsabgeordneter, Prof.  der  Staatswissenschaften,  f  15.  Febr.  1876 
zu  Berlin)  ist  entstanden  aus  Teigen-  und  Tilgenkamp,  und  dieses 
aus  dem  Kamp,  der  F^eldmarke,  welche  mittels  der  telge,  im 
Mittellatein  telia,  dem  grünen  Zweige  als  dem  Pfandzeichen 
eingefriedet  ist;  der  niederdeutsche  Name  Teiger  und  Telgter 
ist  der  eben  so  verbreitete  oberdeutsche  Zeiger  und  Zeltner. 

Zum  Jahre  1575  steht  im  Luzemer  Thurmbuche  (no.  3,  fol. 
449,  Luzern.  Staatsarchiv)  als  Gefangener  eingezeichnet:  »Wilhelm 
von  Mülhusen  (Ob.-Elsass) ,  genant  Teil,  eines  kesslers  son.c 
Pfeiffer's  Ztschr.  Germania  8,  216.  Hier  ist  also  Teil  schon  der 
ersichtliche  Spitzname  eines  elsässischen  Vaganten.  Noch  un- 
gewisserer Abkunft  sind  die  zwei  folgenden  Namensträger  vom 
Jahre  1589  und  1669.  Ex  S.  Tellii  traductione  emendata: 
Macckiavellus  N,,  Princeps.s,  L  1589,  8^  —  No.  325  im  11.  Ver- 
zeichnisse von  Heinr.  Lessers  Antiq.-Handlung  in  Breslau,  1875.  — 
Jac.  Tellius  edirt  Ausonit  opera,  Amsterdam,  Blaeu,  1669. 

Die  nachfolgenden  Namensträger  gehören  in  die  Mark  Bran- 
denburg, nach  Schlesien  und  nach  Sachsen.  Wilhelm  Teile 
ist  der  Componist  folgender  in  »Das  singende  Deutschland«  auf- 
genommenen Liedermelodien.  No.  26:  Ich  wollt',  ich  war'  ein 
Vogel;  no.  35:  Es  sprach  dereinst  dein  falscher  Mund;  no.  39: 
Wenn  ich  euch,   ihr  Blumen,  sehe;  no.  46:   Liebes,   liebes  Auge 

Rochholz,  rell.  und  Gessler.  18 


274  ^   ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

du.  —  »Valent.  Ludw.  Teil  oder  Dell  zu  Salzui^en«  wird 
Seitens  der  herzogl.  sächs.  Kreisgerichts-Deputation  am  2.  Febr. 
1854  vorgeladen  als  Erbberechtigter  am  Nachlasse  des  ver- 
schollenen Metzgermeisters  Joh.  Matth.  Teil  von  Salzungen. 
AUg.  Ausgsb.  Ztg.  1854,  no.  59,  Inserate.  —  Als  preuss.  Profes- 
soren und  Verfasser  von  verschiedenen  Gymnasial-Programmen 
sind  in  Langbeins  Pädagog.  Archiv  von  1861  genannt:  Teil 
schrieb  über  Hyperidis  oratio  fimebris;  ebenda,  Jahrg.  1863, 
Heft  4 :  Teile,  Prof.  am  Potsdamer-,  und  T  h  e  e  1 , ,  Prorector 
am  Hirschberger  Gymnasium.  Der  preuss.  Prediger  Teile  schrieb 
in  den  »Märkischen  Forschungen,«  Ztschr.  der  Mark  Brandenburg 
(Berlin  1865),  über  die  Geschichte  der  Ukermark.  Ein  Dr.  Alb. 
Teil  in  Innsbruck  steht  als  Contribuent  an  das  Nürnberger 
German.-Museum  mitverzeichnet  in  des  letzteren  Jahresberichte 
vom  I.  Jan.  1872,  Blattseite  3,  Spalte  4.  Ein  M.  J.  B.  Teil  ist 
als  Erfinder  einer  neu  construirten  Locomotive  genannt  in  der 
Leipziger  Illustr.  Ztg.  v.  30.  Jan.  1864,  S.  82. 

Den  Schluss  machen  die  welschen  Teile.  Teile,  Michel 
Constant,  Kunsttänzer  aus  Paris,  starb  als  Balletmeister  zu  Berlin 
1846.  —  Capitain  Dell  war,  als  Commandeur  des  französ.  Forts 
der  Insel  St.  Marguerite  bei  Antibes,  seit  December  1873  der 
Kerkermeister  des  zu  lebenslänglicher  Haft  verurtheilten  und 
sodann  entsprungenen  napoleonischen  Marschall  Bazaine  gewesen. 
Hier  mag  der  Personenname  etwa  ableiten  vom  Ortsnainen  Delle 
sur  la  Halle,  Hauptort  des  gleichnamigen  Kantons  im  Bezirk 
Beifort.  Denn  dieser  Ort  heisst  inTrouillat's  Monum.  anno  1226 
Daile  (I,  pag.  507);  1219  Daele  (I,  477);  1272  Dala  (II,  227); 
1282  Deyle  (II,  352),  lauter  contrahirte  Formen  des  urk.  Namens 
Datira  (vom  Jahre  728)  und  Dadila  (vom  Jahre  913),  Trouillat  I, 
pag.  71  und  128.  Der  deutsche  Name  dieses  Delle  ist  daher 
Dattenried.     Mone,  Ztschr.  4,  359. 

General  Teil  zu  Bukarest,  ursprünglich  ein  walachischer 
Pandur,  war  1848,  während  des  von  der  Russenpartei  in  den 
Donau  -  Fürstenthümern  angezettelten  Aufstandes ,  Minister  ge- 
worden, floh,  nach  dem  Abmärsche  der  russischen  Truppen,  in 
die  Türkei  und  wurde  auf  die  Insel  Chios  internirt  Wieder  heim- 
gekehrt, wurde  er  1859  unter  Fürst  Cusa  General-Inspector  der 
Milizen,  1873  Justizminister,  1874  Unterrichtsminister  und  gab 
damals  mit  Rücksicht  auf  seine  Gesundheit  seine  Entlassung. 
Allg.  Augsb.  Ztg.  15.  April  73;  und  24.  Jan.  74. 


II.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  275 

2.  Urkundliche  Namensfälschungen  zur  Stütze  eines 

historischen  Wilh.  Teil. 

Das  schweizerische  Adelsgeschlecht  Vom  Teil  ist  ein 
Namensgespenst,  das  von  der  Wortspielerei  der  ostschweizerischen 
Chronisten  ausgesonnen,  hierauf  von  Gilg  Tschudi's  Wappen- 
und  Titelsucht  in  geschichtlichen  Umlauf  gesetzt  und  erst  von 
der  Quellenkunde  der  Neuzeit  nach  vieler  Mühe  zur  verdienten 
Ruhe  gebrächt  worden  ist.  Ein  doppelter  Aberglaube  musste 
dabei  vertilgt  werden,  derjenige,  dass  je  ein  schweizerisches 
Adelsgeschlecht  Teil  bestanden,  sodann  dass  es  jemals  eine 
Klingenberger  Schweizerchronik  gegeben  habe.  Der  Sachverhalt 
ist  beiderseits  nachfolgender. 

Das  Jahrbuch  des  Zürcher  Ritters  und  Schultheissen  Eberhard 
Müller,  herausgegeben  von  der  Zürcher  Antiq.-Gesellsch.  1844, 
reicht  von  den  Jahren  1336  bis  1386;  dasselbe  notirt  den  ersten 
Bund  der  Dreiländer  1306  und  die  Schlacht  am  Morgarten  1315, 
erwähnt  von  der  Teilen-  und  Gesslergeschichte  nichts,  sondern 
setzt  an  deren  Stelle  den  Auflauf  zu  Zürich  1336  und  Zürichs 
Eintritt  in  den  Bund  1350.  Gleichwohl  erzählt  derselbe  Eberhard 
Müller  von  jenem  historischen  Ritter  Heinrich  Gessler,  welcher 
1385  der  Österreich.  Herzoge  Rath  und  Landvogt  des  Amtes 
Grüningen  war  und  von  seinem  dortigen  Burgsitze  zu  Grüningen 
der  Stadt  Rapperswil  erfolgreich  zu  Hilfe  kam,  als  letztere  durch 
Zürich  in  einem  Handstreich  eingenommen  werden  sollte.  Der 
Chronist  verzeichnet  sodann  (auf  S.  65)  die  Ritter-  und  Edel- 
geschlechter  im  Aargau,  ohne  dabei  die  aargauer  Gessler  mit  zu 
nennen,  geht  S.  66  über  auf  die  Adelsgeschlechter  im  Thurgau 
und  dortigem  Umkreise  und  nennt  hier,  unter  den  wild  durch- 
einander geworfenen  Adelsnamen  aus  dem  Algau,  dem  Thur-, 
Aar-  und  Zürichgau,  unvermittelt  die  vom  Teil.  Irgend  einen 
Aufschluss  über  diesen  Namen  und  dessen  Beziehungen  giebt 
er  nicht. 

Ganz  dasselbe  unklare  Verhältniss  zeigt  sich  bei  Eberhard 
Müllers  unmittelbarem  chronistischen  Nachfolger  Ludwig  von 
Helmsdorf.  Dieser  ist  von  dem  gleichnamigen  Schlosse  bei 
Immenstadt  (bairisch  AUgäu)  gebürtig,  wird  Conventuale  zu  St. 
Gallen  und  verfasst  hier  neben  mehreren  vom  Jahre  1436  datie- 
renden Schriften,    die   auf  der  St.  Galler  Stiftsbibliothek  verwahrt 

i8* 


270  !•   I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

liegen,  eine  Weltchronik,  welche  auszugsweise  in  des  St.  Galler 
Bürgermeisters  Joh.  Vadian  Collectaneen  und  in  dessen  Grössere 
Chronik  übergegangen  ist.  .Helmsdorfs  Werk  selbst  galt  als  ver- 
loren. Der  neueren  Forschung  aber  und  namentlich  Gustav 
Scherrers  Untersuchungen  [in  der  Schrift:  Kleine  Toggenburger 
Chroniken  1874;  hier  von  S.  69  bis  81]  ist  der  Beweis  gelungen, 
dass  Helmsdorfs  Werk  dasselbe  ist,  welches  seit  längster  Zeit 
Hüpli's  oder  Sprengers  Chronik  hiess,  dann  aber  seit  Tschudi 
und  erst  neuerlich  noch  durch  Ant.  Henne  den  Namen  der 
Klingenbergerchronik  annehmen  musste.  Dieser  Hergang  ergiebt 
sich  aus  folgendem  Sachverhältnisse.  Ritter  Ludwig  von  Helms- 
dorf in  Zuckenried,  welches  Gut  er  1504  von  den  Mundprat 
gekauft  hatte,  vermählt  mit  einer  Freiin  von  Klingenberg,  15  30 
Vogt  zu  Bischoffszell ,  Hess  durch  den  St.  Galler  Pater  Hans 
Konr.  Haller  von  Wil  (genannt  Obolus,  f  1525)  die  Helmsdorfer 
Familienchronik  in's  Reine  schreiben  und  lieh  sie  im  Febr.  1530 
auf  etliche  Monate  an  den  vorgenannten  Vadian;  des  letzteren 
Brief  hierüber  ist  noch  vorhanden.  Dass  dieselbe  alsdann  zu 
Frauenfeld  in  der  Locher'schen  Familie  aufbewahrt  worden  und 
dass  in  diesem  frauenfelder  Exemplar  der  Helmsdorfer  Chronik 
der  vollständige  Text  der  sogenannten  Klingenbergerchronik  ent- 
halten gewesen  ist,  dies  erweisen  uns  die  mehrfachen  hinter- 
lassnen  Zeugnisse,  welche  hierüber  in  dem  handschriftl.  Nachlasse 
des  St.  Galler  Bibliothekars  Jodok  Metzler,  f  1639,  gegeben  sind. 
Aus  der  Helmsdorferchronik  haben  Tschudi  und  Vadian  gleich- 
lautend den  Catalogus  des  Thurgauer  Adels  copiert  (welchen 
Katalog  aber  nur  Tschudi ,  und  sonst  Niemand  »Klingen- 
bergius«  benannt  hat),  und  dem  Wortlaute  der  Helmsdorfer- 
chronik nach  beginnt  Tschudi's  Wappenbuch  die  Liste  der  thur- 
gauisch-toggenburgischen  Adelsgeschlechter  also:  Nota;  aliqd, 
Toggenburg;  Vom  Teil.  Eben  daher  rührt  es  nun,  dass  in 
der  von  Ant.  Henne  1861  edierten  sog.  Klingenberger  Chronik 
unter  dem  gleichen  thurgauer  Adelsverzeichnisse  S.  56  die 
vom  teil  angeführt  stehen. 

Dieses  Vom  Teil  ist  übrigens  nichts  anderes*  als  ein  etwa 
sechs  Bauernhäuser  zählender  Weiler,  der  zwischen  zwei  Höhen- 
zügen in  einer  kleinen  futterreichen  Aue  gelegen  ist  auf  dem  Wege 
von  toggenburgisch  Hemberg  nach  appenzellisch  Urnäsch;  diese 
Häusergruppe  wird  in  Leu 's  Lexikon  18,  S.  65  und  74  benannt: 


II.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  277 

Auf  dem  Thäller,  und  In  der  Theel;*)  und  heisst  in  der 
Statistik  des  Kantons  Appenzell,  von  Rüsch,  S.  237 :  Der  Weiler 
Teil. 

Ein  zweites  Namensgeschlecht  Teil,  das  in  den  Urner-Jahr- 
zeitbüchern genannt  sein  sollte,  hat  sich  in  diesen  zuletzt  gleich- 
falls als  eine  Täuschung  erwiesen. 

Wilhelm  Franz  Willimann  von  Romont  im  Kt.  Freiburg,  als 
Franciscus  Guillimanus  zu  »Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
Professor  an  der  Hochschule  zu  Freiburg  im  Breisgau,  unter  Kaiser 
Rudolf  II.  kaiserlicher  Rath  und  Reichshistoriograph ,  stützte 
seinen  Zweifel  gegen  den  historischen  Teil  auf  den  Umstand,  dass 
dieses  Helden  Landsleute,  die  Umer,  unter  sich  selbst  in  Zweifel 
seien  über  dessen  Wohnsitz  und  Geschlecht,  und  über  dessen 
Nachkommenschaft  nichts  anzugeben  vermöchten.**)  Man  fühlte 
in  Uri  das  Gewicht  dieses  Einwurfes  und  suchte  es  auf  verschie- 
dene Weise  zu  entkräften.  Der  Urner  Landschreiber  Hess  hielt 
entweder,  oder  veröffentlichte  am  7.  December  1680  einen  »Dis- 
cours«, welcher  abschriftlich  enthalten  ist  in  dem  aus  Uri  nach 
Bern  überschickten  Sammelbande,  auf  dortiger  öffentlicher  Biblio- 
thek bezeichnet  „Telliana  H.  II.  4°".  Hier  heisst  es:  »Der  Ein-. 
Wurf,  dass  von  dem  Tellengeschlecht  kein  gedechtnus  mehr  vor- 
handen, und  desselben  Heldenthat  mit  keiner  gemässen  recompens 
zur  nachfolg  vorgestellet  worden  seye,  wird  kürtzlich  beantwortet, 
dass  vielleicht  diesses  geschlecht  nit  gross  noch  volkreich  gewesen, 
dahero  aber  niemand  davon  übrig.« 

Gab  man  nun  in  Uri  schon  1680  obrigkeitlich  zu,  von  Teils 
Nachkommen  daselbst  nichts  zu  wissen,  woher  konnte  dann  Joh. 
von  Müller  seine  so  späte  und  so  zweifellos  ausgedrückte  Angabe 
geschöpft  haben :  Wilhelm  Teils  Mannsstamm  sei  zu  Uri  mit  Joh. 
Martin  1684,  der  weibliche  um  1720  mit  Verena  erloschen? 
Eben  aus  gefälschten  Urner  Kirchenbüchern.  Den  Hergang  hat 
J.  E.  Kopp  in  den  Geschichtsblättem  aus  der  Schweiz  1854.  i, 
315  nachgewiesen,  und  die  nun  folgenden  Documente  sind  von 
ihm  aufgefunden.  Es  war  ihm  im  Jahr  1832  zu  Altorf  erzählt 
worden,  eine  im  Jahr    1806  verstorbene  86jährige  Altorfer  Frau 


♦)  Die  Theel   ist   mundartl.  Form  für  Dähle,    Kiefernwaldung;    die   Teil 
heisst  hier  und  anderwärts  eine  kleinere  Thalfläche. 

*•)  Brief  vom  27.  März  1607:    Ipsi  Uranii  de  ejus  sede  non  conveniunt,  nee 
familiam  aut  posteros  ejus  ostendere  possunt. 


"278  ^'   ^®'  Sagenkreis  von  Teil.  • 

habe  sich  noch  genau  erinnert,  den  letzten  Tellensprössling  selber 
gesehen  zu  haben;  dies  sei  die  Verena  Teil  gewesen,  ledig  und 
blödsinnig,  welche  von  Attinghausen  nach  Altorf  bettelnd  herüber 
zu-  kommen  pflegte.  Kopp  begab  sich  daraufhin  nach  Atting- 
hausen, untersuchte  die  dortigen  Ehe-,  Tauf-  und  Sterbebücher 
und  legte  hernach  deren  Ergebnisse  vor,  wie  folgt: 

A.    Ex  libro  Matrimoniorum. 
i66i,  20.  Nov.  nuptias  celebrarunt  Jo.  Martinus  Näll  et  Anna 
Mar.  Albert. 

Ä    Ex  libro  Baptizatorum. 
Aus   vorstehender   Ehe    sind,    nebst   einem   im  Jahre    1663 
geboriien    Sohne  Johannes   Näll,    noch    folgende   Töchter    ent- 
sprössen : 

1664,  26.  Oct.  nata:  Anna  Maria  Neil, 

1666,  26.  Mai       „       Maria  Magdalena  Näll, 

1667,  7.  Oct.       „       Anna  Maria  Näll, 
1669,  II.  Juli        „       Maria  Verena  Neil, 

1678,     5.  Mart.,  getauft  ein  Söhnlein  Mariae  Täll,  der  Erst- 
genannten Tochter. 

C     Ex  libro  Defunctorum. 
1675,  22.  April  obiit  infans  Anna  Margarita  Täll, 
1675,  24.  April  „  Anna  Maria  Täll, 

1684,  10.  Dec.  „  Joh.  Martin  Täll, 

.    1741,  27.  Mart.  „  Virgo  Maria  Verena  Neil, 

Omnibus  sacramentis  munita,  aetatis  suae  72. 
Es  ist  leicht  einzusehen,  wie  verschieden  in  diesen  Büchern 
der  Geschlechtsname  Johann  Martins  und  seiner  Kinder  geschrieben 
ist.  Heiratet  der  Vater  als  Näll  und  werden  die  Töchter  als 
Näll  oder  Neil  getauft,  so  sterben  sie  nach  wenigen  Jahren  als 
Täll.  Es  hat  daher  in  neuerer  Zeit  Dekan  Gissler  zu  Attinghausen 
in  sein  wohlgeordnetes  Geschlechterbuch  den  Namen  Täll  gar 
nicht,  wohl  aber  obigen  Neil  aufgenommen.  Soweit  Eutych  Kopp. 
Nach  der  Hand  hat  Hauptmann  Müller  von  Altorf  die  Atting- 
hauser  Pfarrbücher  abermals  nachgesehen  und  Kopps  Befund  durch 
öffentliche  Beistimmung  bestätigt.  Allerdings,  erklärt  Müller,  findet 
sich  dorten  in  den  Tauf-,  Ehe-  und  Sterberegistern  der  Familien- 
name Näll  von  sämmtlichen  Attinghauser-Pfarrherren  gleichmässig 
eingetragen,  bis  auf  den  Pfarrer  Joh.  Barthol.  Megnet,  der  hier 
von  1672 — 1691  im  Amte  stand.  Jede  Person  des  unter  seinen 
Vorgängern  als  Näll   eingeschriebnen   Geschlechtes  setzte  dieser 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  27Q 

als  Teil  in  die  Register^  so  dass  die  unter  ihm.  gebomen  und  als 
Teil  in  die  Geburtsregister  eingetragnen  Künder,  nachdem  sie  ihn 
überlebt  hatten  und  gestorben  waren,  wieder  als  Näll  im  Sterbe- 
register erscheinen. 

Neil  ist  wirklicher  Geschlechtsname  in  Uri  und  steht  als 
solcher  im  »Alten  Ammannbuchc,  einem  aus  dem  Ende  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts  stammenden  Verzeichnisse  derjenigen,  die  in 
Uri  das  Landrecht  erworben  haben.  Der  erste  Neil  daselbst 
kommt  aus  dem  ennetbirgischen  Bomatt  (Formazathal)  anno  1400 
um  20  Pfd.  Pfenn.  in's  Umer  Landrecht,  ein  zweiter  mit  dem  Vor- 
namen Martin  anno  1447  ebenso  um  4  Gl.  Diese  und  deren 
Abkömmlinge  sind  es,  deren  Namen  im  Attinghauser  Pfarrbuche 
vom  Pfarrer  Megnet  radiert  und  in  Teil  umgeschrieben  worden 
sind.  Neil  ist  Namenskürzung  aus  Petronell:  die  Nellenbalm  am 
Rande  des  untern  Gletschers  von  Grindelwald  ist  zubenannt  nach 
dem  dortigen  Kirchlein  zur  heiligen  Petronella,  das  seit  1577  zer- 
stört liegt.  « 

Da  Schatdorf  die  ehemalige  Filialkirche  Bürglens  ist,  letzteres 
aber  als  Teils  Geburtsort  angenommen  wird,  so  lag  in  diesem 
Zusammenhange  die  Versuchung,  ähnliche  Namensfalschungen  zu 
Gunsten  Teils  auch  hier  vorzunehmen.  Das  Schatdorfer  Jahrzeit- 
buch ist  von  dem  Zürcher  Predigermönch  Jakob  von  Aegeri  be- 
gonnen und  am  28.  Weinmonat  15 18  vollendet.  Hier  heisst  es 
zum  21.  Januar:  »Walter  trullo,  Cueni  sin  sun.«  Eine  nach- 
künstelnde blassere  Hand  hat  aus  dem  Worte  trullo,  durch  Ver- 
änderung der  ersten  drei  Buchstaben,  ein  de  tello  gemacht.  Allein 
der  Augenschein  und  die  dorten  weiter  sich  wiederholenden  Trullo 
(der  spätere  Geschlechtsname  Dryll)  lösen  die  Täuschung  ohne 
Mühe  auf.  Auch  dies  hat  E.  Kopp  aufgedeckt  und  bekannt 
gemacht. 

Zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  begann  der  Familienname 
TeU  als  ein  aargauischer  vorübergehend  von  sich  reden  zu  machen. 
Der  Watländer  Bridel  *)  berichtete  damals  in  seinem  »Spaziergang 
durch  einen  Theil  des  Aargaues«,  wie  er  das  Pfarrdorf  Kirchberg- 
Biberstein,  zunächst  bei  Aarau  gelegen,  besucht  habe  und  von 
dem  dortigen  Bemer  Landvogt  zu  der  sehr  zahlreichen  Bauem- 
familie  Teil  in  Biberstein  gefuhrt  worden  sei.  Dieselbe,  fügt  er 
bei,  nimmt  übrigens   wenig  Kunde  von  der  Rolle,  die  ihr  Name 


*)  Kleine  Fussreisen  durch  die  Schweiz.    Zürich  1797.  Th.  2,  S.  125. 


28o  !•  ^c'  Sagenkreis  von  Teil. 

seit  einiger  Zeit  spielt.  Sie  weiss  nichts  davon,  dass  ihr  erster  und 
einzig  berühmter  Wilhelm  zu  Schauspielen,  Dramen,  Opern  und 
Pantomimen  Anlass  gegeben  hat;  dass  vor  kurzem  seine  Lebens- 
beschreibung, mit  vielen  in  seinem  eignen  Vaterlande  ganz  un- 
bekannten Anekdoten  geziert,  erschienen  ist;  dass  man  sein  Por- 
trät, »nach  der  Natur  gemalt,«  in  allen  Grössen,  und  selbst  seine 
Büste  in  Alabaster  haben  kann.  Bridel  deutet  mit  diesem  neuen  - 
Tellencultus  auf  die  politische  Erregtheit  hin,  die  damals  in  den 
schweizer  Unterthanenländern,  ein  solches  war  der  Aargau,  gegen 
die  regierenden  Kantone  herrschte  und  dann  im  nächstfolgenden 
Jahre  die  ganze  Schweiz  gewaltsam  umgestaltete.  Nachdem  der 
französische  General  Brüne  am  5.  März  1798  die  Stadt  Bern  zur 
Uebergabe  genöthigt  hatte,  dachte  er  daran,  statt  der  bisherigen 
18  Schweizerkantone  und  ihres  aristokratischen  Verfassungs-Misch- 
masches, grössere  Schweizergaue  zu  errichten,  auf  Volksrace  und 
Nationalsprache  gestützt,  und  beauftragte  seinen  Commissair  Le 
Carlier,  dieses  Project  auszuarbeiten.  Schon  am  16.  März  darauf 
wurde  das  Reglement  zur  neuen  Gebiets-Eintheilung  veröffentlicht, 
wonach  die  Schweiz  nunmehr  aus  folgenden  vier  Gauen  bestehen  sollte, 
i)  Rhätien,  mit  dem  ganzen  rhätischen  Sprachgebiete.-  2)  Rho- 
_  danien,  mit  dem  welschen  Sprachgebiete  der  damaligen  Kantone 
Leman,  Freiburg,  Oberland,  Wallis  und  den  italienischen  Vogteien. 
3)  Helvetien,  mit  dem  deutschen  Sprachgebiete  voii  Basel,  Bern, 
Luzern,  Solothurn,  Aargau,  Schaff  hausen, .  Zürich,  Thurgau,  St. 
Gallen  mit  Sargans,  und  Appenzell.  4)  Tellgau,  Tellgovie, 
enthaltend  die  demokratischen  Kantone  Uri,  Schwyz,  Unterwaiden, 
Zug  und  Glarus.  Vgl.  Correspondence  du  General  Brune  etc.f 
1859.  AUg.  Augsb.  Ztg.  1859,  ß^iJ-  ^o.  57.  Dieser  Plan  fand 
weder  in  der  Schweiz,  noch  beim  französischen  Directorium  Zu- 
stimmung und  wurde  am  29.  März  wieder  zurück  genommen; 
statt  seiner  wurden  die  achtzehn  Kantone  unter  das  gemeinsame 
Helvetische  Direktorium  gestellt,  welches  den  Schützen  Teil  in 
sein  Amtssiegel  nahm,  und  aus  dem  beabsichtigten  Tellgau  ent- 
stand nun  der  neue  Kanton  Waldstätten. . 

Die  lange  Reihe  vofi  hierauf  folgenden  Kriegs-  und  Noth- 
Jahren  gab  nicht  Anlass,  der  Bibersteiner  Namensanekdote  weiter 
nachzufragen;  als  dieselbe  aber  im  Beginn  dieser  Siebenziger  Jahre 
von  den  politischen  Journalen  wieder  hervorgezogen  wurde,  fand 
sie  ihr  plötzliches  Ende.  Der  Verfasser  dieser  Blätter  veröffent- 
lichte damals  einen  Bericht :  die  Familie  des  Wilhelm  Teil  in  Biber 


II.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  28 1 

stein,  *)  und  wies  dieselben  Namensialschungen,  welche  zu  Gunsten 
eines  vermeintlichen  Tellengeschlechtes  in  den  Urner  Pfarrbüchem 
enthalten  sind,  auch  im  Bibersteiner  Pfarrbuche  nach.  Hier  steht 
unter  den  Ehen  eingezeichnet,  August  1588:  Jörg  Täller  mit 
Margarethe  Burkart;  beider  Kinder  sind:  Hans  Ulrich,  geb.  1590; 
Jakob  1591;  Elisabeth  1598,  alle  des  Geschlechtes  TäUer. 
Allein  der  Erstgeborne  Hans  Ulrich  Täller  verehlicht  sich  1614 
mit  Verena  Bott  und  steht  nun  in  der  Reihe  der  Getrauten  ein- 
geschrieben als  Hans  Ulrich  Teil,  ja  er  lässt  seine  in  den  Jahren 
1616  bis  1627  erzeugten  fünf  Kinder  alle  unter  dem  Teilen-Namen 
ins  Taufbuch  eintragen.  Auf  diese  folgen  dann  noch  vier  weitere 
Däll  als  Täuflinge  von  1696  bis  1700,  und  so  sind  im  Ganzen 
53  Gebome,  Verehlichte  und  Gestorbne  dieser  Sippschaft  im 
Kirchenbuche  enthalten,  eine  Namensreihe,  die  vom  Jahr  1588  bis 
1861  reicht.  Erst  mit  dem  Jahre  1777  erscheint  unter  den  Getauf- 
ten ein  Wilhelm,  des  Hans  Rud.  Teil;  alsdann  1804:  Wilhelm, 
des  Kasp.  Teil  Söhnlein;  letztlich  1842  Wilhelm,  der  Wittwe 
Elisabeth  Teil,  gebome  Styner,  Söhnlein.  Daraus  ist  ersichtlich, 
dass  die  bestimmte  Beziehung  auf  den  historischen  Teil  hier  erst 
in  allerletzter  Zeit  erfolgte.  Ganz  denselben  Vorgang  entnimmt 
man  aus  dem  Tauf-  und  Todtenrodel  des  berner  Dorfes  Rogg- 
wil  im  Emmenthale,  wohin  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  Wilhelm 
Teil  von  Biberstein  ausgewandert  war.  Letzterem  werden  dorten 
geboren,  1819,  21.  Februar:  Wilhelm,  ehlicher  Sohn  des  Wilh. 
Teil  von  Biberstein  und  der  Verena  Lanz  von  Roggwil;  f  1821; 
sodann  am  12.  April  1820:  Wilhelm,  Eltern  die  nemlichen. 
Auch  hier  legte  also  der  Vater  seinen  beiden  Knaben  denselben 
Vornamen  aus  historischer  Vorliebe  bei.  Diese  Anführungen  alle 
sind  genommen  aus  den  amtlichen  Mittheilungen,  welche  zu  Kirch- 
berg-Biberstein der  dortige  Ortspfarrer  J.  Pfleger  am  6.  Mai  1861, 
und  im  gleichen  Jahre  zu  Roggwil  dex  dortige  Pfarrer  Stooss  dem 
Verfasser  vorliegenden  Werkes  übersendet  hatten. 

Der  Geschlechtsname  Teller  entspringt  aus  einem  Flurnamen 
und  ist  in  den  deutschen  Kantonen  ein  stark  verbreiteter.  Teller 
nennt  man  den  kleinen  beweidbaren  Hang  eines  Bergrückens,  es 
ist  also  einer  der  mehrfachen  Werkzeugsnamen,  welche  sich  in 
den  Bergnamen  zu  wiederholen  pflegen:  Wanne,  Mulde,  Kratte, 


*)  Aarauer  Nachrichten,  8.  Dec.  1871. 


I 

t 


282  ^'   ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 

Kiste,  Kessel,  Pfanne,  Pfannenstiel.    Oertliche  Fluren  und  urkund- 
liche Sippschaften  des  Namens  Teller  sind  nachfolgende. 

Eine  Zehenteinschreibung  im  Jahrzeitbuche  der  Kirche  von 
Schatdorf  in  Uri  lautet:  »Toni  Künen  kind  sol  l.  Schilling  von  den 
gutem  zu  Teueren  vnder  der  Gass,  stossend  bis  an  den  Schachen. 
(Beisatz:)  ist  abgelösst  1605.«  Hds.  Hefte  zur  Gesch.  Teils,  ver- 
fasst  von  Hauptmann  Müller  zu  Altorf  in  Uri. 

Teller,  Gemeindeweitung  des  aargauer  Dorfes  Kirchleerau. 
Tellermättli,  eine  kleine  Hauswiese,  mitten  im  aargauer  Dorfe 
Birmensdorf  und  hier  an  der  Tellermättli  -  Gasse  gelegen;  diese 
Matte  enthält  einen  Wassersammler  oder  Theiler,  von  dem  die 
Brunnenteucheln  für  die  Hausbrunnen  jenes  Dorfviertels  ausgehen. 
Südöstlich  von  der  Burg  Strättlingen  gegen  den  Thunersee  liegt 
nahe  beim  Dörfchen  Ghey  das  Gut  Im  Teller.  Archiv  des 
Bemer  historischen  Vereins  IV,  S.  80.  —  Telleri  liegt  z,wischen 
Oberwil  und  der  Stadt  Zug;  Tellern  ist  eine  Flur  der  Gemeinde 
Wäggis  am  Waldstättersee ;  Tellern  und  Teilerle  sind  appen- 
zellische  Localnamen;  über  diese  und  über  den  Tellernsee 
siehe  Berlepsch,  Schweizerkunde  1864,  S.  60.    73.    190. 

Aus  der  sehr  grossen  Reihe  der  Urkundspersonen  Namens 
Teller  seien  hier  nur  die  ältesten  und  die  neuesten  ausgehoben. 

1386,  Wemh.  Teller  zu  Langnau  im  Emmenthal.  Archiv  für 
Schw.-Gesch.,  Bd.  17,  132. 

1401  bis  1500  sind  die  Teller  ein  Bürgergeschlecht  zu  Win- 
terthur,  welches  dorten  vom  Jahre  1601  an  Deller  und  Dalier 
heisst.     Troll,  Gesch.  v.  Winterth.,  Bd.  7,  S.  17.  18. 

1407,  I.September,  zu  Zürich.  Hans  Theiler  ist  Kaplan  des 
Altars  und  der  Pfründe  St.  Jost  in  der  Kapelle  auf  Schloss  Bal- 
degg. Urkunden  des  Klosters  Frauenthal,  in  Zurlaubens  Stemmato- 
graphie.  Ms.,  Bd.  80,  369. 

1414  stirbt  Joh.  Teller,  JDecanus  in  Hochdorf.  Gesch.-Freund 
Bd.  S,  113. 

1479,  9.  August,  schwört  Rudi  Teller  Urfehde,  nachdem  er 
im  Wild-  und  Freibade  zu  Pfeffers  sich  mit  Ehebruch  vergangen 
und  darüber  in  des  dortigen  Abtes  gefängliche  Haft  gerathen  war, 
und  vergütet  die  erlaufenen  Gerichtskosten.  Regesten  der  Schweiz. 
Archive  und  der  Abtei  Pfeffers,  I.  no.  700. 

ijfoö  obiit  Magaritha  Tellerin^  tixor  Petri  RosenschiU,  pagi 
Beranensis  Ammannu  Fol.  349  des  Jahrzeitbuches  des  Stiftes 
Beronmünster ,   einst   im  Klosterarchiv   Muri,    nun    im    aargauer 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  283 

Staatsarchiv,  F.  i.  — iß^o,  die  30.  Apriliis  obiiiDm,  Joannes  Teller y 
sive  Teillerj  ecclesia  Beronens.  canamais,  capitult  Hochdorfiensis 
decanus;  ibid.  Fol.  89  b.  —  /jrpi*  obiit  Eberhardus  Teller,  Beronen- 
sis;  Fol.  269.  Dieselbe  zwischen  Teller  und  Teiller  schwankende 
Namensform  kehrt  daselbst  wieder:  Fol.  361  und  376. 

1532  ist  Petrus  Theller  Meier  des  Zehntens  Raron  in  Wallis. 
Furrer,  Gesch.  v.  Wallis  II,  254.  Aus  diesem  gleichen  Greschlechte 
ist  1565  Nikol.  Theller  Domherr  zu  Sitten.  Leu,  Lex.  18,  75. 
Die  weiteren  Urkundspersonen  dieser  Sippschaft  verzeichnet  Furrer 
1.  c.  III,  324  u.  326. 

Von  den  Neuzeitlichen  dieser  Namenssippe  genügen  folgende. 
Teller,  Romanus,  Biblia  germanice.  Lpz.  1749.  Teller,  Joh.  Friedr., 
Wörterb.  des  N.  Testamentes,  Lpz.  1775.  Peter  Teller  v.  Zwei- 
brücken, Studienrector  zu  Augsburg,  stirbt  daselbst  1865.  (Eos, 
Süddeutsche  Gymnas.  -  Ztschr.  1865,  Heft  2,  312.)  Kohler  und 
Teller,  Buchdruckerei  in  Offenbach  a./M.,  1868. 

Den  bisher  erwähnten  Personennamen  liegen  die  drei  Local- 
namen  zu  Grunde  a)  die  Teil,  eine  kleine  Thalfläche,  nhd. 
Delle  und  Dälle,  kleine  Vertiefung;  b)  die  Teile,  der  Theil, 
die  Zahlungsquote,  die  Mautstelle;  c)  der  Teller,  die  beweid- 
bare  Mulde  eines  Berghanges.  Letzterer  Name  aber  ist  eine 
sinnbildliche  Entlehnung  aus  Essteller,  der  in  der  lateinischen 
Bauemsprache  taleare,  italienisch  il  tagliere,  französisch  tailloir 
heisst,  weil  er  ursprünglich  ein  Rundbrett,  oder  auch  ein  Brod- 
fladen war  und  dazu  diente,  die  darauf  zerschnittnen  Fleisch- 
portionen an  das  Hausgesinde  au s zu th eilen.  Ist  demnach  das 
Zerschneiden  und  Vertheilen  der  Sinn  des  Wortes  Teller,  so  muss 
auch  der  davon  ableitende  Personenname  einen  ähnlichen  Begriff 
enthalten.  Lateinisch  taleuy  mittellateinisch  taUiay  altfranzösisch 
taille^  italienisch  taglia,  englisch  talley' \msst  Schnitt  und  Kerbe, 
bedeutet  in  rechtsgiltiger  Anwendung  die  Steuer  und  »Accise«, 
und  führte  zu  den  mittellateinischen  Wortformen  telonium,  die 
Teile,  Kopf-  und  Grundsteuer;  ielonearius,  der  Teller,  Steuer- 
einnehmer; lauter  wörtliche  Belege  des  ursprünglichen  Brauches, 
den  Betrag  der  Zölle,  Steuern,  der  Umlagen  und  des  gegen- 
seitigen Privat-Guthabens  auf  Kerbhölzer  zu  schneiden  und  nach 
deren  Ausweis  zweimal  des  Jahres,  auf  beide  Jahreshälften  ver- 
theilt,  die  Summe  einzufordern.  Käufer  und  Verkäufer,  die  über 
den  in  ihrem  Handel  fixirten  Werth  gegenseitig  einig  geworden 
waren  und  darüber  untrügliche  Buchführung  halten  wollten,  nahmen 


284  ^»   ^^'  Sagenkreis  von  TelL 

ein  vierkantig  gehobeltes,  in  zwei  gleiche  Hälften  gespaltenes 
Stäbchen  und  schnitten  quer  über  dessen  Spalt  den  Betrag  und 
Preis  der  bezognen  Waaren  in  einerlei  Kerben  hinein,  worauf 
jeder  von  Beiden  eine  Hälfte  des  gekerbten  Steckens  als  Quittung 
mit  sich  nahm.  Am  Zahltage  wurden  beide  Hälften  wieder  ver- 
einigt und  aus  ihren  auf  einander  passenden  Kerben  ergab  sich 
das  gegenseitige  Soll  und  Haben:  eine  in  duplo  ausgestellte  und 
ebenso  bei  der  Bezahlung  in  duplo  quittierte  Rechnung.  Es  ist 
hier  nun  der  sprachliche  Einwurf  vorauszusehen,  dass  wir  taka 
und  telonium  fälschlich  unter  Einem  Wortstamm  vereinbaren,  da 
doch  jenes  nun  die  Teile,  dieses  aber  der  Zoll  heisse. 
Allerdings  schreibt  schon  eine  ahd.  Glosse  aus  dem  achten 
Jahrhunderte:  telonariusy  zollanari,  Graff,  Diutisca  i,  269b. 
Allein  obschon  Lehen- Wörter ,  die  von  der  gothischen  Lautstufe 
auf  die  althochdeutsche  rücken,  ihr  griechisch-lateinisch  T  in  Z 
wandeln  (Tavernae  Zabem;  Metae  Metz;  Strataburc  Straszburg), 
so  kommen  diejenigen  Wörter,  welche  zweimal  entlehnt 
sind,  sowohl  mit  Z  als  mit  T  vor:  tegula,  Ziegel  und  Tiegel 
(Tegel  ist  mundartlich  der  Lehm);  cuttis,  Kutte  und  Kotze; 
porta,  Pforte,  Pforzich  (atrium)  und  Pforzheim;  teloneum,  Zoll 
und  Teile.  W.  Wackemagel,  Umdeutschung  fremder  Wörter 
1861,  12.  Für  die  Richtigkeit  des  letztgewählten  Beispieles  dient 
als  Erweis  die  Namensgeschichte  des  noch  bestehenden  Bemer 
Geschlechtes  der  Thellung  von  Courtelary.  Seine  urkundlichen 
Namensförmen  seit  dem  fünfzehnten  Jahrhunderte  stehen  ver- 
zeichnet bei  Blösch,  Geschichte  der  Stadt  Biel,  i,  179.  Dies 
Geschlecht,  bei  welchem  das  Amt  eines  bischöflich  Baslerischen 
Meiers  und  Amtmanns  der  Stadt  zu  Biel  beinahe  erblich  war,*) 
war  aus  dem  welschen  Theile  des  Berner  Jura  unter  dem  Namen  | 
Taillon**)  nach  Biel  gekommen,  nannte  sich  hier  später  Tellikoa 
und  heisst  jetzt  Thellung,  d.  i.  Steuermeier  und  Steuerzahler. 
Die  Thellungen  nennt  Pater  Sigismund  Furrer,  Gesch.  desj 
Kant.  Wallis  2,  115  sachlich  die  Steuerzahlungea 

Die  Teilrodel  und  Teilbücher,  enthaltend  das  Ver* 
zeichniss  und  den  Ansatz  aller  Gemeindesteuerpflichtigen,  gehören] 
mit    zu    den    ältesten    Provinzialurkunden    über    die    ehemaligen 


*)  Haberer,  Schweizer-Regiments-Ehrenspiegel.     Zug  1706.     I,  70. 
*•)  Bischof  Peter  von  Basel  erwirbt  1295   thelonium  oppidi    de   Bielle^j 
Trouillat,  Mon.  II,  No.  456. 


II.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  285 

Bevölkerungsverhältnisse  der  Schweiz.  Die  ältesten  Teilrodel  im 
Bemer  Staatsarchiv  sind  von  1384,  ein  »Tellbuch  uflf  dem  land 
in  allen  kilchspilen«  vom  Jahre  1395.  Schweiz.  Statist.- Archiv 
1860,  no.  5.  Als  in  dem  erstgenannten  Jahre  die  Stadt  Bern 
durch  Kriege  verschuldet  war,  legte  sie  eine  Steuer  von  4  Procent 
auf  das  Bürgervermögen,  und  der  Stadtchronist  Konr.  Justinger 
(Ausg.  V.  Studer,  1870,  159)  erzählt  dies  unter  der  Ueberschrift : 
»Von  den  grossen  teilen,  so  die  von  Bern  anleiten.«  Dieser  Name 
der  Steuer  besteht  dorten  noch  und  giebt  zur  gleichen  Namens- 
missdeutung Anlass,  die  uns  hier  beschäftigt.  Als  im  Jahre  1855 
die  in  Bern  domicilierenden  eidgenössischen  Bundesbeamten  dem 
kantonalen  Teilgesetze  unterworfen  werden  sollten  und  darüber  in 
langem  Streite  Bericht  und  Gegenbericht  erschien,  meinten 
öffentliche  Blätter,  jene  Beamten  sollten  sich  der  neuen  Steuer 
gutwillig  unterziehen  »schon  aus  Anhänglichkeit  an  Vater 
Teil,  dessen  Namen  ja  dieselbe  trage«.  Handelscourier  vom 
3.  April,  1868. 

Wir  zeigen  nun  die  Teil  als  örtliche  Benennung  der  Grenz- 
maute  und  schicken  die  Bemerkung  voraus,  dass  der  zwischen 
E  und  0  wechselnde  Stammvocal  des  Wortes  hier  abhängig  ist 
von  der  vielgestaltigen  Lateinform  tholoneum,  tollenium;  denn  schon 
bei  Hincmar  VI,  525  heisst  der  Vorstand  der  Reichszollverwaltung: 
Mercati  Palatii  tolonearius.     Henschel,  sub  voce  tolon. 

Zweierlei  Namensformen  für  dieselbe  Sache  begegnen  hier. 
Die  vorarlberger  Ortschaft  Thöll,  Landgericht  Schlanders, 
heisst  in  Lateinurkunden  Teiles,  infra  Teiles,  Von  diesem  Orte, 
und  über  die  Teil,  eine  Zoll-  und  Mautstelle  bei  der  Feste 
Bybeneck  im  tiroler  Innthale,  wird  in  nachfolgenden  Urkunden 
gehandelt. 

1288,  23.  November,  Gries  in  Tirol.  Albert  Graf  von  Görz 
überlässt  seinem  Bruder,  dem  Herzog  Meinhard  von  Kärnten, 
Grafen  von  Tirol,  käuflich  auf  ein  Jahr  die  Zölle  zum  Lug, 
Passeier,  Sterzing,  Insbruck,  Nauders,  Ruckschein,  Bozen  und  in 
der  Teile.     Chmel,  Fontes  rer,  Austr.  I.  Abth.  2,  S.  238. 

1319,  16.  Januar,  Tirol.  Herzog  Heinrich  von  Kärnten 
urkundet  in  St.  Zenoberg  theloneariis  apud  Tellam  et  Lar.  Kopp, 
Eidg.  Bünde  IV.  2,  S.  320. 

^305i  7-  Januar.  König  Albrecht  belehnt  die  herzoglichen 
Brüder  Otto,  Ludwig  und  Heinrich,  als  Grafen  von  Tirol,  mit  den 


I 

L 


286  I*    ^cf  Sagenkreis  von  Teil« 

Zöllen   zu  Bozen   und   an   der  Thöll.     Lichnowsky   II,  Urkk. 
no.  461. 

1403,  21.  September,  Bozen.  Herzog  Friedrich  verpfändet 
dem  Friedrich  Hauensteiner,  Münzmeister  in  Meran,  den  Zoll  an 
der  Teilen.     Lichnowsky  VI,  Urkk.  pag.  XVII. 

1404,  6.  August,  Graz.  Herzog  Leupold  bestätigt  dem 
Kloster  Stambs  Zollfreiheit  und  meldet  dies  dem  Hauptmann, 
Amtmann  und  dem  Zöllner  an  derTeel.  Lichnowsky  VII,  Urkk. 
pag.  241  römisch. 

1446,  2.  April,  Wien.  Hans  an  der  Teil,  Machtbote  der 
Gerichte  und  Aemter  der  Grafschaft  Tirol,  vereint  mit  des  Landes 
Adelschaft,  Bürgermeistern  und  Abgeordneten,  stellt  dem  König 
Friedrich  III.,  als  dem  Vormund  Herzog  Sigmunds  von  Tirol, 
einen  Schuldbrief  auf  30,000  Gulden  aus.  Chmel,  Materialien  z. 
österr.  Gesch.  I,  S.  202,  no.  ^(>  römisch. 

1460.  Hans  Töller  ist  des  Rathes  zu  Winterthur  während  , 
der  zwölfwöchentlichen  Belagerung  dieser  Stadt  durch  die  Eid- 
genossen. Troll,  Gesch.  v.  Winterth.  i,  40.  Das  Luzerner 
Barfüsser -Jahrzeitbuch  enthält  unterm  15.  Wintermonat  die  Ein- 
zeichnung:  »Wir  sond  jarzit  begän  mit  vigil  Her  Hansen  toellers 
des  Dechen  (Dekans),  und  Hensly  toellers  sins  bruders,  Anno 
1473.«     Gesch.-Freund,  Bd.  13,  S.  21. 

Die  Tellenburg,  eine  Stunde  hinter  dem  Dorfe  Frutingen 
im  berriischen  Kanderthale  gelegen,  ist  ein  viereckiger  gewaltiger 
Steinthurm,  der  bis  auf  die  Gegenwart  als  Amtslocal  benutzt 
wird.  .Der  Ortsname  hat  sich  seit  dem  vierzehnten  Jahrhundert 
nicht  verändert.  Mit  Urkunde  v.  24.  Mai  1352,  actum  Bemo,  über- 
giebt  der  Freiherr  Johann  zu  Weissenburg  an  die  Stadt  Bern 
auf  5  Jahre  alle  seine  Einkünfte  im  Frutinger-  und  Kanderthale, 
et  nominatim  castrum  dictum  Tellon,\  Thal  und  Schloss  giengen 
bald  wieder  an  den  Freiherrn  zurück.  (lurri-Laubiani  stemmatis 
cartae  genealogicae ,  tom.  IV,  pag.  201,  21S.  Ms.  der  Aargauer 
Bblth.)  Am  10.  Juni  1400  verkauft  Ritter  Antoni  von  Thum  an 
Bern  um  6200  Gulden  die  Schlösser  von  Velsen  und  Tellon 
(primo  castra  de  Petra  et  Tellon,  sita  in  Frutingen),  ibid.  Stent- 
matographia  Helv, ,  tarn,  p ,  5.  874..  Die  Tellenburg  auf  ihrem 
kegelförmigen  Bühl  bildet  ein  kleines  Vorgebirge,  das  vom 
Fusse  des  Mittagshomes  auslaufend,  an  dem  hier  endenden 
Scheidungsgebirge  des  Engstelen-  und  des  Kanderthales  liegt  und 
das  ganze  Frutingenthal  dominiert.     Sicherlich  war  hier  die  Zoll- 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  287 

Stätte,  wo  das  Geleitsgeld  für  die  Saumthiere  und  Fussgänger 
{pedagia  seu  theUmea)  erhoben  wurde.  Am  Fusse  des  Schlosses 
liegt  das  Tellenfeld  und  die  Häusergruppe  Teilen,  beide  zur 
Kirchgemeinde  Frutingen  gehörend.  Aus  dieser  Sach-  und 
Namensähnlichkeit  ist  wohl  auch  die  bekannte  Sage  entsprungen, 
Wilhelm  Teil  sei  Meier  (also  auch  Zollner)  zu  Bürglen  in  Uri 
gewesen.  Das  Saumross,  auf  welchem  die  Güter  über  den  Gott- 
hard  nach  der  Lombardei  gesäumt  werden,  heisst  nach  der  Zoll- 
Last  des  Waaren-Bündels  das  Theilross,  und  sein  Säumer  der 
Theiler;  beides  nach  dem  italienischen  taglia.  Stalder  i,  277. 
Pfeiffer,  Habsb.-östereich.  Urbarb.  360. 

Der   lombardische   Flecken   Teglio    in  der  Provinz   Sondrio, 

rechts    an  der  Adda,   leitet  seinen  Namen  von  der  Burg  ab,   die 

■  in  lateinischen    Urkunden   Telium ,    Teglium   und   Tilium    heisst, 

;  und  hat  der  Provinz  Veltelin,    Vallis  Teilina,  den  Namen  gegeben. 

;  Dieser  Ort  und  die  ganze  Provinz  hiess  in  der  deutschen  Schweiz 

^Auf  der  Teil;    vgl.   Fortunat  Sprecher,   Rhetische  Cronica  v. 

1672,  S.  214,  215.    Und  so  wird  dem  Dr.  Gatti  aus  Veltlin  161 1 

;zu  Händen   des  Rathes   zu  Winterthur  bezeugt,    er  sei   adeligen 

(Geschlechtes    und    ab    der   Teil    in    Veltlin    gebürtig.     Troll, 

Gesch.  V.  Winterth.,  Bd.  8,  S.  320. 


3.    Tall  und  Däle,  die  Bergföhre. 

Die  nordisch  gemeine  Kiefer,  pinus  silvestris,  benennt  sich 
im  Althochdeutschen  und  Altnordischen  mit  dem  Wortstamme 
tal,  der  dann  im  Neudeutschen  verloren  geht,  jedoch  in  ober- 
bairischer,  schweizerischer  und,  auffallender  Weise,  auch  in  der 
rhäto-romanischen  Mundart  mit  wundersamer  Ausdauer  bis  heute 
fortlebt.  In  mehreren  Gebirgskantonen  der  Schweiz  heisst  die 
Föhre  und  Kiefer,  die  da  die  Baumgrenze  der  höchsten  Berg- 
Jnippen  bildet  und  z.  B.  an  der  Grimsel  bis  6000  Fuss  hinauf 
vorkommt:  Däl-e,  Dälle  und  Thel,  und  die  aus  diesem  Holze 
gehauene  Haglatte  heisst  Teile  und  Delle.  Stalder  i ,  275. 
Es  lässt  sich  diese  Benennungsweise  vom  Entlebuch  und  Emmen- 
thal  an  hinüber  in's  Berner  Oberland  verfolgen,  von  da  nach 
Oberwallis  und  Graubünden,  von  hier  geht  sie  östlich  in's 
Sarganser-  und  Appenzellerland  und  verräth  sich  selbst  in  einigen 


V 


288  !•   I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

Thalschaften  von  Welschtirol.  Denn  hier  allenthalben  ist  jener 
Baumname  namengebend  geworden  für  Ortschaften  und  Geschlechter. 
Wir  beschränken  indess  unsem  Nachweis  zunächst  auf  die  Kantone 
Wallis  und  Bünden,  weil  allbeide  zweisprachig  sind. 

In  Wallis  ist  das  Geschlecht  Theler  und  Zer  Telen,  laut 
Furrers  Urkunden  zur  Geschichte  des  Wallis,  in  den  Bezirken  von 
Leuk  und  Raron  alteinheimisch.  Gertscho  zer  Telen  ist  1434 
einer  der  Landschafts -Bevollmächtigten,  welche  zu  Raron  einen 
politischen  Vertrag  abschliessen  (Furrer,  Th.  3,  S.  210).  Eben 
daselbst  erscheint  1525  zu  gleichem  Zwecke  Antillo  zer  Telen 
(3>  313)»  ebenso  ist  1552  unter  den  Ausschussmännern  der  Sieben 
Zehenten  des  Landes :  Joannes  Thaeler  (3,  342),  und  einer  desselben 
Geschlechtes,  Heinrich  Theler,  ist  1627  Pfarrer  zu  Sitten  (i,  355). 
Walliser  Ortschaften,  nach  diesem  Wortstamme  zubenannt,  sind 
I  m  T  he  e  1 ,  ein  Berggut  mit  Wallfahrtskapelle  bei  Leuk.  Ruppen- 
Tscheinen,  Walliser  Sagen  1872,  S.  143.  172.  Der  Theelwald, 
bei  Oberstalden  im  Nikolaithale  (ibid.,  S.  182);  Güter  zur  Oberen 
und  Unteren  Thele  bei  Zermatt,  im  Ausserorte  Findelen;  ibid., 
S.  157.  Diese  Namensformen  zeigen,  dass  ihr  Stammvocal 
zwischen  E  und  Ä  mundartlich  schwankt;*)  und  nach  diesem 
gleichen  Lautwerthe  sind  auch  einschlägige  Eigennamen  in  den 
Nachbardistricten  zu  verstehen.  So  besteht  in  Appenzell  -  Inner- 
Rhoden  das  Landleutengeschlecht  Thal  er.  Eugster,  Die  Ge- 
meinde Herisau  1870,  S.  97  u.  192. 

Talinne  nennt  man  in  Graubünden  jedes  Heuhaus  auf  der 
Alpe  und  zugleich  jene  in  die  Quere  über  einander  gespreizten 
Rundhölzer  (sonst  Tristen  genannt),  auf  welche  der  Aelpler  die 
Heuschober  und  die  Habergarben  aufhängt  zum  Austrocknen  inl 
Freien;  denn  jene  Heuhäuser  und  diese  Gerüste  sind  aus  un* 
geschälten  Fichten-  und  Föhrenstämmen  zusammengefügt,  di6 
romanisch  Talin  heissen.  Daraus  haben  sich  im  altrhätischerf 
Sprachbezirke  mancherlei  Ortsnamen  gebildet,  aus  denen  hier  nur 
etliche  auszuheben  sind.  Dalin,  Dorf  am  Heinzenberg  in  Bünden; 
U.  Campell's  Rhät.  Geschichte,  Ausg.  v.  Mohr  1851.  I,  S.  2 
Tallin,  Ortschaft  bei  Trimmis ;  Dorf  Dehl,  Gerichtes  Tiefencastell 
Campell,  ibid.  S.  50  u.  56.  Talinnes  und  Talenz,  Ort  bei  Sarga 
Kant.  St.  Gallen.  Steub,  Rhät.  Ethnographie,  208.  Teilina 
Tesino,   Nebenthal   von  Valle  Sugana  in  Tirol.     Teiles,   deuts 


*)  Furrer  i,  296  schreibt:  Ihre,  der  Walliser  Häuser  sind  von  Thälenhol: 


I 

■  ri.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  280 

Teil,  bei  Taufers  im  tiroler  Pusterthale.  Steub,  ibid.  S.  209. 
Eine  Bergbreite  auf  der  Höhe  des  oberen  Pilatusberges,  zwischen 
den  Felshörnern  des  Steigle  und  des  Rossberges  hinabliegend 
gegen  den  Bowald,  heisst  Teilenpfad,  und  eine  der  vielen  Fels- 
spitzen Teilenpfadlucken  (Businger,  Beschreib,  von  Luzern) ;  allein 
in  Capeller's  1767  zu  Luzern  gedruckter  Historia  montis  Pilati 
lautet  jener  Name  Tale  fad  und  scheint  sich  auf  die  Dähle  zu 
beziehen. 

Betrachtet    man    nun    denselben    Baumnamen    nach    seinen 
ältesten  Namensformen,   so  darf  man  sich  nicht  daran   stossen, 
dass   er  da   gewöhnlich  nicht  die  bestimmte  Gattung  der  Kiefer, 
sondern  nur  die  allgemeine  bezeichnet  und  also  Fichte  heisst,  wie 
alles  Nadelgehölze  vom  Ununterrichteten   auch  heute  so  benannt 
\  wird.     Der  Name  ist  isländisch  thöll ,  heisst  in  der  Skaldenpoesie 
;  Dallr,    ist   da  männlichen  Geschlechtes,    als   ein  Bild   des  dem 
Winter  trotzenden,   ihn   frisch  überdauernden  Lebens  des  Nadel- 
holzbaumes,   uhd  dient  darum   zur  gleichnissweisen  Bezeichnung 
des  an  Frische  und  Kraft  ausdauernden  Mannes.    Nach  einer  von 
Grimm    (Myth.    213)    und    von    Uhland    (Sagenforsch,    i,    224) 
gegebenen    Andeutung    lässt    sich    der   Name    des    Asengottes 
Heimdallr,  gleich  Himinndallr,  hieher  stellen  und  als  Himmelsbaum 
und  Weltstamm  erklären.      Tall  ist  schwedisch  die  Fichte;   die 
Klinta-Tall    bei.  Badelund   in   schwedisch  Westmanland   war  ein 
örtlich  geheiligter  Fichtenbaum,  dessen  Aeste  Niemand  anzurühren 
wagte,    weil    er   dem   im   nahen  Mälarsee   hausenden   Meerweibe 
jangehörte.     Afzelius,   Volkssag.,    übers,    v.    Ungewitter    2,    368. 
Derselbe  Fichtenname  Tall  hatte  in  schwedisch  Pommern  noch  zu 
lEnde   des  vorigen  Jahrhunderts  allgemein  gegolten;    s.   Schlözer, 
I  Briefwechsel   2,   38.     Scherz  schreibt  in  seinem  Glossar  Taell, 
paart    dies   Wort   aber  irrig   mit  Taedel,   Kienbaum,   einer  aus 
lateinisch  taeda  entspringenden  Form. 

\  Der  ahd.  uiid  mhd.  Name  ist  mantala  (Graff  2,  817),  mantel 
jund  mantlachy  Föhrenwald,  (Ziemann  Wörtb.);  Mändelbaum 
pimis  silvestr.,  Schmid  Wörtb.  Baierische  Ortsnamen  sind  im 
Jahre  1004  eine  villa  Mantalahi,  und  1031  ad  Mantalaha; 
Schmeller,  Wb.  Heutige  baierische  Ortsnamen  sind  Mantel, 
Marktflecken  bei  Weiden,  Mänteln  bei  Neunburg,  Mantel  au 
bei  Bodenstein,  Mantelkam  bei  Landshut,  M an t lach,  eines 
im  Landgericht  Parsberg,  ein  zweites  im  Landgericht  Greding. 
Verzeichniss  der   Gemeinden   des  Königreichs  Bayern   1863.     In 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  I9 


L 


1 


2go  !•    I^cr  Sagenkreis  von  Teil. 

diesen  Namen  erblickt  man  ein  Compositum  man-tal,  die  männ- 
liche  Föhre.      t> Abtes   mas  vocatur  picea   (Föhre),    abies 
femina  vocatur  weisstanneribaum,    weiblein.«      Georg 
Frank,  Flora  franc.     Schmeller-Frommann,  Wörtb.  2,  1631. 


4.    Teil,  der  Theil. 

Wird  in  den  oberalemannischen  Mundarten  das  Wort  Theil 
in  collectivem  Sinne  angewendet,  so  lautet  dasselbe  tel,  so  z.  B. 
aargauisch  tel,  portio;  tels,  tels,  partim  partimque;  also 
ähnlich  den  neuhochdeutschen  Compositis  mit  tonlos  gewordner 
Endsylbe:  Urtel,  Vortel,  Mittel  etc.  Spricht  man  neudeutsch 
vom  Theilstock,  als  von  jener  Säule  des  Gemeindebrunnens, 
von  welcher  die  Theilungsröhren  ausgehen  für  die  übrigen  Haus- 
brunnen, so  heisst  dieselbe  in  der  schweizer  Mundart  Teilstock. 
Nähert  sich  diese  Mundart  im  Schaff  hauserlande  der  schwäbischen, 
und  im  Appenzellerlande  der  altbairischen  Sprachgrenze,  so  wird 
hier  Theil  lautlich  zu  tal,  Plural  tael,  und  der  daraus  ableitende 
Personenname  ist  Thäler;  vrgl.  Zellweger,  Appenzell.-Gesch.  i, 
231.  Zu  Ulm  urkundet  1293  Ritter  Gerwig  Güss  von  Güssenberg 
und  übergiebt  dem  Kloster  Söflingen  diu  zwae  tael  (Theile) 
des  claenen  zehenden  da  ze  Sevelingen.  Pressel,  Ulmer  Ur- 
kundenbuch  I,  S.  207.  Dieme  von  Gomaringen  (Würtemberg) 
einigt  sich  im  Jahre  1 300  mit  seinem  Bruder  Friedrich  und  dessen 
Erben  über  die  Verleihung  der  Gomaringer  Kirchenpfründe:  vnd 
suln  sie  denne  der  genanten  kirchen  diu  drie  tael  lihen,  vndj 
ich  den  vierden  mit  in.  Möne,  Oberrhein.  Ztschr.  15,  105.  Einl 
unter  mehrere  Lehensleute  zu  gleicher  Zins-Entrichtung  abgegebenes] 
gleichvertheiltes  Lehensgut  ist  das  Theilland  [in  rure,  quod  diciiur\ 
Taillant^  *)  und  der  einzelne  Mitbeständer  trägt  davon  den  Namen 
Tailo  (bei  Neugart,  47).  Von  diesen  Theilgenossen  rühren  die 
verbreiteten  Geschlechtsnamen  her:  Teiler,  Teilung,  Teilig,  Teilung.] 
Frischhans  Teilung  von  Luzern,  namhaft  durch  seinen  Anth< 
am  Siege  bei  Giornico,  wird,  wegen  übler  Nachreden  gegen  di< 
Züricher  Waffenehre,  1487  auf  Befehl  des  Züricher  Bürgermeistei 


*)  Urk.   V.  J.    II33,      Meiller,    Babenberger    Regesten.     Wien   1850.     S.  IW 
No.  35  ;  S.  20,  No.  49  und  S.  131.  ^ 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname. 


291 


Waldmann  verhaftet,  gefoltert  und  enthauptet.  Jakob  Telhut, 
Burger  zu  Augsburg,  gewinnt  daselbst  1508  unter  916  Wett- 
schützen den  ersten  Preis.  Paul  von  Stetten,  Augsb.-Gesch.  266. 
Am  II.,  Juni  1872  veröffentlichte  die  Bemer  Ztg.  »Der  Bund« 
ein  Inserat,  womach  damals  ein  Teilkäs  von  bemisch  Köniz 
wegen  gemischter  Ehe  auf  Trauungshindemisse  gestossen  war; 
die  darauf  am  14.  Juni  ebenda  erfolgte  Berichtigung  besagte,  der 
Betreffende  heisse  nicht  Teil-,  sondern  Th  eil  käs. 


5.   Dali  und  Teil,  Thal  und  Bucht. 

Dali,  Tall,  Teil  bezeichnet  eine  furchenartige  oder  wannen 
förmige  Vertiefung  des  Erdbodens,  eine  kleine  Fläche  und  Ein- 
buchtung, im  Gegensatze  zum  umliegenden  höckerichten  oder 
steilen  Gelände,  und  geht  durch  die  deutschen  und  slavischen 
Idiome:  goth.  adj.  dal,  niedrig;  althd.  tal,  tuola;  ags.  dell;  altfries. 
del;  dänisch  däl;  altnord.  dalr,  dela,  dala;  wendisch  dele ;  poln. 
dol;  böhm.  dolina;  neuhochd.  die  Dälle  (Eindruck);  aargau. 
die  Talle;  luzern.  die  Dula.  Auch  mitteldeutsche  Ortsnamen 
wie  Tülen  oder  Dülen  fugen  sich  hier  ein  und  stammen  aus  ahd. 
tuola,  tuillili :  vallicula.  Aus  dem  Begriffe  des  Ebnen,  im  Gegen- 
satze des  rauhen  und  wilden  Bodens,  entwickelt  sich,  in  der 
Uebertragung  aufs  Handeln,  die  Bedeutung  von  angemessen  und 
geziemend:  goth.  gatils,  mhd.  getelle,  ags.  til  (gut),  altnord.  dcell, 
mild  und  gut ;  bairisch '  undell ,  undill :  ungeschickt,  täppisch. 
Dietrich  in  Haupt's  Ztschr.  13,  207. 

Das  hier  folgende  Namensverzeichniss  bietet  durchschnittlich 
schweizer  Orts-  und  Personennamen  dar  und  geht  auf  ausser- 
schweizerische  dann  ein,  wenn  solche  zum  Zwecke  der  Namens- 
vergleichung dienen  und  urkundlich  vorliegen.  Die  Dala  ent- 
springt auf  der  Gemmi  und  mündet  aus  dem  walliser  Leukerthale 
in  die  Rhone.  Dali,  Dörflein  der  Bündtner  Pfarrei  Obervatz. 
Leu,  Lexik.  VI,  9.  Thall,  Menigo,  1759  Landammann  des 
Gerichtes  Val  Tasna  in  Unter-Engadin.  Leu,  Lexik.  18,  71. 
Dallau,  Bez.-A.  Moosbach  in  der  bair.  Rheinpfalz,  urkundl.  1371, 
heisst   in  der   Zeitfolge  Dali-   und  Talheim,  jetzt  Dalla.     Mone, 

;   Oberrhein.  Ztschr.  24,  296.   Kirchdorf  Thalau,  baier.  LG.  Weihers, 
liegt  am  DöUbach,  der  urk.  852  Delbach,  und  im  12.  Jahrhundert 

I  Telbach  heisst.  Karl  Roth,  Tauschverträge  der  Abtei  S.  Emmeram. 

i9» 


^ 


2Q2  !•     ^^^  Sagenkreis  von  Teil. 


München  1865,  15.  Thale  heisst  jene  Bodensenkung  zu  Halle 
a.  d.  S.,  worin  die  dortige  Saline  liegt.  Unam  paratam  (eine 
Gebraite)  ad  Tallun  jacentem,  Urk.  von  830  bei  Neugart,  Cod. 
Alem.  I,  203.  Dali,  zwei  Siebenbürger  Dörfer,  das  eine  in  der 
Hiermannstadter-,  das  andere  in  der  Solnoker-Gespannschaft,  jenes 
mit  walachischer ,  dieses  mit  magyarischer  Bevölkerung.  Der 
Ortsname  lautet  walachisch  Dalia,  Daja,  deutsch  Dallen.  Windisch, 
Geographie  von  Siebenbürgen  3.  Theil,  1790.  Dallacher,  pluraliter, 
um  einen  Hügel  liegende  Ackerbreiten  in  der  aargau.  Gemeinde 
Safenwil.  Hans  Dalcher  hat  i$53  am  Schweiz.  Bauernkriege  sich 
mit  betheiligt  und  muss  darum  zu  Basel  Henkersdienste  thun. 
iPet.  Ochs,  Gesch.  Basels  VII,  S.  35  und  37.  Talchen,  aargau. 
Gem.  Brittnau,  ein  Thälchen  mit  Fischweiher,  in  der  Nähe  der 
Parzelle  Steinrain.  Die  Dallis-acher  der  luzem.  Gem.  Sulz  sind 
Lehensäcker  vom  Schlosse  Heidegg  am  Baldegger-See.  Boden- 
zins-Bereinigung der  Herrschaft  Heidegg  vom  Jahre  1771;  Hds. 
im  Kanzleiarchiv  des  ehemal.  Klosters  Muri,  pag.  14,  34  und  70. 
Tallisbrunnen  wird  1115,  10.  Febr.,  in  der  Einweihungs-Urk. 
der  Pfarrkirche  von  Weikendorf  im  Marchfelde  als  Grenzpunkt 
des  Kirchengutes  bezeichnet.  Meiller,  Babenberger-Regest.  (Wien, 
1850)  S.  204.  Der  Ort  heisst  nun  Thaiesbrunn  und  macht  urk. 
folgende  Namenswandlungep  durch.  1246:  Hainricus  tniles  de 
Thelesprunn  et  Femoldus,  f rater  Hainrici^  de  Teleins- 
prunne.  Fräst,  Stiftungsb.  des  Klosters  Zwetl  (Wien,  1851) 
S.  391.  Hainricus  de  Taulinsprun\  no.  445  in  Fischers  Codex 
ClaustO'Neoburgensis,  Wien,  1851.  In  gleicher  Weise,  wie  hier, 
wandelt  sich  der  Geschlechtsname  des  berühmten  Strassburger 
Kanzelredners  und  Vor -Reformators  Tau  1er.  Er  entstammte 
einem  städt.  Geschlechte  daselbst,  aus  welchem  urk.  1336  Taler,, 
sartor  Argentinens.,  verzeichnet  ist.  Mone,  Ztschr.  6,  487.  Hier 
ist  also  der  Stammvokal  ebenso  diphthongirt  worden,  wie  in 
jenem  Namensgeschlechte,  welchem  der  Konstanzer  Reformator 
Blarer  angehörte:  »1425,  her  Aulbrecht  Blaurer,  thuomherr 
zuo  Costentz.«  Mone,  Ztschr.  7,  323.  Dallenwil,  Filialdorf  von 
Stans  in  Nidwaiden,  liegt  am  rechten  Ufer  des  Flüsschens  Aa 
und  hat  den  cyklopenäugigen  Steinibachhund  zum  Ortsgespenste. 
Lütolf,  Fünfortische  Sagen,  343.  Der  Ort  heisst  1150:  Teile- 
wilare;  1262  Tellewile.  Buesinger-Zelger,  Gesch.  v.  Unterwaiden  | 
I,  79.  Ein  Heini  von  Tellenwile  erscheint  in  einer  Klost. -Engel- 
berger-Urk.    1327;    Kopp,   Eidg.  Bünde  V,  381.     Tschudi  will  i, 


(         _ 


II.  Teil  als  Personen»  und  Ortsname.  293 

236  vorgeben,  ein  unterwaldn.  Adeliger  von  Tallenwil  sei  mit 
dem  dortigen  Landvolke  gegen  die  Vögte  Gessler  und  Landen- 
berg verbündet  gewesen.  Zu  Reinheim  im  Dorfe  (gegenüber  dem 
aargau.  Flecken  Zurzach)  sitzt  1439,  ^9-  Octbr.  zu  Grerichte 
Hans  Gutjar,  geschwomer  Weibel  in  dem  Daelle  zu  Küssenberg; 
J.  Huber,  Die  Urkk.  des  Stift.  Zurzach,  S.  38.  »Drei  Juchart 
Däliken-,  jetzt  aber  Mörder- Acher  genannt,«  gehen  in  der  luzern. 
Gem.  Hemikon  zu  Lehen  von  der  Schlossherrsch.  Heidegg; 
Bodenzins-Berein,  dieses  Schlosses  v.  1771,  Hds.  im  Kanzleiarchiv 
des  ehemal.  Klost.  Muri,  S.  14.  Thällmoos,  Hof  in  der  Frei- 
burger  Pfarrei  Plaffeyen.  Leu,  Lexik.  18,  65.  Dällenmanns,  Hof 
zu  Escholzmatt  im  Entlebuch.  ibid.  6,  4.  Der  Tälliboden.  mit 
den  Tällibördern  (strichweise  begrasten  Felskanten)  liegt  in  der 
zur  walliser  Gem.  Saas  gehörenden  Distelalpe,  unterhalb  der 
Passhöhe  des  Monte  Moro.  Ruppen-Tscheinen ,  Wallis.  Sag. 
(1872)  S.  III.  »Die  Dällimatt  (zu  aargau.  Gauenstein),  darin  ein 
abgegangener  Weiher  liegt,  wird  1690  an  die  Schlossherrschaft 
von  Kastelen  um  400  Gl.  verkauft,  und  heisst  gleichzeitig  auch 
In  der  Telli.  Documentenb.  von  Schloss  und  Dorf  Kastelen  I, 
104 1  und  1045 ;  aargau.  Staatsarchiv. 

Die  hier  zunächst  folgenden  Localnamen  gehören  sämmtlich 
in  den  Aargau. 

Dell,  i)  Ackerfeld  in  der  Zeige  Oberfeld  zu  Ober-Frick; 
2)  Vereinigungspunkt  der  Landstrasse  und  der  Dorfgasse  in 
Münchwiler,  hier  ist  der  Ueberrest  einer  wahrscheinlich  römischen 
Wasserleitung.  —  Von  einem  »bongarten  Im  teil  zinset  Ruotsch- 
man  vörster  zu  Windisch  i  mütt  roggen  an  das  Kloster  Königs- 
felden.«  Zinsbuch  des  Kl.  Königsf.  vom  Jahre  1432,  Blatt  i  b, 
Hds.  der  aargau.  Kant.  -  Biblth.  —  Christen  Hitz  in  der  Telia, 
Zinsbauer  zu  Trummensberg  (letzteres  liegt  ob  Kirchdorf  im  aar- 
gauer  Bez.  Baden).  Hds.  Zinsrodel  der  Klingnauer-Probstei  Sion 
von  1663;  aargau.  Kt.-Bblth.  —  Die  Matten  in  Telli,  gelegen 
beim  Gelände  In  der  Stapfen  zu  Windisch.  Kaufbrief  von  1468 
in  des  Kloster  Königsfeldens  Gewahrsame  i,  S.  144;  aargauer 
Staatsarchiv.  —  »Ein  akker  in  Teilen,  oder  auch  In  der  Telli,« 
gelegen  in  der  Zeige  Im  Bol,  Gem.  Wohlen,  zinset  dem  Kloster 
Muri.  Muri^s  ältestes  Urbarbuch,  Blatt  67  b,  Hds.  Gross -4°,  B.  i 
im  aargau.  Staatsarchiv.  Dies  Landstück  ist  noch  1555  zehent- 
pflichtig  an  das  Stift  Muri  und  heisst  1733  der  Telliacher. 
Archiv   Muri,   Dokumentenbuch  L,    pag.    198.   203.    303,  aargau. 


2Q4  !•     I^er  Sagenkreis  von  TelL 

Staatsarchiv,  —  Die  Telli,  der  Schul-Tumplatz  im  Ausgelände 
von  Aarau,  war  im  Mittelalter  Rebland  und  steht  als  solches 
im  ältesten  Leutkirchenbuche  dieser  Stadt  oft  genannt:  de 
torculari,  sito  uff  der  Telchi,  werden  im  Jahre  1378  Zinse 
vergabt  (fol.  12b);  Dm.  RudolfuSy  decanus,  dedit  7  soL  de  prato 
suo,  dicto  Telhmatta  (fol.  49).  Die  hier  aspirirt  erscheinende 
Namensform  entspricht  nachfolgenden  Ortsnamen:  Deichana  ist 
im  II.  Jahrh.  der  Name  der  bei  Paderborn  fliessenden  Dalcke. 
Förstemann  Ortsnamensb.  Dolche,  Flurname  der  schaff  hauser 
Gem.  Bibern.  Ztschr.  Unoth  i,  197.  Bertold  von  Hirsingen, 
Kirchherr  zu  Mülberg  im  badischen  Wiesenthal,  bezeugt  1342 
Güterauflassungen  an  die  dortige  Kirche,  worunter:  difnidium 
juger.  in  teilen^  Klost.- Wettingen  Documentenb.  A,  no.  6,  fol. 
.233,  aargau.  Staatsarchiv.  Der  Telligraben  in  der  Käppeli-Zelge 
der  Gem.  Möhlin  wird  bei  Regenwetter  von  einem  Wildbache 
angefüllt,  welcher  der  Böse  Telli  heisst.  Dellreben  heissen  Güter- 
parzellen im  Gemeindebann  von  frickthalisch  Mägden. 

Ausseraargauische  Flur-  und  Personennamen  gleicher  Art. 

Das  Anniversarienbuch  der  Pfarrkirche  Sarnen  in  Unterwaiden 
gehört  dem  Ende  des  13.  Jahrh.  an;  unter  dem  28.  Wintermonats 
enthält  es  die  Einzeichnung:  »H.  de  T.«,  und  von  einer  späteren 
Hand  steht  hier  beigeschrieben:  H.  von  tellun.  Geschichts-Fr.  21, 
190.  Das  Jahrzeitbuch  der  Kirche  von  Tuggen,  Kanton  Schwyz, 
aus  dem  Ende  des  15.  Jahrh.,  abgedruckt  in  Bd.  25  des  Geschichts- 
freundes, schreibt:  Des  Trachlers  Rüti  in  der  Teilen  (S.  132); 
ein  Gut  stosst  an  Heini  Faders  Tell-Egerten  (S.  140.  157.  158. 
169);  auf  den  Gütern  der  Ratlinen  auf  Bach-Teilen  (S.  181). 
Der  Zinsrodel  der  Michaelskirche  in  Zug  vom  Jahre  1527  ver- 
zeichnet fol.  13  und  14  unter  steuerpflichtigen  Gütern  zu  Ober- 
wil  diejenigen  an  der  Teilen.  Zurlauben,  Monum.  Tugiensia  11, 
298b,  Hds.  der  aargau.  Kant.-Bblth.  —  Delle,  ein  Flurname  der 
schaff  haus.  Gem.  Wilchingen;  Dellgraben,  ein  solcher  der  Gem. 
Bibern;  Ztschr.  Unoth  1868.  i,  S.  63  und  197.  Ein  Tellengraben 
bei  Kloster  Rheinau.  Meyer,  Zürich.  -  Ortsnamen  no.  132.  Teilen 
sind  Flurnamen  in  den  Luzerner  Gemeinden  Rain,  Geuensee  und 
Schupf  heim;  die  Telli  liegt  in.  der  Gem.  Weggis.  Brandstädter 
im  Gesch.-Freund  und  in  den  Beilagen  zum  Luzem.  Tageblatt.*) 


•)  Aus  diesen   luzerner   Orts-  und  Gutsnamen   erledigt   sich  die  vermeintliche 
Wichtigkeit,   welche  man   nachfolgender  Urkunde  hat  beischreiben  wollen.     154^1 


r 


II.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  295 

Die  Dell  lag  zu  Würzburg  auf  dem  äusseren  Thore  und  hier 
war  beim  Bauernkriege  J525  das  Geschütz  der  belagerten  Stadt 
aufgepflanzt.  Hievon  heisst  es  in  Liliencrons  Histor.  Volksll.  Bd.  3^ 
S.  478: 

Sie  fiengen  an  mit  ganzem 
Gemüt  und  unverzagt 
Die  Teil  auf  her  zu  schanzen; 
Wer  plündert'  auch  zu  Zelle, 
Wer  schoss  dann  auf  der  Teile? 

Die  Teile,  Bodensenkung  am  Hainfeldsberg  bei  Stolberg. 
Pröhle,  Harzsagen  2,  196.  Im  Teil,  Flur  zu  baier.  Enzendorf, 
mittelfränk.  Bez.  Hersbruck.  Anzeiger  des  Germ.  Mus.  1874, 
S.  ^6,  Heinricus  am  Telacher  ist  1283  sesshaft  im  Unterwaldner 
Kirchspiel  Stans  und  ein  Theil  seiner  Güter  wird  durch  die  Ge- 
brüder Philipp  und  Jakob  von  Ringgenberg  an  das  Stift  Engel- 
berg verkauft.  Zurlaubens  Stemmatogr.,  Bd.  ^^,  pag.  146.  Jenni 
Tellacher  von  Unterwaiden  und  Hans  von  Talächern  aus  Uri 
sind  unter  den  Gefallenen  in  der  1422  bei  Arbedo  erfolgten  Nieder- 
lage der  Waldstätte  gegen  Herzog  Philipp  von  Mailand.  Tschudi 
2,  149.  Tellacher,  Flur  in  der  luzern.  Gem.  Schupf  heim; 
Brandstätter,  im  luzern.  Tageblatte. — Teile  als  Flussname. 
Die  Weiss-Emme  ent3teht  aus  den  zwei  Gewässern  der  Ha§len 
Und  der  aus  dem  Enzenberge  entspringenden  Teilen,  woran  daä 
in  die  Pfarre  Escholzmatt  gehörende  Dorf  Teilen  liegt.  Scheuchzer 
Schweizerlandes  Naturgesch.  2,  34.  Tellenbach  und  Tellenmoos 
sind  zerstreute  Hofgüter  in  der  Entlebucher  Pfarre  Escholzmatt, 
deren  einige  in  einem  moosigen  Thalgrunde  liegen.  Pfyffer,  Der 
Kanton  Luzern  2,  357.  Der  Dällenbach,  bei  Willisau  fliessend, 
woselbst  die  Tellenbach-Mühle,  wird  im  Tellenbach-Graben  durch 
das  Willisauer  Stadtthier,  den  sog.  Strassenhund,  unsicher  gemacht. 
Lütolf,  Fünfort.  Sag.  S.  5  und  519.  Zurlaubens  Helvet.  Stemmato- 
graphie,  Bd.  4,  pag.  304  führt  sogar  ein  ritterbürtiges  Geschlecht 
dieses  Namens  aus  dem  Entlebucher  Adel  an  und  verzeichnet 
dessen  Adelswappen,  beides  selbstverständlich  nur  imaginär. 
Dasselbe  Namensgeschlecht  ist  im   Bemerlande  verbreitet:    1465, 


Dienstag  vor  Katharina,   urtheilen  die  Räthe   der  Stadt  Luzern   über  einen  In- 

jurienhandel   *zwüschen  Jak.  Dell  und  Fridly  Lüttisshofer ,   beide   von  luzernisch 

Sempach.«    Hidber,  Forsch,  über  W.  Teil,   Separatabdruck  o.  O.  u.  J.  Derselbe 
I    in  der  Augsb.  AUg.  Ztg.  1860,  Beilage  Juli,  S.  3352. 


L 


2q6  !•    I^c'f  Sagenkreis  von  Teil. 

28.  Aug.  erkennen  Schulth.  und  Rath  zu  Bern,  Heini  Teilenbach 
habe  zu  den  Gütern  und  Zinsen  der  Herrschaft  Wile  in  vor- 
bestimmtem Masse  an  Korn,  Hühnern  und  Eiern  zu  steuern. 
Amiet,  Regest,  des  Kl.  Fraubrunnen  (185 1),  S.  104.  Das  »Kriegs- 
Hed  für  die  zum  heiligen  Kriege  verbündeten  deutschen  Heere, 
von  Zacharias  Werner,«  erschien  gedruckt  zu  Bern  beim  Buch- 
drucker Dellenbach,  /813.  Dällenbach,  ein  Bauerngeschlecht  zu 
Äschlen,  Pfr.  Diessbach  im  bem.  Amt  Konolfingen.  Alpenpost, 
Ztschr.  von  1872  (III.  Bd^)  pag.  308.  Thälmbach,  Gewässer  in 
der  Pfr.  Mülenberg,  bern.  A.  Laupen.  Leu  18,  65.  Dällibach, 
ein  am  Lägernberge  ob  Zürich.  Sünnikon  entspringendes  Bächlein, 
in  die  Glatt  mündend.  Leu  14,  516.  Telli  und  Tellibach  ent- 
springt in  der  Gem.  Nuffenen  im  Graubündner  Rheinwald  und 
geht  bei  Planura  in  den  Hinterrhein.  Leu,  18,  48.  Tellistock, 
Tellihorn  sammt "  Telligletscher  finden  sich  beiderseits  im  Ober- 
wallis hinter  dem  obern  Gemmi-Passe,  und  im  Bündner  Davos, 
in  diesem  letztern  bezeichnet  die  Kehrentelli  einen  die  Wegscheide 
bildenden  Berghang.  Sogar  in  der  Lebensbeschreibung  des  heiL 
Audomar,  der  im  7.  Jahrh.  im  südwestl.  Frankreich  beim  Volks- 
stamme der  Moriner  den  Glauben  verkündete,  ist  ein  Gewässer 
jener  Landschaft  Tellbach  genannt.  Vita  S,  Audomari,  BoUandisten 
tom.  VII,  Oct.,  981  seq.  Zum  Jahre  1188  schreibt  der  von 
R.  Kink  (Wien  1852)  herausgegebene  Codex  Wangianm,  pag.  J^'. 
Telli,  flumen  in  volle  Venusta,  d.  i.  im  Vinsgau.  Diese  rhätische  Telli 
ist  dort  deutsch  der  Zielbach,  der  vom  Zielferner  herabkommend, 
bei  der  Thöll  in  die  Etsch  mündet.  Vier  Juchart  Weide,  genannt 
Tellenberg,  liegen  zu  Wallenschwil ,  aargau.  Bez.  Meienberg. 
Freiämter  Urbar  v.  1574;  Hds.  im  aargau.  Staatsarchiv,  Abthl. 
Muri,  no.  30,  S.  207  bis  217.  Ein  Telliberg,  ob  Amsteg  in  Uri, 
steht  verzeichnet  in  Dufours  Karte;  ein  gleicher  liegt  in  der 
Luzem.  Gem.  Uffikon.  Bairisch  Dellenhausen  ist  urk.  827:  i» 
loco  Tellinhusir,  woselbst  ein  Cundpald  ad  Tellinhusun  mit  genannt 
ist.  K.  Roth,  Kl.  Beitr.,  München  1853,  pag.  38;  1857,  V^-  ^^* 
Die  M(m.  Boica  verzeichnen  1095 :  Eberhart  de  Tellenshmen,  nobiUs 
(IX,  375).  II40:  Tegenhart  de  Tellenshusen,  I165:  Conrad^  nobilis  M^ 
Tellensh,  ibid.  400.  440.  Die  Tellenmatte,  gelegen  bei  Seedorf  in 
Uri,  steht  genannt  in  einem  Urner  Meieramts-Rodel  vom  Anfang 
des  14.  Jahrh.;  Gesch.-Freund,  Bd.  22,  464.  Ein  Schiedsgericht 
von  Bürgern  zu  Brugg  im  Aargau  spricht  1420  dem  Barfusser« 
kloster  Königsfelden   ajs  Eigenthum  zu:  Die  am  Hofe  Iberg  a 


II.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  207 

dem  Bözberge  gelegene  Teile nmatt,  Königsfeldner  Document.- 
Register,  Bl.  173.  Dieses  eben  genannte  Gut  wird  1568  von  der 
Bözberger  Gem.  Linn  als  die  Toll enmatt  versteuert.  Schenken- 
berger  Documentenb.  Y,  pag.  316,  aargau.  Staatsarchiv.  Die 
aargau.  Gem.  Oberflachs  verkauft  1688  von  der  Schlossherrschaft 
Kastelen  ein  Mattland  im  Mötschenholz,  das  an  Tellmattboden 
stösst.  Kasteler-Docum.-Buch  I,  763  im  aargau.  Staatsarchiv. 
Auf  Dellenmatt,   ein  Bauernhof  der  aargau.   Gem.   Ober-Zeihen, 

,  Bez.  Laufenburg.  Dorf  Dellfeld,  an  der  Erbach  in  der  bair.  Pfalz, 
heisst  urk.  1295  Dellenvelt.  Mone,  Ztschr.  14,  61 ;  19,  193. 
Tellheim  bei  Würzburg  heisst  urk.  1210  Teleheim;  Mone,  Ztschr. 
II,  299.  303.  »Man  sollte  es  Dälheim  schreiben,  denn  es  liegt 
auch  in  einer  Vertiefung,  nach  einer  fränkischen  Spracheigenheit 
Dälle  genannt.«  Schmeller-Frommann  Wörtb.  i,  498.  Albertus 
de  Talheim  urkundet  1277  als  Propst  zu  Würzburg,  sein  Guts- 
besitz ist  das  jetzige  Dorf  Dallau  bei  Moosbach  im  Odenwalde. 
Mone  Ztschr.  9,  52.  Dieter  von  Dalheim,  Zeuge  1323,  stammt 
aus  demselben  Dallau.  Mone  13,  428.  Ein  Kemptner  Bürger 
Teil  ho  SS  leitet  1405  die  Rüstungen  und  Befestigungen  dieser 
Stadt  gegen  die  Kriegslust  des  dortigen  Stiftsabtes,  aber  sein 
Geschlecht  nennt  sich  im  16.  Jahrh.  Dälhos;  es  ist  also  nach 
der  niedem  oder  Dalhasel  zubenannt.  Haggenmüller,  Gesch. 
Kemptens  i,  225.  572.  Dass  die  Formen  Tal  und  Teil  in  einem 
und  demselben  Namen  gleichzeitig  bestehen,  zeigt  sich  am  Prä- 
monstratenser  Stifte  Marchthal  in  der  Diöcese  Konstanz,  das 
schon    1185    seine  FröpstQ  praepostH  de  Martello  zu  betiteln  pflegt. 

i  Mone,    Ztschr.   9,   (36   ff".     Würtembergisch   Dellmensingen ,    O A. 

[  Laupheim,    ist    1092    vüla   Dalmaszingen.     Mone    Ztschr.    9,    212; 

I  ebenso   ist  bairisch  Thalmessing,   Pfrd.  im  LG.  Stadtamhof,   1184 

[  Tallmazzingen.     Freyberg,  Samml.  II,    324.     Ein  Tellenmoos  liegt 
in  der  luzem.  Gem.  Escholzmatt;  ein  Burkart  von  Telenmos  ist 

i  1386  Burger  zu  Burgdorf.    Archiv  f.  Schwz.-Gesch.,  Bd.   17,   132. 

I  Eine  Tällrüti  liegt  am  Emmenthaler  Brunsberg ;  A.  Jahn,  Emmenth. 

i  Alterthümer  1865,  42.    Eine  Tellenrüti  liegt  ob  der  Tellenkapelle 

r  bei  Sisikon ,    und   dies  führt  auf  die    Benennung  der  bekannten 

•  Tellenplatte. 

Die  Sarnerchronik  des  Weissen  Buches  schreibt  vom  Sprunge 

•  Teils  aus  dem  Schiffe  auf  die  Platte  also:  vnd  du  der  Tal  1  kam 
'r.  vntz  an  die  ze  Teilen  blatten  ...  du  swang  er  den  Nawen  zü- 
,^  hinn   vnd   namm  sin  schieszüg  vnd  sprang  vs  dem  Nawen  vf  die 


2o8  !•  ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

blatten.  Gresch.-Freund,  Bd.  13,  S.  73.  Der  Qironist  macht  hier 
den  sichtbaren  Namensunterschied  zwischen  dem  Namen  des  ent- 
springenden Tall  und  demjenigen  der  Platte,  auf  die  er  entspringt^ 
welche  die  Platte  ze  Teilen  ist.  Diese  jetzt  noch  ebenso  geheissene 
Teilen  in  der  Umer  Gemeinde  Sisikon  bezeichnet  daselbst  zweier- 
lei zusammen  gehörende  Oertlichkeiten,  den  Berg  Teilen  und  die 
an  dessen  Fusse  liegende  Seebucht.  Der  sogenannte  Tellen(-berg) 
ist  ein  steiler  Felsberg  der  Buggiwald-Egg  am  Axenberge. 
Alte  Felsstürze  haben  hier  stattgehabt,  der  letzte,  der  im  Mai 
1801  niedergieng,  riss  Wohnungen,  Mühlen,  Schiffwehren,  Menschen 
und  Thiere  in  den  aufgewühlten  See  hinaus.  Die  Tellenrüti,  ober- 
halb der  dortigen  Tellenkapelle,  ist  mit  erratischen  Granitblöcken 
bedeckt,  und  ihrer  einer  wird  die  Tellenplatte  selbst  sein.  Dass 
diese  letztere  erst  der  Anlass  war,  Teils  Sprung  bei  ihr  zu  locali- 
sieren,  sagen  uns  die  Leute  in  Sisikon  unfreiwillig,  indem  sie  die 
Teilenplatte  An  der  Teilen  benennen,  mithin  den  Ort  auch 
heute  noch  nicht  als  eine  Platte  des  Wilhelm  Teil,  sondern  als 
eine  solche  an  der  See-Einbuchtung  bezeichnen,  welche  die  Delle, 
Genitiv  der  Dellen,  heisst.  Diesen  Umstand  entnehmen  wir  dem 
handschriftlichen  Werke  von  A.  Buser,  Kaplan  in  Brunnen,  Kan-  / 
ton  Schwyz:  Etymologische  Nomenclatur  von  Schwyz,  Uri  und 
Unterwaiden,  Blatt  28.  Uebereinstimmend  mit  dieser  Sachlage 
schreibt  Goethe  auf  seiner  Schweizerreise  von  1797:  »Wir  kamen 
dem  Axenberg  näher ;  man  kommt  an  eine  Halbbucht,  dann  folgt 
eine  zweite,  etwas  tiefere,  dann  die  Teilen-Platte«.     Bd.  43,  201.. 

Ein  Dellestein,  benachbart  beim  Unterwaldner  Kloster  Engel- 
berg   liegend,    mag    etwa    wegen    auffalliger   Vertiefungen    und ; 
Schrunden  seinen  Namen  tragen.     Businger,    Der  Kanton  Unter-  - 
walden  125. 

Dorf  Delling  im  bairischen  L.-G.  Stamberg  ist  1244  castrum' 
Telingen,  Quellen  und  Erörterungen  zur  bair.  u.  deutsch.  Gesch. 
I,  391.  —  II 39  und  1160:  Theling,  Bert,  et  Wilh.,  nobile s.  Man, 
Boica  V,  34.1.  3S4.  Henselinus  de  Telingen^  ein  elsässischer  Edel- 
knecht um  141 3.  Schöpflin,  Alsat.  lUustr.  11,672.  Rudi  Husheer, 
genannt  Tellinger  in  der  Stadt  Wyl,  Kanton  St.  Gallen,  wird 
1431  als  des  St.  Galler- Abtes  Leibeigner  gegen  einen  andern 
ausgetauscht.  Bd.  II.  der  Schweizer  Regesten,  no.  83.  Tellingen 
in  Uri,  ein  Flurname  in  Ribshausen,  zwischen  Attinghausen  und 
Erstfelden.  Hermann  Liebenau,  Ursachen  etc.  S.  24,  no.  2. 
Chuonradus   in  Teigingen   (Urner  Schächenthal)    urkundet    1294. 


r 


II.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  2QQ 


Gesch. -Fr.  3,  235.  Zu  Delligen  im  Obwaldner  Melchthal  soll 
Arnold  Melchthals  Haus  gestanden  haben.  Businger,  Der  Kanton 
Unterwaiden,  137.  JHeini  von  Telligon,  1387  Zeuge  in  Unterwai- 
den; Gesch.-Fr.  20,  231.  Zürcherisch  Dällikon,  Bez.  Regensberg, 
ist  urk.  870:  Tellinghovon,  11 30  Tellinchoven,  11 89  Tellinchon. 
Meyer,  Zürch.-Ortsn.  no.  1054.  Weitdelliken,  zwei  Höfe  in  der 
zürch.  Pfarrei  Zollikon,  Bez.  Küssnacht.  Leu,  Lexik.  19,  272. 
Johann  Telliker,  1380  Zunftmeister  in  Zürich;  Erh.  Dürsteier, 
Genealog.  Auszüge  in  Zurlauben's  Mon.  Tug.  IV,  302  b.  und 
V,  181. 

Tellingstedt,  Kirchspiel  im  Ditmarschenlande,  in  den  Fehden 
seit  1319  von  Seite  der  Holstengrafen  gewöhnlich  das  erste  Ziel 
des  feindlichen  Angriffes.  Thalwil,  am  linken  Ufer  des  Zürich- 
sees, heisst  1159  Tellewilare  (Schweizer  Urkk.  -  Register  II,  No. 
2069)  und  noch  1328  in  den  Steuerrodeln  gleichnamig  Tellewyl. 
Zürch.  Antiq.  Mittheill.  8,  377.  Das  unterwaldner  Dallenwil 
heisst  im  Engelberger  Urbar  von  1178  Telliwilare.  Gesch.-Fr. 
17,  250;  dazu  besteht  noch  ein  solothumer  Telwyl  vom  Jahre  1399 
(Urkk.  des  Soloth.  Wochenbl.  1825,  145),  und  ein  Bemer  Tellwil 
yon  1458;  Bd.  II  der  Schweiz.-Regesten,  no.  421. 

Die  allermeisten  der  bis  hieher  aufgezählten  Orts-  und  Per- 
sonennamen drücken  eine  und  dieselbe  Ableitung  vom  Stamm- 
worte Thal  aus,  oder  lassen  doch  eine  solche  Ableitung  unge- 
«wungen  zu.  Selbst  da,  wo  im  Stamm  bald  ein  E  und  O,  bald 
ie  Doppelconsonanz  LL  erscheint,  erklärt  sich  diese  Lautschwan- 
ng  aus  mundartlichen  Gründen.  Süddeutsche  Urkunden  schrei- 
n:  1490  der  Telerin  Lehen  zu  Heitersheim.  Mone,  Ztschr. 
5,  158.  In  Zeerleders  Bemer-Urkk.  no.  832:  »Personen  und  guter 
ent  und  usrent  den  Tellern;  dies  ist  beschlossen  und  bestärkt 
it  den  Insiegeln  der  eegenannten  drei  Gemeinden  und  Tellern.« 
jDrückt  Meissnisch  die  Dölle  eine  Niederung  im  Ackerlande  aus, 
mo  bei  nassen  Jahrgängen  Wasser  sich  sammelt;  so  ist  in  schwei- 
zer Berggegenden  das  Thälti  eine  gebräuchliche  Diminutivform 
fiir  Thäli,  Kleinthal,  und  die  weitere  örtliche  Mundart  bildet  dar- 
laus  Namen  wieDöltihorn,  eine  Bergspitze  am  Triftgletscher  zwi- 
^hen  dem  Umer-  und  Bemerlande.  Gatschet,  Ortsnamenforsch. 
Ö3.  Das  umlautende  A  des  Stammes  Thal  wird  von  oberdeut- 
ischen  Scribenten  in  ai  diphthongirt;  daher  schreibt  Kesslers  Sab- 
Ibata  (Ausg.  1866)  statt  lUerthal  Ilertail  (i,  327),  statt  Rhein- 
thal Rintail  (i,  102.  2,  278),   statt  Rheinegg  und  Thal   im  St. 


i 


^OO  ^'     ^^^  Sagenkreis  ron  Teil. 

Gallischen:  Rinegg  und  Tail  (2,  438).  Die  gleichen  Namens- 
formen und  Lautentstellungen  verzeichnet  das  Topogr.-statist.- 
Handbuch  des  Kg.-R.  Bayern,  Bd.  V  der  Bavaria  1868:  Dallen- 
auch  Thalendorf  (Bez.  Lindau) ;  Dalling,  auch  Thailing  (feez.  Ebers- 
berg); Thall  (3  Orte  in  den  Bez.-Aemtern:  Brück,  Erding  und 
Griesbach);  Thaller  und  Thallern:  vier  Orte  in  den  Bez.-Aemt: 
Müldorf,  Pfaffenhofen  und  Roding;  Dalking  (Cham);  Delkenmühle 
(Dillingen) ;  Dellel  (Wasserburg) ;  Dellendorf  (Eggenfelden) ;  Deller- 
hof  (Bamberg) ;  Dellern  (Bamberg  und  Pfarrkirchen) ;  Delling 
(München);  Döhlau  (Baireut);  Thölau  (Wunsiedel);  die  Döllau, 
auch  Thalau,  fliesst  in  die  Lutter  (Bez.  Weihers) ;  Dölwang  (Neu- 
markt); Töllern  (Weilheim).  Drei  kleine  Thalschaften  im  Blies- 
gau der  baierischen  Rheinpfalz  heissen  Drachendäll,  Teufelsdäll, 
Nebelkappendäll  (Panzer,  Baier.-Sag.  i,  S.  205);  ein  seit  1872 
genannter  Dramaturg  aus  preussisch  Kettwig  an  der  Ruhr  hei 
Herkendell;  während  an  unserm  luzern.  Baldegger  -  See  eine; 
drei  Juchart  haltende  Ackerbreite  Dampentäller  (Heidegger 
Schlossbereinigung  1664)  und  Dampendeller  (Heidegger-Bodenzi 
Berein,  von  1771)  heisst.  Hdsch.  im  Kanzleiarchiv  des  Kloste 
Muri.  Ebenso  heisst  1424  ein  Lehensträger  des  aargauer  Stift 
Königsfelden  »Cuoni  Zeissenthäll  (d.  i.  Zinsenthal),  genembi 
Haberthürr  von  Culm.«  Königsfelder-Documenten-Register,  pg 
131  b,  aargau.  Staatsarchiv. 

Wohl    alle   diese    eben    bezeichneten  Lautschwankungen 
sammen   wiederholen  sich  in   den   urkundlichen  Formen   des  Ni 
mens  Delsberg,  Stadt  im  berner  Jura.    Nach  französischer  Spra 
heisst    dasselbe:     728   Delemonte.     Trouillat,   i,    pag.  72. 
1,131  Telsperc.     Zeerleder,  Bem.-Urkk.  No.  32.  —  1161   Th 
lisperc.   Trouillat  i,  347.   —    1239  Tei Isper c.     Matile,  Mo 
No.  112. —  1247  Delinsberg.    Schöpflin,  Alsat.  Dipl.  i,  484. 
1257  Deleimont.    Trouillat  1,649.  —  ^4^^  Dalamonte.  ibi 
S>  735  u,  738.    Der  hier  zu  Telsperg  amtende  villicus  oder  h 
schaftliche  Meier   ist  1321    ein   Waltherus  dictus  Telscher  (d. 
Telsberger)  —  Trouillat  3,  707  u.  710  —  und  wird  in  der  deutsc 
Urkunde  von  1357,    ^9-  April  als  Bürgermeister  daselbst 
nannt.     ibid,  4,  668  und  726.     Ein  von  jenem  Meiergeschle 
abstammender  Hans  Delsperg  ist  15 19  zu  Lenzburg  Stadtschrei 
(Vorstell.  Hallwylischer  Stammsachen.    Bern,  1742,  25)  und  h 
1532  Hans  Tällsperger,  Schultheiss   zu  Lenzburg.     Kesslers 


II.   Teil  als  Personen*  und  Ortsname.  ßOI 

bata  (St.  Gallen  1866)  2,  351.    So  wird  also  aus  dem  Stadtnamen 
Delsberg  zuletzt  ein  Personenname  Telscher. 

Ist  Teile  der  zweite  Theil  zusammengesetzter  Namen,  so  ver- 
kürzt  dieser   sich   oft  bis  zur  Unkenntlichkeit    einer  scheinbaren 
Ableitungssylbe.    Aargauer  Flurnamen  dieser  Art  sind  die  mehr- 
fachen Rindelen,   das  ist  Rinnitellen.     Rindel   heisst    i)   ein 
tiefliegendes  Ackerland  bei  Muri-Egg,  im  Zusammenhange  stehend 
mit  dem  dortigen  Heiterech-See.     2)  eine  Bergwaldung  der  Stadt 
Arburg.     3)  eine  wasserdurchronnene  Kluft  des  Achenberges  bei 
Zurzach.    4)  Rindelen  ist  ein  Bergland  auf  der  Wasserscheide  des 
Staffelegg-Passes  ob  dem  Dorfe  Küttigen.     5)  eine  Wiesenstrecke 
bei  Schupfart  im  Frickthale,  ^  mit  dem  gespenstischen  Schweine  der 
Rindelen-Moore;   vgl.  Aargauer  Sagen  no.   234.     Aehnlich  gebil- 
dete Flurnamen  aus  dem  Schafifhauserlande  sind  aufgeführt  in  der 
Ztschr.  Unoth  i,  S.  194  bis  199  und  heissen:  Alistel  (des  Aloys 
Telli),    Chüetel,  Diezedel,   Grofedel,   Huotistel,   Rüdistel.    Hiebei 
werden    die   mit    dem    Genitiv -j  Auslautenden    mit    mundartlich 
gezischtem     seht    und    einem    stummen     Stamm --£  gesprochen, 
.also  z.  B.  Allischt'l.    Aus  dem  Zürcherlande  liegen  nachfolgende 
rBeispiele  vor :  Marthalen,  Bez.  Andelfingen,  ist  schon  in  der  Urk. 
von  858  gekürzt  in  Martelle.    Meyer,  Orfsnam.  no.  1551.    Unda- 
len  wird  jetzt  gesprochen  Undele   (Meyer,   Ortsnam.  no.  1 560) ; 
Zweinthalen  heisst  Zweidlä  (ibid.  no.  1565);  Reuenthal:  Reutel  und 
Rötel  (ibid.  no.  1554).    Ein  bernisches  Rudthalen  wird  schon  1257 
.zu  Ruethelen.  Zeerleder,  Bern.  Urkk.  no.  364 ;  Bachthalen,  die  Ar- 
••menanstalt  bei  Bern,  am  Rinnsale  eines  das  Thälchen  durchziehen- 
den Baches,  heisst  nun  amtlich  Die  Bächtelen.    Gleiche  Kürzung 
erlitten    auch   Geschlechtsnamen.    Ein  Chunrat  Finssdeller   ist 
,  1384    des  Rathes   zu  Zürich,  als  da  am  Mittwoch  vor  Palmtag 
Eberhart  Manesse  seine  Rebgüter  zu  Meilen  gegen  seiner  Ehefrau 
i  Heimsteuer  vor  Rath   fertigt.     (Archiv   Muri,  Documentenb.  P  I 
r  und  II,   pag.    768).     Aus   diesem  Namen   Finsthaler   scheint  sich 
}  letztlich  die  Verkürzung  F ins  1er,   Name  eines   jetzigen  Zürcher 
^  Stadtgeschlechtes,  ergeben  zu  haben.    Schliesslich  wird  der  zweite 
[  Theil  zusammengesetzter  Namen  ganz  abgeworfen.    Das  würtem- 
^  bergische  Kirchentellinsfurt,    OA.    Tübingen,    gelegen  am 
\  Einflüsse  der  Echaz  in  den  Neckar,  begegnet  unter  der  erwähnten 
t  Namensform   in  einer  Urkunde  vom  27.  Aug.   1473  (Lichnowsky 
^  Vn,  Urkk.  S.  425    römisch),  heisst  aber  heute  schlechtweg  auch 
Kirchen.     Mone,  Oberrhein.  Ztschr.  s.  h.  v. 


202  !•    ^^  Sagenkreis  von  Teil. 

6.  Teil  der  Dümmling, 

Die  obwaldner  Chronik  des  Weissen  Buches,  abgedruckt  im 
Geschichtsfreund,  Bd.  13,  lässt  S.  72  den  vom  Landvogte  Gessler 
inquirirten  Teil  zur  Entschuldigung  seiner  Unfolgsamkeit  sagen, 
wäre  ich  bei  Vernunft,  so  würde  man  mir  nicht  den  Namen  Teil 
geben:  denn  were  ich  witzig,  vnd  ich  hiessi  anders 
vnd  nit  der  Tal  1.  Die  auf  das  Weisse  Buch  nächstfolgenden 
Chronisten  Etterlin  und  Tschudi  schreiben  dieses  Wort  unverändert 
nach,  und  selbst  das  umer  Tellenspiel,  welches  zwischen  den 
Jahren  1511  und  1525  verfasst  und  vor  der  Bevölkerung  Uri's, 
also  vor  Teils  angeblichen  Mitlandsleuten,  und  unter  obrigkeit- 
licher Protection  zu  Altorf  auf  dem  Marktplatze  aufgeführt  worden 
ist,  drückt  denselben  einen  Greistesmangel ,  der  in  den  Namen 
Teil  verlegt  wird,  mit  verdreifachtem  Nachdrucke  aus: 

Wer'  ich  vernünftig,  witzig  und  schnell, 
so  wer'  ich  nit  genannt  der  Thell. 

Da  Friedrich  Schiller  an  dieser  angebomen  Albernheit  seines 
Bühnenhelden  künstlerischen  Anstoss  nehmen  musste,  so  deutete 
er  sie  in  die  Tollkühnheit  des  Heissspoms  um  und  lässt  den 
Befragten  antworten:  »War'  ich  besonnen,  hiess'  ich  nicht 
der  Teil.« 

Einen  ähnlichen  Ausweg  hatte  bereits  J.  J.  Spreng  versucht, 
indem  er  in  seiner  Ausgabe  von  Etterlins  Chronik  (Basel  1752) 
an  der  heikein  Stelle  beifügte :  Teil  habe,  auf  seinen  Narrennamen 
sich  stützend,  gegen  den  ihn  ausforschenden  Landvogt  Verrückt- 
heit vorgeschützt,  und  eben  wegen  dieser  frechen  Simulation  sei 
alsdann  der  falsche  Narr  zu  der  ungewöhnlich  scharfen  Strafe 
verurtheilt  worden,  auf  das  eigne  Kind  zu  schiessen.  Denn  Täll, 
fährt  Spreng  fort,  oder  wie  einige  noch  sagen,  Teile,  heisse 
buchstäblich  ein  Einfältiger  und  leite  ab  von  talen,  einfältig  oder 
kindisch  thun.  Habe  doch  auch  Odysseus,  um  sich  vom  Kjiegs- 
zuge  gegen  Troja  loszumachen,  Wahnsinn  vorgeschützt  und  unter 
dieser  Maske  Ross  und  Rind  zusammen  in  den  Pflug  gejocht; 
als  aber  dann  der  Abgesandte  Palamedes  ihm  das  Söhnlein 
Telemach  vor  den  Pflug  legen  lassen,  sei  der  Vater  gezwungen 
gewesen,  vorsichtig  neben  dem  Kinde  vorbei  zu  ackern  und  somit 
seine  Verstellung  selbst  zu  entdecken.  Solcherlei  Mythenzüge 
müsse   man  daher  denjenigen  in  Erinnerung  bringen,   welche  die 


1 


II.  Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  303 

Glaubwürdigkeit  der  Tellengeschichte  aus  dem  einen  Grunde 
bestreiten,  dass  der  Landvogt  unmöglich  habe  so  unvernünftig 
sein  und  dem  Blödsinnigen  einen  Kindesmord  gebieten  können. 
So  weit  Spreng.  Den  andern  und  gewichtigeren  Einwurf  übergeht 
er  hiebei,  nemlich  dass  Teil  in  seinem  bloss  vorgegebnen  Blöd- 
sinn alsdann  noch  weit  unvernünftiger  handelt  als  der  Landvogt 
und  den  anbefohlnen  Schuss  wirklich  thut;  indess  Spreng  ist  dort 
zunächst  nur  mit  der  Beweisführung  beschäftigt,  der  Name  Teil 
sei  kein  Geschlechts-,  sondern  ein  blosser  Beiname  gewesen. 
Gleicher  Meinung  war  Sprengs  jüngerer  und  gelehrterer  Zeit- 
genosse, der  General  F.  B.  Zurlauben  aus  Zug.  In  den  hinter- 
lassenen  Sammelpapieren  zu  seiner  nachmals  um  vieles  verkürzt 
erschienenen  Druckschrift:  Guillaume  TelL  Paris  lyöy ^  erklärt 
er:  Teil  etoit  originairement  un  sobriquet;  on  appel- 
loit  ainsi  en  Allemand  un  komme  balourd,  peu  sense, 
le  foly  rimprudent.  (Stemmatographia  Helvet.,  tarn,  21,  Ms. 
der  Aargauer  Kantons -Bibliothek.)  Mit  dieser  Behauptung  steht 
man  nun  bei  jenen  verspäteten  etymologisirenden  Namenssagen, 
die  überall  erst  dann  auftauchen,  wenn  der  ursprüngliche  Sinn 
eines  historischen  Namens  sprachlich  bereits  erloschen  ist.  So  Er- 
zählt Livius  I,  56  die  den  gleichzeitigen  Begebenheiten  wider- 
streitende Anekdote,  es  habe  Marc.  Jun.  Brutus  (brutum  i.  e. 
turpe  pecus)  sein  Leben  vor  dem  meuchlerischen  Könige  Tar- 
quinius  Superbus  nur  dadurch  gerettet,  dass  er  sich  närrisch 
stellte.  Und  wirklich  gieng  schon  der  Glarner  Loriti  in  seinem 
lateinischen  Panegyrikus  über  die  Schweiz  (1515)  auf  dieses  Gleich- 
niss  zwischen  Teil  und  Brutus  ein:  Brutus  erat  nobis  Ura 
Guilielmus  in  arvo,  Assertor patriae,  vindex  ultorque 
tyrannüm.  Da  aber  derselbe  Brutus  unter  eben  diesem  Tar- 
quinius  Superbus  bereits  tribunus  celerufn  gewesen  war  und 
dann  der  erste  Consul  der  neuen  Republik  wurde,  so  ist  seine 
fingirte  Albernheit  doch  auch  nur  ein  grammatikalisches  Histör- 
chen, das  zur  nachträglichen  Erklärung  des  Zunamens  Brutus^ 
der  Dümmling,  ausgesonnen  worden  war.  Sehen  wir  nun,  in  wie 
weit  dem  Namen  Teil  dasselbe  Prädicat  der  Albernheit  sprachlich 
zukommt. 

Talen  heisst  reden,  telligen  sich  streiten,  telling  der  Rechts- 
streit. Aber  mit  dem  Nebenbegriffe  der  albernen  und  lallenden 
Redeweise  entstehen  die  zahlreichen  Verbalformen :  dalen  unnützes 
Zeug  plaudern ,   tallen ,  talmen ,   telfen ,   dellelen ,  talfern ,  talken> 


204  ^*    ^^^  Sagenkreis  von  TelL 

tälschen;  und  aus  ihnen  die  ablautenden  Verba:  tillen-,  tillazen, 
dilledellen;  sodann  der  Tross  von  Schimpf-  und  Spottnamen: 
Dallmann  (Hampelmann),  Dalerin  (feminin),  Dalap,  Dalewatsch, 
Tallsack,  Talk,  Tolk,  Tollpatsch,  Talpi,  Tölpel.  Die  Tallespforte 
heisst  zu  Utrecht  das  Thor  b^eim  städtischen  Tollhause.  Der  Dilpe 
und  Tilman  ist  bei  Sebast.  Franck  (Sprichwörter),  der  Dillhelm  bei 
Schmeller  (Baier.  Wörtb.),  der  Dilldapp  bei  Schmid  (Schwab. 
Wörtb.  162),  der  Dilledälle  bei  Birlinger  (Augsburger  Wörtb.  117) 
gleichmässig  der  vernagelte  Dickkopf.  »Tillem^tallem  I  Tall-Tall 
hat  Hölzel  feil!«  sagen  schlesische  Neckformeln  in  Kinderreimen; 
siehe  Holtei's  Roman,  Die  Eselsfresser  II,  Heft  2,  217.  225.  Und 
ebenda  I,  Heft  2,  196  heisst  es:  »Eh'  ich  nicht  weiss,  warum  wir 
Schlesier  »Eselsfresser«  sind,  geb'  ich  mich  nicht  zufrieden,  und 
sollt'  ich  taelsch  (närrisch)  darüber  werden.«  Im  Lübecker  Kinder- 
reim (Firmenich,  Völkerstimmen  3,  151)  wird  zwischen  dem 
Schneider  Wuppauf  und  seiner  dummen  Gertrude  über  die  Haus- 
wirthschaft  also  verhandelt: 

Snieder  Wüppup, 

sett  Schinken  bi  t'  Fü'rl 

»Teil  e  Gädrut, 

»dat  Holt  is  te  dü*rl« 

In  Goethe's' Singspiel  Jery  und  Bätely  spricht  Bauer  Thomas 
zum  liebebetrübten  Jery:  »Nun,  wie  ist  denn  dir,  alter  Teil? 
Du  siehst  nicht  frisch  drein,,  was  hast  du?«  Dies  scheint  zu 
besagen:  Alter  Plauderer,  warum  denn  nun  so  einsylbig?  In 
den  munda'rtlichen  Adjectiven  undill,  undell,  mhd.  ungetelle: 
ungeschickt,  täppisch  —  scheint  die  Sylbe  Un  nicht  etwa  eine 
Negation,  sondern  im  Gegentheile  eine  Verstärkung  des  auszu- 
drückenden Geistesmangels  zu  sein;  vgl.  Schmeller  -  Frommann, 
Wörtb.  I,  500.  Doli  und  Löll  hiess  jener  Strohmann,  den  man 
im  baierischen  Hochstifte  Eichstädt  zur  Fasnacht  durch  die  Gassen 
schleppte  und  dabei  aller  ungereimten  Streiche  beklagte,  deren 
sich  das  Jahr  über  die  Einwohner  schuldig  gemacht  hatten. 
Bavaria  III.  i ,  297.  Wie  hier  landschaftlich  ein  Doli  aus  Tall 
wird,  so  auch  in  der  schweizerischen  Mundart  ein  Täll  zu  Toll. 
Es  liegt  uns  unter  den  Zurlaubenschen  Handschriften  der  aargauer 
Kant.-Bblth.  (Ms.  Bibl.  Zurl.,^no.  71,  pag.  190)  eine  Chronik  des 
Stiftes  Engelberg  vom  Jahre  1639  vor,  in  deren  »Verzeichnus 
wirdiger    geschieht en    einer    Lobl.    Eidtgnosschafft«    geschrieben 


r 


II.    Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  305 


steht:  »dess  Willhelm  Tölly  Schutz  (Apfelschuss)  geschach  auf 
Simony  vnd  Judae.«  In  der  gleichen  Lautform  lebte  derselbe 
Name  als  der  eines  unterwaldner  Geschlechtes  bis  auf  die  Neu- 
zeit  fort.  »Remigi  Niderberger  Tollen  von  Wisiberg«  steht 
in  dem  Verzeichnisse  der  von  den  helvetischen  Truppeft  gefangen 
genommenen  unterwaldner  Insurgenten  und  wird  als  ein  weniger 
Gravirter  auf  Befehl  des  helvetischen  Vollziehungs-Directoriums 
mit  6  Gulden  30  Kreuzer  Prozesskosten  gebüsst;  vollzogen  vor 
dem  Districtsgerichte  Stans,  8.  August  1799.  Actenstücke  des 
helvet.  Reg.-Commissärs  Heinr.  Zschokke,  auf  der  aargau.  Kant.- 
Bblth.  bezeichnet:     MS.  Bibl.  Nov.  fol.,  I.  Bd. 

Auch  in  den  keltischen  Sprachen  hat  das  Wort  dal  dieselbe 
eben  besprochene  Form  und  Bedeutung,  und  Diefenbach  Celtica  /, 
152  hat  nachfolgende  Belege  hiefiir  gesammelt:  Dalivum  supi- 
num  ait  esse  Aurelius ;  Aelius  stultum;  Oscorum  quoque  lingua 
significat  ins  an  um.  In  der  Kymrischen  Sprache  ist  delf^  ein- 
facher del:  stubbom,  a  stupid  fellaw.  In  Bas-Breton  ist  dalif 
(dessen  Umlautsform  das  eben  erwähnte  delf  ist)  mente  captus 
und  posthumus.  In  den  Serbischen  Heldenliedern  (übersetzt  von 
W.  Gerhard,  Leipzig  1828.  II,  294)  ist  der  Tale  jener  mythische 
Dümmling  und  starke  Hans,  welcher  blindlings  drein  zu  schlagen 
pflegt  und  jetzt  noch  bei  den  bosnischen  Türken  besungen  wird. 

Es  stimmen  also  diese  zahlreichen  Sprachbeispiele  und  deren 
WortbegrifT  genau  mit  dem  Berichte  der  ältesten  Schweizer- 
chronisten überein,  wenn  diese  letzteren  mit  dem  Namen  Teil 
einen  Thorenzustand  bezeichnen.  Allein  plötzlich  gereut  sie  ihr 
Zugeständniss,  und  indem  sie  ihren  Helden  aus  einer  ihm  so 
gefährlichen  Dümmlings-Sippschaft  lossagen  wollen,  verwickeln 
sie  ihn  und  sich  in  Selbstwidersprüche.  Teils  geistige  Unmündig- 
keit, erklären  sie,  war  nur  eine  List,  eine  in  der  Angst  erdachte 
Nothlüge  des  Inquisiten,  denn  unmittelbar  darauf  hat  er  mit  aller 
selbstbewussten  Energie  des  Heroismus  zu  handeln  vermocht. 
Alsdann  war,  muss  man  ihnen  entgegnen,  der  auf  seinen  Thoren- 
namen  hin  lügende  Inquisit  vielleicht  ein  verschmitztes  Bäuerlein 
gewesen,  aber  gewiss  nicht  ein  für  Wahrheit  und  Recht  offen 
einstehender  Held.  Allerdings,  fahren  sie  fort,  ist  der  Name  Teil 
ein  ursprünglicher  Spitzname,  war  aber  schon  damals  zum  bürger- 
lichen Namen  eines  alten  urner  Landleutengeschlechtes  geworden, 
dessen  Abkömmling  eben  Held  Wilhelm  ist.  Letzteres  ist  auch 
aus   dem   schon   erwähnten   Tellenspiele    zu    entnehmen,    in 

R  o  c  h  h  o  1  z  ,  Teil  und  Gessler.  20 


^o6  *•     ^^'  Sagenkreis  von  Teil. 

dessen  Personenverzeichnisse  »Wilhelm  Thell  von  Ury«  mit  auf- 
gezählt steht,  und  woselbst  der  Schütze  nach  dem  geleisteten 
Probeschusse  vom  Landvogte  also  angeredet  wird: 

Lieber  Wilhelm,  sag  mir  aber  an, 

Was  hast  mit  dem  pfeil  im  geller  than? 

So  weit  die  Chronisten.  Ihre  vorgebrachten  Gründe  sind 
längst  widerlegt.  Das  angebliche  Mannsgeschlecht  Teil  ist  in  Uri 
geschichtlich  nicht  nachzuweisen.  Das  Tellenspiel  ist  ein  gereimter 
Auszug  aus  vorhergegangnen  bekannten  Chroniken;  und  die 
angebliche  Namensform  Wilhelm  Teil  ist  eine  für  Sprache  und 
Geschichte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  unerhörte  Missgeburt, 
weil  sie  zum  Narren-Cognomen  noch  ein  christliches  Pränomen 
hinzufügt  und  also  um  nichts  besser  lautet  als  heute  ein 
etwaiger  Wilhelm  Dummerjan.  Eben  an  diesemi  unzeitig  gesetzten 
Vornamen  hat  die  neueste  Kritik  mit  Recht  ein  Aergemiss 
genommen,  gieng  aber  insofeme  zu  weit,  als  sie  behauptete,  dass 
derselbe  in  den  Urkantonen  selbst  jetzt  noch  unüblich  sei  und 
in  den  Urkunden  der  drei  Länder  während  des  dreizehnten  und 
vierzehnten  Jahrhunderts  vielleicht  nicht  ein  einziges  mal  vor- 
komme.    Das  Gegentheil  zeigt  im  Vorbeigehen  unsere  Note.*) 

Mögen  nun  die  Schweizer-Chronisten  jenen  Vornamen  Wilhelm 
entweder  dem  englischen  Volksliede  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
abentlehnt  haben,  worin  der  Apfelschütze  Wilhelm  von  Cloudesly 
gefeiert  wird ;  oder  haben  sie  ihn  dem  niederdeutschen  Volksliede 
Wilhelmus  von  Nassaue  entnommen,  nach  dessen  Text  und  Weise 
auch  das  Muheim'sche  Tellenlied  geschrieben  und  gesungen  worden 
ist;  so  bleibt  der  Vorname  eben  untergeschoben  und  ist  für  die 
Zeit,  in  welcher  er  gelten  soll,  nichts  als  ein  ungeschickter 
Anachronismus.  Weit  empfindlicher  aber  fallt  der  im  Zunamen 
Teil  schon  ursprünglich  enthalten  gewesene  Begriff  eines  angebornen 
Geistesmangels.     Denn    ob    man   beim   Namensträger    wirkliche 


*)  Georg  V.  Wyss  stellte  jene  Meinung  auf:  lieber  die  Geschichte  der  drei 
Länder  etc.  in  den  Jahren  1213  bis  1315.  Zürich  1858,  S.  31.  —  Das  urkund- 
liche Verzeichniss  der  Landammänner  und  Amtleute  von  Nidwaiden ,  gedruckt 
im  Geschichts-Freund  Bd.  26,  giebt  dagegen  zu  lesen:  1367,  i.  Mai,  Wilhelm 
von  Stein,  aus  Stein  in  Wolfenschiessen. —  1388,  6.  Christmon.,  Willi  Wolfent, 
—  1396,  20.  Jan.,  Wilhelm  an  Steinen,  Ammann.  —  1399»  16.  Mai,  Ulr.  an 
Stein  besiegelt  einen  Verkauf  von  Wilhelm  an  Stein  von  Wolfenschiessen.  — 
140O;   15.  Brachmonat,  Wilhelm  an  Stein,  Landammann.     U.  s.  w. 


r 


II.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  jo? 


brutale  Bornirtheit  annimmt,  oder  nur  das  knechtisch  verschmitzte 
Erheucheln  und  zur  Schautragen  einer  solchen  voraussetzt,  so  ist 
beides  gleichsehr  das  Gregentheil  jenes  geistigen  und  sittlichen 
Heldenvermögens,  das  doch  dem  Mitbegründer  der  Eidgenossen- 
schaft zugedacht  sein  sollte.  Wie  wird  da  dem  Schaden  abzuhelfen 
sein.^  Auf  ganz  herkömmliche  Weise,  mittels  des  bekannten 
Paragraphen  des  bürgerlichen  Gesetzbuches:  man  setzt  dem 
Geistesschwachen  Vormünder;  Teil  erhält  deren  Drei,  die  soge- 
nannten drei  ^Teilen,  den  Wernher  Staufacher,  Walther  Fürst  und 
Arnold  Melchthal.  Während  diese  drei  zusammen  auf  dem  Rütli 
berathen  und  den  Schweizerbund  stiften,  schliesst  Teil  sich  selber 
von  ihren  geheimen  Versammlungen  aus,*)  liegt  mittler  Weile 
in  der  Hohlen  Gasse  auf  der  Lauer  und  schiesst  aus  dem  Ver- 
stecke den  Vogt  vom  Rosse.  Bei  diesem  Punkte  angelangt, 
haben  darum  sogar  solche  Traditionisten,  welche  einen  historischen 
und  damit  auch  einen  moralisch  zurechnungsfähigen  Teil  ertrotzen 
möchten,  das  Zugeständniss  gemacht,  Teil  sei  in  das  Schauspiel 
der  schweizerischen  Unabhängigkeitsgeschichte  so  ganz  äusserlich 
mit  eingeflochten,  dass  keine  seiner  Handlungen  eine  nothwendige 
Stelle  in  dieser  Begebenheit  einzunehmen  vermöge.**)  Und  L. 
Uhland  fügt  diesem  endlich  historisch  gewordenen  Satze  mit 
fühlbar  erkälteter  Stimmung  bei:  »Darinn  liegt  ein  offenbarer 
Widerspruch,  dass  Teil  wirklich  existirt  und  gegen  die  Dränger 
des  Landes  etwas  gethan  hat ;  dass  der  Mann  und  die  That  durch 
Lied  und  Sage  verherrlicht  und  ihnen  eine  religiöse  Feier  gewidmet 
worden  sein  soll;  gleichwohl  aber  Beiden  der  Charakter  der 
Bedeutungslosigkeit  von  Anfang  an  zugekommen  sei.«  Schriften 
zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage,  Bd.  8. 

So  ist  nun  zwar  die  Mythe  in  ihrer  Mangelhaftigkeit  erkannt, 
aber  damit  noch  nicht  die  Genesis  dieser  Mangelhaftigkeit.  Spüren 
wir  auch  dieser  nach. 

Nach  lang  andauerndem  Zweikampfe  zwischen  dem  winterlichen 
Tyrannen  und  dem  Schützen  Lenz  erliegt  der  böse  Winterriese 
dem  ersten  scharfen  Sonnen-Pfeile.  Dies  ist  der  Inhalt  des  Natur- 
mythus in  seiner  poetischen  und  logischen  Folgerichtigkeit.    Wird 


*)  Was  ihr  thut,  lasst  mich  aus  euerm  Rath! 
Ich  kann  nicht  lange  prüfen  oder  wählen. 

Schillers  Teil. 
**)  »Sans  que  les  faits  de  sa   biographie   aient   aucun   lieu   necessaire    avec  ce 
drame.«     H.  L.  Bordier:  Le  Grütli  et  Guill.  Teil  etc.     Genfeve  1869,  pag.  62. 

20* 


L 


308  !•     üef  Sagenkreis  von  Teil. 

aber  derselbe  mythische  Gedanke  in  eine  historische  Thatsäx:hlicli- 
keit    umgewandelt,    so   verliert   er   den    zähen,     überzeugenden 
Zusammenhang    seiner   Theile    und   bekommt    dafür    bedenklich 
klaffende,  unvereinbare  Fugen.    Der  geschichtliche  Tyrann  erliegt 
dem  meuchelmörderischen  Pfeilschützen,  ohne  dass  ein  Zweikampf 
zwischen  beiden  vorausgegangen  wäre.    Es  hat  der  Meisterschütze 
das  ihm  gesteckte  Ziel  bereits  getroffen,  er  lässt  jetzt  den  zweiten 
Pfeil,  dem  drängenden  Vogte  im  Falle  eines  Fehlschusses  voraus 
zugedacht,    schadlos    im    Groller    und   bekennt    freimüthig,    wem 
dieser   zweite  vorbestimmt  gewesen  wäre.     Und  dennoch  thut  er 
wenige  Stunden  hernach  den  meuchlerischen  Schuss.    Diese  feige 
That  sucht   nach  .  einer  Entschuldigung ,    allein  die  vorgebrachten 
Gründe  wollen  nach  keiner  Seite  ausreichen.    Der  Mord  geschieht 
ja    nicht    aus   Nothwehr,    denn   der   Schütze    ist    bereits    aus 
seines  Gegners  Hand  und  frei ;  er  geschieht  auch  nicht  als  Folge 
einer  zu  vollziehenden  und  vom  Land&sgesetze  gebilligten  Blut- 
rache,  denn  nicht   des  Schützen   Söhnlein,    sondern   allein  der 
Apfel  ist  getroffen.     Was  bleibt  also  bei  solchem  Morde  Anderes 
übrig,  als  die  Rachethat  eines  in  seinem  Blödsinne  zur  Unzeit  ge- 
reizten Thoren,    ein    blinder   Wuthausbruch,    der  eben   so  unzu- 
rechnungsfähig ist,  wie  der  Treffschuss  jenes  Erblindeten  (geschil- 
dert auf  S.  46) ,   welchem   der  Gott  selbst  erliegt.     Auf   diesem 
Gedankenwege    ist  die  Dümmlingssage   in  die  Tellensage  gekom- 
men;   im   Volksgewissen  ist   sie   ausgedacht   worden  zum   Noth- 
behelf,  um  eine  moralisch  nicht  zu  rechtfertigende  That  doch  vor 
der  Vernunft  mindestens   zu   entschuldigen,   und  der  Volksmund 
hat   aus   seinem  Wortvorrathe    den    redenden    Eigennamen    Tall 
dazugegeben.    Einen  Thoren  zum  Schützenkönig  und  einen  Mörder 
zum  Nationalhelden  zu   erheben,   dies  konnte  dem  schüchternen, 
vor  dem  politischen  Morde   tief  zurückscheuenden  Volke  niemals 
beifallen,   aber  dieser  Volksglaube  musste  verstummen  und  ster- 
ben,   seitdem  die  regierenden  Herren  und  deren  Chronikschreiber 
zusammen   den    schweizerischen   Nationalstolz    gepachtet   hatten. 
Sie,   die  nun   selbst  die   Tyrannen  im  Lande  spielten,  Hessen  in 
Teil  das  Recht  des  Tyrannenmordes   nach  Kräften  verherrlichen. 
Tschudi,    bald  dieser  Magnaten  Werkzeug,    bald    ihr  Mitregent, 
kam  dem  bekannten  Moralsystem  des  Jesuiten  Busenbaum  lange 
sogar  zuvor  und  vertheidigte  in   seiner  Chronik  den  Fürstenmord 
offen.     Viel  klüger,  sagt  er,  würden  die  Eidgenossen  gethan  haben, 
sich   mit  den  fünf  Mördern  des  Kaisers  Albrecht  zu   verbünden, 


II.   Teil  als  Personen-  und  Ortsname.  ßOQ 

anstatt  sie  von  sich  zu  weisen.  Sei  es  ja  doch  der  Ermordete 
gewesen,  welcher  deh  drei  Ländern  die  Bestätigung  ihrer  Frei- 
heiten verweigerte,  so  dass'sie  alsdann  von  Oesterreich  angegriffen 
und  zur  Schlacht  bei  Morgarten  gezwungen  worden  seien.  Darum 
habe  es  nachmals  die  drei  Länder  auch  zu  reuen  begonnen,  dass 
sie  sich  des  Herzogs  Johann  und  seiner  Mitverschwornen  nicht 
angenommen,  ihm  nicht  geholfen  hätten,  der  doch  so  treulich  an 
ihnen  gehandelt  und  ihnen  es  vorgesagt  habe,  wie  es  ihnen  er- 
gehen werde.  Hätten  sie  dieser  Warnung  gefolgt,  so  würde  es 
ihnen  wol  möglich  geworden  sein,  Albrechts  Söhne  ganz  aus  den 
oberen  Landen  zu  vertreiben.  So  lauten  diese  erdichteten  Rache- 
gedanken, welche  Tschudi  den  Waldstätten  in  den  Mund  zu  legen 
die  politische  und  historische  Frechheit  hatte.  Die  Folgen  dieser 
Staatssophistik  Hessen  hier  zu  Lande  nicht  lange  auf  sich  warten. 
Schon  sieben  Jahre  nach  Tschudi's  1572  erfolgtem  Tode  erschien 
zu  Basel  (bei  Samuel  Apiarius  1579)  ^^  Urner  Tellenspiel  in 
neuer  Auflage  und  trug  jetzt,  trotz  der  in  der  damaligen  Schweiz 
schon  scharf  gehandhabten  Büchercensur,  auf  dem  Titelblatte  das 
herausfordernde  Motto:     , 

Tyrannen  und  ein  Hund,  der  tobt, 
Wer  die  erschlägt,  der  wird  gelobt. 

Teil  war  von  nun  an  der  obrigkeitlich  autorisirte  Tyrannen- 
schlächter, und  in  diesem  seinem  Amtsgeschäfte  ein  Verbrechen 
zu  sehen,  galt  jetzt  selber  schon  als  eines.    Knieend  und  mit  dem 

'  Strick  um  den  Hals  musste  der  Zuwiderredende  Abbitte  thun. 
Nachwehen  hievon  haben  noch  in  unserer  Zeit  sich  verrathen. 
Sogar  jener  hochpatricische  Reactionär  Carl  Ludw.  v.  Haller,  der 
berüchtigte  Verfasser  der  »Restauration  der  Staatswissenschaft«, 
worin  alle  modernen  Despoten  apotheotisirt  und  alle  Liberalen 
zur  Hölle  geschickt  werden,  bot  im  Solothurner  Amts-  und 
Wochenblatte  von  1833,   auf  S.  357   demjenigen  die  Summe  von 

:  400  Schweizerfranken  an,  welcher  aus  seinen,  Hallers,  Schriften 
die  Stelle  nachzuweisen  vermöge,  worin  Teil  »ein  Meuchelmörder« 
genannt  sein  solle. 


[ 


II. 


DIE  GESSLER  VON  BRÜNEGG 


IN  GESCHICHTE  UND  SAGE. 


Glaubst  du  denn:  von  Mund  zu  Ohr 
Sei  ein  redlicher  Gewinnst? 
Ueberliefrung,  o  du  Thor, 
Ist  auch  wohl  ein  Himgespinnst ! 
Nun  geht  erst  das  Urtheil  an; 
Dich  vermag  aus  Glaubensketten 
Der  Verstand  allein  zu  retten, 
Dem  Du  schon  Verzicht  gethan. 

Göthe  5,  X09. 


I. 

Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler 

als  Bauern,  Ritter,  Landvögte  und  Mediatisirte,  von  1250 — 1513. 


I.    Die  Gessler  von  Meienberg  1250 — 1369. 

Der  Geburtsort  der  weltbekannt  gewordnen  Gessler  ist  das 
noch  immer  sehr  unbekannte  aargauer  Dörflein  Wiggwil,  gelegen 
in  den  Obern  Freiämtern  des  Aargaus,  heute  noch  wie  bei  seinem 
erstmaligen  geschichtlichen  Vorkommen  eine  Filiale  der  alten 
Pfarrei  und  Wallfahrt  Beinwil.  Der  Ort  war  bis  zum  Jahre  1415 
Privateigenthum  der  Österreicher  Herzoge  gewesen  und  hatte,  laut 
dem  Habsburger  Urbar  von  1303,  zur  herzoglichen  Herrschaft 
Meienberg  gehört.  Bei  der  in  jenem  erstgenannten  Jahre  erfolg- 
ten Eroberung  des  Aargaus  durch  die  Eidgenossen  musste  der 
Bezirk  Meienberg  an  diese  abgetreten  werden,  und  wurde  dann 
deren  gemeinsam  regierter  Vogtei  'der  Obern  P'reiämter  einver- 
leibt. Die  ursprüngliche  Herrschaft  war  hier  Grund-  und  Leib- 
herr,  aller  Bodenbesitz  beruhte  auf  Pacht  und  Lehen  und  zwar 
seit  so  lange  schon,  dass  Beides  meist  Erbpacht  und  Erblehen 
geworden  war.  Die  Bevölkerung  scheint  ausnahmslos  aus  Leib- 
eignen und  Hörigen  bestanden  zu  haben.  Der  Leibeigne,  seinem 
Herrn  und  dessen  Hofgute  mit  Leib  und  Gut  angehörend,  konnte 
i  persönlich  verkauft  werden  ohne  den  von  ihm  bebauten 
[Grund  und  Boden;  der  Hörige  war  zwar  persönlich  frei  und 
waffenfähig,  blieb  aber  wegen  seiner  Ansässigkeit  auf  grundherr- 
lichem Boden  grundhörig,  an  die  Scholle  gebunden  und  konnte 
daher  mit  Grund  und  Boden  vertauscht  und  verkauft  werden. 
Unter  einem  dieser  Abhängigkeitsverhältnisse  stand  in  den  her- 
zoglichen Freiämtem  wohl  Jedermann.     Denn  selbst  die  dortigen 


^lA  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Untervögte  und  Ammänner,  sie  und  ihre  Söhne,  gleichviel,  ob 
zur  Stadt-'  oder  zur  Dorfgemeinde  zählend,  bekennen  in  den  Ur- 
kunden ihre  Hörigkeit,  und.  auch  solche,  die  als  Novizen  in  I 
ein  Kloster  eintreten,  erklären,  dass  sie  in  ihre  ursprüngliche  Un- 
freiheit wieder  zurückfallen  müssen,  sofern  sie  den  beschwomen 
Orden  selbstwillig  verlassen  wollten.  Solches  liest  man  in  den 
Urkunden  des  dortigen  Benedictinerklosters  Muri.  Laut  einem 
solchen  Murenser  Documente  verkauft  da  Junker  Heinrich  von 
Reussegg  vier  zu  Beinwil  gelegne  Schuppossen  dem  Gotteshause 
Kappel  im  Namen  Johann  Peters,  Sohnes  des  Ammanns  der  Stadt 
Meienberg,  und  dieser  letztere  erklärt  in  der  Entschlagungsurkunde 
von  1348:  »Ich  Johannes,  Peters  sei.  des  Ammans  von  Meienberg 
Sühn,  vergich  offenlich  .  .  .  mit  gunst  und  willen  miner  gnedigen 
frowen,  frow  Adelheit  von  Rüssegge,  der  ich  von  eigenschaft 
anhörre,«  u.  s.  w.  Dasselbe  Verhältniss  hat  hier  auch  nach 
der  eidgenössischen  Besitzergreifung  unverändert  fortgedauert,  ja 
missbräuchlich  sogar  noch  weiter  sich  ausgedehnt,  denn  der  ganze 
Landstrich  hiess  von  nun  an  unterschiedslos  ein  Unterthanen- 
land  und  hat  als  solches  das -Ungeschick  und  die  Härte  der  eid- 
genössischen Vögte  vier  ganze  Jahrhunderte  lang  zu  ertragen 
gehabt. 

Unter  diesem  an  die  Scholle  gebundnen  Völklein  macht  sich 
im  Dorfe  Wiggwil  seit  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  die 
Sippschaft  Gessler  bemerkbar.  Sie  wächst  an  Zahl  und  Besitz, 
so  dass  sie  in  den  Nachbarorten  Meienberg,  Auw,  Alikon,  Muri, 
Butwil,  Reussegg,  Wolen  u.  s.  w.  haushäblich  niedergelassen  ist. 
Sie  kommt  mit  den  Deutscho'rdenshäusem  Hitzkirch  und  Hohen- 
rain,  mit  den  Klöstern  Muri,  Hermetswil  und  Frauenthal  in  Pacht- 
und  Kaufverhältnisse ;  dem  Habsburger  Adel  auf  den  umliegenden 
Burgen  Grünenberg-Lieli,  Reussegg,  Baldegg,  Aristau,  Büttikon- 
Arburg  weiss  sie  geschäftlich  sich  zu  verpflichten.  So  treten  ein- 
zelne der  Sippschaft  in  den  Stand  der  Ministerialen  über,  einer 
zwischen  Knecht  und  Kriegsknecht  schwebenden  Classe,  die  in 
den  Urkunden  servi,  minores,  milites  wechselnd  benannt 
werden,  und  sind  nun  schutzbefohlne  Halbfreie  kleiner  Landdynasten. 
Dies  Gelingen  hat  jedoch  für  ihre  übrigen  Sippschaftsgenossen 
nicht  etwa  ähnliche  Folgen,  sondern  dieselben  verbleiben  nach 
wie  vor  Unfreie.  So  stehen  nicht  bloss  in  dem  Klosterurbar 
Muri's,  das  noch  zur  Zeit  der  herzoglichen  Landesverwaltung  ver- 
fasst  ist.  Hörige  aus  der  Gessler-Sippschaft  verzeichnet;    sondern 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^If 

als  die  Landschaft  bereits  an  die  Kantone  gekommen  ist  und 
deren  Landvogt  hier  Kundschaft  aufninlmt  über  Zahl  und  Namen 
der  Eigenleute ,  sind  alö  solche  in  dem  neuen  schweizerischen 
Rodel  mitgenannt:  »Hensli  Gessler,  dessen  Vater  und  Hermann 
Gessler,  sämmtlich  von  Meienberg,  Leibeigne  der  Herrschaft  zu 
Reussegg.«  (Regest  von  1434,  Sonntag  vor  S.  Johann  zu  Sonn- 
gichten.) Nach  einem  Menschenalter  kluger  Rührigkeit  gelingt  es 
einem  aus  jener  strebsamen  Meienberger  Linie  in  dreien  herzog- 
lichen Aemtern  Lehen  zu  übernehmen,  im  Habsburg-Eigenamt 
(Kt.  Aargau),  zu  Neu-Habsburg  (Kt.  Luzern)  und  zu  Kiburg  (Kt. 
Zürich),  femer  sodann  in  persönliche  Beziehung  zu  einem  der 
Herzoge  zu  kommen  und  schliesslich  in  dessen  Gefolge  gezogen 
zu  werden.  Von  nun  an  bleibt  das  Geschick  dieser  Linie  mit 
demjenigen  der  Herzoge,  als  der  Herren  des  Aargaus,  auf's 
engste  verknüpft,  einerlei  Stern,  steigt  und  sinkt  hier  für  beide. 

Als  131 5  bei  Morgarten  die  junge  Eidgenossenschaft  ihren 
ersten  Waffengang  gegen  Oesterreich  versucht,  stehen  die  Gessler 
bereits  als  Diener  in  der  Hofburg  zu  Wien;  und  gerade  hundert 
Jahre  nachher,  als  der  Aargau  den  Herzogen  für  immer  entrissen 
wird,  sind  auch  die  Gessler  durch  die  gleiche  Unbill  übermannt 
und  beraubt,  unfreiwillig  verlassen  sie  Heimat  und  Besitz,  nachdem 
sie  ihrem  Lande  eine  grosse  Zahl  Hauptleute,  Herrschaftsräthe, 
Richter  und  Vögte  geliefert  hatten,  deren  Amtsführung  bald  von 
den  Herzogen  selbst,  bald  von  deren  Feinden,  den  Schweizern, 
in  gerichtliche  Untersuchung  gezogen  und  makellos  befunden 
worden  ist. 

Diesen  Verlauf  nimmt  die  Geschichte  der  aargauischen  Gessler. 
In  einer  Anzahl  von  etwa  eintausend  Urkunden  liegt  sie  verbrieft 
vor.  Nichts  enthält  sie  von  jenen  abenteuerlichen  Ereignissen, 
nichts  von  jenen  Tyrannen-Grausamkeiten,  an  die  man  nun  beim 
Namen  Gessler  zu  denken  pflegt.  Und  auch  die  herkömmliche 
Ausflucht,  dass  nicht  alles  Geschehene  in  den  Urkunden  nieder- 
gelegt worden  sei,  oder  dass  die  Urkunden  selbst  unvollständig 
seien,  muss  nun  verstummen,  weil  dieselben  wirklich  so  weit 
lückenlos  vorhanden  sind,  dass  sie  die  baare  Unmöglichkeit  der 
den  Gesslemamen  entstellenden  Chronistenmärchen  geschichtlich 
erweisen.  Denn  ob  nun  jener  Tellenschuss  schon  zur  Zeit  der 
Aufrichtung  des  ersten  Bundesbriefes  der  drei  Länder  1291  ge- 
schehen wäre,  so  waren  damals  die  Gessler  noch  aargauische 
Leibeigne  und  konnten  also  in  den  Waldstätten  nicht  schon  als 


I 

i 


ßlß  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Vögte  amten ,  zumal  König  Rudolf,  am  19.  Februar  des  genami- 
ten  Jahres  den  Schwyzem  es  verbriefte:  »dass  ihnen  kein  unfreier 
Mann  —  aliquis  servilis  conditiohis  —  zum  Richter  ge- 
geben werden  solle« ;  eine  für  so  wichtig  gehaltene  Rechtsbestim- 
mung, dass  sie  auch  noch  im  Schillerschen  Teil  (Act  2,  Scene  2) 
ausdrücklich  wiederholt  steht:  »Kein  eigner  Mann  kann  Richter 
sein  in  Schwyz.«  Oder  setzt  man  die  Tellenbegebenheit  nach 
herkömmlicher  Annahme  gleichzeitig  mit  dem  Rütlischwure  1 306, 
oder  auch  als  zusammentreffend  mit  der  Zerstörung  der  Vogt- 
schlösser 1307,  so  liefern  die  Gessler  eben  auch  fiir  keines  dieser 
Jahre  dem  Teil  sein  erforderliches  Schussobject ;  denn  selbiger 
Zeit  leben  und  sterben  sie  alle  noch  als  simple  Meienberger 
Lehensbauem,  wie  sie  denn  als  solche  andächtig  eingeschrieben 
stehen  in  den  Todtenbüchern  der  dortigen  Nachbarstifte,  ja  sogar 
in  dem  Nekrologium  des  Umerklosters.  Seedorf,  zunächst  gelegen 
bei  Altorf,  wo  die  Chronistenphantasie  den  Landvogt  bereits  an 
Zwing-Uri  bauen,  den  Teil  verhaften  und  den  Schuss  auf  das 
Kind  anbefehlen  lässt.  Das  Emporkommen  der  Gessler  aus  der 
Hörigkeit  in  den  Stand  der  Freien  geschah  überhaupt  nicht  sprung- 
weise oder  glückpilzartig ,  sondern  verlangsamt  und  passiv  me- 
chanisch, gleich  aller  übrigen  Bauernarbeit.  Siebenzig  uns  be- 
'kannte  Jahre  dauert  es,  bis  einer  aus  ihnen  Ministeriale  wird  und 
damit  erst  befugt  ist,  bei  amtlichen  Güterverkäufen  als  rechtsgiltige 
Person  aufzutreten;  bis  131 5  währt  es  sodann,  bis  ein  Hans  Gess- 
ler zu  Herzog  Leupolts  Küchenmeister  ernannt  wird,  worauf  13 19 
dieses  Küchenmeisters  Sohn  Heinrich  zur  Ritterwürde  gelangt, 
als  solcher  seines  Geschlechtes  der  erste.  Imnier  steht  es  sodann 
noch  bis  11.  Januar  1375  an,  dass. Heinrich  Gessler  von  Meien- 
berg  urkundet  als  Herzog  Leopolds  Landvogt  zu  Grüningen  und 
Rapperswil.  Wie  wenig  entspricht  ein  solcher  Stufengang  jener 
aufgeblähten  Machtrolle,  die  den  Gesslern  der  Fabel  schon  ur- 
anfänglich zugedacht  ist.  Ja  wie  haltlos,  um  nicht  zu  sagen  kin- 
disch, wird  damit  namentlich  der  erst  neuerlich  gemachte  Noth- 
versuch:  in  diejenige  Lücke,  welche  zwischen  den  Jahren  1304 
bis  1308  im  Namensregister  der  Urner  Landammänner  be- 
steht, einen  Gessler  als  Urner  Landvogt  aushilfsweise  hinein- 
zuschieben, ohne  dass  man  dabei  seinen  urkundlichen  Namen  und 
Vornamen,  geschweige  die  Jahrzahl  einer  einzigen  von  ihm  her- 
rührenden Umer-Acte  anzugeben  vermöchte. 

Es  sind  die  über  die  Gessler  noch  cursirenden  Meinungen  be- 


I.   FamilieDgeschichte  der  aargauer  Gcssler  etc.  ^i't 

reits  auf  S.  178  des  vorliegenden  Buches  in  drei  Fundamentalsätze 
zusammengefasst  und  widerlegt  worden.  Letztere  wiederholen 
sich  hier  etwas  erweitert.  Eine  Person  Namens  H  e  r  m  a  n  Gessler^ 
die  angeblich  bis  1 307  als  österreichischer  Vogt  in  den  Waldstätten 
regiert  hätte  und  dorten  getödtet  worden  wäre,  besteht  in  der, 
Gessler-Sippschaft  damaliger  Zeit  noch  gar  nicht.  Das  demselben 
beigelegte  Amt  des  Reichsvogtes  der  drei  Länder  war  da- 
mals für  diese  Länder  gleichfalls  noch  kein  vorhandenes,  weil  in 
der  ganzen  Zeit  Albrechts,  als  Herzogs  und  als  Königs,  Uri  und 
Unterwaiden  kein  Reichsland  waren,  im  Lande  Schwyz  aber  die 
Landesverwaltung  durch  die  Ammänner  geführt  wurde,  über  welche 
ein  Landammann  als  Richter  gesetzt  war.  Ein  solcher  Richter 
aber,  als  Verweser  der  Vogteigerichtsbarkeit,  schliesst  das  Zugleich- 
sein eines  Landvogtes  aus.  [Eutych  Kopp,  Urkunden  II,  Einlei- 
tung.] Ein  Hermann  Gessler  von  Brun egg  hat  bis  und  nach 
1307  gleichfalls  noch  nicht  gelebt,  da  diese  Burg  erst  zu  Ende 
des  vierzehnten  Jahrhunderts  an  Ritter  Heinrich  (II.)  den  Gessler 
kam,  der  1403  starb.  Ein  Vogt  Gessler  auf  der  Burg  Küss- 
nach  ist  eine  gleiche  Unmöglichkeit,  da  diese  Schlossvogtei  ur- 
kundlich von  1296  bis  1347  dem  Rittergeschlechte  der  Eppone 
von  Chussinach,  dann  als  herzogliches  Erblehen  dem  Walther  von 
Tottikon  angehört  (Urk.  v.  23.  April  1379.  Geschichtsfreund 
Bd.  27,  326),  hierauf  durch  dessen  Tochter  an  deren  Gemahl  Hein- 
rich von  Hunwile  und  endlich  am  24.  August  1402  durch  Kauf 
an  das  Land  Schwyz  kommt,  ohne  je  bei  einem  Gessler  gewesen 
zu  sein.  (Kopp,  Urkunden  I,  S.  63.)  Somit  wird  durch  die  Ge- 
schichtsforschung Gessler  aus  der  Tellensage  befreit,  wie  durch 
die  Sagenforschung  Teil  aus  dem  Gebiete  der  Geschichte  ausge- 
wiesen ist.  Teil  wird  aus  dem  politischen  und  kirchlichen  Credo 
gestrichen,  Gessler  ebenso  aus  dem  Aberglauben  des  Volkes  und 
der  Lesewelt.  Ist  Gessler  der  pragmatischen  Geschichte  sicher 
anheimgestellt,  so  ist  Teil  um  sein  bürgerliches  Schlachtopfer  ge- 
bracht, so  endet  die  bisherige  Zwillingsschaft  dieser  beiden  Namen. 
Politische  Bosheit  eines  von  welschem  Solde  lebenden  und  das 
deutsche  Stammland  hassenden  Magnatenthums  war's,  die  das 
Märchen  von  Gessler  auf  die  Bahn  brachte  und  es  durch  eine 
welschdenkende  Priesterschaft  sogar  kirchlich  sanctioniren  liess. 
Dieses  aufzudecken,  ist  Aufgabe  der  historischen  Gerechtigkeit^ 
und  mit  der  Verbreitung  der  historischen  Wahrheit  wird  sich  auch 
die  sociale  Gerechtigkeit  weiter  ausbreiten.      »Was   mag  doch 


^l8  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

grösser  und  mächtiger  sein,  denn  so  viel  Todten 
das  Leben,  dem  Vergessnen  das  ewige  Gedächtniss, 
dem  Verfinsterten  das  Licht  wieder  schaffen  und 
gebenl«  So  schrieb  der  baierische  Historiker  Joh.  Aventin  im 
Jahre  1534;  und  Eutych  Kopp  hat  einen  nahe  verwandten  Gre- 
danken  an  mehreren  Stellen  seiner  Eidgenössischen  Bünde  (2,  241) 
und  seiner  Urkunden  (2,  S.  VIII)  berührt,  der  zusafmmengefasst 
wörtlich  also  lautet: 

»Wenn  versucht  wird,  die  Glieder  des  Geschlechtes  der  Gess- 
ler in  möglichster  Vollständigkeit  zu  sammeln  und  sie  der  Zeit- 
folge nach  zu  ordnen,  so  kann  dieses  eine  sehr  verdienstliche  Ar- 
beit werden.  Es  bedarf  nur  eines  Schrittes,  und  der  Enkel  tritt 
aus  einem  schweren  Irrthum  heraus.  Man  nehme  einmal  an,  es 
habe  in  den  Waldstätten  keine  österreichischen  oder  Reichsvögte 
gegeben;  man  nehme  an,  es  haben  die  von  den  späteren  Zeit- 
büchem  erzählten  und  vielfach  ausgemalten  Greuelthaten  der  an- 
geblichen Vögte  in  den  drei  Ländern  gar  nicht  stattgefunden: 
welches  menschliche  Gemüth  wird  nicht  bei  diesem  Gedanken  er- 
leichtert? Muss  nicht  der  alte  Hass  und  Widerwille, 
in  welchem  wir  gegen  Oesterreich  und  alles  Deut- 
sche auferzogen  werden,  zur  Ehre  der  Menschheit 
allmählich   schwinden?« 

Der  in  den  Urkunden  erstgenannte  des  Gesslergeschlechtes 
ist  Uolricus  dictus  Gessylarius  de  Wicwile,  Er  erkauft 
am  17.  Januar  1250  einen  bei  den  Ortschaften  Auw  und  Reussegg 
(jenes  ein  Dorf  zunächst  Meienberg,  dieses  ein  Burgdorf  bei  Sins 
an  der  Reuss)  gelegenen  Gütercomplex ,  übergiebt  denselben  als 
Stiftung  und  zu  dessen  Rechtsschutze  um  den  Preis  von  13'/»  Mark 
an  die  benachbarte  Johanniter-Commende  Hohenrain  (im  luzemer 
Amte  Hochdorf)  und  empfängt  ihn  von  dieser  um  den  Jahreszins 
von  1 2  Pfennig  als  Erblehen  zurück.  Es  werden  dieser  Ulr.  Gess- 
ler und  sein  erstgeborner  Sohn  R[udolf]  ferner  beigezogen  als 
Unterhändler  bei  verschiednen  Verträgen  der  Deutschherren-Com- 
mende  Hitzkirch  afti  Baldegger  See,  des  Klosters  Frauenthal  im 
Zugerlande,  des  Stiftes  St.  Urban  im  luzerner-,  und  der  Edeln  von 
Stein  und  von  Büttikon  im  aargauer  Lande,  und  hiebei  steht  der 
Beiden  Zeugschaftsname  schon  neben  demjenigen  von  Ordens- 
leuten, Adeligen  und  Stadtbürgern.  Der  Grund  dieser  Bevor- 
zugung wird  zu  suchen  sein  in  des  Geschlechtes  damaliger  Um- 
bürgerung  aus  Wiggwil   in  das   herzogliche  Burgstädtlein  Meien- 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  3 IQ 

berg,  wie  denn  schon  am  15.  Mai  und  12.  Nov.  1251  jener  Ulrich 
sich  als  Gessilerius  de  Meginberc  urkundlich  betitelt. 

Das  österreichische  Amt  Meienberg  am  linken  Ufer  der  Reuss 
mit  seinen  siebzehn  verschiedenen  Ortsbürgerschaften  hält  gegen 
5000  Juehart  Bauland  und  Wald,  deren  heutiger  Werth  über 
6  Millionen  Francs  veranschlagt  ist.  Der  ehemalige  Hauptort 
Meienberg,  jetzt  ein  zu  Sins  pfarrgenössisches  Dorf,  liegt  auf  einer 
Landstaffel  gegen  den  langgestreckten  Lindenberg  hin,  gehörte 
in  den  Privatbesitz  König  Rudolfs,  besass  Municipalrechte  und 
fuhrt  daher  in  der  königl.  Urkunde  vom  3.  Mai  1278  den  Titel 
oppidum,  Lichnowsky  I,  S.  472.  In  demselben  Range  wird  es 
1303  vom  Habsburg-österreichischen  Urbar,  S.  88  aufgeführt :  »die 
statt  ze  Meienberg,  die  der  gräven  von  Habsburg  eigen  ist.« 
Der  Ort  besass  Marktrechte,  Zollvergünstigungen  und  das  An- 
recht auf  Wunn  und  Weid,  Holz  und  Feld,  Weg  und  Steg 
in  den  Nachbar  -  Gemeinden  Aegtenschwil,  Abtwil,  Alikon  und 
Auw.  Segesser  RG.  2,  65.  Argovia  9,  102.  Allein  von  den 
Luzemern  und  deren  Verbündeten  hartnäckig  befehdet,  zweimal 
geplündert  und  verbrannt,  war  der  Ort  schon  unter  seinem  letz- 
ten herzoglichen  Landvogte  Heinrich  Gessler  so  herabgekommen, 
dass  er  auf  seine  Sonderrechte,  und  Gessler  ebenso  auf  seine  per- 
sönlichen y ogts-Einkünfte  fünf  Jahre  lang  verzichten ,  um  so  zu- 
sammen den  erlittnen  Kriegsschaden  vergüten  zu  helfen  (Regest 
von  1403).  Zwölf  Jahre  nachher  nahmen  die  Eidgenossen  die 
ganze  Landschaft  weg,  unter  ihrer  Verwaltung  sank  der  Ort  vol- 
lends zum  Dorfe  herab.  Der  Sandsteinhügel,  auf  dessen  Rücken 
dasselbe  liegt,  endet  südwestlich  in  einem  steilen,  von  einem  Wald- 
bache umflossnen  Abhänge,  nordöstlich  in  einer  Halde  mit  zwei 
steilen  Böschungen,  an  deren  Fuss  einst  gleichfalls  ein  Waldwasser 
vorüber  gieng ;  oben  laufen  zu  beiden  Seiten  die  Wallgräben,  auch 
jetzt  nur  zum  Theil  erst  ausgefüllt.  So  ist  also  Lage  und  Ueber- 
bauung  des  Hügels  die  Ursache,  dass  weder  das  Burgstädtlein, 
noch  das  jetzige  Dorf  eine  weitere  Ausdehnung  nehmen  konnte. 
Die  äussersten  Häuser  stehen  mit  ihrem  Unterbau  auf  der  alten 
Ringmauer  und  bilden  zusammen  ein  Viereck,  in  Länge  und 
Breite  kaum  300  Ellen  haltend.  Der  höchstgelegne  Platz  heisst 
Stadt  und  ein  Sodbruraien  dorten  der  Stadtbrunnen.  Auf  diesem 
Punkte,  sagen  die  Einwohner,  habe  das  Schloss  Scharfenstein  ge- 
standen, bewohnt  von  dem  Freiherm  Konrad  Gessler,  Schloss- 
herrn auf  Reussegg,  der  im  dreizehnten  Jahrhundert  eine  aargauer 


2  20  II«    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Adelschronik  verfasst  habe.  Eine  dem  Stadtgraben  gegenüberj 
liegende  Anhöhe  heisst  Altenburg  und  soll  zubenannt  sein  nach 
dem  gleichnamigen  Schlosse ,  das  Graf  Radobot  von  Altenburg 
(bei  der  Stadt  Brugg)  hier  angelegt  habe.  Diese  Angaben  stam- 
men indess  lediglich  aus  der  Klosterchronik  Acta  Murensia  und 
sind  der  Bevölkerung  erst  durch  die  Ortsgeistlichkeit  beigebracht 
worden.  Dieselbe  Mönchs-  und  Schulphantasie  ist  es,  die  hier 
im  Dorfe  ein  altes  Gewölbe ,  das  durch  Schuttmassen  ebenerdig 
gemacht  worden  ist  und  das  man  nachträglich  mit  Balkenwerk 
durchschlagen  hat,  für  ein  unheimliches  Burgverliess  ausgiebt  und 
an  den  Gesslernamen  knüpft.  Denn  das»  der  berüchtigte  Urner 
Reichsvogt  ihr  spezieller  Mitbürger  gewesen  sein  soll,  wissen  die 
Meienberger  recht  wohl,  meinen  aber  diese  unangenehm  lautende 
Landsmannschaft  mit  dem  begründeten  Umstände  abzulehnen, 
dass  im  Nachbardorfs  Auw  einst  gleichfalls  Gessler  sesshaft  ge- 
wesen sind. 

Hieher  war  von  Wiggwil  Ulrich  Gessler  gezogen.  Da  er 
und  die  Seinigen  die  Neigung  der  Zeit  zu  frommen  Stiftungen 
theilte,  so  wird  man  eben  hiedurch  über  ein  so  entlegnes  Klein- 
geschlecht frühzeitig  aus  den  Jahrzeit-  und  Todtenbüchern  der 
Kirchen  und  Klöster  unterrichtet,  an  welche  dasselbe  Vergabungen 
macht.  So  steht  ein  Rudolf  Gessler  (Sohn  des  erwähnten  Jo- 
hannes vom  Jahre  1279)  in  den  drei  Nekrologien  der  Stifte  Muri, 
Hermetswil  und  Hitzkirch  unter  dem  gleichen  Tage  eingezeichnet; 
er  ist  Mönch  zu  Muri  und  vermacht  das  später  noch  oft  er- 
wähnte Gesslergut  Zum  Gutenbrunnen  an  die  Hitzkircher  Com- 
mende.  Zugleich  erscheint  eine  Anna  Gässleria  als  Conveht- 
schwester  zu  Hermetswil  und  ist  Anlass,  dass  unter  den  dortigen 
Klostergütem  ein  Gessleracker  mit  aufgezählt  steht.  Der  Ver- 
wandte und  Zeitgenosse  Beider  ist  ein  nicht  näher  bestimmbarer 
Conrad  Gessler  von  Meienberg,  f  ca.  12-79,  der  im  Nekro- 
logium  des  Lazaritenhauses  Seedorf  in  Uri  verzeichnet  steht 
Sein  in  diesem  Ritterhause  so  frühzeitig  auftretender  Name 
hat  wohl  auf  jene  Gründungssage Meienbergs  durch  einen  Ritter 
Conrad  G.  eingewirkt,  zum  gelehrten  Verfasser  aber  der  ältesten 
Schweizerchronik  hat  man  denselben  etwa  dann  gemacht,  als 
auch  ein  Mönch  Conr.  G.  bekannt  wurde,  welcher  1470  Conven- 
tuale  zu  Reichenau  und  Bürger  Zürichs  gewesen  ist.  Näheres 
hierüber  folgt  im  »Gesslerischen  Sagenkreise«. 

Des  vorgenannten  Murenser-Mönches  Rudolf  jüngerer  Bruder 


I.  Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc,  32 1 

ist  jener  Johannes  G.,  welcher  bei  einem  am  13.  Januar  1309  auf 
Schloss  Arburg  getroffnen  Verkommnisse  zwar  noch  ohne  Bei- 
fügung einer  Standeswürde,  aber  neben  aargauer  Adeligen  amtend 
mitgenannt  ist.  Aus  diesem  Umstände  ist  zu  schliessen,  dass  der 
gciwesne  Hörige  inzwischen  zum  Range  eines  Ministerialen,  d.  h. 
zum  waffenfähigen  dienten  irgend  eines  Landedelmannes  vorgerückt 
ist  und  somit  eme  Stellung  einnimmt,  die  zwar  immer  noch  eine 
vom  Schutzherm  persönlich  abhängige  ist,  aber  die  Uebergangs- 
stufe  bildet  von  der  Unfreiheit  zur  Freiheit.  Aus  diesem  Stande 
wählten  sich  die  Herren  die  Verwalter,  Meier  und  Kellner  ihrer 
Güter,  die  Beamten  ihres  Haushaltes;  und  insoferne  das  Dienst- 
mannsgut der  Ministerialen  befreit  wurde  von  der  Vogtsgewalt, 
von  den  Vogtsteuern  und  Frohnen,  so  lag  hierin  eine  mitwirkende 
Ursache,  dass  der  Stand  selbst  lehenrechtsfähig,  schildbürtig  und 
rittcrmässig  werden  konnte;  er  leistete  den  mit  d^r  Lebensfähig- 
keit zusammenhängenden  Ritterdienst  und  durfte  darum  das  Ab- 
zeichen der  Ritterwaffe,  das  Wappen  (arma,  armes) y  Schild  und 
Helm  im  Siegel  fuhren.  Und  dieses  Standesrecht,  wenn  auch 
nicht  der  Ritterstand,  vererbte  sich  vom  Vater  auf  die  Söhne. 
Johannes  ist  Mitbesitzer  am  Hofgute  und  Hofzehnten  zu  Staufen 
bei  Lenzburg,  (131 1,  18.  Febr.)  und  tritt  im  gleichen  Jahre  neben 
einer  Zahl  von  Adeligen  und  Klerikern  bei  einem  Gutskauf  des 
Klosters  Muri  auf  Sein  Sohn  Heinrich  ist  hiebei  mitwirkend, 
also  volljährig.  Die  Beiden  zusammen 'erwerben  13 14  mehrfache 
Zinsgüter,  welche  zerstreut  liegen  zu  Bergiswil  in  der  Pfarre 
Küssnach,  und  zu  Brüggthal  in  der  Pfarre  Luzern;  vgl.  S.  177 
vorliegenden  Werkes.  Dem  Vater  Johannes  ist  Herzog  Leopold 
der  Aeltere  erst  20,  dann  weitere  38  Mark  für  gelieferte  Rosse, 
dazu  eine  ungenannte  Summe  für  Dienstleistungen  schuldig  ge- 
worfen; dafür  versetzt  er  ihm  unterm  9.  und  12.  Mai  13 15 
Zehentantheile  zu  Oberwil  (Pfrd.  Bezirks  Bremgarten),  zu  Butwil 
(Pfr.  Muri),  Hofzinse  zu  Alikon  (Dorf  bei  Meienberg)  und  Zinse 
auf  die  Steuer  der  Stadt  und  des  Amtes  Zug.  Diese  herzoglichen 
Pfandbriefe  werden  bei  Johannes  nicht  mehr  ausgelöst,  derselbe 
verbürgt  vielmehr  seinem  Herrn  bei  Basler  Geldmaklern  weitere 
100  PfA  Pfennige,  gelangt  durch  derlei  Ergebenheitsbeweise  zum 
Amt  eines  l\erzoglichen  Küchenmeisters,  wird  Edelknecht  Y^^rw /- 
gtr)  und  kann  sich  nun  das  Prädicat  Junker,  doinicellus^  beilegen.*) 


•)  Das  Oberstküchenmeister-Amt  war  aus  dem  des  Truchsessen  (des  Schüssel- 
Rochholz,  Teil  und  Gessler.  21 


322  IL    ^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Da  Johannes  um  131 5  gestorben  ist,  am  15.  November  dieses 
Jahres  aber  die  Schlacht  bei  Morgarten  geliefert  wurde,  so  hat 
dies  zufallige  Zusammentreffen  den  stehenden  Glauben  veranlasst, 
als  habe  Johannes  dorten  mitgefochten  und  sei  für  seinen  Herzog  ; 
gefallen.*)  So  erzählen  es  die  Chronisten,  und  scheinbar  bestä- 
tigen es  auch  die  zwei  Jahrzeitbücher  der  Kirchen  von  Brem- 
garten  und  Rüeggeringen.  Entschieden  ist  jedbch  hiemit  die 
Thatsache  noch  keineswegs.  Denn  das  Rüeggeringer  Kirchenbuch 
ist  längst  verloren,  der  Untersuchung  entzogen  und  nur  in  einem 
vom  Luzerner  Stadtschreiber  Rennwart  Cysat  gefertigten  Auszuge 
vorhanden.  Auf  Cysat's  Treue  aber  ist  kein  Verlass;  im  Gegen- 
theil  haben  seine  ähnlichen  Auszüge  aus  dem  Jahrzeitbuche  der 
Luzerner  Barfüsser  so  grundverschieden  in  Namen  und  Jahres- 
zahlen sich  erwiesen  gegenüber  dem  wirklichen,  nun  im  Greschichts- 
freund,  Bd.  13,  gedruckten  Original,  dass  Cysats  eigne  Lands- 
leute bekennen,  er  müsse  das  ganze  Opus  nach  eignem  Belieben 
»fabrizirt«  haben.  Aus  dem  manierirten  Wortlaute  jener  von 
Cysat  aus  dem  Rüeggeringer  Kirchenbuche  citirten  Stelle,  sodann 
aus  der  offenbar  fälschenden  Anticipation,  wornach  hier  Johannes 
G.  als  Edelherr  und  Ritter  (dominus^  Miles)  aufgezählt  ist, 
während  derselbe  doch  erst  Edelknecht  und  Junker  { armiger ^ 
Domicellus)  war,  hat  Kopp  (Eidg.  Bünde  IV.  2,  150  und  Ur- 
kunden II,  49)  die  historische  Nichtigkeit  des  Ganzen  'gezeigt. 
Ganz  ähnliche  Willkürlichkeiten  entstellen  auch  die  andere  der 
beiden  genannten  Quellen,  das  Jahrzeitbuch  der  Pfarrkirche  der 
Stadt  Bremgarten.  Dasselbe  ist  erst  ein  volles  Jahrhundert  nach 
der  Morgartnerschlacht  von  einem  darinnen  sich  nennenden  Wilh. 
Reider  geschäftlich  geschrieben  und  zeigt  bei  der  bezüglichen 
Stelle  zum  15.  November,  als  dem  Morgartner  Schlachttage,  dass 
hier  das  entscheidende  Stichwort  »am  Morgarten«  erst  nachträg- 
lich, ausser  der  Zeile  und  mit  blasserer  Tinte  hinzugesetzt  worden 
ist.     Auch  dieses  Buch  giebt  dem  unter  den  Gefallenen   mitge- 


und  Speisenträgers)  entsprungen  und  bedingte  das  Geschäft  der  Leitung  dtf  Hof- 
feste, war  mithin  ein  nicht  unbedeutendes  Verwaltungsgeschäft«  Die  damit  ver- 
b.undnen  Einkünfte  und  Emolumente  sind  nachmals  in  ständige  Geldrenten  ver* 
wandelt  worden,  welche  bis  auf  unsere  Tage  in  bairischen  Verordnungen  Küchen- 
dienst genannt  sind.  Siehe  das  Baierische  Regierungsblatt,  Verdrdn.  v.  i8.  Nov. 
18 14,  pag.  348,     G.  L.   Maurer,  Fronhöfe  II,  268. 

*)  Nicht  zufrieden  mit  Einem,  lässt  Businger  (Gesch.  von  Unterwaiden  i,  250) 
bei  Morgarten  »zwei  von  Gessler«  unter  den  Schwyzer-Morgenster^en  fallen. 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^23 

nannten  Johann  G.  den  unberechtigten  Titel  Dominus  und 
nennt  unter  den  femer  Umgekommenen  auch  einen  Kleriker  Jo- 
hannes Bonstetten,  während  dieser  nebst  seinen  beiden  Brüdern 
Hermann  und  Ulrich  13 15  doch  noch  fortlebt,  ohne  dass  damals 
noch  andere  Bonstetten  desselben  Vornamens  vorhanden  gewesen 
sind.  Und  so  begegnen  alsbald  nach  jenem  Treffen  auch  des 
Edelknechtes  Johannes  G.  drei  Söhne:  Heinrich,  Ulrich  und  Ru- 
dolf in  solch  geschichtlicher  Deutlichkeit,  dass  sinistre  Sagen  und 
feindselige  Chronisten  eben  darum  um  so  rascher  ertappt  und 
entlarvt  werden  konnten,  wenn  sie  weitere  Schleichwege  zur  po- 
litischen Verdächtigung  des  Gesslemamens  einschlagen  wollten. 
Der  älteste  jener  drei  Brüder,  Heinrich  (I),  ein  im  Gessler- 
geschlechte  besonders  beliebt  gewesner  Vorname,  urkundet  seit 
131 1  mit  und  neben  seinem  Vater,  erwirbt  weitere  Liegenschaften 
zu  Neuenkirch  (luzerner  Bezirk  Hochdorf)  und  zu  Tägerig  (Bez. 
Bremgarten),  steht  sammt  den  Brüdern  in  Kaufgeschäften  mit  der 
Hofhaltung  zu  Wien  (24.  März  13 16)  und  sendet  mit  jenen  am 
4.  Heumonat  13 19  das  vom  Schaff hauserkloster  Allerheiligen  ge- 
tragne Erblehen  Schaffisheim,  im  Kirchspiel  Staufen  bei  Lenzburg, 
zu  Gunsten  der  herzoglichen  Stiftung  des  Klosters  Königsfelden 
bei  Brugg  auf.  Diese  bis  jetzt  genannten  Güternamen  deuten 
auf  den  Zuwachs  von  Besitzthümern  hin ,  die  von  der  Familie  in 
den  drei  Thälern  der  Reuss,  Aa  und  Aare,  schliesslich  über  den 
Aargau  hinaus  auch  im  Zürichgau  erworben  werden ;  denn  auch 
im  Kiburger  Amte  sitzen,  seit  dem  Jahre  1 300,  Gessler  und  über- 
tragen ihren  Namen  auf  dortige  herzogliche  Zinsgüter,  wie  das 
Habsburgisch-österreichische  Urbar  S.  218,  329  es  ausweist.  Für 
Beschaffung  von  Turnierhengsten  versetzt  Herzog  Leopold  an 
Heinrich  eine  am  Fischmarkte  zu  Luzern  gelegne  Hofstatt,  deren 
damaliger  Schatzungswerth  140  Mark  betrug.  Kopp,  Gesch.-Bl.  2, 
171.  Dieses  herrschaftliche  Eigenhaus,  gelegen  auf  der  alten  offnen 
Gerichtsstätte  in  der  Mehreren  Stadt  (Schneller,  Ausg.  der  Chronik 
von  M.  Russ,  S.  20,  Note  29),  ein  Absteigequartier  des  Hofes 
bei  dessen  Reisen  in  den  Vorlanden,  erhält  von  da  an  seine  eigne 
kleine  Hauschronik;  es  ist  seit  13 17  bewohnt  von  der  Geslaria, 
die  wohl  des  Johannes  Gemahlin  war  und  identisch  sein  mag  mit 
der  im  Eschenbacher  Nekrolog  erwähnten  Domina  Gutta  Gess- 
lerin.  Der  Werth  von  Haus  und  Hofstatt  ergiebt  sich  aus  der 
Urkunde  vom  17.  März  1362,  da  Johannes  Ribin  von  Lenzburg, 
Klanzier  und  Landvogt  der  Herzoge  und  Bischof  zu  Brixen  und 

21» 


^24  ^^*    ^^^  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Chur,  diese  Liegenschaft  um  140  M.  Silbers  verkauft.  (Kopp, 
Gesch.-Bl.  2,  171.  Segesser  RG.  i,  142).  Obschon  Heinrich  da- 
mals zu  Luzern  weder  eingebürgert  noch  niedergelassen  ist,  son- 
dern am  Wienerhofe  lebt,  so  hat  er  gleichwohl,  mittels  seiner 
Lehen  im  benachbarten  Amte  Rotenburg,  Einfluss  auf  die  Luzemer 
Bürgerschaft  und  macht  ihn  bei  nachfolgendem  Falle  auf  be- 
merkenswerthe  Weise  geltend. 

Die  Luzerner  Schultheissenwahl  war  am  25.  Christmonat  1328 
auf  Johann  von  Bramberg  gefallen,  jedoch  ohne  Genehmigung 
des  herzoglichen  Vogtes  zu  Rotenburg,  Hartmann  von  Ruoda,  vor- 
genommen worden,  weshalb  dieser  die  Wahl  für  eine  Anmassung 
der  ihm  opponirenden  demokratischen  Fraction  halten  durfte  und 
suspendirte.  Das  Recht  der  erhobnen  Einsprache  war  klärlich 
enthalten  in  der  schon  unter  den  Murbacher  Aebten  der  Stadt 
ertheilten  Öffnung.*)  In  dieser  Verlegenheit  wendet  sich  der 
Magistrat  an  zwei  zu  Wien  lebende  Luzerner  mit  dem  Auftrage, 
dieselben  möchten  ein  den  Vorgang  erklärendes  Bittschreiben 
beim  Herzog  Otto  überreichen  und  befürworten.  Der  eine  von 
ihnen  ist  Magister  Heinrich  aus  luzernisch  Freienbach,  früherhin 
Domherr  zu  Passau,  dann  mit  Willen  des  dortigen  Bischofs  seit 
1323  Stadtpfarrer  bei  St.  Stephan  zu  Wien.  Die  Herzoge 
Albrecht  und  Otto  schulden  ihm  225  M.  Silbers,  »darumb  hant 
si  im  (dazu  seinem  Bruder  Rudolf  von  Freienbach  und  dessen 
ehlicher  Wirthin,  sodann  auch  Josten  von  Moos  und  dessen  ehe- 
licher Wirthin  Cäcilien,  sammt  der  beiden  Letzteren  Leibeserben) 
gepen  vnd  versetzt  ir  guot  vnd  gült  ze  Malters  vnd  ze  Gersaw 
mit  vogtein  vnd  mit  gerichten  vnd  mit  allen  den  rehten,  die  da 
zuo  gehörent.  Den  nützze  kan  man  nicht  wizzen.  Datum  Wien 
am  Mentag  nach  St.  Marcustag  anno  Dm.  1333.  Item  aber 
schluogen  im  Herzog  Albrecht  und  Herzog  Ott  dar  vff  50  mark 
Silbers.  Wien  an  dem  wienacht  abent  anno  Dm.  1333.«  (Diese 
in  Fr.  Pfeiffers  Ausg.  des  Habsb.  -  Österreich.  Urbarbuches  noch 
nicht  enthaltnen  Originalbruchstücke  jenes  Gesammtwerkes  sind 
zu  Bern  durch  Bibliothekar  v.  Steiner  aufgefunden  und  theils  in 
Kopp's  Gesch.-Bl.  2,  173,  theils  in  Segessers  RG.  i,  483  abge- 
druckt worden).     Dieser  Wiener  Pfarrer,  als  der  eine  von  Luzern 


*)  Es  sint  ouch  die  burger  von  Lucerron  mit  dien  vögten  von  Rotenburg 
also  harkomen,  das  die  burger  einen  rat  hant  in  der  stat,  den  sol  man  ze  zwein 
malen  in  dem  iare  enderen,  ze  Sant  Johans  mes  unz  zem  zwel(f)ten  dag,  mit 
des  vogtz  wüssende  oder  des,  den  er  derzu  sendet.    Grimm,  Weisth.  IV,  367, 


I.  Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  125 

damals  Beauftragte,  hat  zu  seinem  politischen  Mitagenten  daselbst 
den  Ritter  Heinrich  Gessler,  dem  die  herzoglichen  Brüder  nicht 
minder  verpflichtet  waren.  Beide  unterziehen  sich  dem  Geschäfte. 
Gesslers  Rückantwort  hat  sich  erhalten.  Er  meldet  1329  dem 
Luzerner  Stadtrathe,  dessen  Bittschreiben  sei  eingereicht  und  freund- 
lich angenommen  worden,  das  mit  übergebene  Schultheissendiplom 
liege  bereits  zur  Besieglung  bei  Herzog  Otto.  Man  möge  jedoch 
zu  Luzern  ja  nicht  ferner  auf  eine  zwischen  den  herzoglichen 
Brüdern  und  Vettern  bestehende  Spannung  rechnen,  selbst  das 
Zerwürfniss  mit  dem  Könige  von  Böhmen  sei  soeben  ausgeglichen 
worden.  Vielmehr  sei  für  jetzt  von  ferneren  bürgerlichen  Neuerun- 
gen abzumahnen  und  die  schwebende  Sache  in  des  Fürsten  Ent- 
scheid zu  legen,  der  seine  gute  Gesinnung  ohnedies  ausgedrückt 
habe.  —  Allerdings  genehmigte  Otto  hierauf  unterm  13.  Nov. 
1330  jene  Ernennung  Brambergs,  bestätigte  und  bestimmte  jedoch 
dem  Rotenburger  Landvogte  von  Ruoda  abermals  das  Recht,  die 
Schultheissenwahlen  zu  beaufsichtigen  und  die  Gewählten  zu  cen- 
siren  und  zu  sichten.  Ganz  vergeblich  I  Denn  schon  am  27.  Christ- 
monat darauf  fasste  die  Gemeinde  den  umständlich  formulirten 
Beschluss:  Wer  gegen  das  Stadtrecht,  das  der  von  Ruoda  jüngst 
entkräften  hat  wollen,  spricht  oder  handelt  und  dessen,  auch  wenn 
er  ableugnet,  mit  der  Mehrheit  überführt  wird,  der  wird  nicht 
mehr  mit  Verbannung,  sondern  an  Leib  und  Leben  bestraft, 
sein  Vermögen  wird  eingezogen,  um  daraus  die  Kriegskosten  zu 
bezahlen.  Der  gewesne  Stadtschultheiss  Johann  von  Malters  und 
seine  drei  Mitgesandten,  welche  mit  dem  Herzog  über  die 
Punkte  des  fürstlichen  Sendschreibens  überein  gekommen  waren, 
wurden  zu  Luzern  öffentlich  verrufen  und  der  Stadt  verwiesen. 
Es  währte  noch  zwei  weitere  Jahre,  und  Luzern  schloss  sich  am 
13.  Wintermonat  1332  dem  Bunde  der  Waldstätte  an,  die  durch 
König  Ludwig  den  Baiern  von  Oesterreich  losgesagt  und  reichsfrei 
erklärt  worden  waren.  Luzern  verweigerte  die  Annahme  der  all- 
jährlich sich  verschlechternden  Landmünze  und  wagte  darüber 
einen  Angriff  gegen  die  herzogliche  Zollstätte  in  Rotenburg. 
Hartmann  von  Ruoda  schlug  die  Angreifer  zurück,  sie  Hessen 
85  Mann  auf  dem  Platze.  Abermals  suchten  die  Bürger  die 
Gnade  der  Herzoge,  wiederum  trat  Vermittlung  ein;  die  gericht- 
lich Verschrieenen  wurden  befriedet,  die  abgewiesene  Münze  be- 
hielt ihren  Curs;  auch  Luzems  Bund  mit  den  Ländern,  welcher 
unter   dem   gleissnerischen   Vorbehalt   der    »Rechte  und  Gerichte 


326  n.    Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

unsrer  Herren  der  Herzoge«  geschlossen  war,  und  jedes  andere,, 
ohne  der  Herrschaft  Einwilligung  inzwischen  geschlossene  Bund- 
niss,  sei's  von  Eidgenossenschaft  oder  von  Burgrecht  wegen,  sollte 
todt  und  ab  sein.  So  blieb  der  Stand  der  Dinge  bis  1336,  als 
die  höfischgesinnte  Partei  zu  Luzem  es  an  der  Zeit  hielt,  sich 
gegen  die  demokratische  verstärken  zu  können  und  das  Begehren 
stellte,  den  Ritter  Heinrich  Gessler  ins  Stadtbürgerrecht  aufzu- 
nehmen. Ihr  Antrag  fiel  nicht  bloss  durch,  sondern  Gesslers 
Name  war  damit  örtlich  zum  politischen  Stichwort  gemacht  und 
reichte  jetzt  für  sich  allein  schon  hin,  heftige  Injurienprozesse 
zwischen  den  Herzoglichen  und  den  Eidgenössischen  anzustiften. 
Regest  vom*  12.  Mai  1336,  Zofingen.  Der  Hauptanlass  zu  solcher- 
lei Vorgängen  lag  in  der  politischen  Schwäche  der  Herzoge,  die 
mit  den  drei  Ländern  eine  zeitweilige  Waffenruhe  abgeschlossen 
und  bis  zum  25.  Christmonat  1338  verlängert  hatten,  sodann 
während  dieser  Zeit  drei  Rotenburger  Vögte  (Hartm.  v.  Ruoda, 
Ulrich  von  Ramswag  und  Bruder  Peter  von  Stoffeln)  gewechselt 
hatten,  und  also  eben  so  lange  die  unbotmässige  Stadt  dem  auf- 
regenden Einflüsse  der  Waldstätte  ausgesetzt  Hessen.  Damit  war 
hier  auch  Heinrich  Gessler  preisgegeben  und  sein  Bemühen  ver- 
eitelt. Noch  viel  weiter  aussehend  war  der  herzogliche  Plan,  in 
der  Kabinetspolitik  der  damaligen  Grossmächte  eine  Rolle  mit- 
zuspielen; wiederum  wurde  er  in  Gesslers  Hand  gelegt  und  aber- 
mals misslang  er  vollständig. 

Der  englische  König  Edward  III.  hatte  den  Entschluss  gefasst, 
mit  König  Philipp  VI.  von  Frankreich  um  den  Besitz  der  franzö- 
sischen Krone  zu  kriegen  und  suchte  die  Fürsten  des  deutschen 
Reiches  durch  Verträge,  Subsidien  und  Ehebündnisse  an  seine  Politik 
zu  fesseln.  Bereits  war  er  mit  dem  Grafen  Wilhelm  von  Hennegau 
und  mit  König  Ludwig  dem  Baier  verschwägert;  nun  stellt  er 
dem  stets  geldbedürftigen  Wienerhofe  sein  Töchterlein  Johanna 
als  den  reichen  Heiratsgewinn  für  eine  mit  ihm  abzuschliessende 
Allianz  in  Aussicht,  und  seit  2.  Sept.  1337  ist  Ritter  Heinrich 
Gessler  designirt,  als  Gesandter  nach  London  zu  gehen  und 
förmlich  um  die  Prinzessin  zu  werben.  Sie  ist  1333  geboren, 
mithin  jetzt  erst  vierjährig.  Der  ihr  zugedachte  Gemahl  Herzog 
Friedrich  IV.,  Sohn  Otto's  des  Fröhlichen  und  der  Frau  Elisabeth 
von  Baiern,  ist  1327  geboren,  zählt  also  gleichfalls  erst  zehn 
Jahre  und  ist  bis  jetzt  seiner  Muhme  in  aargauisch  Königsfelden, 
der  vielgenannten  ungarischen  Königswittwe  Agnes,  zur  Erziehung 


I.   Familiengeschichte  der  aargaaer  Gessler  etc.  y2,J 

übergeben.  Bekanntlich  ist  bei  Geldheiraten,  sei's  unter  Fürsten 
oder  Bauern,  das  Kindheits-  oder  Greisenalter  kein  Verhinderungs- 
grund. Hingegen  sind  damals  des  englischen  Königs  übrige  Plane 
noch  nicht  reif  und  so  weiss  er  theils  die  Ankunft  Gesslers,  theils, 
da  dieser  dennoch  in  London  erscheint,  die  Verlobung  der  Tochter 
zu  verzögern,  indeiti  er  vorerst  über  die  Terminsbestimmungen 
zur  Auszahlung  der  Heimsteuer  umständlich  tractieren  lässt.  Nach- 
dem er  aber  1338  das  deutsche  Reichs- Vicariat  erhalten  hatte  — 
auch  dies  als  Folge  eines  Geldgeschäftes  —  kommt  er  nach  Ant. 
werpen  herüber,  schlägt  hier  zwei  Jahre  lang  —  bis  1339  —  sein 
Hoflager  auf,  schickt  Johanna  zu  ihrer  kaiserlichen  Base  nach 
München  und  lässt  inzwischen  das  Geschäft  zu  Wien  durch  den 
Unterhändler  Johann  von  Montgomery  weiter  fuhren.  Die 
40,000  Gl.  Heiratsgut  sind  zur  Zeit  in  der  Münchner  Hofburg, 
als  an  neutraler  Stelle  deponiert,  und  hier  ist  Kaiser  Ludwig  vor- 
sichtig genug,  eine  so  hübsche  Sumn^e  nicht  in  die  Hand  seiner 
Wiener  Rivalen  gelangen  zu  lassen.*)  Jetzt  tritt  Edward  be- 
stimmter heraus.  Mit  Urkunde  aus  Antwerpen,  Febr.  1339,  er- 
richtet er  einen  Schutz-  und  Trutztractat  mit  den  herzogl.  Brüdern 
Albrecht  und  Otto.  Beiderseits  verbündet  man  sich  gegen  alle 
Widersacher,  den  römischen  König  allein  vorbehalten;  ein  Sonder- 
artikel bestimmt,  dass  während  Edward  den  König  von  Frankreich 

'  bekämpft,  die  Herzoge  einen  Einfall  in  das  Herzogthum  Burgund 
machen  und  dieses  besetzen  sollen,  wozu  ihnen  200  Reisige  in 
brittischem  Solde  gestellt  werden.**)  Das  Lockmittel  war  die 
Gründung  eines  habsburgischen  Fürstenthums  in  burgundischen 
Landen,  ein  damals  seit  hundert  Jahren  von  Oesterreich  verfolgter 

'  Plan.  Allein  dieser  missrieth  jetzt  in  allen  Stücken,  die  Ereignisse 
überholten  sich ,    der  Kampf,   welcher  in  Burgund  ausgefochten 

I  hätte  werden  sollen,  fand  sein  Schlachtfeld  vorfrüh  in  der  Schweiz 
und  die  österreichische  Partei  unterlag. 

Den  äusserlichen  Anlass  zur  Feindseligkeit,  der  zugleich  den 
Einfall  in  Burgund  maskiren  sollte,  bot  das  kleine  Städtlein  Laupen, 


*)  So  urtheilt  De  Roo,  Annales.  Oeniponti  1592,  pag.  102. 
**)  Rymer,  Foedera  II.  3,42.  Lichnowsky  III,  Urkk.  No.  1188.  Ein 
I^eisiger  wurde  zu  je  fünf  bis  sechs  Mann  Söldner  gerechnet.  Ein  Jahrhundert 
später  kosteten  sechs  Reisige  jährlich  2CX)  Gl.,  mithin  200  Reisige  6666*/,  Gl. 
Um  solchen  Lohn  dient  im  Jahre  1423  Ritter  Hermann  Gessler  der  Öster- 
reicher Herzogin  Anna  in  Tirol ;  vergl.  Regest  zum  genannten  Jahre. 


128  I^*    ^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 


^ 


um  dessen  Alleinbesitz  die  üchtländischen  Schwesterstädte  Freiburg' 
und  Bern  bereits  schon  länger  sich  gestritten  hatten.  Freiburg  machte 
die  ihm  vom  König  Ludwig  bewilligte  Wiedereinlösung  des  an  Benr 
verpfändeten  Laupens  geltend;  Bern  aber  verweigerte  die  Abtretung 
beharrlich,  zu  deren  Decretirung  Ludwig,  als  im  päpstlichen  Banne 
liegend,  nicht  befugt  gewesen  sei.  Der  Adel  der  burgundischen 
Lande  hingegen  sah  seine  Zukunft  in  der  Westschweiz  durch  Berns 
wachsenden  Einfluss  gefährdet  und  unterstützte  darum  Freiburgs 
Ansprüche.  Zu  der  nun  geschlossnen  Coalition  traten  darum  in 
der  romanischen  Schweiz  die  Grafen  von  Greyerz,  von  Waat, 
Neuenburg,  Valangin;  in  der  deutschen  die  Grafen  Eberhart  von 
Kiburg,  Peter  von  Arberg,  Rudolf  von  Nidau,  Imer  von  Strass- 
berg  und  die  drei  Bischöfe  von  Basel,  Lausanne  und  Sitten. 
Sogar  König  Ludwig,  dem  Bern  bis  dahin  die  Huldigung  noch 
immer  verweigert  hatte,  hiess  mit  Urk.  vom  Febr.  1338  das 
welsche  Bündniss  gut.  Während  das  Bundesheer  die  Belagerung 
Laupens  begann,  dessen  Besatzung  unter  Schultheiss  Joh.  von 
Bubenberg  hartnäckig  trotzte,  rückte  der  österreichische  Succurs 
unter  dem  Grafen  Heinrich  von  Fürstenberg  verlangsamt  aus  dem 
Aargau  heran.  Ehe  sich  diese  Schaaren  geeinigt  hatten,  erschienen 
die  Berner  zum  Entsätze,  verstärkt  durch  die  Mannschaft  der 
Solothurner,  Oberländer  und  Waldstätte,  und  erfochten  am 
21.  Juni  1339  einen  glänzenden  Sieg.  Das  Heer  des  welschen' 
Adels  war  dahin.  So  rettete  Bern  bei  Laupen  seine  eigne 
Zukunft,  aber  auch  zugleich  den  Bestand  des  Herzogthums 
Burgund.  Wenige  Wochen  hernach  war  die  ganze  Coalition 
gesprengt.  König  Ludwig  zerfiel  mit  Oesterreich  und  begnadete 
Bern  mit  wichtigen  Privilegien;  die  Habsburger  mussten  zum 
Schutze  ihrer  oberen  Lande  hier  neuerdings  Freunde  suchen.  Die 
Königin-Wittwe  Agnes,  diese  alte  Penelope  am  Webstuhle  der 
österreichischen  Hauspolitik,  hatte  das  Knäblein  Friedrich  zu  Kö- 
nigsfelden  umsonst  zur  politischen  Schau  ausgestellt,  Hess  durch 
Ritter  Burkhard  von  Ellerbach  eine  vorläufige  Waffenruhe  unter- 
handeln und  vermittelte  darauf  ein  zehnjähriges  Bündniss  mit 
Bern.*)  Dem  Wiener  Heiratsprojecte  endlich  setzte  der  Tod 
ein  Ziel.     Herzog  Otto  starb    1339,**)    rasch   folgten   ihm   seine 


*)  Der  Laupenkrieg  ist  hier  nach  der  AufTassungsweise  des  Geschichts- 
forschers Urs  Jos.  Lüthy  dargestellt,  und  zwar  nach  dessen  Ztschr. :  Solothurner 
Wochenblatt,  Jahrg.  1826,  S.  370  ff. 

*•)  Mailath,  Gesch.  v.   Oesterr.  I,   136  nennt  dafür  den  14.  Febr.   1340. 


r 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  i2Q 

Söhne:  Leopold  am  lo.  Aug.  1344,  Friedrich  achtzehnjährig  am 
II.  Dec.  gleichen  Jahres.  König  Edward  liess  sein  Töchterlein 
Johanna  aus  München  nach*  Antwerpen  zurückkehren  und  schiffte 
sich  mit  ihr  nach  England  ein ;  die  deutschen  Fürsten  hatten  sich 
für  seine  Plane  zu  machtlos  und  zu  geldarm  gezeigt.  Noch  ist 
sein  damals  geführtes  Haushaltungsbuch  vorhanden,  das  die  bei 
diesen  Verhandlungen  ausgegebenen  Summen  sammt  den  Namen 
der  Empfänger  enthält.  Daraus  sind  die  während  des  Königs 
Aufenthalte  am  Continent  vertheilten  reichen  Gratificationen  und 
Ehrengeschenke  publicirt  worden  in  den  »Quellen  und  Erörterungen 
zur  deutschen  und  baierischen  Geschichte,«  Bd.  7,  S.  410  ff. 
Gesslers,  des  Brautwerbers  und  Gesandten  Name  begegnet  hiebei 
nirgend.     Er  scheint  seit  1342  gestorben  zu  sein. 

Im  Todtenbuche  der  Kirche  von  aargauisch  Beinwil  steht 
Heinr.  Gessler  unter  dem  15.  Mai  mit  einer  auf  den  dortigen 
Weiler  Marienhalden  lautenden  Stiftung  eingetragen,  und  ebenda 
auch  der  Leibarzt  des  Herzogs  Leopold.  Heinrich  war  Patronats- 
herr  der  Kirche  von  Rüeggeringen  gewesen,  wohin  das  luzemer 
Städtlein  Rotenburg  pfarrgenössisch  gehörte,  und  hatte  durch 
,  Urkunde,  dat.  Rotenburg,  2i.Brachm.  1334,  die  Rotenburger  des 
Kirchenbannes,  in  den  sie  wegen  Zehentverweigerung  verfällt 
waren,  bedingungsweise  enthoben.  Diese  Urkunde  ist  verloren, 
eine  späte  Copie  derselben  in  der  Rotenburger  Kirchenlade  schreibt 
abbre viert:  »Der  ehrbare  Her  H.  der  Gessler.«  Ganz  derselbe  Um- 
stand ist  es  mit  dem  gleichfalls  verlornen  Original  des  Rüeggeringer 
Jahrzeitbuches ;  man  hat  auch  von  diesem  nur  einen  abschriftlichen 
Auszug,  welchen  der  Verdacht  erregende  Rennwart  Cysat  in 
seinen  Collectaneen  A.  pag.  176  zu  Luzern  hinterlassen  hat.  Darin 
nun  steht  jener  H.  Gessler  in  Her  man  ausgeschrieben,  und  in 
dieser  Namensform  hat  ihn  hernach  Felix  Balthasar  in  den  »Denk. 
Würdigkeiten«  in  weiteren  geschichtlichen  Umlauf  gesetzt.  Hinter 
dieser  kleinlichen  Silbenstecherei  »lag  indess  der  Chronistenplan 
versteckt,  jenen  sagenhaften  Landvogt  Gessler,  der  für  das  Be- 
freiungsjahr 1307  urkundlich  nicht  aufzutreiben  ist,  irgend  anderswo 
hervor  zu  holen  und  als  Schreckgestalt  geschichtlich  rückwirken 
zu  lassen.  Versetzte  man  den  berüchtigten  Namen  Her  man 
Gessler  in  die  Rotenburger  Geschichte,  so  liess  sich  dadurch  ein 
von  Luzern  gegen  den  Rotenburger  Vogt  verübter  Verrath  sogar 
zu  einer  Volkserhebung  steigern,  welche  gegen  Gesslerische 
Grausamkeiten   patriotisch  vollberechtigt  heissen  konnte.     Trotz 


J90  II*    I^i^  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

des  Torberger  Friedens  hatte  nemlich  zwischen  Luzem  und  dem 
herzogl.  Vogte  zu  Rotenburg  die  Fehde  heimlich  fortgedauert, 
weil  des  Krieges  früherer  Anlass  ungehoben  geblieben  war.  Denn 
Luzem  fuhr  fort,  die  Rotenburger  Unterthaneri  unberechtigt  in 
sein  Bürgerrecht  aufzunehmen,  und  der  Landvogt  unterliess  eben 
so  wenig,  auf  die  ihm  Entronnenen  zu  fahnden  und  die  luzemischen 
ZoUdefraudanten  scharf  abzustrafen.  Die  Gebüssten  sannen  auf 
einen  Handstreich.  Während  der  Vogt  Hemmann  von  Grünen- 
berg, damaliger  Pfandherr  des  Amtes,  am  28.  Christm.  eben  auf 
dem  Kirchwege  nach  dem  eine  halbe  Stunde  entfernten  Rüegge- 
ringen  war,  erstieg  das  junge  Luzernervolk  das  Schloss  und 
schleifte  es.  Die  gleichzeitige  Züricher  Stadtchronik  brandmarkte 
diese  mitten  im  beschwomen  Frieden  verübte  Gewaltthat  mit 
dem  Vorwurfe  der  Eidbrüchigkeit:  »Am  kindlintag  zuo  wichen- 
nächten  zugent  die  von  Lucern  heimlich  uz  und  nament  Rotenburg 
in,  ungewarnoter  sach.«  Dies  von  den  übrigen  Städten  mit- 
vertretne  Urtheil  wurmte  die  waldstättisch  Gresinnten,  ihre  Scri- 
benten  dachten  auf  eine  Ehrenrettung  und  meinten,  sie  gefunden 
zu  haben,  wenn  man  den  in  der  Rotenburger  Urkunde  von  1334 
genannten  H.  Gessler  in  einen  Hermann  G.  umschrieb.  Hatte 
ein  Gleichnamiger  seine  Unthat  gegen  Teil  nicht  mit  dem  Leben 
gebüsst?  Hatten  die  frommen  Unterwaldner  das  Vogtschloss  zu 
Samen  und  Rossberg  nicht  genau  auf  dieselbe  Weise  beschlichen 
und  zerstört?  Was  kümmert  sich  das  Volk  um  den  chrono- 
logischen Unterschied  von  1307  und  1385  I  So  dachten  die  Partei- 
schriftsteller und'  hielten  es  für  unmöglich,  dass  man  noch  in 
späteren  Tagen  einmal  ihre  kecken  Angaben  auf  den  Buchstaben 
der  Urkunden  prüfen  und  widerlegen  werde. 

Heinrich  und  seine  zwei  Brüder  Rudolf  und  Ulrich  Urkunden 
zusammen  am  4.  Heum.  13 19  über  Aufsendung  eines  ihrer  Lehen 
und  erwerben  mehrere  Güter  zu  Rigoldsrüti,  Wölhausen,  Butwil 
und  Göslikon,  Ortschaften  im  teerner  Lande  und  im  angrenzenden 
Freiamte.  Ulrich  ist  Mitkäufer  des  Kirchensatzes  zu  Göslikon, 
dann  seit  10.  Nov.  1328  Rector  oder  Kirchherr  zu  Engstringen, 
einer  zwischen  Baden  und  Zürich  gelegnen  Gemeinde,  so  dass 
also  den  drei  Brüdern  bereits  eine  dreifache  Kirchen-Patronatschaft 
zusteht.  Sie  üben  hierin  einen  zu  ihrer  Zeit  allgemein  gewesnen 
groben  Missbrauch.  Der  mit  dem  Gesammtertrage  einer  im 
Lehennexus  stehenden  Pfarrei  belehnte  Laie  oder  Priester  bezog 
die  Temporalien  der  Ortskirche  und  überliess  die  Seelsorge  einem 


I.   Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  33 1 

Vikar  oder  Leutpriester  gegen  meist  dürftigen  Sold.  *)  In  diesem 
Verhältnisse  stunden  alle  diejenigen  Ortskirchen  der  Österreich. 
Vorlande,  deren  das  Österreich.  Urbar  unter  der  Formel  gedenkt: 
die  kilchen  lihet  diu  herschaft;  und  unter  dieser  gleichen 
Form  giengen  dieselben  nach  Eroberung  des  Aargaus  an  die 
Xehensherrliphkeit  der  Kantone  über.  Segesser  RG.  II,  806. 
Ulrich  verschws^ert  sich  mit  \lem  aargauer  Edelgeschlechte  von 
Mülinen,  sesshaft  auf  der  gleichnamigen  Burg  bei  Windisch  an 
der  Reuss,  und  eröffnet  damit  die  nachmals  weiter  greifende 
Verwandtschaft  seines  Hauses  mit  den  Adelshäusem  von  EUer- 
bach,  Hedingen  und  Freiberg.  Jene  Ehe  kam  auf  ungewöhnlichem 
Wege  zu  Stande.  Ritter  Albrecht  von  Mülinen  war  des  Kom- 
plottes mit  dem  Kaisermörder  Johann  von  Schwaben  schuldig, 
hatte  seine  Güter  durch  Confiscation  verloren,  und  ein  Theil  der- 
selben war  an  die  Gessler  übergegangen.**)  Des  Geächteten 
Tochter  Anna  stand  als  Hofjungfrau  in  Diensten  Katharina's  von 
Savoyen,  Wittwe  Herzog  Leopolds  des  Aelteren,  verlobte  sich 
1334  mit  Ulrifch  Gessler  und  erhielt,  da  die  Landesherren  gegen- 
über ihren  Dienern  und  Amtleuten  den  Brauch  übten,  die  Heim- 
steuer für  deren  Töchter  zu  übernehmen,  zu  ihrer  Ehe  100  Mark 
Silbers  auf  das  Amt  Zug  angewiesen,  ***)  wobei  wir  uns  erinnern 
werden,  dass  ein  Theil  dieser  Amtssteuer  den  Gesslem  schon 
früherhin  pfandweise  versetzt  war.  Der  Gemahl  Ulrich  ist  sesshaft 
I  auf  Schloss  Neu-Krenkingen  und  Gerichtsherr  im  Amte  Erzingen, 
'  beides  im  Kletgau ,  und  steht  in  Geschäftsverkehr  mit  der  Abtei 
St.  Blasien  und  den  Grafen  von  Habsburg-Rapperswil.  Unterm 
9.  März  und  i.  Brachm.  1359  treten  er  und  sein  damals  voll- 
jähriger Sohn  Heinrich  die  schon  erwähnte  Familienbesitzung  des 
Hofes  Gutenbrunnen  und  des  dazu  gehörenden  Göslikoner  Kirchen- 


■  •)  Berchtold  ron  Regensburg  predigt  im  dreizehnten  Jahrhundert  von  der 
I  Kirchenkanzel  gegen  solche  Regenten,  welche  das  Kirchengut,  die  Zehnten  und 
I  Widern  zu  ihren  weltlichen  Händen  nehmen:  der  habet  ir  iuch  so  gar 
i  nnderwunden,  daz  man  küme  uf  vier  pfarren  ein  armez  pfeffelin 
vindet.     Ausg.  v,  Pfeiffer,   S.  450. 

**)  Familiengesch.  u.  Geneal.  der  Grafen  v,  Mülinen,     Berlin  1844,  S.  7. 

***)  Das  Sprichwort  Nobilis  non  dimittit  sine  munere,  hat  bis  auf  die 
Zeit  unserer  deutschen  Classiker  seine  höfische  Geltung  behauptet.  Charlotte  von 
Lcngenfeld  ist  Hoffraulein  der  Herzogin  Amalie  von  Weimar  und  erhält  von 
Herzog  Karl  August  zu  ihrer  Ehe  mit  Friedrich  Schiller  200  Thlr.  Nadelgeld 
stipulirt.    Gödeke,  Grundriss,  Zweite  Hälfte  S.  938. 


332 


II.   Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 


Satzes  käuflich   um  60  Mark  Silbers   an  die  Königin  Agnes  ab^ 
welche  die  Besitzung  »zu  der  Verkäufer  Seelenheile«  dem  Spit< 
der  Stadt  Baden  schenkt.     Nachdem  Vater  und  Sohn  ebenso  dei 
Besitze  von  Neu-Krenkingen  entsagt  und  dieses  Lehen  an  Herzog 
Rudolf  IV.  aufgesendet  haben,  wird  ihnen  diese  Vasallen-Ergeben^ 
heit   damit   gelohnt,    dass   ihnen    Stadt,    Amt   und   Vogtei   voi 
Meienberg,  nebst  einigen  Gütern   im  Kiburger  Amte   übertragei 
werden,  wogegen  die  Belehnten  freilich  auch  die  auf  dem  Meiei 
berger  Amte  ruhende  Pfandschaft  mit  der   grossen  Summe  voi 
157  Florentinergulden,  225  Mark  Silbers  und  579  Pfund  Zofingei 
Pfennige  einzulösen  sich  verpflichten.    Nachdem  Ulrich  zehnjahr( 
lang  als  Meienberger  Vogt  geamtet  und  hier  die  politische  Kui 
rechtzeitiger  Nachgiebigkeit  gegen  die  Gewaltthätigkeiten  bald  de^ 
Luzemer,    bald    ihrer    waldstätter   Verbündeten    noch    mehrfacl 
erprobt   hat,    verstummt  mit   1369   sein  Name  in  den  Urkunde^ 
und   der  des   Sohnes  Heinrich   (II.)  tritt  an  die  Stelle.     In  diesei 
beiden  Männern  ist   das   Gesslergeschlecht  wohlbegütert,    schil( 
bürtig  und  gerittert  worden,  ist  verschwägert  mit  Edelgeschlechtei 
und   verwaltet  im  Lande  das  höchste  Amt.     Nun  kehrt  es  mi| 
solchem  Rang   und  Besitz  zurück  in   jenes  Meienberg,    aus  dei 
es  vor  damals  hundert  und  acht  Jahren  in  bäurischer  Leibeigei 
Schaft    hervor    gegangen   war.      In    solchem    Sinne    eines    natui 
gemässen  Freiwerdens  von   der  Scholle,   eines   stufenweisen  Voi 
rückens     aus     der    Niedrigkeit    zur    Namhaftigkeit    behält    de 
Sprichwort  recht:  Adel  ist  von  Bauern  her. 


2.    Die  Gessler  von  Meienberg  und  Grüningen. 

1370— 1403. 

Der  Glücks-  und  Ehrenstand  des  Gesslerischen  Hauses  gipfelt 
in  Heinrich  II.  Es  liegt  in  diesem  Manne  ein  ritterlich-rührigej 
Sinn,  der  die  ehrliche  Fehde  nicht  scheut;  dazu  eine  Lebens 
klugheit  und  Geschäftsgewandtheit,  welche  Frieden  zu  stiften  unc 
Besitzthümer  zu  erwerben  versteht ;  aber  auch  ein  stolzer  Standes 
geist,  der  den  Baarbesitz  über  dem  edleren  Streben  nach  Nam^ 
und  Ehre  wieder  in  die  Schanze  schlägt.     Solche  Charakterzüg^ 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  GessW  etc.  ßij 

erwerben  ihm  das  •  dauernde  Vertrauen  jener  österreichischen 
Herzoge,  denen  die  Geschichte  selbst  die  Eigenschaften  der 
Ritterlichkeit  beigelegt  hat.  Er  ist  Leopolds,  Albrechts  und 
•  -deren  Neffen  allseitig  verwendeter  Kammermeister,  Erb- 
'schenke,-  Rechtsrath,  Gesandter,  Brautwerber,  Feldhauptmann  und 
Landvogt.  Und  er  ist  auch  gerade  darin  ein  absonderlicher 
Mann,  dass  er  sich  in  seinen  oft  sehr  ausgesetzten  Stellungen 
unter  mehrfachem  Regierungswechsel  bis  an  sein  Lebensende 
sicher  behauptet  hat,  während  man  blosse  Günstlinge  zwar  ohne 
Verdienst  erhebt,  aber  auch  ohne  Grund  wieder  fallen  lässt.  So 
ist  ihm  allerdings  das  Glück,  auf  das  er  baute,  treu  geblieben. 
Allein  die  bürgerlichen  Neuerungen,  die  ihm  in  seinem  Alter 
beijrohlich  entgegentraten,  gegen  die  er  als  Landvogt  immer 
häufiger  und  mit  immer  geringerer  Wirkung  anzukämpfen  hatte, 
werden  ihm  schliesslich  gesagt  haben,  dass  er  einer  sinkenden 
Herrschaft  diente,  deren  Fall,  obwohl  er  ihn  nicht  selbst  mehr 
sieht,  schon .  denjenigen  seiner  Kinder  und  seines  ganzen  Hauses 
mit  veranlasst. 

Die  von  Heinrich  H.  gemachten  Gebietserwerbungen  im 
Aargau,  Zürichgau  und  Frickgau;  die  Mittel,  mit  denen  er  sie 
gewann  und  gegen  Anfechtungen  behauptete,  sind  der  Gegenstand 
nachfolgenden  Berichtes.  Da  es  aber  hiebei  an  landschaftlichen 
und  örtlichen  Besonderheiten  ohnedies  genugsam  zu  melden  giebt 
und  jeder  neue  Fund  aus  seiner  eignen  Urkunde  beglaubigt  sein 
will,  so  darf  man  dem  Leser  nicht  auch  noch  jene  Masse  gleich- 
namiger Fälle  von  Kauf  und  Tausch,  Zeugenschaft,  Bürgschaft, 
Geiselschaft  und  sonstige  Herkömmlichkeiten  aus  dem  Privatleben 
eines  ^Ritters  aufbürden  wollen.  Sie  fallen  mit  allem  Andern 
in  unsere  Regesten-Sammlung.  Darum  muss  hier  die  blosse 
Nennung  der  Ortschaften  genügen,  wo  Gessler  als  herrschaftlicher 
Rath  amtet  und  mit  zu  Gericht  sitzt;  innerhalb  der  heutigen 
Schweiz  geschieht  dies  zu  Zürich,  Grüningen,  Winterthur,  Schaff- 
hausen, Nidau,  Baden,  Liechtensteig ;  ausserhalb  der  Schweiz  zu 
Seckingen  im  Schwarzwalde,  Tann  im  Elsass,  Feldkirch  in  Vor- 
arlberg, Graz  in  Steiermark.  Damit  ist  der  weite  Umkreis  seiner 
richterlichen  Praxis  gezeigt.  Ebenso  ist  es  hinreichend,  Gesslers 
politische  Missionen  in  einer  einzigen  Notiz  hier  zusammen  zu 
fassen.  Für  Herzog  Leopold  IV.  hat  er  in  zweien  Gesandtschafts- 
reisen 1378  um  die  burgundische  Herzogstochter  Margaretha 
'geworben;    1380   zu  Avignon  bei  Papst  Clemens  VII.   um  Sub- 


^^A  II.    Die  Gcssler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 


1 


sidien  unterhandelt;   ist  Schiedsmann  gewesen  bei  der  zwischen 
den  Österreicher  Herzogen  vorgenommenen  Theilung  ihrer  Erb- 
länder,   hat    mit    vorarlberger    Truppen    das    belagerte  Treviso 
entsetzt   und   darauf  mit   der   Republik    Venedig  Frieden   abge- 
schlossen.     Ueber    den    Zweck    und    Erfolg    dieser    auswärtigen  i 
Missionen  mag  man  die  bekannten  Werke  über  die  Hausgeschichte  1 
der  Österreicher  Herzoge   nachschlagen.     Uns   dagegen   liegt   ob, 
den  Umfang  und  die  Verwaltungsweise  der  verschiedenen  Land-  | 
vogteien   zu  schildern,    die  jetzt  in  Heinrichs,    nachher  in  seiner 
Söhne  Hand    kamen,   unter   letzteren   aber  grösstentheils   an  die 
Eidgenossen   wieder  verloren  giengen:   Die  Vogteien  Meienberg, 
Grüningen,    Rheinfelden,    Feldkirch.     Als    Heinrich    Gessler   die  i 
Verwaltung  dieser  Landschaften  antrat,   waren  sie  durch  Krieg  ! 
und    Misswirthschaft   in   schon   zerrütteten    Verhältnissjen ,    herab-  : 
gekommen   in  Seelenzahl  und  Steuerkraft;   um  so  nothwendiger  : 
ist  es,   gegen  die  irrigen  Ansichten,  die  von  der  Populargeschicht- 
schreibung   heute   noch   über    die   Machtsphäre    eines   damaligen  I 
herzogl.   Landvogtes   verbreitet   werden,    gleich    hier    eine  kurze  ! 
Erklärung  voraus  zu  schicken.    Der  Vogt  sollte  die  Personen  und 
ihre  Güter  schützen.     Also  war  er  Strafrichter  über  Criminalfalle 
(genannt    Frevel    und    Diebstahl),    seine    Untervögte    und    Meier 
handhabten   die  Polizei  über  Zwing  und  Bann.     Für  das  Gericht 
bezog  der  Vogt   die   Steuer   in  Geld,    für  den  Schutz  der  Güter 
Naturalien,   für    seine   Verköstigung   am  Gerichtstage  den   Vogt- 
Haber.     Diese   dreierlei  Abgaben  wurden  mit  dem  Namen  Vogt- 
recht und  Vogtsteuer  bezeichnet  und  waren  sein  ^imtlicher  Gehalt; 
vgl.  das  Habsb.-österreich.  Urbar,  S.  46  und  48.    Die  Grundsteuer, 
die   ausserdem   zu   diesen  Abgaben  kam,  galt  nicht  dem  Vogte,  ! 
sondern   der  Herrschaft,   war  eine   nach  Werth  und  Ertrag  des 
steuerbaren   Vermögens    steigende    und    sinkende  und   wechselte  1 
somit  jedes  Jahr.     Dies  aber  ist   eben  der  Punkt,   über  den  sich 
die  herkömmlichen  Vorstellungen  täuschen.   Im  Jahre  1 303  erklärt 
das  Habsb.-österreich.  Urbar,  dass  die  Herrschaftsleute  kaum  den 
niedersten  Steueransatz  (40  Procent)  ertragen   könnten,   wenn  sie  | 
nicht  ganz  verderben  sollten;  und  dass  die  Herrschaft  mit   der 
neuen    Steueranlage    auf  die   Treue    des   Vogtes   sich   verlassen 
müsse  (Mone,  Ztschr.  10,  299).*) 


*)  Das   österreichische    Urbar    der   Landgrafschaft   Elsas^  (bei  Trouillat  III, 
pag.  72)  besagt  ebenso:    die   liute  mugen  ieze  kvme  Äne  verderbnüst  die  minsten 


J 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  33  § 

Trotzdem,  dass  durch  solche  Beweisstellen  die  humane  Rück- 
sichtnahme der  Obrigkeit  gegenüber  den  Unterthanen  deutlich 
genug  ausgesprochen  ist,  g^ebt  man  sich  noch  immer  die  Mühe, 
eben  diese  Stellen  als  ein  Zeugniss  ausserordentlicher  Bedrück- 
ungen anzurufen.*)  Aber  indem  wir  die  von  Heinrich  Gessler 
übernommenen  Vogteien  nun  verzeichnen,  findet  sich  auch  Ge- 
legenheit, die  patriarchale  Genügsamkeit  der  herzogl.  Landvögte 
kennen  zu  lernen,  gegenüber  dem  von  ihren  Amtsnachfolgern, 
den  eidgenössischen  Landvögten,    befolgten  Ausbeutungssystem, 

Das  im  Habsb.-Urbar  S.  86  beschriebene  Offitium  Meien- 
berg  hatte  sich  seit  1303  in  die  Landschaft  zwischen  dem  Albis 
und  der  Reuss,  also  in  die  dorten  angrenzenden  Gebietstheile  der 
heutigen  Kantone  Aargau,  Zürich,  Zug  und  Luzem  hinein  erstreckt. 
Als  dies  Amt  am  5.  Sept.  1359  an  Ulr.  Gessler  und  dessen  Sohn 
Heinrich  IL  verpfändet  wurde,  hatte  es  zwar  schon  eine  Gebiets- 
schmälerung  erfahren,  da  etliche  seiner  Ortschaften  zu  den  drei 
Nachbarämtem  Muri,  Hermetswil  und  Richensee  geschlagen  worden 
waren;  allein  seit  1379  giengen  diese  drei  Aemter  als  neue  Pfand- 
schaft abermals  an  Heinrich  über  und  somit  war  dieser  nun  Herr 
jener  ganzen  Landschaft,  welche  das  Obere  Freienamt  heisst. 
Als  nachmals  die  Eidgenossen  das  Land  einnahmen,  Hessen  6ie 
zum  Zwecke  der  kantonsweisen  Verwaltung  das  Freienämter-Urbar 
revidiren,  das  uns  in  dem  Murenser- Archiv  in  amtlicher  Fassung 
und  zugleich  in  Zurlaubens  Acta  Helvetica^  tom,  XIX  ausführlich 
vorliegt.  Bei  der  Revision  durch  die  Eidgenossen  wurde  nur  das 
kleine  Amt  Hermetswil  aufgehoben,  alles  Uebrige  blieb  in  der 
Steuer-  und  Mannschafts-Skala  unverändert,  wie  es  unter  österreich- 
ischer Verwaltung  bestanden  hatte.  Daraus  nun  ergeben  sich  nach- 
folgende statistische  Daten  über  den  Bestand  dieser  Gesslerischen 
Vogtei  nach  deren  drei  Hauptämtern.  Amt  Meienberg  zählt 
damals  17  Dorfschaften;  Amt  Righensee-Hitzkirch  16;**)  Amt 
Muri  1 5 ;  Gesammtsumme  aller  Ortschaften :  8  Pfarreien,  45  Dörfer^ 
15  Einzelhöfe.   Summe  der  feldpflichtigen  Mannschaft :  1300  Mann. 

Hier  besass  Gessler  in  Folge  der  herzogl.  Pfandschaft  theils 


stüre  tragen^  als  mir,  meister  Burchart  von  Vricke,  dez  Roemeschen  kvniges  schri- 
ber,  wol  kvnt  ist  in  allem  sinem  ampte. 

*)  £.  de  Muralt  I  Les  Origines  de  la  Confed^ration  Suisse   et   la  tradition  de 
Guill.  Teil  (Lausanne  1870)  pag.  10:  Dans  Tlnventaire  autrichien  m^me  on  trouve 
l'aveu  d'impositions  exorbitantes  et  d'abus  de  pouvoir  qui  devaient  Stre  redress^s. 
**)  Segesser  RG.  II,  68  zählt  für  dai  Amt  Richensee  21  Ortschaften. 


^^6  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sjage. 

den  ganzen,  theils  den  halben  Twing,  war  nicht  bloss  Gerichts-, 
sondern  auch  Kirchherr  und  bezog  in  seinem  Nutzeh  sämmtliche 
Steuern.-  Alle  Fronwälder,  Hochjagden,  Fischenzen,  alle  ehhaften 
Tafemen,  Schmieden  und  Mühlen  waren  herrschaftlich,  mithin 
ihm  zinspflichtig.  Jegliche  Haushaltung  in  Stadt  und  Amt  ent- 
richtet das  Fasnachts-  und  das  Vogthuhn,  jegliches  Lehensland  in 
Feld  und  Garten  verzehntet  Korn  und  sonstige  Frucht.  Alle  in 
hohen  und  niederen  Gerichten  über  drei  Schilling  reichende 
Bussen  gehören  dem  Landvogt,  was  darunter  ist,  dessen  Unter- 
vögten. Aber  die  jährliche  Grundsteuer  war  so  gering,  dass 
deren  ganze  Summe,  welche  die  Gessler  noch  im  Jahre  141 5  in 
den  drei  Aemtern  zu  ^erheben  hatten,  wozu  Vilmergen  noch  als 
viertes  gekommen  war  (dasselbe  umfasst  nach  dem  Österreich. 
Urbar  nahezu  40  Ortschaften)  jährlich  nur  62  Francs  3  Ctm. 
unsrer  Währung  betrug.  Dies  ergiebt  sich  sowohl  aus  dem 
Österreich.  Urbarbuch  S.  88,  als  auch  aus  dem  »Rechnungsbuch 
der  luzerner  Vogteien,«  ausgezogen  in  unsem  Gessler-Regesten 
unter  gleichem  Jahre.  Sogar  auf  diese  bescheidenen  Ansätze  ver- 
zichtet der  Landvogt  H.  Gessler  am  3.  Juni  1403  fünf  Jahre 
hindurch  gänzlich,  damit  er  der  Landschaft  aus  damaligen  Noth- 
ständen  heraushelfe.  In  der  schon  vorhin  genannten  Zurlauben'- 
schen  Sammlung  liegen  uns  nun  aber  auch  die  Jahresrechnungen 
in  zahlreichen  Bänden  und  vollständig  specialisirt  vor,  welche  nach- 
mals von  den  hier  gesetzten  eidgenöss.  Landvögten  an  die  mit- 
regierenden Kantone  abgegeben  worden  sind.  Welch  ein  greller 
Abstand!  Diese  neuen  Landvögte  haben  an  directem  Jahres- 
einkommen zwar  nur  bis  auf  500  Gl.  zu  verrechnen,  aber  den- 
noch lautet  ihre  Totalsumme  stabil  auf  5000  Gulden;  so  hoch 
hatte  man  nach  dem  Jahre  1415  die  Taxen  in  Handel  und  Wandel 
und  besonders  die  polizeilichen  Geldstrafen  hinaufgeschraubt. 

Uebergehend  auf  die  Landvogtei  Grüningen,  so  sind  hier 
dieselben  wirthschaftlichen  Erfahrungen  zu  machen.  Die  Steuer, 
welche  Gessler  hier  zu  erheben  hatte,  betrug  jährlich  20  Pfd.  Heller. 
Es  war  ihm  dieselbe  auf  20  Jahre  verpfändet,  allein  da  die  Herzoge 
sie  bereits  voraus  verpfändet  und  an  den  versprochenen  Terminen 
nicht  wieder  zurück  gelöst  hatten,  so  zählte  dieser  Einzelposten 
bloss  zu  dem  übrigen  Gesslerischen  Guthaben  und  war  bis  zum 
Jahre  1400  auf  400  Pfund  aufgelaufen.  Die  Gesammtsumme, 
welche  die  Herzoge  ihrem  Vogte  auf  dieses  Amt  allmählich  ge- 
schlagen hatten  oder  auch  baar  schuldig  geworden  waren,  betrug 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  317 

zuletzt  8000  GI.^  jetzigen  29,000  Reichsgulden  entsprechend,   und 
um    diesen  Verkaufspreis    wurde  das   Amt  schliesslich  von  den 
Gesslerischen  Erben   im  Jahre    1408   an  Zürich  abgetretien.     Es 
zählte  schon  vom  Jahre  1 300  an  über  ein  halb  hundert  Orte  und 
Höfe,   deren  Namen  im  Habsburger  Urbar  enthalten  sind,   nicht 
ohne   Beifügung   der   besondem   Zeugnisse,    dass    auch   hier   die 
Herrschaftssteuern   nach    Billigkeit  erhoben,    zu  Zeiten  ganz  er- 
lassen   wurden.*)      Unter    Züricher    Verwaltung   war    Grüningen, 
ausser  der  Vogtei  Kiburg,    die  beträchtlichste  des  Kantons,   hielt 
5  Meilen  in  der  Breite,    3   in   der  Länge,    zählte    13   Kirchspiele 
und  eine  Burgstadt,  und  das  im  Jahre  1668  verfasste  Verzeichniss 
seiner  Marktflecken,   Ortschaften,   Dingstätten   und   Höfe   ist   332 
Ortsnamen   stark.     Wir  entnehmen  sowohl   diese  Notiz   als  auch 
die  nachfolgenden  Steueransätze  dem  »Grüninger  Amtsrechtc  (pag. 
\  62  bis   65),    einer  Handschrift,    die  auf  der  aargau.   Kt. -Bblth. 
bezeichnet  ist:    MS.  Bibl.  Nov.  33,   folio.     Unter   Züricher  Ver- 
waltung  blieben    hier    die   Leibeigenschaftsverhältnisse  eben   die- 
selben,   wie  zu  Gesslers  Zeit;   es  bestand  also  Todfall,  Erbschatz 
und  Erbfall,   Grosser   und  Kleiner   Zehnten,   nasser  und  trockner 
Zehnten,    Weibelgarbe,    Fasnacht-   und    Herbsthuhn,    Schafgeld, 
Rebzins,  Vogtkemen,  Schirmgeld,  Tagwen-Zins,  Herdsteuer  u.  s.  w. ; 
aber  nun  wurden  überdies  die  Einzellasten  auf  eine  heute  ganz 
unglaublich    scheinende    Höhe    hinaufgetrieben.      Laut    der    vor- 
liegenden Grüninger  Amtsrechnung  betrug  die  dorten  vom  Jahre 
1762  bis  1792  erhobene  Leibeigenschaftssteuer  für  sich  allein: 
i)  Hauptfall:  19,560  GL,  10  fi. 
2)  Ledig-Erbfall :  28,002  Gl.  20  /3, 

Erst  zu  Ende  des  Jahres  1796  war  die  früher  schon  zweimal 
gestellte  Petition  des  Grüninger  Amtes,  das  Fallrecht  in  einen 
jährlichen  Zins  an  das  Aerar  umwandeln  und  diesen  durch  die 
Gemeinden  um  20,000  GL  abkaufen  zu  lassen,  zwar  für  erheblich 
erklärt  und  dem  Senate  zur  Berathung  überwiesen  worden,  aber 
auch    damals    noch    unerledigt    geblieben.      Amtsrecht,  1.  c. 

pag.  58—59- 

Die  dritte  Vogtei  Heinrichs  IL  war  die  Grafschaft  im  Frick- 


*)  Die  üssidelinge  ze  ReUinkon  gesessen,  gaben  eines  jdres  XIII  pfunt 
(Grundsteuer),  unde  beschach  das  nie  mßr  unde  mag  ouch  niht  wol  m^r  beschehen, 
want  die  liute  möhten  ez  niht  erliden  äne  verderbnüsse.  Die  andern  üssidelinge 
bl  dem  S6we  hant  geben  eines  järes  V.  pfunt,  und  mag  ouch  wöl  niht  mör  be- 
schehen, want  die  liute  möhten  ez  niht  erliden.  Habsburger  Urbar,  S.  125. 
R  o  ch  h  o I z ,  Teil  und  Gessler.  22 


ij8  II'    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

thal,  ein  aus  mancherlei,  ihren  Herrn  rasch  wechselnden  Theilen 
zusammengesetzter  Bezirk.  Der  Hauptort  war  die  Stadt  Rhein- 
felden  mit  dem  Stein,  einem  Felsenschlosse  im  Rheine;  sie  war 
seit  1331  von  König  Ludwig  dem  Baiern  den  Herzogen  Albrecht 
und  Otto  mit  dem  Vorbehalt  der  Wiedereinlösung  um  20,000  Mark 
verpfändet  worden.  Ausserdem  lagen  hier  die  Aemter  Möhlibach 
und  Homberg.  Letzteres,  zubenannt  nach  der  dortigen  Stamm- 
burg der  Grafen  von  Homberg,  beim  Frickthaler  Dorfe  Wegen- 
stetten,  wurde  von  den  Grafen  von  Habsburg-Laufenbürg  seit 
1364  an  Herzog  Lupoid  käuflich  abgetreten,  kurz  darauf  von 
diesem  an  Basel  verpfändet  und  bildete  seitdem  in  der  Titulatur 
der  Herzoge  bloss  einen  verlornen  Posten,  den  sie  jedoch  sammt 
andern  dortigen  links-  und  rechtsrheinischen  Strecken  gelegentlich 
immer  ansprachen  und  beim  Erlöschen  der  Linie  Habsburg- 
Laufenburg  1408  bis  9  wieder  in  Besitz  nahmen.  Damals  kam 
auch  die  Stadt  Laufenburg  rechts  und  links  des  Rheines  an 
Oesterreich. 

In  diesen  vorgenannten  drei  Vogteien  übte  Heinrich  das 
Recht  der  Heeresfolge,  war  in  zweien  der  Pfandschaftsinhaber, 
vieler  Orten  auch  der  Grundherr  und  vererbte  diese  Lehenämter 
zum  grösseren  Theile ,  zusammt  seinen  eignen  Besitzthümem 
ungeschmälert  auf  seine  Söhne. 

Der  Vollständigkeit  wegen  sind  auch  die  beiden  Vogteien 
mit  zu  nennen,  in  denen  er  bloss  zeitweilen  regierte.  Seit  1387 
ist  er  Vogt  auf  dem  Schwarzwalde.  Diese  Herrschaft  begriff, 
ausser  den  vier  oberrheinischen  Waldstädten:  Seckingen,  Rhein- 
felden,  Laufenburg  und  Waldshut,  die  nachfolgenden  Aemter  und 
Unterämter:  Den  Hauensteinischen  Bezirk,  St.  Blasien,  Wehra, 
Schönau,  Totnau,  Bräumlingen,  Villingen,  Triberg,  Furtwangen, 
Elzach,  Waldkirch,  St.  Peter,  St.  Märgen,  St.  Trudpert,  Staufen. 
Hier  erkaufte  Gessler  die  Schlossherrschaft  Gutenburg  zu  seinem 
Privateigenthum. 

Die  Vogtei  Feldkirch,  gelegen  im  Rheinthale  zwischen 
der  Schweiz,  Tirol  und  Oberschwaben,  war  von  Herzog  Leopold 
dem  Grafen  Rudolf  von  Werdenberg  um  36,000  Gl.  abgekauft 
worden;  Gessler  übernahm  sie  seit  1397.  Sie  umfasste  nach  der 
Verkaufsurkunde  vom  22.  Mai  1375*)  nachfolgende  Orte  und 
Districte.     Burg  und  Stadt  Feldkirch  nebst  den  dazu  gehörenden 


*)  P.  Kaiser,  Gesch.  des  Fürstenth.  Liechtenstein,   S.  177. 


I.    FamüieDgeschichM  der  aargauer  Gessler  etc.  ^jp 

Höfen  und  Gütern;  das  Landgericht  Rankwil;  die  beiden  Vesten 
Alt-  und  Neu-Montfort,  nebst  der  zwischen  Klus  und  Feldkirch, 
sodann  der  zwischen  Rhein  und  111  gelegnen  Landstrecke ;  die  Veste 
Fussach  mit  den  drei  Gütern  zu  Brugg,  Höchst  und  Birnbaum, 
sammt  den  Leuten,  die  der  Verkäufer  bis  zum  Einflüsse  des 
Rheines  in  den  Bodensee  besessen  hatte ;  die  Veste  zu  Tosters ; 
den  hintern  und  vordem  Bregenzer-Wald ,  die  halbe  Achlösi  in 
der  Bregenzer  Ach  und  in  deren  Nebengewässem ;  das  Gut 
Langenegg;  Veste  und  Gut  zu  Staufen;  die  Güter  zu  Dombirn, 
Knien  (Kauwen,  schreibt  hier  Lichnowsky  4,  197)  und  Stig- 
lingen;  die  Kellhöfe  zu  Lindau. 

Die  von  Heinrich  erworbenen  Privatgüter  und  herzogl.  Lehen 
sind  folgende :  Die  zwei  Vesten  Karneid  und  Steineck  bei  Bozen ; 
die  Herrschaft  Welschenofen  eben  daselbst;  Schloss  Gutenburg 
im  Schwarzwalde;  die  Schlösser  Greifensee,  Rietsee,  Grünenberg 
und  Rapperswil  im  Zürcherlande ;  sodann  im  Aargau :  Die  Twing- 
herrschaft  zu  Stetten,  den  Dinghof  zu  Niderlenz  und  die  Hälfte 
desjenigen  zu  Sur,  die  Burg  Schenkenberg  mit  der  Herrschaft  auf 
dem  Bözberge,  und  noch  1395  das  Schloss  Brunegg. 

Die  bedeutenderen  herzogl.  Vergabungen  an  Gessler  fallen 
in  das  Jahr  1375,  als  in  jene  gefährliche  Periode,  da  Ingueram 
von  Coucy  mit  einem  starken  Söldnerheere  in  die  österreichischen 
Vorlande  einfiel.  Dieser  normannische  Graf  war  der  Sohn  Katha- 
rina's,  einer  Tochter  Herzog  Leopolds  IL,  des  Glorreichen,  der 
bei  Morgarten  gestritten.  Coucy's  Mutter  hatte  bei  ihrer  Ver- 
ehelichung das  Elsass  und  den  Aargau  als  Aussteuer  und  Kunkel- 
lehen verliehen  erhalten,  .die  bisher  noch  nicht  ausgerichtete 
Heiratssteuer  der  Mutter  sprach  nun  der  Sohn  als  Erbe  an.  Sein 
Heer  bestand  zum  Theil  aus  Bretonen,  die  man  seitdem  Eng- 
länder nannte,  die  Namen  Bretagne  und  Britannien  mit  einander 
verwechselnd.  Ihr  anderer  Name  Gugler  rührte  von  ihren  hohen 
stählernen  Sturmhauben  her,  zu  deutsch  Gugelhauben.  Der  den 
Habsburgern  abgeneigte  Kaiser  sah  dieser  Invasion  unthätig  zu, 
die  Reichsfürsten  zauderten,  die  Städte  schlössen  sich  ab,  die  mit 
Vertheidigung  des  Hauenstein-Passes  beauftragten  Kiburger-  und 
Nidauer-Grafen  gaben  diese  Position  preis,  so  betrat  der  Feind 
die  Schweiz  und  hatte  sie  vom  Bielersee  bis  zur  Mündung  der 
Aare  inne.  Nur  Leopold  III.,  Herzog  Albrechts  II.  Sohn,  über- 
nahm und  führte  den  Vertheidigungskampf,  bis  der  Feind,  welcher 
der  Heeresverpflegung  wegen  sich  in  drei  Heerhaufen  hatte  spalten 

22* 


34^  ^^'    ^^^  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

müssen,  an  verschiednen  Orten  vom  Landsturm  überfallen  und 
hart  mitgenommen  wurde,  worauf  diese  Raubschaaren  am  Stephans- 
tage des  gleichen  Jahres  sich  in  die  Vogesen  zurück  wendeten. 
In  den  ausgesogenen  Vorlanden  aber  begann  nun  erst  eine  neue 
langdauemde  Fehde  zwischen  der  Oesterreicher-  und  der  Kiburger 
Herrschaft.  Welcherlei  Nothstand  darüber  ausbrach,  dies  ist  in 
einer  Urkunde  derselben  Zeit  auf  erschreckende  Weise  ausgedrückt. 
Der  Twingrodel  des  Dorfes  Roggwil  im  Ober-Aargau  ist  unter 
dem  St.  Urbaner-Abt  Nikolaus  geschrieben,  der  von  1349^ — 1356 
regierte,  und  besagt  über  die  Kriege  dieses  Zeitraumes :  do  haben 
sich  zu  den  ziten  gross  krieg  vf  erhaben,  besunder  da  die  Engel- 
sehen,  der  herre  von  Cussin  in  unserem  gotzhus  lag  XVIII  tag. 
do  wart  es  verbrönt  mit  dem  hof  ze  Roggwil.  darnach  in  kurzen 
jaren  do  erhuob  sich  ein  krieg  zwüschent  der  herschaft  von 
Oesterrich  und  zwüschent  der  von  Kyburg  in  semlicher  mass, 
das  in  siben  ganzen  jaren  kein  phluog  nie  in  daz 
ertrich  gestossen  wart.     Grimm,  Weisth.  I,   176. 

Mit  und  nach  diesen  den  Aargau  erschöpfenden  Kriegen 
dauerten  hier  die  Orts-  und  Amtsfehden  fort,  welche  das  Pfahl- 
bürgerthum  veranlasste.  Jeder  Grundhörige,  der  in  eine  fremde 
Herrschaft  auswanderte,  bedurfte  hiezu  der  Erlaubniss  seines  Grund- 
herrn oder  dessen  Beamten  und  verblieb  auch  deuin  der  alten 
Herrschaft  dienst-  und  abgabenpflichtig,  soferne  nicht  entweder 
er  sich  selbst,  oder  ihn  die  ihn  aufnehmende  fremde  Herrschaft 
beim  gewesnen  Herrn  losgekauft  hatte.  Wer  sich  dieser  Pflich- 
tigkeit  entzog,  wurde,  weil  er  Leib  und  Gut  heimlich  der  Herr- 
schaft zu  entfremden  gedachte,  als  förmlicher  Dieb  behandelt  und 
an  Leib  und  Gut  gestraft  (Segesser  RG.  I,  416.  II,  320).  Die 
dem  Schlossadel  abgeneigten  Städte  achteten  dieses  Rechts- 
verhältniss  nicht,  sondern  unterstützten  die  betrügliche  Absicht 
fremder  Unterthanen,  nahmen  diese  um  ein  Geringes  in  den  eignen 
Schutzverband  auf  und  raubten  sie  so  recht  eigentlich  der  recht- 
mässigen Obrigkeit.  Hierin  lag  ein  stets  fortdauernder  Anlass  zu 
Störungen  des  Landfriedens.  Ein  Spruch  der  Schiedsleute  zwischen 
Herzog  Albrecht  und  den  Eidgenossen,  vom  12.  Okt.  1351,  ver- 
fügt bezüglich  der  beiden  Städte  Zürich  und  Luzem  folgendes: 
»Swaz  die  von  Zürich  —  vnd  von  Lutzem  —  vnseres  vorge- 
nanten Herren  des  Hertzogen  von  Oesterreich  Lüten,  die  vf  dem 
Lande  gesezzen  sint,  ze  bürgern  hant  enphangen,  daz  sie  sich 
der  vzzern   (sich  derselben  entäussern)   vnd   von  irem   burgrecht 


r 

I 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  \Ai 

ledig  lazzen  sullen  vnuerzogenlich,  vnd  sullen  ouch  fürbazzer  dez 
selben  vnsers  Herren  dez  Hertzogen  Lüten  noch  siner  Diener 
Lüten  enkeine  ze  burgern  niemer  me  emphahen,  als  ez  ouch  vor- 
malz von  der  egenanten  von  Lutzerren  wegen  har  getegdinget 
ist.«  Eidg.  Absch.  I,  Ausg.  2,  S.  266,  267.  Luzem  band  sich 
nicht  hieran,  sondern  nahm  schon  1352  das  herzogl.  Städtchen 
Sempach  in's  Bürgerrecht  auf;  es  wusste  den  Herzog  Rudolf  IV., 
laut  Decret  vom  6.  März  1361,  sogar  zum  Befehle  an  dessen 
Amtleute  zu  vermögen:  die  herzoglichen  Angehörigen,  wenn  sie 
nach  Luzern  ziehen  und  da  eingesessne  Burg  er  werden 
wollen,  ohne  Hindemiss  an  Leib  und  Gut  fahren  zu  lassen,  gemäss 
der  zwischen  seinem  Vater  und  den  Luzernem  gemachten  Richtung 
(Segesser  RG.  III,  lOi).  An  diese  unbegreiflich  lautende  Weisung 
hielten  die  Städter  freilich  sich  jeder  Zeit,  um  so  weniger  aber 
die  herzogl.  Amtleute,  die  darüber  ihres  persönlichen  Vermögens 
verlustig  gegangen  wären.  So  nahm  Luzern  1385  die  Leute  des 
Amtes  Wolhusen,  1386  die  des  Amtes  Entlebuch  und  des  Städtchens 
Meienberg,  und  um  dieselbe  Zeit  auch  die  von  Richensee  in's  Burger- 
recht (Tschudi  I,  521).  Die  Landschaft  Entlebuch  aber  war  dem  Ritter 
Peter  von  Torberg  verpfändet,  dortige  Zinse  und  Steuern  waren  den 
Gesslem  zugewiesen,  Meienberg  war  gleichfalls  eine  Gesslerische 
Pfandschaft.  Und  dennoch  wagte  Luzern  diesen  letzteren  Ort  zu  über- 
rumpeln (30.  Jan.  1386)  und  200  waldstätter  Söldner  hinein  zu  legen. 
Nun  rückte  der  gewaltthätige  Johann  von  Ochsenstein,  Titular-Dom- 
probst  zu  Strassburg,  ein  Verwandter  der  Herzoge  und  ihr  Land- 
vogt im  Elsass,  zum  Entsatz  heran,  lockte  die  Söldner  in  einen 
Hinterhalt  und  •  Hess  sie  da  zusammenstechen :  »mer  denn 
viertzig  vnd  hundert.  Vnd  sint  die  gewesen  von 
Lutzern,  von  Zug,  von  Switz,  von  Vnderwalden,  vnd 
ist  ouch  derselben  von  Vnderwalden  offen  paner  da 
gewesen,  die  wir  ab  dem  veld  bracht  hant,«  so  melden 
am  6.  Febr.  darauf  Ochsenstein  und  Heinrich  Truchsess-Walburg 
von  Baden  aus  dem  Herzog.  (Schreiber,  Urkundenb.  II.  i,  S.  46.) 
Die  Gegner  zauderten  nicht;  in  der  Meinung,  sie  seien  von  den 
Meienbergem  verrathen  worden,  kehrten  sie  zurück,  erstiegen  die 
Mauern  und  verbrannten  den  Ort  gänzHch,  die  zuger  Mannschaft 
nahm  eine  Glocke  mit  fort,  die  heute  auf  dem  Zeitthurm  der 
Stadt  Zug  hängt.  Stadiin,  Gesch.  von  Zug  4,  117.  Noch  einmal 
übt  Ochsenstein  Wiedervergeltung.  In  seinem  Briefe  vom  29.  Febr. 
1386  berühmt  er  sich:   In  zwei  Kriegshaufen  getheilt,   sei  er  mit 


oj_2  II-    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

i 

dem'  einen  Theile  durch  das  Thal  von  Beromünster,  mit  dem 
andern  über  Richensee  bis  auf  eine  halbe  Stunde  gegen  Luzem 
gezogen,  »vnd  hantwir  bedenthalb  gebrentwaz  anvns 
komen  ist,  vnd  ist  noch  nye  keins  tags  als  gröslich 
gebrent  als  gester,  vnd  ouch  die  rechtschuldigesten, 
die  der  sach  gewesen  sint,  (haben  wir  so  mit  Kriegsbrand 
bestraft).«  Eilf  oberdeutsche  Reichsstädte  vermittelten  eine  Waffen- 
ruhe bis  22.  Juni,  während  welcher  das  von  den  Eidgenossen 
besetzte  herzogliche  Gebiet  in  der  Hand  der  Angreifer  blieb. 
Zwei  Wochen  nach  Ablauf  dieses  Termins  kam  der  erzürnte 
Herzog  Leopold  mit  seinen  Rittern  bis  Sempach  herangerückt, 
um  an  Luzem  Rache  zu  nehmen,  und  verlor  hier  bekanntlich 
die  Schlacht  und  das  Leben.  Die  Sieger  überzogen  noch  einmal 
die  nächstgelegnen  herzogl.  Orte  und  Burgen.  Meienberg,  schon 
vorher  eingeäschert,  konnten  sie  nicht  neuerdings  verbrennen, 
obschon  dies  die  unersättlichen  Chronisten  behaupten  und  selbst 
der  sonst  nicht  inhumane  Heinr.  BuUinger  mit  unziemlichem  Spotte 
beifügt:  »vnnd  ist  Meienberg  diser  zeit  nit  mee,  dann  ein  dorff 
mit  bössen  Pauren.«  *) 

Die  Schweizerchronisten  haben  die  Gewohnheit,  bei  Erzählung 
der  ersten  Siege  der  Eidgenossen  gegen  Oesterreich  immer  etwas 
Gesslerblut  mit  vergiessen  zu  lassen,  und  setzen  auch  bei  der 
Sempacher  Schlacht  einen  Ritter  Gessler  mit  auf  die  Österreicher 
Verlustliste.  Unser  Regest  vom  9.  Heum.  1386  zeigt  unwider- 
leglich, dass  daselbst  kein  aargauer  Gessler,  namentlich  kein 
solcher  des  Namens  Heinrich  gefallen  ist,  sondern  ein  Burkhard 
Gessler  aus  der  vorder-österreichischen  Stadt  und  Landgrafschaft 
Breisach.  Die  Frage,  warum  bei  der  Sempacher  Adelsniederlage 
gerade  die  aargauer  Linie  verschont  geblieben  sein  solle,  wird 
schon  durch  den  einen  Umstand  beantwortet,  dass  das  damalige 
aargauer  Aufgebot,  zur  Deckung  Zürichs  gegen  die  Eidgenossen 
bestimmt,  als  Nachhut  unter  dem  Ritter  von  Bonstetten  an  Limmat 
und  Aare  aufgestellt  blieb  und  gar  nicht  in's  Treffen  kam.  Dies 
hebt  bereits  Hans  Konrad  RoUenbutz  in  seiner  Zürcherchronik,  **) 
pag.  85  hervor:  »Vss  dem  Ergouw  sind  darvmb  so  wenig  vmb- 
kommen,  dass  der  Merteil  daniden  zu  Brugg  by  dem  von  Bon- 
stetten   gesyn.«     Zugleich    erledigt    sich   hier   die  andere  Frage, 


*)  Chronik  I,  Bl.  360  b,  Handschrift  der  aargauer  Kt.-Schulblth. 
**)  Hdschr.  der  aargauer  Kt.-Bblth.:   *Ms.  Bibl.  Nov.  31,  fol.« 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  743 

warum  bei  den  vorerwähnten  Fehden  um  Meienberg  Heinrich 
Gessler  gleichfalls  nicht  genannt  wird.  Er  war  seit  30.  April  1379 
Vogt  der  Grafschaft  Feldkirch,  unterfertigt  daselbst  am  3.  Nov. 
1386  herzogl.  Urkunden,  führt  aber  im  folgenden  Jahre  wieder 
die  Landvogtei  im  Aargau,  Thurgau  und  auf  dem  Schwarzwalde. 
Von  jetzt  an  hat  er  sich  der  Uebergriffe  immer  häufiger  zu 
erwehren,  die  von  den  Eidgenossen  in  seine  Herrschafts-  und 
Privatrechte  gemacht  werden.  Seine  in  acht  Punkten  articulirte 
Klageschrift  von  1388  besagt:  man  habe  ihm  schon  seit  Jahren 
die  falligen  Steuern  im  Zürcher-  und  im  Zugerlande  vorenthalten; 
man  störe  den  Landbau  seiner  Vogteileute  in  den  Aemtem 
Grünenberg  und  Meienberg  durch  bewaffnete  Einfälle  und  Hand- 
streiche ;  Luzern  verweigere  ihm  die  von  der  Herrschaft  zu  Lehen 
gegebnen  Zinse  und  Zehnten  im  Entlebuch;  dasselbe  mache  den 
Gesslerischen  Vogteileuten  zu  Rotenburg  das  verbriefte  Frei- 
zügigkeitsrecht streitig  und  vergreife  sich  auch  an  der  Handels- 
waare  der  Leute  aus  der  Grafschaft  Baden,  u.  s.  w.  Die  gleiche 
Friedlosigkeit  herrscht  damals  ringsum.  Während  der  Fehde 
zwischen  den  Städten  Bern  und  FrÄburg  i.  Ü.  haben  sich  räube- 
rische Freischaaren  gebildet,  die  den  Namen  Blutabzapfer  tragen; 
einige  von  ihnen  gefangen  gehaltene  Johanniterbrüder  und  Welt- 
priester werden  auf  Heinrichs  Vermittlung  erledigt,  Regest  vom 
19.  Jan.  1387.  Seinen  eignen  Amtsangehörigen  zu  Meienberg 
muss  er  den  Besuch  der  Kirchweihen  und  Tanzplätze  im  benach- 
barten Rotenburger  Amte  bei  hoher  Strafe  verbieten,  um  dem 
unter  der  Bauernschaft  eingerissnen  politischen  Todschlag  zu 
steuern.  Allein  nachdem  er  auf  einmal  siebzig  Söldner  zusammen 
wegen  solcher  Gewaltthaten  gerichtlich  hat  verrufen  lassen,  muss 
er  es  mit  ansehen,  dass  dies  Urtheil  durch  seine  eignen  Schiedsleute 
wieder  aufgehoben  wird  (1400,  29.  Jan.). 

Heinrich  ist  seit  1375  mit  Margaretha  von  Eilerbach  ver- 
ehelicht. Sie  stammt  aus  einem  schwäbischen  Adelsgeschlechte, 
das  sich  frühzeitig  in  Baiern,  Oesterreich  und  Kärnten  ausbreitet, 
dem  Reiche  namhafte  Feldhauptleute  und  Statthalter  liefert  und 
für  die  Turnierbahn  überdies  drei  Waghälse,  welche  von  ihrem 
Zeitgenossen,  dem  Wiener  Spruchdichter  Peter  Suchenwirt,  in 
dreierlei  '  Lobsprüchen  besungen  sind.  Ein  Jahr  nach  seiner 
Heirat  verburgrechtet  sich  Heinrich  zu  Zürich  und  hofft  dadurch 
seiner  zunächst  an  Zürich  grenzenden  Vogtei  Grüningen  den 
Frieden    zu    sichern.     Er    strebt    aber    auch    nach    dem  Frieden 


L 


344  n.    Die  Gcsslcr  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

des  Gemüthes;  Zeuge  dessen  sind  eine  Reihe  kirchlicher  Stiftungen 
und  Denkmäler,  deren  zum  Theil  kunstvolle  und  prächtige  Aus- 
stattung seinen  eignen  Kunstsinn  und  den  Namen  seines  Geschlechtes 
historisch  verewigt  haben.  Erstlich  schenkt  er  der  Cisterzer-Abtei 
Kappel  werthvolle  Liegenschaften,  um  aus  deren  Ertrage  das 
Jahresgedächtniss  seiner  Eltern  Ulrich  Gessler  und  Anna  v.  Mülinen 
kirchlich  begehen  zu  lassen.  An  diese  Stiftung  knüpft  sich  die 
in  der  Kirche  jener  Abtei  als  Erbbegräbniss  von  ihm  erbaute 
sog.  Gesslerkapelle.  Sie  lag  am  Schlüsse  des  südlichen  Kirchen- 
flügels, waf  dem  hl.  Stephanus  geweiht  und  verherrlichte  dieses 
Blutzeugen  Tod  mit  lange  bewundert  gewesnen  Glasgemälden. 
Kapelle,  Altar,  Wandbilder  und  ein  Theil  der  Fensterbilder  sind 
längst  zerstört,  nur  die  Malereien  an  Pfeilern  und  Decke,  die  den 
Händen  der  Bilderstürmer  unerreichbar  blieben,  sind  noch  übrig: 
lauter  an  einander  hängende  Quadrate,  in  deren  Mitte  je  der 
Schild  oder  die  Helmzier  des  Gesslerwappens  mit  einander  ab- 
wechseln. Das  Wappen  selbst  zeigt  einen  Dreieckschild  mit  drei 
Parallelfeldern:  zwei  komblaue  Felder  mit  silbernem  Mittelbalken, 
das  obere  mit  zweien  silbernen  Sternen,  das  untere  mit  einem. 
Die  Helmzier  ist  eine  Pfauenbüste  mit  aufrecht  gestelltem  Pfauen- 
busche. Die  Grundfarbe  der  Helmdecke  ist  azuren,  das  Helm- 
visir  und  der  Schnabel  des  Vogels  silbern.  —  Eine  ähnliche 
Stiftung  machte  Heinrich  1394  in  der  Probstei  Embrach  am 
Ircheiberge,  Kantons  Zürich.  Eine  uns  bis  jetzt  unbekannte 
Schwester  Heinrichs,  vermählt  mit  einem  Edeln  von  Wagenberg,  *) 
war  daselbst  begütert  und  hatte  dem  Bruder  ihr  Erbe  hinterlassen, 
aus  welchem  er  die  neue  Donation  bestimmte.  In  seiner  Burg 
zu  Grüningen  führte  er  die  Schlosskapelle  neu  auf,  bewidmete  sie 
mit  zwei  Altären  und  Hess  sie  am  Fronleichnamstage  1396  ein- 
weihen. Seine  zweite  Schwester  Eufemia,  Gemahlin  des  Ritters 
Ruman  von  Küngstein  (Bergschloss  im  Jura  bei  Aarau),  hatte 
ihren  Wittwensitz  in  der  Stadt  Rheinfelden,  in  dem  dortigen 
Sesshause  am  Hermannsthore  genommen,  welches  der  Herzoge 
Erblehen  war.  Gemeinsam  mit  ihr  weist  er  dem  dortigen  Dom- 
herrnstifte Zinse  an  auf  diese  Hofstatt  und  lässt  daraus  den  Chor 


*)  Gleichnamige  Burg  in  der  Zürch.  Gem.  Embrach,  seit  1284  urkundlich 
genannt.  »Her  Bilgri  von  Wagenberg  was  dis  1306.  Jars  Landtam^ann 
der  Hertzogen  von  Oesterrich  ze  Glarus  und  ouch  jn  dem  Nidemampt  Gastem.c 
Aeg.  Tschudi's  handschriftl.  Chronik  von  1298  bis  1308;  Archiv  f.  schw.  Gesch. 
XIX,  S.  381. 


r 


I.   Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^^c 

der    Rheinfeldner    Martinskirche    mit    Glasgemälden    schmücken, 
1399,  Freit,  nach  St.  Hilarien. 

Derlei  öffentliche,  gemeinnützige  oder  wohlthätige  Stiftungen, 
an  sich  human,  sind  bei  einem  Rittersmanne  dieser  Zeit  dadurch 
neu,  dass  sie  sichtlich  in  das  Gebiet  der  Kunstliebe  übergehen; 
sie  treffen  bei  Heinrich  noch  mit  der  andern  edelmännischen  Lieb- 
haberei zusammen,  eine  nicht  kleine  Zahl  landschaftlich  hübsch 
gelegner  Schlösser  anzukaufen  und  baulich  zu  verschönem.  Solcher 
hatte  er  allein  in  seiner  schweizerischen  Vogtschaft  sieben  erworben 
und  nicht  wieder  veräussert.  Mitten  in  Verwaltungsgeschäften 
starb  er.  Seine  letzte  Urkunde  vom  3.  Juni  1403  ist  ein  Gross- 
muthsact  gegen  seine  Freiämter  Landsleute  und  Unterthanen. 
Nicht  aus  übelgefiihrter  Oekonomie  ist  es  darum  abzuleiten, 
sondern  aus  edelsinnigem  Vertrauen  des  Beamten  zu  seinem 
Fürsten,  wenn  Heinrich  statt  grosser  Reichthümer  Schulden 
hinterliess,  weil  er  als  Bürge  der  Herzoge  Pfandschaften  übernahm, 
welche  dann  durch  die  späteren  Kriegsereignisse  seinen  Erben  für 
immer  entrissen  wurden. 


3.    Die  Gessler  von  Brunegg. 

Das  Schloss  Brunegg  im  untern  Aargau  liegt  auf  dem  öst- 
lichen Vorsprunge  des  stundenlangen  bewaldeten  Kestenberges, 
seitwärts  zwischen  den  zwei  Städtchen  Mellingen  und  Lenzburg, 
umgeben  von  dem  Kranze  der  Schwesterburgen  Lenzburg,  Wildegg, 
Wildenstein,  Gauenstein,  Habsburg,  Kasteien,-  Schenkenberg.  Auf 
gefundene  Legionsziegel,  vor  allem  aber  der  mächtige  Felsdurchhau, 
der  auf  dem  Grat  des  Berges  dem  Schlosse  eine  sturmfreie  Lage 
gab,  bezeugen,,  dass  die  Römer  hier  eine  Warte  hatten  zum 
Schutze  des  nach  dem  benachbarten  Vindonissa  (Windisch) 
führenden  Strassennetzes.  Auch  der  Name  Kestenberg  entspringt 
aus  lateinisch  castrum,  gleichwie  welsch  -  Chätenoy  urk.  1333 
verdeutscht  Kestenholz  heisst. *)  Auf  dem  Schutte  des  zer- 
störten Römercastells  errichtete  die  Feudalzeit  eine  Ritterburg 
und  nannte  sie  nach  der  altrömischen  Brunnenleitung,  welche  von 


•)  Trouillat,  Mon.  III,  pag.  758  und  911. 


346 


IL    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 


dieser  Bergecke  hinab  bis  in  das  entfernte  Stift  Königsfelden  geht, 
Brunegg.  Als  älteste  Inhaber  der  Burg  kennt  man  die  Sehen- 1 
ken,  die  den  Titel  ihres  im  Habsburger  Grafenhause  bekleideten 
Hofamtes  als  Familiennamen  führten;  auf  sie  folgten  hier  die 
Freien  von  Hedingen,  von  Trostberg  und  von  Büttikon,  diese 
letzteren  abermals  zubenannt  Die  Schenken.  An  Ritter  Heinrich 
(II)  den  Gessler  kam  die  Burg  vor  dem  I8.  Aug.  1395,  da  ihm 
vor  diesem  Termin  bereits  das  ganze  Amt  Eigen,  worin  Brunegg 
gelegen,  als  der  Herzoge  Pfand  gegeben  worden  war.  Nach  der 
Occupation  des  Aargau 's  durch  die  Berner  wurde  das  Schlossgut  | 
zum  Berner  Lehen  gemacht,  zerstückelt  und  der  Reihe  nach  ver- 
liehen an  Wilhelm  Gessler,  dann  an  den  Ritter  Johann  von  Alt- 
wis  (1450)  und  an  die  Segesser  von  Hellingen  seit  1473.  Diese  | 
verkauften  bald  wieder,  der  vielen  Massregelungen  satt,  denen  sie 
unter  den  eifersüchtigen  berner  Landvögten  ausgesetzt  waren.  Von 
Bern  1528  zurückgekauft  und  dem  Hofmeisteramte  zu  Königsfelden 
einverleibt,  wurde  bei  dieses  Stiftes  Säcularisirung  das  Schloss  als 
solches  aufgelassen  und  Bauern  übergeben,  welche  es  der  berner 
Domänen  Verwaltung  zu  verzinsen  hatten,  die  Güter  ausnutzten  und 
die  Gebäude  verfallen  Hessen.  Seit  der  Losreissung  des  Aargaus 
vom  Kanton  Bern  dient  es  als  Hochwacht,,  von  wo  aus  bei 
Feuersbrünsten  Lärmzeichen  durch  Kanonenschüsse  gegeben 
werden.  Eine  Lenzburger  Familie,  deren  Eigenthum  es  jetzt  ist, 
hat  den  noch  immer  trotzenden  Bau  des  Schlossthurmes  wieder 
bewohnbar  gemacht  und  das  Gut  freundlich  hergerichtet.  Ein 
getreues  Landschaftsbild  davon  findet  sich  in  Wagners  An- 
sichten schweizer.  Ritterburgen,  Bern  1840,  8<>. 

Nach  des  Ritters  Heinrich  Gessler  1403  Erfolgtem  Tode  ver- 
bleibt das  Schloss  seiner  Wittwe  Margaretha,  gebornen  v.  EUer- 
bach,  und  deren  Kindern.  Sie  vertheidigt  dasselbe  141 5  gegen 
die  den  Aargau  überziehenden  Bemer  und  weigert  sich  nach  der 
bedingungsweise  erfolgten  Uebergabe,  den  von  den  Eroberern  ver- 
langten Huldigungseid  zu  leisten.  Diese  mütterliche  Entschlossen- 
heit steht  aber  dem  Geldgeschäfte  im  Wege,  mit  welchem  der 
habsüchtige  Kaiser  Sigmund  die  Landschaft  an  die  Eidgenossen- 
schaft zu  verschachern  strebt,  dieser  sog.  Reichsvermehrer  opfert] 
darum  die  Burgfrau,  beraubt  sie  ihres  herzoglichen  Erblehens  und 
Eigenthums  und  giebt  dasselbe  unter  dem  erlognen  Titel  eines 
Reichslehens  an  die  Berner  hin.  Vergebens  dringt  die  Gesslerin 
vor    mehreren    reichsstädtischen    Schiedsgerichten  auf  Wiederher- 


I.   Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  j^7 

Stellung  oder  Entschädigung.  Sie  wird  an  die  Tagsatzung  der 
Kantone  zurückgewiesen,  von  denselben  mit  dem  geringfügigsten 
Leibgedinge  abgefunden,  stirbt  arm  und  hinterlässt  ihre  Rechts- 
ansprüche ihren  drei  Kindern  Hermann,  Wilhelm  und  Margarethen. 
Aus  dieser  vom  Kaiser  und  den  Eidgenossen  gemeinsam  ver- 
übten Spoliation  entspringt  hierauf  der  von  den  Erben  gegen  die 
Kantone  angehobene  Prozess  und,  weil  derselbe  durchaus  kein 
Ende  finden  will,  eine  Fehde,  welche  lange  Jahre  hindurch  von 
den  Gessler'schen  Enkeln,  von  deren  Verwandten  und  Standes- 
genossen an  der  schweizerischen  Nordgrenze  fortgeführt  wird  und 
schliesslich  durch  den  Schwäbischen  Bund  und  die  Reichsarmee 
unterdrückt  werden  muss.  Schon  vor  diesem  Ereignisse,  das  in 
den  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  fällt,  hatten  sich  die 
Brunegger  Gessler  expatriirt  und  in  Deutschland  ansässig  ge- 
macht. 

Unter  Ritter  Heinrich's  IL  drei  hinterlassnen  Kindern  ist  Her- 
mann der  Erstgeborne,  hat  seit  1 1 .  Juni  1 399  mit  dem  Vater  ge- 
urkundet  und  tritt  nach  dessen  Tode  die  Herrschaft  an.  Da  der 
Gesslerische  Hauptbesitz  aus  Erblehen  besteht,  diese  aber  nach 
dem  alten  Rechtssprichworte  unsterblich  sind,  so  ist  Hermann  des 
Vaters  unbeschränkter  Amtsnachfolger  in  der  Grafschaft  Frickthal, 
in  den  Aemtern  Meienberg,  Grünenberg  und  zu  Rapperswil.  Da 
aber  durch  des  Vaters  allzuweit  reichende  Geld-  und  Güter- 
geschäfte Finanzverlegenheiten  erwachsen  sind,  so  gehört  es  unter 
Hermanns  erste  Amtshandlungen,  sich  der  vom  Vater  für  die 
Herzoge  übernommenen  Pfand-  und  Bürgschaften  zu  entledigen, 
indem  er  sie  an  Basler-  und  Züricher  Gläubiger  weiter  verpfändet. 
Er  versetzt  dazu  nicht  nur  Theile  von  seinen  verschiednen  Am- 
teien  und  Lehen,  sondern  er  tritt  am  17.  August  1406  mit  allen 
seinen  Grüninger  Gütern  und  Unterthanen  auf  achtzehn  Jahre  in 
das  Bürgerrecht  der  Stadt  Zürich,  und  sein  Herzog  Friedrich  ist 
dadurch  genöthigt,  gegen  Hermanns  Ansprache  auf  eine  diesem  ver- 
fallene Schuldsumme,  von  1200  Gl.  den  Ritter  Hans  von  Bon- 
stetten  als  Bürgen  zu  stellen.  Dies  geschieht  in  demselben  Zeit- 
punkte, da  Hermann  herzoglicher  Vogt  der  Veste  Rapperswil 
ist  und  während  die  dortige  Besatzung  noch  gegen  Zürich  in 
Fehde  liegt.  Der  Herzog  weiss  einem  so  schreienden  Missver- 
hältnisse nicht  anders  abzuhelfen,  als  dass  er  unterm  24.  Juli  1407 
nun  auch  Rapperswil  an  Zürich  versetzt.  Hierin  wird  aber  der 
Anfang  einer  Spannung  zwischen  dem  Herzoge  und  seinem  Vogte 


348  ^^*   ^^^  Gesder  von  Brunegg  in  Geschiclite  und  Sage. 


ZU  suchen  sein,  die  bald  nachher  zu  amtlichen  Untersuchungen,  zuletzt 
sogar  zu  offnen  Rache- Ausbrüchen  gegen  den  letzteren  führten.  Die 
Ursache  lag  jedoch  nicht  in  dem  Diener,  sondern  im  Leichtsinn  des  j 
Herrn  und  in  dem  heillosen  Schlendrian  der  herzoglichen  Domänen- 
kammer.  Die  hieraus  fiirdieBrunegger  erwachsnen  ökonomischen  Be- 
drängnisse mussten  schleunig  gehoben  werden.  Darum  wird,  sogleich 
nach  Ritter  Heinrichs  Tode  ein  Familienrath  aufgestellt,  zusammen 
gesetzt  aus  Adeligen,  herzoglichen  Räthen  und  Stiftsherren,  wel- 
cher den  Erbstreitigkeiten  vorbeugen  soll.  Man  beginnt  mit  einer 
Art  Vermögenstheilung.  Die  Mutter  übergiebt  Brunegg  an  die 
zwei  Söhne  und  diese  verpflichten  sich,  die  darauf  haftenden 
Schulden  bis  auf  1000  Gl.  gemeinsam  abzuzahlen.  Sie  selbst  ver- 
kauft dortige  Burggüter  an  den  Frauen-Convent  zu  Königsfelden, 
wählt  den  Ritter  Hemmann  v.  Mülinen,  ihren  Schlossnachbar  auf 
Kastelen  und  Wildenstein,  zum  Vormund  und  wird  Bürgerin  zu 
Bremgarten,  um  mittels  des  Rechtsschutzes  dieser  Stadt  die  Gess- 
lerischen  Gülten  im  Amte  Muri  zu  behaupten.  Zu  gleicher  Zeit 
geben  ihre  Söhne  den  grössten  Theil  des  Amtes  Grüningen  an 
Zürich  in  Versatz  und  decken  damit  ein  bei  dieser  Stadt  vom  Vater 
gemachtes  Baaranlehen  von  8000  Gl.  Bei  alledem  hat  Hermann 
wegen  seiner  Meienberger  Vogtei-Cjefalle  bald  mit  dem  Rathe 
von  Luzern,  bald  mit  luzemer  Privaten  Prozesse  auszufechten  und 
entbehrt  dabei  nicht  bloss  des  nachdrücklichen  Schutzes  seines 
Fürsten,  sondern  zieht  sich  dessen  persönliche  Ungnade  zu  und 
wird  durch  ihn  vor  den  Landesgerichten  in  skandalöse  Händel 
verwickelt.  Ein  Wort  über  diesen  Sonderling  wird  daher  zunächst 
am  Platze  sein.  Herzog  Friedrich  IV.,  geboren  1 382,  war  der 
Sohn  des  bei  Sempach  gefallnen  Leopold  III.,  und  Bruder  der 
Herzoge  Wilhelm,  Leopold  und  Ernst  des  Eisernen.  Der  letztere 
rettete  ihn  später  aus  Acht  und  Bann,  brachte  ihm  aber  den 
Spottnamen  auf:  Friedel  mit  der  leeren  Tasche.  Als  Bruder 
Leopold  IV.  am  S.Juni  141 1  kinderlos  gestorben  war,  veranlasste 
sein  Tod  die  Herzoge  zu  einer  neuen  Gebietsvertheilung,  in  Folge, 
deren  die  gesammten  österreichischen  Vorlande:  Tirol,  Bregenz, 
Thurgau,  Aargau,  Ober -Schwaben  und  Ober-Elsass  an  Friedrich 
kamen.  Der  für  die  Vorlande  mit  den  Eidgenossen  am  16.  Juni 
1394  abgeschlossene  zwanzigjährige  Friede  hatte  nun  schon  neun- 
zehn Jahre  angedauert  und  sollte  erneut  werden ;  zugleich  brachte 
der  Regentenwechsel  eine  neue  Belehnung  aller  in  diesen  Pro- 
vinzen sesshaften  herzoglichen  Lßhensträger  mit   sich.     Der  neue 


I.  Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  \aq 

Landesherr,  von  launenhaftem,  jähem,  zu  Waghalsigkeiten  ge- 
neigtem Temperamente,  durch  Befriedigung  wilder  Liebhabereien 
tief  verschuldet,  sah  sich  mit  einem  Male  im  Besitze  grosser  Pro- 
vinzen mit  verhältnissmässigem  Wohlstande  und  dachte  wohl 
kaum  weiter,  als  sie  für  seine  Finanzoperationen  auszubeuten. 
Ein  momentanes  Mittel  hiezu  war  jetzt  die  fürstliche  Confirmation 
aller  Gnaden  und  Rechte,  den  Landschaften,  Städten,  Stiften  und 
Lehensträgem  ertheilt,  woran  sich  dann  neue  Sportein,  Kanzlei- 
und  Siegeltaxen  und  die  fernere  oder  auch  erhöhte  Uebernahme  von 
Bürgschafts-  und  Pfandschafts-Summen  zu  knüpfen  pflegten.  Die 
Eintreiber  waren  die  Landvögte.  Als  sich  damals  die  Vorlande 
nach  Landschaftskreisen  in  politische  Schutzvereine  mit  einer  ge- 
meinsam besendeten  Tagsatzung  gliederten,  berief  der  Herzog 
die  Abgeordneten  derselben  im  Juni  141 1  zu  einer  Versammlung 
ein,  Hess  aber  durch  seinen  Badener  Landvogt  Burkhart  von 
Mannsberg  eine  besondere  Anfrage  an  alle  Aemter  voraus  gehen, 
womach  dieselben  über  die  Geschäftsführung  ihres  letztgewesneti 
Vogtes  besonders  einzuberichten  hatten.  Siebenzehn  von  den 
damals  eingereichten  Beschwerdeschriften  haben  sich  erhalten  und 
stehen  nun  abgedruckt  im  Archiv  f.  Schweiz,  Gesch.  VI,  127 — 157. 
Sie  erweisen  u.  A.,  dass  der  Herzog  seine  aargauer  und  Züricher 
Aemter  als  Mittel  gebrauchen  wollte  zur  Amtsentsetzung  und 
Lehensentwehrung  des  ihm  nicht  mehr  genehmen  oder  vielleicht 
verdächtigen  Hermann  G.  Allein  indem  nun  diese  Schriftstücke 
das  gerade  Gegehtheil  des  Erwarteten  erklären,  sind  sie  ein  Zeug- 
niss  der  Amtsredlichkeit  zweier  Landvögte  Gessler,  des  Vaters 
und  des  Sohnes,  und  zwar  aus  dem  Munde  des  von  ihnen  zwei 
Menschenalter  hindurch  beherrschten  Volkes  selbst. 

Vogt  und  Rath  zu  Frauenfeld  erwiedern  auf  jene  Voranfrage : 
»Si  hant  och  mit  uns  geret  von  des  Gesslers  wegen;  darumb  ist 
uns  nüt  ze  wissen«  (1.  c.  149  des  Archivs).  Das  Amt  Seckingen 
erklärt.  I.e.  144:  »Derselb  unser  gnediger  Herr  der  Landvog^ 
hat  uns  sust  in  allen  anderen  Stucken  und  Sachen  früntiich  und 
tugenlich  gehalten,  und  wüssent  (wir)  ouch  nützet  an  Jm  denn 
Alles  Gute.« 

Auch  verdächtigende  Stellen  sind  in  diesen  Adressen  mitent- 
halten, brauchen  aber  nicht  verschwiegen  zu  werden,  da  wir  ihren 
Ungrund  eben  so  gut  wissen  wie  damals  der  Herzog  selbst  De^ 
damalige  Kleinbürger,  der  von  den  Herzogen  schon  so  oft  als 
Pfand  hingegeben  worden  war,  namentlich  an  die  um  sich  greifen- 


^CQ  ^*    ^ic  Gessler  von  Brun^g  in  Geschichte  und  Sage. 

den  Eidgenossen,  sieht  darin  ein  Werk  Gesslers  und  hält  ihn  für 
des  Herrn  treulosen  Rathgeber;  auch  urtheilt  der  Brodneid  des 
Ortsphilisters  mit  und  denuncirt  den  Landvogt,  weil  oder  wenn 
derselbe  nicht  in  der  Stadt  Baden,  sondern  in  Rheinfelden  und  Secldn- 
gen  wohnt  und  zehrt :  idavon  so  kan  Er  nit  verzert  haben 
zeBaden;€  und  hierauf  fahren  dieselben  guten  Badener  also  fort: 
»Her  Hermann  der  Gessler  hat  geben  Grüningen  das  Sloss 
und  das  Ampt  in  der  von  Zürich  band,  die  doch  Nacht  und  Tag 
niemer  Ruw  gebent,  won  daz  sie  Uech  (den  Herzog)  bringen  umb 
Lib  und  Gut,  als  Uech  des  die  Ueweren  von  Rapreswil  wol 
underwisen  kunnen.  Hans  Grünenstein  ist  etwe  lang  Zit  unser 
Stattschriber  gewesen,  daz  er  aller  unser  Heimliche  wusst;  der 
gab  nach  Uewer  Stattrecht  sin  Burgrecht  uff,  darnach  kam  er 
och  zu  dem  Gessler  und  wart  sin  Knecht,  und  griff  der  Gessler 
Jwer  Land  und  Lüt  an.  Da  kam  uns  für,  wie  daz  derselb 
Grünenstein  Rat  und  Hilf  darzu  gebe  mit  grossen  Uffsetzen  und 
Listen,  daz  die  Niderburg  ze  Baden  ingenomen  wurd  und  von 
Jwem  Händen  keme,  darzu  wir  öch  umb  Lib  und  Gut  komen 
werin«   (S.  141). 

Die  Stadt  Rapperswil  klagt,  S.  153:  »Als  der  Gessler  denen 
von  Zürich  das  Ampt  ze  Grüningen,  das  sin  Pfand  ist  von  unser 
Herschaft,  versetzt  hat,  damit  trengent  und  übersetzent  Sy  uns 
(die  Zürcher  mit  ihren  Söldnern),  das  wir  für  die  Statt  niena  sicher 
getürren  WcUidlen.  Und  sunderlich  trengent  Sy  die,  so  in  dem 
Ampt  gesessen  sint,  denan  Sy  ander  Dienst  und  Rechtung  ufT- 
setzent,  denn  sie  sullent  oder  denn  sie  joch  (anders  als  demge- 
mäss  die  Amtsleute  auch)  dem  Gessler  versetzt  sint.  Das  tunt 
Sy  (die  Zürcher)  umb  das,  daz  sy  (die  Amtsleute)  unwillig  wer- 
dint- und  sich,  von  Unser  Herschaft  und  uns  kerint.«'  Die  Klage 
hebt  alsdann  ferner  hervor,  Gessler  habe,  nachdem  er  Zürcher- 
bürger  geworden,  die  Burg  zu  Rapperswil  ohne  Wissen  dortiger 
Bürgerschaft  heimlich  mit  Truppen  besetzt,  welche  im  Einverständ- 
nisse mit  den  Zürchern  jeden  Versuch  der  Bürger  zur  Gegenwehr" 
überwältigt  haben  würden.  Sie  übersehen  also  oder  wissen  noch 
nichts  von  jener  Urkunde  ihres  Herzogs,  wornach  er  selbst  unterm 
24.  Juli  1407  »Vesti,  Statt  und  Burg  Raperswil  mit  lüt 
und  gut,  mit  allen  Fryheiten  und  Ehaften  umb  acht 
tusend  guldin«  der  Stadt  Zürich  überantwortet  hatte.  Archiv 
f.  schw.  Gesch.  17,  247.    Noch  mehr  beklagen  sie  die  Beeinträch- 


I.   Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  7t i 

tigung  ihres  örtlichen  Marktrechtes,  indem  Zürich  neue  Märkte 
in  ihrer  Nähe  errichte  und  ihnen  das  Brod  abschneide.  Gleiches 
klagt  auch  die  Stadt  Bremgarten  (S.  157):  In  jedem  Dorfe  er- 
richten die  Bauern,  anstatt  ihre  Aecjcer  zu  bauen,  einen  Markt 
für  Vieh,  Korn,  Salz  und  Eisen,  und  bringen  den  unsrigen  in 
Abgang. 

Solche  vom  Zunftneid  der  Kleinstädter  vorgebrachte  Kanne- 
giessereien  sind  dann  von  Chronisten  wie  Tschudi  (I,  633)  dahin 
ausgedehnt  worden,  dass  Heinrich  und  Hermann  G.  zu  Verräthern 
am  Herzog  und  an  Rapperswil,  ja  zu  Schreckgespenstern  gestem- 
pelt wurden,  die  man  in  der  Rapperswiler  Mordnacht  hat 
fortspuken  lassen.  Ganz  anders  aber  urtheilte  ebendiejenige 
Bevölkerung,  welche  aus  der  Hand  der  Gessler  in  die  der  eid- 
genössischen und  kantonalen  Vögte  übergegangen  war.  Gerade 
das  Grüninger  Amt  war  gegen  diesen  Herrschaftswechsel  mit  so 
nachdrücklichen  Beschwerden  aufgetreten,  dass  es  darüber  endlich 
zu  dem  Spruchbriefe  kam,  welchen  das  als  Schiedsrichter  ange- 
rufene Bern  im  Jahre  1441  hierüber  erlassen  hat;  er  liegt  uns  ab- 
schriftlich vor  in  dem  »Grüninger- Amt«  betitelten  Bande  einer 
dreissigbändigen  Urkundensammlung,  verwahrt  in  der  Bibliothek 
der  aargauer  historischen  Gesellschaft.  Seinen  Entscheidungen 
sind  die  vorausgegangenen  Bemerkungen  der  Kläger  und  Beklag- 
ten stets  beigefügt,  und  deutlich  erweisen  hiebei  die  Kläger,  dass 
unter  österreichischer  Verwaltung  Stadt  und  Landschaft  Grüningen 
zusammen  gleiche  Freiheit  ohne  gegenseitige  Vorrechte  besassen, 
dass  aber  die  neue  Zürcher  Verwaltung  den  auf  dem  offnen  Lande 
wohnhaften  Freien  directe  und  indirecte  Steuern  dictirte  und  die 
Geltung  ihrer  Rechte  nur  an  den  Aufenthalt  in  der  Stadt  Grü- 
ningen knüpfte.  Die  Stadt  war  also  bevorrechtet  und  blieb  re- 
lativ dadurch  frei,  dass  die  Landschaft  Freiheiten  und  Rechte  ver- 
lor. Laut  landschaftlicher  Satzung  hatte  jeder  in  die  dortigen 
Dingstätten  Gehörende  das  Recht,  Wein  frei  und  unbesteuert  aus- 
schenken zu  dürfen,  während  der  Zürehervogt  nun  5  Schillinge 
4  Heller  Schenksteuer  forderte.  Als  nun  Etliche,  fährt  die  Be- 
schwerde  fort,  an  der  Kirchweihe  zu  Bertschikon  Wein  ausge- 
schenkt und  Einer  derselben,  Hiesi  Bebi,  dem  Vogte  statt  der 
verlangten  Abgabe  böse  Worte  gegeben,  habe  ihn  dieser  in's 
Schloss  abfuhren  und  ihm  da  eine  gesalzne  Suppe  anrichten 
lassen.  Trotz  dieser  angerufnen  Satzung  wird  im  Berner  Spruch, 
art.  XII,   das  Weinausschenken  im  Städtlein  freigegeben  und  auf 


9  £2  ^I*    ^ie  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage, 

der  Landschaft  mit  einer  Tafemensteuer  obigen  Betrages  belegt; 
jenes  bleibt  mit  der  Abgabe  des  Fasnachtshuhnes  verschont,  die 
Landschaft  damit  belastet.  Die  Landschaft  erbringt  den  Nach- 
weis ,  dass  ihre  ^Waffenpflicht  nicht  über  die  Landschaftsgrenzen 
hinausreiche,  dass  jeder  weiter  darüber  hinausführende  Marsch 
auf  des  Kriegsherrn  Kosten  zu  geschehen  habe ;  nun  aber  würden 
sie  gegen  Landrecht  gezwungen,  der  Zürcher  auswärtige  Feldzüge 
mitzumachen,  wie  z.  B.  den  im  Frühjahre  141 1  nach  Bellinzona 
unternommenen.  Als  Zürich  hierauf  diesen  Klagepunkt  sehr  un- 
zeitig zu  finden  meint,  da  ja  das  Grüninger  Aufgebot  schon  unter 
den  Gesslern  bis  in's  Elsass  marschiert  sei,  erwiedem  die  Kläger 
rasch:  »So  si  mit  dem  gessler  reistin,  muosten  die  (Johanniter-) 
Herren  von  Rüti  und  von  Buebikon  jnen  Wägen  darstellen  und 
si  nach  notdurft  vert'gen,  dabi  man  merk,  wie  billig  jr 
clegt  sy.« 

Ehedem,  erklären  sie  weiter,  hatte  man  von  einem  Joch 
Ochsen  eine  Zehentgarbe  zu  entrichten.  Kamen  alsdann  Vogt 
und  Weibel  auf  den  Ernteacker  und  erbaten  sich  ihre  Garbe,  so 
gönnte  man  ihnen  eine  solche  um  Bitte  und  Liebe,  keineswegs 
aber  in  Pflicht,  und  kamen  sie  gar  nicht,  so  empfiengen  sie  auch 
nichts.  Jetzt  hingegen  sei  es  so  geworden,  dass  zwar  keiner  von 
Beiden  mehr  auf  den  Acker  geht.  Jeder  aber  in  die  Scheune  ge- 
laufen kommt,  hier  drei  Garben  ungebeten  wegnimmt  und  unter 
dem  ganzen  Stock  die  grössten  sich  heraussucht.  Ja  jedem  Klein- 
knechte, der  nur  eine  Juchart  in  Zins  zu  bauen  hat,  nehmen  sie 
ebenso  die  drei  Zinsgarben  ab.  Arme  Leute,  welche  Bauland 
pachten  müssen,  sind  gezwungen;  es  liegen  zu  lassen,  um  die^ 
Vogtäcker  zu  pflügen  und  zu  schneiden.  Da  muss  der  Vogthanf 
zur  Rössung  in  den  See  geführt,  wieder  heraus  aufs  Feld  gelegt 
und  schliesslich  in  die  Scheune  gebracht  werden,  komme  es  ihnen 
wohl  oder  übel,  seien  sie  bei  ihrer  eignen  Arbeit  oder  in  fremdem 
Lohndienste.  Reben  auf  ihren  eignen  Gütern  neu  anzulegen,  oder 
das  Ihrige  auf  einen  Markt  ihrer  Wahl  zu  fuhren,  sei  ihnen  bei 
Leib  und  Gut  verwehrt ;  ein  ihrem  Herkommen  keck  zuwider  lau- 
fendes, unter  der  vorigen  Herrschaft  unerhört  gewesnes  Verbot. 
So  habe  auch  der  Gessler  immer  sich  selbst  beholzt  und  nur 
dann  das  Amt  um  Holz  angerufen,  wenn  er  ein  Kind  zu  erhoffen 
oder  eines  auszusteuern  hatte.  Jetzt  hingegen  müssten  sie  dem 
Zürchervogt  das  Schloss  fiir's  ganze  Jahr  mit  Holz  versorgen. 
Nie  habe  der  Gessler  ihnen  Schätzung  auferlegt.     Nun  aber,  seit 


I«    Familiengeschichte  der  aaigauer  Gessler  etc.  ^C^ 

Zürich   die  Kiburg   zum  Pfände  hat,   sollen  sie  auch   an  dieser 
Pfandschafts-Summe  800  Pfund  Heller  mitbezahlen. 

So  lautete  noch  im  Jahre  1441  das  freiwillig  abgelegte  Zeug- 
niss  der  Bauernschaft  zu  Gunsten  beider  Gesslef,  des  Vaters  Hein- 
rich und  des  Sohnes  Hermann,  als  diese  längst  aus  dem  Amte 
waren,  es  war  also  ein  Testimonium,  das  sich  damals  durch  Geld, 
Bedrohung  und  sonstige  KanzleiknifTe  nicht  mehr  zusammen  wei- 
beln  Hess.  Die  Grüninger  hingegen,  die  dieses  ZeugniSs  abgaben, 
sollten  von  nun  an  durch  volle  vier  Jahrhunderte  erfahren,  dass 
die  Republik,  welcher  sie  einverleibt  worden  waren,  ein  nur  für 
die  zünftigen  städtischen  Geschlechter,  nicht  aber  für  das  Volk 
etablirter  Freistaat  war.  Die  Lasten  aus  der  österreichischen  Vogt- 
zeit waren  verblieben,  hatten  sich  von  den  Hintersassen  auf  den 
freien  Landsassen  ausgedehnt,  die  Gegenleistungen  der  Grund- 
und  Schutzherren  aber  waren  ausgeblieben.  Bis  zum  Umstürze 
der  Eidgenossenschaft  durch  die  Invasion  der  Neufranken  hatte 
das  Grüninger  Amt  in  zahllosen  Bittschriften  die  Regierung  um 
eine  menschlichere  Verwaltung  gebeten,  und  so  beharrlich  wurde 
dieses  Begehren  abgelehnt,  dass  daraus  ein  eigenes  Sprich- 
wort im  Lande  entstand,  um  damit  jede  obrigkeitlich  ausge- 
sprochene Ablehnung  überhaupt  zu  bezeichnen.  Der  Züricher 
J.  C.  Lavater  Hess  dasselbe  in  seinem  berühmten  Flugblatte  vom 
21.  Wintermonat  1762  drucken,  es  hiess:  Sagt  mir  nichts 
mehr  von  Grüningenl 

Nachdem  die  in  den  Gessler'schen  Vogteien  aufgenommenen 
Kundschaften  keinerlei  Klage  gegen  den  Landvogt  ergeben  hatten, 
musste  ein  Diener  Gesslers  der  unschuldige  Anlass  zum  Ausbruche 
der  Feindschaft  zwischen  dem  Herzoge  und  dessen  Vogte  werden. 
Burkart  Schlatter,  Bürger  von  Zürich,  in  Gesslers  Diensten  bei 
Meran  an  der  Etsch  niedergelassen,  wird  hier  auf  seinem  Eigen- 
gute auf  herzoglichen  Befehl  gefangen  genommen.  Er  scheint 
bei  den  damals  unsichem  Zeitläuften  Baarschaft  oder  Fahrhabe 
aus  des  Herzogs  Lande  entfernt  zu  haben,  macht  sich  dadurch 
einer  unbeabsichtigten  Zoll-  und  Steuer-Unterschlagung  gegen  den 
Landesherm  schuldig  und  ist  deshalb  nach  österreichischer  Landes- 
satzung Augen-  und  Zunge  verlustig.  Die  barbarische  Strafe  wird 
wirklich  vollzogen.  Sogleich  nimmt  Zürich  sich  des  Misshandelten 
an  und  macht  am  3.  October  141 2  beim  Badener  Landvogt  Burk- 
hart  von  Mannsberg  die  Schadloshaltungsklage  anhängig.  Dies 
bleibt  aber  deshalb  erfolglos,   weil  mittlerweile  Hermann  Gessler 

Roehholz,  Teil  und  Gessler.  23 


^üA  IL    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  §age. 

sich  insgeheim  mit  dem  Herzog  wieder  verglich,  dieser  aber  schon 
drei  Jahre  darauf  um  Land  und  Leute  kommt.  Wann  und  auf 
welchem  Wege  der  Herzog  und  sein  Vogt  sich  mit  einander  ver- 
tragen hatten,  dies  erhellt  aus  den  bisher  vorhandenen  Urkunden 
nicht.  Wir  wissen  nur,  dass  Schloss  Brunegg  als  herzogliches 
Lehen  im  Jahre  141 3  den  G<^slern  abgenommen  und  auf  die  . 
Mellinger  Schultheissenfamilie  Sägisser  übertragen  worden  war,  *) 
während  es  im  Jahre  141 5  schon  wieder  in  der  Hand  der  Gess- 
ler ist. 

Musste  nun  jene  an  einem  Züricher  Stadtbürger  vollzogene 
Blendungs-  und  Verstümmelungsstrafe  das  öffentliche  Urtheil  nicht 
wenig  aufregen  und  sah  man  den  Vogt  Hermann,  anstatt  seines 
Dieners  sich  anzunehmen,  alsbald  auf  des  Peinigers  Seite  stehen, 
so  lag  die  Meinung  nahe  genug,  Hermann  selbst  sei  ein  Mit- 
schuldiger bei  dieser  Unthat.  Was  darum  der  Verdacht  der  Zeit- 
genossen an  dem  Lebenden  nicht  thun  konnte,  das  that  alsdann 
die  überlebende  Sage  mit  ihrem  Vehmgerichte.  Sie  machte  Her- 
mann zum  Zeitgenossen  und  Partisan  jenes  Vogtes  Landenberg, 
der  den  Melchthal  blenden  Hess,  und  von  Tschudi  an  bis  auf 
Joh.  V.  Müller,  ja  bis  hinein  in  den  Schiller'schen  Theaterzettel  heisst 
nun  der  Landestyrann  einstimmig:  Ritter  Hermann  Gessler 
von  Brunegg.  Unter  solcherlei  den  Gesslern  nachtheiligen 
Gerüchten  bricht  liir  die  Vorlande  und  deren  Lehensadel  unver- 
muthet  eine  durchgreifende  Umgestaltung  an,  der  Aargau  wird 
von  den  Eidgenossen  erobert,  und  damit  gehen  die  Brunegger 
der  grossen  vom  Vater  überkommenen  Besitzthümer  und  Herr- 
schaften für  immer  verlustig.  »Denn  es  erbt  wohl  Einer  des 
Anderen  Gut,  aber  nicht  sein  Glück.« 


*)  Dies  ergiebt  sich  aus  dem  »Lechenbuch  der  Lobl,  Statt  Bern«,  in  wel- 
chem folgendes  Regest  enthalten  ist:  »1413,  Crucis  in  Maye.  Das  Hus  Brun- 
egg mit  den  Wyngarten,  Matten  vndt  Höltzeren  ist  Lechen,  ist  in  Junckhcr 
RuodolfT  Sägissers  Händen.«  Der  Grafschaft  Baden  Dokumenteh-Buch  BB 
pars  I,  346. 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  icj 

4.   Die  Gessler  seit  Eroberung  des  Aargau's. 

1415—1513. 

I  Adel  und  Städte  im  Thurgau,  Hegau,  Kletgau,  Aargau   und 

auf   dem  Schwarzwalde    hatten   unterm    lO.  Januar   1410    gegen 

;  äussere  Angriffe  und'  örtliche  Bewältigung  einen  Schirm-  und 
Hilfsverein  gegründet,  der  nach  landschaftlichen  Friedkreiseri,  Con- 
traden  genannt,  eingetheilt  und  durch  Abgeordnete  vertreten 
war,  deren  Tagsatzungsbeschlüsse  alle  jene  Kreise  gemeinsam 
verpflichteten.    So  hatte  auch  die  Contrade  Aargau  ihren  Bezirks- 

!  ort  zu  Baden.  Diese  Einung  war  mit  dem  Willen  des  Landes- 
herm  geschlossen,  und  unter  den  Adelsnamen,  welche  der  Bundes- 
brief   als    Theilnehmer   nennt,    stehen    auch    die    Gessler.      Zwei 

i  Jahre  hernach  bereist  der  Herzog  die  Vorlande ,  verweilt  im 
breisgauer  Freiburg,  zu  Baden  und  Zürich,  erneut  die  Lehen 
und  lässt  den  unterm  16.  Juni  1394  mit  den  Eidgenossen  ab- 
geschlossnen  zwanzigjährigen  Frieden  zu  einem  fünfzigjährigen 
erweitern.  Der  Vertrag  wird  zwischen  dem  Landvogt  Burk- 
hart  von  Mannsberg,  den  herzoglichen  Städten  der  Vorlande 
und  den  Eidgenossen  besiegelt,  vom  Herzog  bestätigt  und  am 
8.  Heum.  141 2  allem  Volke  bekannt  gemacht  (Urk.  bei  Tschudi 
I,  662).  Nach  nicht  ganz  drei  Jahren  war  dies  Alles  wieder  im 
Sande  zerronnen.  Durch  des  Herzogs  politischen  Leichtsinn, 
durch  die  Heftigkeit  und  Unstetigkeit  seiner  Leidenschaften  schlug 
Alles  in's  Gegentheil»um;  Krieg  entbrannte,  zerstückelte  die  Vor- 

Jande,  riss  sie  theil weise  ganz  vom  Reiche  ab,  entsetzte  den  Her- 
zog und  seinen  Lehensadel  des  Besitzes  und  drückte  eine  Viel- 
zahl von  Städten  auf  Jahrhunderte  zu  bedeutungslosen  verarmten 
Provinzialorten  herunter,  ohne  damit  das  leibliche  oder  geistige 
Wohl  der  Landbevölkerung  eben  so  lange  auch  nur  irgendwie  zu 
verbessern.  Dahin  brachte  es  die  gegenseitige  Feindseligkeit 
dreier  an  Ränkesucht,  Habsucht  und  Sittenlosigkeit  sich  ganz  eben- 
bürtiger Männer :  König  Sigmund,  Papst  Johann  XXIII.  und  Her- 
zog Friedrich  IV.  Schon  vor  dem  Konstanzer  Concil  hatten 
diese  drei  Minierer  sich  kennen  und  verachten  gelernt,  und  als 
sie  dann  auf  dem  Concil  persönlich  aneinander  geriethen ,  flogen 
alsbald  ihrer  Zwei,  Herzog  und  Papst,  in  die  Luft.  Die  Rolle 
der  die  Fürstensünden  büssenden  Achiver  fiel  dabei  den  Vor- 
landen zu.     Sigmund,  lebenslang  ein  verachteter,   wiederholt  mit 

23* 


^c6  II*    I^ic  Gessler  von  Brun^g  in  Geschichte  und  Sage. 

Absetzung  bedrohter  Schattenkönig,  war  eitel,  zerstreuungssüch- 
tig, verschwenderisch,  geschlechtlich  ausschweifend,  und  glich 
nach  diesen  Seiten  dem  Herzog  Friedrich  genau,  nüt  welchem  er 
vormals,  tanzend,  trinkend  und  die  Sicherheit  des  Frauengeschlech- 
tes gefährdend,  Tirol  durchzogen  hatte.*) 

Aber  noch  darüber  hinaus  war  der  König  wortbrüchig  ohne 
Scham,  kannte  keinerlei  Rechts-  und  Ehrgefühl,  und  es  behin- 
derte seine  grenzenlose  Eitelkeit  nicht,  um  Gewinn  gegen  Jeder- 
mann servil  zu  sein,  denn  um  Geld  war  ihm  das  ganze  Reich  feil. 
Gegen  den  Herzog  erfüllte  ihn  die  Feindseligkeit  und  Haus-Eifer- 
sucht des  Luxemburgers  gegenüber  den  Habsburgern.  Friedrich 
durfte  daher  von  dem  eben  beginnenden  Konstanzer  Concil  für 
sich  nichts  Gutes  erwarten.  Er  hatte  sich  mit  drei  Bischöfen 
gleichzeitig  überworfen  und  trug  zur  Zeit  den  doppelten  Bann 
des  Trienter-,  welcher  Sigmunds  Rath  war,  und  des  Churer  Bi- 
schofs, eines  unbeugsamen  Mannes.  Er  schloss  sich  daher  dem 
Papst  Johannes  an,  der  auf  dem  Concil  gleichfalls  eine  bedeu- 
tende Gegnerschaft  zu  befürchten  hatte,  darum  die  Stimmen  ein- 
flussreicher Fürsten  voraus  erkaufte  und  auf  der  Herreise  aus 
Italien  den  Herzog  zum  »Obersten  Feldhauptmann  der  römischen 
Kirche«  mit  einem  Gehalte  von  6000  Goldgulden  ernannte.  Mit 
einem  grossen  Gefolge  von  Edelleuten  und  vielen  tausend  Rossen 
quartierte  sich  Friedrich  im  Stifte  Kreuzlingen,  unmittelbar  vor 
den  Konstanzer  Thoren,  als  auf  seinem  eignen  Gebiete  ein  und 
eröffnete  seine  Opposition  gegen  den  König  von  hier  aus  mit  der 
Weigerung,   sich    in  hiesiger  Stadt  von  ihm  »belehnen  zu  lassen. 


♦)  Die  Zimmer  sehe  Chronik,  Ausg.  v.  Barack  i,  507  ff.,  sieht  den  Grund 
der  Feindschaft  Sigmunds  und  Friedrichs  in  einer  Wüstlingsgeschichte.  Als  der 
aus  Italien  kommende  Kaiser  in  Innsbruck  bei  Friedrich  zu  Gaste  war,  überwältigte 
hier  der  Herzog  während  eines  Hofballes  eine  mitgeladne  Innsbruckerin  an  einem 
finstern  Orte  und  schob  die  Schuld  auf  den  Kaiser,  dem  er  an  Figur,  Haltung 
und  Bart  sehr  ähnlich  war.  Ausgesonnener  Weise  war  die  That  in  eben  dem 
Augenblicke  verübt  worden,  da  Sigmund  sich  aus  dem  Tanzsaale  zurückgezogen 
hatte,  und  als  das  Mädchen  vor  allen  Anwesenden  in  Klagen  ausbrach,  liess 
Friedrich  jenen  verdächtigen  Umstand  bei  der  Kaiserin  und  den  ungarischen 
Käthen  besonders  hervorheben..  Sigmund  reiste  Tags  darauf  ab,  während  ein 
Stadtauflauf  auszubrechen  drohte,  und  soll  dem  Mädchen  400  Ducaten  geschickt 
haben.  Uf  dem  concilio  zu  Constanz  nam  Sigmundt  ursach,  sich 
widerumb  an  ime  ze  rechen,  thet  Friderichen  in  des  reiches 
acht,  practicirt  mit  den  Aidgnossen,  die  namen  den  herzogen 
das   Ergow. 


I.   Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^^y 

ein  Act,  zu  dessen  Vollzug  er  doch  eben  hieher  entboten  war. 
Gestützt  auf  eine  angeblich  von  König  Friedrich  I.  am  17.  Sept. 
1 1 56  dem  Hause  Oesterreich  ertheilte  Urkunde  (sie  gehört  zu  den 
sogenannten  fünf  falschen  österreichischen  Freiheits- 
briefen), verlangte  der  Herzog,  nur  auf  österreichischem  Boden 
und  in  keiner  andern  Stellung  als  sitzend  zu  Pferde  seine  Reichs- 
lehen zu  empfangen.*)  Der  König  spottete  dieser  romantischen 
Schrulle,  zumal  er  recht  wohl  wissen  konnte,  dass  jene  angebliche 
Kaiserurkunde  unter  dieselben  gehörte,  die  durch  Herzog  Rudolf 
IV.  und  dessen  Kanzler  1358 — 59  zu  dem  Zwecke  zusammenge- 
schmiedet worden  waren,  die  herzoglichen  Privilegien  auf  Un- 
kosten des  Reiches  zu  vermehren.  Er  forderte  daher,  dass 
Friedrich  stehend  vor  dem  Throne,  wie  alle  übrigen  Reichsfursten, 
huldige  und  Lehen  empfange.  Als  dies  am  4.  Hornung  141 5  zu 
Konstanz  also  geschah,  soll  der  Herzog  bedeckten  Hauptes  er- 
schienen sein  und  auf  die  Betitelung:  »Graf  von  Habsburg«,  den 
König  ebenso  mit  »Graf  von  Lützelburg«  angeredet  haben.**) 
Dies  war  indess  nur  das  Geplänkel  zu  der  Katastrophe,  die  der 
Papst  zum  Ausbruche  brachte.  Johann,  der  wegen  seines  groben 
Cynismus  eine  stehende  Spottfigur  der  deutschen  Flugblätter  ge- 
wesen war,  noch  bevor  die  Berechnung  seiner  Laster  an  den 
Konstanzer  Kirchen  und  Thoren  angeschlagen  stand,  war  der 
dritte  zu  zwei  gleichzeitigen,  schon  vom  Concil  zu  Pisa  entsetzten 
Gegenpäpsten,  und  man  erwartete  gegenwärtig  seine  freiwillige 
Abdication  in  der  Voraussetzung,  dadurch  auch  der  beiden  andern 
loszuwerden.  Gestützt  auf  seine  Partei  und  in  der  Hoffnung,  so- 
gleich wieder  gewählt  zu  werden,  dankte  er  am  i.  März  aller- 
dings ab.  Als  aber  seine  Erwartung  fehlschlug  und  seine  förm- 
liche Entsetzung  voraus  zu  sehen  war,  sann  er  auf  Flucht,  um 
durch  seine  Entfernung  die  Kirchenversammlung  entweder  zu 
trennen,   oder    doch   ihre  Beschlüsse  zu  vereiteln,   indem   er  die- 


•)  Im  französischen  Roman  Perceval,  einer  aus  dem  gereimten  Ritterroman 
dieses  Namens  entstandnen  Prosa-Erzählung  des  15.  Jahrhunderts  (einzige  Druck- 
ausgabe: Paris  1530),  soll  Held  Perceval  an  König  Arthurs  Hof  den  Ritterschlag 
empfangen,  wogegen  der  ungehobelte  Held  darauf  besteht,  diese  Ehre  nur  zu 
Herde  annehmen  zu  wollen  und  gleich  auch  noch  eine  andere  eben  so  freche 
Bedingung  dazu  fügt.     Liebrecht-Dunlop,  Gesch.  der  Prosadichtungen,  S.  71. 

*•)  So  erzählt  Albert  von  Bonstetten,  der  Dekan  von  Einsiedeln,  der 
im  Jahre  1527  seine  Historia  Domus  Austriae  am  Wiener  Hofe  einreichte.  Obige 
Anekdote  steht  auch  bei  Marian,  Austria  Sacra  II,  Abthl.  4,   S.   156. 


9c8  n.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

selben  nachträglich  annuUirt  haben  würde.  Hiebei  war  ihm  der 
Herzog  behilflich.  Beide  entflohen  am  20.  März  über  Schaff"- 
hausen  in's  Breisgau,  der  Papst  mit  dem  Plane,  Avignon  zu  er- 
reichen und  sich  dorten  mit  Frankreichs  Hilfe  in  päpstlicher 
Autorität  festzusetzen ;  Friedrich  in  der  Absicht,  den  Papst  in  den 
herzoglichen  Städten  festhalten  und  als  eine  politische  Werthsache 
gegen  Concil  und  Reich  ausnutzen  zu  können.  Die  Flüchtlinge 
hatten  sich  schwer  getäuscht ;  ganz  unerwartet  zeigte  die  kaiserliche 
Partei  Entschiedenheit.  Durch  Eilboten  wurde  der  Herzog  vor  den 
König  citirt  und  als  er  zauderte,  in  Acht  und  Aberacht  erklärt, 
die  Väter  der  Kirche  Hessen  den  Bann  folgen,  seine  Unterthanen 
wurden  ihres  geleisteten  Eides  entbunden.  Dies  Alles  geschah 
mit  einer  keinerlei  gerichtliche  Frist  und  Form  beachtenden  Eile. 
Schon  am  30.  März  ergieng  Sigmunds  Befehl  an  die  Stände  des 
Reiches  zum  Kriege.  In  der  Charwoche,  6.  und  7.  April,  rückte 
das  Executionsheer  unter  Burggraf  Friedrich  von  Nürnberg  durch 
das  Hegau  und  Thurgau  beiden  Rheinufern  entlang  bis  Schaff- 
hausen herab  und  zwang  die  Städte  dieser  Bezirke:  Radolfszell, 
Diessenhofen,  Stein  am  Rhein,  Frauenfeld,  Winterthur,  zum  Reiche 
zu  schwören.  Die  wehrlosen  Orte  ergaben  sich,  aber  um  aus 
dem  Unglücke  ihres  Herrn  wenigstens  nicht  selber  Nutzen  zu 
ziehen,  bezahlten  sie  in  ihrer  Bürgerredlichkeit  dem  Könige  erst 
die  verschiednen  Pfandsummen  aus,  um  die  sie  vom  Reiche  einst 
an  Oesterreich  versetzt  worden  waren.*)  Dies  war  der  erste 
Schritt  zu  dem  in  diesem  Kriege  allgemein  gewordnen  Verfahren, 
österreichische  Lehen  und  Landstädte  in  Lehen,  Pfandschaften  und 
Städte  des  Reiches  umzuwandeln.  Doch  viele  dieser  Orte  traten 
nachmals  von  dem  Reiche,  das  sie  nicht  schützte,  sondern  nur 
neuerdings  verpfändete  und  verschacherte,  abermals  an  Oester- 
reich zurück;  so  Radolfszell,  Diessenhofen,  Neuburg  am  Rhein, 
Breisach.  Gänzlich  wurde  dem  Reiche  die  Huldigung  versagt  von 
den  schwäbischen  Donaustädten,  als  von  Ehingen,  Mundrichingen, 
Reutlingen,  im  Saulgau,  zu  Wangen,  Waldsee  u.  s.  w. ;  ebenso 
verweigerten  den  Eidgenossen  die  Huldigung:  Villingen,  Walds- 
hut, Laufenburg.     Eine  ähnliche  Anhänglichkeit  bewies  auch  der 


{ 


*)  So  that  z.  B.  SchafFhausen ,  das  sich  am  6.  April  ergab  und  an  seiner 
Ix)sungssumme  nachmals  275  Steuerjahre  lang  abzuzahlen  hatte.  M.  Kirchhofer, 
Schaff  hauser  Neujahrsgeschenke  No.  XIII,  S.  6.  In-Thum,  Der  Kt.  SchafF- 
hausen, S.  5  beziffert  die  Schaffhauser  Lösungssumme  auf  30,000  Dukaten. 


I.  Famüiengescbichte  der  aargauer  Gessler  etc.  %tQ 

• 

Aargau.  Inzwischen  erfolgte  die  Besitznahme  der  übrigen  herzog- 
lichen Provinzen.  Sundgau,  Elsass  und  Breisgau  wurde  theils 
durch  die  dortigen  Reichsstädte,  theils  vom  Pfalzgrafen  Ludwig 
am  Rhein  (Friedrichs  eigner  Schwager)  genommen;  der  Schwarz- 
wald durch  den  Landgrafen  Eberhard  von  Nellenbui^ ;  Rheinthal, 
Vorarlberg  und  Feldkirch  durch  die  Grafen  von  Werdenberg, 
von  Bregenz  und  Toggenburg;  das  Etschland  durch  die  Baiem- 
herzoge  und  die  dortigen  Bischöfe ;  die  Stammlande  durch  Herzog 
Albrecht  und  den  Grafen  von  Cilly.  Tirol  verblieb  damals  und 
später  treu  bei  seinem  Herrn.  Die  Landleute  sammt  Ritterschaft 
dieser  Grafschaft  erklärten  (Bozen,  22.  Juni  141 5):  Herzog 
Friedrich  habe  sie  der  ihm  geleisteten  Pflichten  zwar  entlassen 
und  an  König  Sigmund  gewiesen;  sie  hingegen  Alle  ohne  Aus- 
nahme wollten  dies  nicht  thun  aus  Treue  zu  ihrem  rechten  natür- 
lichen Herrn,  und  hätten  darum  nun  des  Herzogs  Bruder  Ernst 
(dem  Eisernen)  auf  so  lange  gehuldigt,  bis  sie  beim  Könige  wieder 
gänzlich  in  Ehren  erledigt  sein  würden.  Hormayr,  Gesch.  der 
Grafsch.  Tirol  I,  Abthl.  2,  S.  620  und  624. 

Keineswegs  erst  jetzt  und  nach  den  erwähnten  Vorgängen 
kam  den  Eidgenossen  die  Lust,  sich  bei  dem  Länderraub  mit  zu 
betheiligen;  sondern  schon  vor  jenen  Ereignissen  und  sogar  noch 
vor  der  Aechtung  des  Herzogs  hatte  das  vergrösserungslüsteme 
Bern  durch  eine  besondere  Gesandtschaft  persönlich  mit  dem 
Könige  pactiert  und  ihm  für  den  Fall,  dass  er  in  Krieg  gegen 
Friedrich  geriethe,  WafTenhilfe  förmlich  zugesagt.*)  Es  versprach 
ihm  8000  M.  zu  stellen  und  binnen  acht  Tagen  vier  aargauer 
Städte  zu  überantworten.**)  Die  Folge  wird  zeigen,  dass  diese 
vier  gemeinten   Städte  2k)fingen,  Arburg,   Aarau   und  Lenzburg 


*)  Sigmund  schreibt  141 5,  25.  März  an  Bern  (das  Original  liegt  im  bemer 
Staatsarchiv):  Als  wir  dann  vormals  in  unsrer  küniglichen  person  mit  den 
egenanten  von  Bern  in  Uechtland  gerett,  gefordert  vnd  an  Sy  begert  hatten,  uns 
und  dem  Rieh  hilfe  czu  tund  und  byczusteen  wider  Herczog  Fridrichen  v.  ö.,  ob 
wir  mit  dem  selben  Herczogen  czu  kriege  komen,  und  als  uns  die 
von  Bern  vormals,  und  ouch  cjetzund  von  newes,  czugesagt  haben,  das  Sy  vns 
denselben  von  Gestenreich  czu  kriegen  genczlich  helfen  wollen  — Also  wollen  wir 
ouch,  das  Sy  mit  uns  versorgt  sind  in  solcher  masse,  als  hernach  geschriben  stet.  — - 
Hier  folgen  die  weiteren  Punctationen.  Äbi  in  Kopps  Gesch.-Bl.  2,  105,  Beilage  I. 
Eidgenöss.  Absch.  I,  S.  47,  No.  105.  —  Dr.  H.  Frey:  lieber  die  Eroberung 
des  Aargaus ;  in  den  Basler  Beiträgen,  Bd.  IX,  223. 

*•)  »Kriegsanstalten  gegen  Herzog  Friedrich  von  Oesterreich.«  Von  einem 
Ungenannten.     Aschbach,  Gesch.  Königs  Sigmund,  Bd.  II,  421. 


j5o  I^*    ^^  Gessler  von  Bnuegg  in  Geschichte  und  Sage. 

waren.  Zürich,  um  einen  gleichen  Zuzug  gegen  Schaffhausen 
angegangen,  schwankte  und  entschuldigte  sich  gegen  die  Gesandten 
Grafen  Friedrich  v.  Toggenburg  und  den  Bemerboten  Anton 
Guglan:  es  sei  umsetzt  von  herzogl.  Städten  und  laufe  Gefahr, 
>gar  gröbliche  voii  ihnen  geschädigt  zu  werden,  wenn  es  diesel- 
ben bei  einer  weiter  gehenden  Unternehmung  im  Rücken  lasse. 
Die  Aussicht  auf  eine  Territorialvergrössenmg  half  indess  rasch 
über  diesen  Skrupel  hinweg,  Zürich  gab  seinen  Boten  volle  Ge- 
walt mit  dem  Könige  zu  unterhandeln,  befahl  die  Geheimhaltung 
der  bisherigen  Zusagen  und  Hess  sofort  die  Tagsatzung  nach 
Beggenried  ausschreiben,  »von  der  Hilf  wegen,  so  unser  Herr  der 
Küng  uns  zugemuotet.c  Hier  scheiterte  der  Plan  vorerst  an  der 
politischen  Eifersucht  der  Länder-  gegen  die  Städtekantone;  dass 
man  aber  hier  schon  um  das  Bärenfell  sich  stritt,  geht  aus  dem 
um  zehn  Jahre  späteren  Berner  Schiedssprüche  von  1425  hervor, 
dessen  eines  Beweismittel  besagt:  Auf  jenem  Tage  zu  Beggen- 
ried  hatten  die  Kantone  einander  versprochen,  den  dem  Herzog 
abzuerobernden  Aargau  zu  gleichen  Theilen  gemeinschaftlich  be- 
sitzen zu  wollen,  Tschudi  II,  162.  Man  war  indess  damals 
schon  geschliffen  genug,  den  abweisenden  Beschluss  hinter  dem 
Anschein  angeborner  Biederkeit  und  Herzenseinfalt  zu  verbergen, 
und  berief  sich  auf  den  erst  vor  drei  Jahren  mit  dem  Hause 
Oesterreich  geschlossnen  fünfzigjährigen  Frieden.  Sigmund  erwies' 
hierauf  den  Kantonen  in  zwei  Schreiben  vom  5.  und  vom  15.  April, 
dass  und  warum  es  in  der  Politik  keine  moralischen  Gründe  gebe. 
Als  zum  Reiche  gehörend,  seien  cEe  Eidgenossen  schuldig,  dem 
Reiche  Kriegshilfe  zu  leisten.  Ihr  Tractat  mit  Friedrich  sei  nur 
ein  Frieden,  keineswegs  aber  ein  Bündniss,  da  Niemand  im 
Reiche  ein  solches  eingehen  dürfe,  wenn  es  wider  den  R.  König 
ist,  welchem  man,  als  dem  ordentlichen,  natürlichen  Herrn,  vor  ^ 
und  nach  allen  Bündnissen  verbunden  bleibt.  Zudem  erweisen 
kaiserliches  und  geistliches  Recht,  dass,  was  immer  man  im  Reiche 
eingeht,  ein  jeglicher  R.  Kaiser,  König  oder  Papst  darin  ausge- 
nommen, ist,  seien  die  Letzteren  dabei  namentlich  berührt  oder 
nicht  mitgenannt.  Sonach  seien  die  Eidgenossen  zum  Kriege 
gegen  den  Herzog  verpflichtet  und  sollen  damit  den  ihm  be- 
schwomen  fiinfrigj  ährigen  Frieden  keineswegs  gebrochen  haben, 
des  Ferneren  haben  sie  auch  alle  von  der  Herrschaft  Oesterreich 
pfandweise  innehabenden  Lande  und   Schlösser  keineswegs  dem 


I.    FamiUengescliicbte  der  aai^ner  Gessler  etc.  36 1 

Herzog  oder  dessen  Erben  zu  lösen  zu  geben ,  sondern  sollen 
damit  des  Kaisers  und  Reiches  gewärtig  bleiben. 

Noch  war  ein  Bedenken  der  Selbstsucht  übrig.  Der  fünfzig- 
jährige Friede  war  nicht  einseitig  mit  dem  Herzog  allein,  sondern 
mit  dem  ganzen  Hause  Habsburg  abgeschlossen  worden;  ein 
Krieg  gegen  den  Herzog  drohte  also  einer  gegen  Oesterreich 
zu  werden.  Gegen  diese  Gefahr  verlangen  die  Kantone  Sicherung. 
Der  König,  so  begehrt  nun  Zürich,  möge  keine  Richtung  auf- 
nehmen ohne  die  von  Zürich  miteinzuschliessen  und  diese  zwar 
nur  so,  dass  der  fünfzigjährige  Friede  an  ihnen  ge- 
halten werde.  Ihnen  und  den  Luzemem  wird  dies  unter  Er- 
bietung königlicher  Hilfe  wirklich  zugesagt;  Sigmund  werde  den 
Herzog  zur  Haltung  des  mit  ihnen  geschlossenen  Friedens  zwingen; 
aller  Ansprüche,  die  Friedrich  an  sie  zu  haben  meine,  seien  sie 
ledig  und  quitt,  in  den  ihm  ab  zu  erobernden  Städten  und 
Schlössern  seien  sie  berechtigt,  ihre  eignen  Amtleute  zu  setzen 
(Segesser  RG.  I,  288 — 91). 

Inzwischen  hatte  sich  in  den  Kantonen  die  weitere  Meinung 
verbreitet,  dass  ihrer  jeder  die  ohne  Beihilfe  der  übrigen  zu 
machende  Eroberung  zu  seinem  alleinigen  Besitz  behalten  dürfe, 
wogegen  nur  das  von  ihnen  gemeinsam  Eroberte  unter  gemein- 
samen Schweizer -Besitz  fallen  solle.  Allein  zum  Zeichen,  dass 
diese  naive  Meinung  grundlos  und  dass  der  von  den  Eidgenossen 
übernommene  Feldzug  lediglich  ein  Reichskrieg  sei,  liess  Sigmund 
seinen  Rath  und  Kammermeister  Konrad  von  Weinsberg  mit 
reisigem  Zeug  und  dem  Reichsbanner  zu  dem  an  der  Limmat  und 
Reuss  sich  sammelnden  Heerhaufen  der  Kantone  stossen  unter 
dem  speciellen  Auftrage,  allen  eroberten  Städten  und  Schlössern 
die  Huldigung  im  Namen  des  Königs  abzunehmen,  »denn  alle 
Eroberungen  sollten  ewiglich  bei  dem  Reiche  verbleiben.  €*)  Bern 
kümmerte  sich  weder  um  die  Bedenklichkeiten  seiner  Mitstände, 
noch  um  die  schwache  Rechtstheorie  der  kaiserlichen  Aechtungs- 
briefe,  »noch  auch  um  der  Pfaffen  Fasel  in  dem  Con- 
cilio,  der  die  Eidgenossen  von  ihrem  Eidbruche 
gegen  den  Herzog  absolvirte,€**)  es  zog  die  Mannschaften 
der  vier  Städte  des  Seelandes  an  sich,  rückte  am  18.  April  141 5 


*)  Urk.  Sigmunds  an  Luzern  vom  15.  April;  bei  Segesser  RG.  I,  289. 
**)  Hans  Conr.  RoUenbutz    von   Zürich;    hds.    Chronik,    pag.    90,    auf  der 
aai^uer  Kantons-Bibliöthek  bezeichnet:  MS.  Bibl.  Nov.  31  fol. 


j62  U. .  Die  Gessler  Ton  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

in  den  Aargau  ein  und  nimmt  von  diesem  Tage  bis  zum  20.  April 
die  vier  Städte  Zofingen»  Arburg,  Aarau  und  Lenzburg  gegen 
Vertrag  ein.  Sämmtliche  vier  Capitulationsurkunden  datieren 
nemlich  von  Donnerstag  vor  St.  Georg  141 5  (18.  April)  bis 
Samstag  vor  St.  Georg,  sind  jedoch  lediglich  vier  von  der  Bemer 
Staatskanzlei  vordatierte  Documente,  mit  denen  man  Berns  Erst- 
recht auf  dieses  Gebiet  zu  erweisen  und  die  Einmischung  der 
Mitstände  abzuschneiden  gedachte.  Die  ganze  Berner  Invasion 
gestaltete  sich  aus  diesem  Grunde  zu  einem  unmilitairischen  blossen 
Eilmarsche,  der  keine  Kriegsehren  aufzuweisen  hat.  Zofingen, 
gegen  welches  bis  auf  eine  Stunde  Entfernung  (bei  Reiden)  schon 
die  Luzerner  Truppen  vorgedrungen  waren,  erhielt  darum  von 
den  Bernern  die  Unabhängigkeit  seiner  Communalverwaltung  ge- 
währleistet und  sämmtliche  österreichische  Sonderrechte  dazu 
geschenkt ;  Alles,  damit  man  hier  nicht  mit  Belagerung  und  Unter- 
handlung ein  paar  kostbare  Tage  versäume.  In  gleicher  Eilfer- 
tigkeit versicherte  man  sich  der  übrigen  Nachbarstädte,  Hess  fest- 
und  hochgelegne  Adelsburgen,  weil  sie  nicht  durch  blosse  Ueber- 
rumpelung  zu  nehmen  waren,  unangefochten  nebenan  liegen, 
erreichte  die  Reusslinie  bei  Meilingen  und  Brugg,  stiess  auf  das 
hier  sammt  den  Miteidgenossen  aufgestellte  Reichsheer,  sah  sich 
durch  diese  Concurrenten  ein  Ziel  gesteckt  und  trat  sofort  den 
Heimmarsch  an.  Nicht  länger  als  siebenzehen  Tage,  schreibt  der 
Stadtchronist  Justinger,  habe  die  ganze  Expedition  gedauert. 
Das  flache  Land  mit  den  Städten  war  nun  freilich  genommen, 
nicht  aber  zugleich  der  Grundbesitz,  der  als  Erblehen  und  Pfand 
in  der  Hand  des  Landadels,  der  Bürger  und  herzoglichen  Pächter 
lag;  eben  so  wenig  verfügte  man  über  die  Burgen,  deren  Mann- 
schaften vielmehr  den  neuen  Erwerb  stündlich  bedrohten.  Der 
so  energisch  begonnenen  Kriegsoperätion  hinkt  darum  eine  ganz 
triviale  Geldoperation  nach,  und  diese  ist  von  so  langer  Dauer 
und  geschäftlicher  Verwickelung,  dass  sie  hier  nur  im  Allge- 
meinen umrissen  werden  kann.  Eben  durch  sie  ist  das  Schicksal 
der  Gesslerischen  Brunegg  mitbestimmt  worden. 

Zwei  Hofbanquiers  und  Finanzkünstler  stehen  hier  voran, 
Hans  Schultheiss  von  Lenzburg  und  Konrad  von  Weinsberg. 
Letzterer,  ein  Ritter  aus  dem  Adelsgeschlechte  der  Burg  Weins- 
berg bei  Heilbronn  a/N.,  ist  kaiserlicher  Rath,  Reichsmünzmeister, 
Reichs -Erbkämmerer,  Pfandinhaber  der  Reichssteuern  in  den 
Städten  schwäbisch-Hall,  Heilbronn,  Wimpfen  und  Ulm,  in  einem 


r 


I.    Familiengeschichte  der  aargamer  Gessler  etc.  3^7 

Erstbetrage  von  15,000  Pfund  Heller  und  in  einem  zweiten  von 
10,000  Gl.;  er  erhält  von  seinem  Schuldner,  dem  K.  Sigmund, 
unter  andern  Abschlagszahlungen  auch  den  Schniderhof  in  der 
Stadt  Baden  zu  11 14  Gl.  zugewiesen,  soll  mit  den  Geldern  der 
kaiserlichen  Schatulle  die  Kosten  des  jetzigen  Feldzugs  bestreiten, 
hat  das  Obercommando  und  fuhrt  die  Reichsfahne.  Er  stand 
mit  dem  Zürcher  und  Luzemer  Aufgebote  eben  beim  Städtchen 
Meilingen  an  der  Reuss,  als  die  Bemer  Lenzburg  besetzten,  das 
dortige  Schloss  aber,  den  ausgedehntesten  mittelalterlichen  Kriegs- 
bau unter  den  84  Burgen  des  Aargau's,  nicht  zu  bewältigen 
vermochten.  Auf  diesem  von  drei  Seiten  sturmfreien  Bergkegel, 
hinter  mächtigen  Wällen  und  Zinnen,  die  dem  berner  Belage- 
rungsgeschütze trotzten,  hielt  sich  mit  einer  Österreicher  Besatzung 
der  dortige  Stadt-  und  Schlossvogt  Hans  Schultheiss-Ribin,  in 
dessen  Hand  Schultheissenamt,  Gerichtsbarkeit,  Zoll,  Markt-  und 
Hofstättenzins,  Burglehen,  Herrschaftsrechte  etc.,  theils  als  Erb- 
eigenthum,  theils  als  Erbpfand  lagen.  Mit  ihm,  nicht  mit  den 
Ortsbürgem,  die  er  in  seinem  Beutel  trug,  musste  unterhandelt 
werden.  Der  Weinsberger,  seiner  Instruction  getreu,  Alles  durch, 
und  nichts  für  die  Eidgenossen  erobern  zu  lassen,  erbot  sich  einen 
Ausgleich  zu  versuchen,  wurde  von  den  Bemem  hiezu  bevollmäch- 
tigt, erschien  mit  ihrem  Geleite  vor  dem  Schlossthore  und  fand 
Einlass.  Sogleich  steckte  er  droben  die  Reichsfahne  aus  und  Hess 
verkünden,  die  Besatzung  ergebe  sich  weder  an  Zürich  noch  an 
Bern,  sondern  behaupte  das  Schloss  zu  des  Reiches  Händen. 
Die  Bemer  zürnten  und  gaben  vor,  er  habe  sie  getäuscht,  in 
Wahrheit  aber  handelte  er  nach  den  von  den  Eidgenossen  selbst 
voraus  anerkannten  kriegsrechtlichen  Bestimmungen.  Binnen 
der  ersten  drei  Wochen  schon  hatte  der  Ritter  mehr  als  6000  Gl. 
an  die  Befestigung  der  Bollwerke  und  an  den  Zeug  gewendet, 
alsdann  errichtete  er  einen  vom  Rath  zu  Bern  genehmigten  Ver- 
trag (11.  Mai  141 5),  womach  Jedermann  in  der  Grafschaft  gehal- 
ten blieb,  dem  Hans  Schultheiss  wie  sonst  die  schuldigen  Pflich- 
ten und  Gefalle  zu  leisten.  Die  Bemer  beanspruchten  zwar  hohe 
und  niedere  Gerichtsbarkeit,  die  hier  dem  Schultheiss  zum  Theil 
gehörte,  sodann  den  Lenzburger  Pfundzoll  und  Hofstättehzins,  die 
ihm  ganz  gehörten.  Gegen  dieses  Begehren  erwarb  er  ein  könig- 
liches Diplom  vom  4.  Juli  gleichen  Jahres  und  Hess  sich  nachträg- 
lich noch  unterm  3.  April  141 7  alle  seine  Lehen  und  Pfandschaften 
bestätigen.     So  kam  es,  dass  die  Tagsatzung  auch  im  Jahre  141 8 


564  I^«   ^^®  Gessler  von  Bninegg  in  Geschichte  und  Sage. 

noch  unter  ihre  unerledigten  Fragen  zu  setzen  hat:  »Wegen  des 
Schultheissen  von  Lenzburg  heimbringen,  wie  man  ihm  antworte, 
dass  er  würbe  an  den  König,  damit  Er  (Schultheiss)  mit  der  Veste 
an  uns  käme.«     Eidg.  Absch.  I,  79. 

Wenige  Züge  aus  der  reichen  Geschichte  dieses  Greschlechtes 
müssen  hier  genügen.  Hans  Schultheiss  trug  die  in  seiner  Fa- 
milie erblich  gewordene  Würde  des  Lenzburger  Schultheissen- 
amtes  bereits  als  Geschlechtsnamen.  In  Wirklichkeit  hiess  er 
Ribin,*)  sein  Geschlecht  stammte  aus  dem  Dorfe  Seengen  am 
Hallwiler-See  und  war  aus  ursprünglich  bäuerlichen  Verhältnissen 
zu  höfischen  in  ähnlicher  Weise  empor  gekommen,  wie  die  Gess- 
ler. Der  berühmteste  des  Stammes  ist  jener  Diplomate,  gestorben 
3.  Juli  1388,  der  sich  selber  urkundlich  also  betitelt:  Johannes 
Ribi  von  Seengen  und  Blotzheim  (im  Sundgau),  Schultheiss  von 
Lenzburg,  Bischof  von  Gurk,  Brixen  und  Chur,  Staatskanzler  der 
Herzoge  von  Oesterreich.  Seine  fürstlichen  Herren  waren  ihm 
nach  und  nach  an  Zinsen,  Steuern,  Darlehen  und  Soldgeldem  die 
Summe  von  49,900  Gl.  schuldig  geworden,  die  theils  abbezahlt^ 
theils  in  Form  fernerer  Pfandschaften  und  Sätze  seinen  Erben 
zugeschlagen  und  von  Herzog  Friedrich  (Mit  der  leeren  Tasche) 
im  Jahre  141 2  zu  Baden  am  Pfingstmontag**)  dem  Hans  Schult- 
heiss neu  verschrieben  worden  waren.  Zu  diesen  Verschreibüngen 
gehörten  unter  noch  manchen  anderen  folgende  Besitzthümer  und 
Rechte:  Erblicher  Mitbesitz  einzelner  Thürme  und  Sesshäuser 
des  Schlosses  Lenzburg;  der  Bezug  des  Pfundzolls***)  und  Haus- 
schillings in  der  Stadt,  Erhebung  der  Zollgarben  auf  dem  Lande, 
vorbestimmte  Zinse,  Gefälle  und  Lehen  in  der  Grafschaft  Lenz- 
burg  mit  dem  Jagd-  und  Gerichtsrechte  im  ganzen  Grafschaftsbann. 
König  Sigmund  confirmirt  im  Jahre  141 5    diese  Rechte   und  An- 


*)  Der  Familienname  Ribin  entsteht  aus  dem  Local-  oder  Gutsnamen  Ribi 
(vgl.  riben,  ripsen  =  abreiben) ,  der  sowohl  auf  ein  abstürzendes  Berggerölle,  al$ 
auch  auf  eine  blosse  Oelreibe  zu  deuten  ist.  Der  Urner  Einsiedler  Nikolaus 
Zweyer,  f  1546,  hiess  det  »fromme  Ribibruder«,  weil  er  im  Bannwalde  ob  Altorf 
unter  dem  sogenannten  Ribistein,  dem  nachmaligen  Bruderstein,  wohnte.  So  liegt 
auch  in  Nidwaiden  unweit  vom  Drachenried  zwischen  Roren  und  dem  Allweg  am 
Fusse  der  Blumalp  »Die  Ribinen«.  Lusser,  Gesch.  des  Kantons  Uri  (1862) 
S.  229,  360. 

**)  Aargauer  Staatsarchiv,  »Lade  Lenzburg  B,  Faszikel  3  und  4.« 
***)  Dies  war  ein  städtischer  Marktzoll  und  wurde  von  den  zum  Örtlichen  Ver- 
brauche bestimmten  Waaren  bei  Kauf  und  Verkauf  erhoben.     Die  Stadt  Luzern 
z.  B.  erhob  1420  je  von  einem  Pfund  4  Heller  Zoll.     Segesser  RG.  II,  305. 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  365 

rechte  unter  besonderer  Hervorhebung  der  von  Hans  Schultheiss 
dem  Reiche  geleisteten  vielfältigen  Dienste  und  bekräftigt  solches 
noch  einmal  mit  Urkunde  aus  Konstanz  vom  3.  April  141 7. 
Bei  der  Uebergabe  der  Stadt  Lenzburg  an  die  Bemer  richtet 
Konrad  von  Weinsberg  den  Thädigungsbrief  zwischen  dem  Ber- 
ner Rathe  und  dem  Hans  Schultheiss  auf.  Man  kommt  überein, 
dass  dem  Letzteren  alle  zuständigen  Rechte  über  Veste  und 
Grafschaft  verbleiben,  und  dass  alle  bisher  den  Herzogen  pflichtig 
gewesne  Grafschaftsleute  dem  Genannten  dessen  Renten,  Gilten, 
Zinse,  Gefälle  etc.  wie  bis  anhin  zu  entrichten  haben.  Schultheiss 
lässt  die  Urkunde  vom  König  garantiren  und  zum  Ueberflusse 
auch  vom  Rath  der  Stadt  Bremgarten  vidimiren.  *)  Somit  scheint 
die  Sache  ausgeglichen.  Allein  Bern,  das  seiner  Meinung  nach 
mit  der  Eroberung  des  Aargau's  in  die  souveränen  Rechte  des 
Herzogs  eintritt,  macht  hier  sämmtliche  herzogliche  Lehen  zu 
den  seinigen  und  nimmt  dabei  die  Schultheissischen,  also  eben 
die  Mehrzahl  jener  Grafschaftslehen,  so  lange  in  Beschlag,  bis 
der  Lehensträger  sich  bequemt  haben  wird,  dieselben  aus  der 
Hand  des  neuen  Gebietsherm  zu  empfangen  und  diesem  zu  hul- 
digen. Dagegen  sträubt  er  sich  mit  Grund,  weil  er  wirklicher 
Eigenthümer  ist  und  laut  neuestem  Vertrage  Sämmtliches  schon 
als  Reichslehen  inne  hat.  Bern  stützt  sich  auf  die  miterobernden 
Kantone  und  baut  auf  des  Königs  Schwäche;  Schultheiss  auf 
eben  dieses  Königs  widerspruchsvolle  Erlasse**)  und  auf  der 
Reichsstädte  schiedsrichterliches  Urtheil.  Jedoch  seine  Sache  wird 
im  Reiche  vergessen,  wird  und  bleibt  eine  eidgenössische  und 
geht  so  für  ihn  verloren.  Schon  am  28.  Januar  1432  beschliesst 
die  Tagsatzung  zu  Zürich :  »Dem  Schultheiss  von  Lenzburg 
wird  geantwortet,  man  wolle  ihm  nichts  geben,  denn  die 
Eidgenossen  meinen  mit  Recht  zu  besitzen,  was  sie  innehaben.« 
Abschiede  II,  S.  94.  Hans,  der  Vater,  stirbt  darüber  hin,  sein 
Sohn  Wernher  setzt  den  Prozess  bis  in  die  folgenden  Siebenziger 
Jahre  fort,  verkauft  einen  Besitztheil  von  Schloss  und  Stadt  den 
Bemern,  ladet  wegen  fortdauernder  Rechtsverweigerung  die  übri- 
gen Eidgenossen  vor    das    Rotwiler   Hofgericht  (15.  Mai    1457), 

*)  Diese,  sowie  alle  Schultheiss' sehen  Urkunden,  ist  abschriftlich  enthalten  im 
Lenzburger  Dokumentenbuche,  folio  I,  aargauer  Archiv. 

**)  1425,  22.  März,  ^u  Totis.  König  Sigmunds  Befehl  an  die  Stadt  Lenzburg, 
der  Herrschaft  Oesterreich  wieder  zu  gehorsamen,  Womit  sie  zugleich  ihres  dem 
Reiche  geleisteten  Eides  losgesagt  wird,     Lichnowsky  V,  Regesten  No.  2293. 


366  II*    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

erwirbt  dorten  gegen  sie  die  Achtserklärung  und  verlässt  mit  den 
Seinigen  das  Land. 

In  dieser  Schicksalsgeschichte  der  Lenzburger  Schultheisse 
ist  diejenige  der  Brunegger  Gessler  voraus  enthalten.  Beide  Ge- 
schlechter werden  das  Opfer  de^  Königlichen  Finanzspeculation. 
Konrad  von  Weinsberg  unternahm  in  des  Königs  Solde  den 
Reichskrieg,  um  sich  dabei  für  seine  dem  Könige  gewährten 
Vorschüsse  bezahlt  zu  machen.  Die  dem  Herzog  entrissenen 
Länder  sollen  ihm  einstweilen  als  Faustpfand  dienen,  aus  diesem 
Grunde  nimmt  und  schützt  er  das  Schloss  und  den  Schlossvogt 
zu  Lenzburg.  Aber  auch  die  Berner  sind  ebenso  ausschliesslich 
in  des  Königs  Solde  zu  Felde  gezogen,  auch  sie  bleiben  unbe- 
zahlt ,  dagegen  sehen  sie  die  Stunde  schon  voraus ,  wo  sie  das 
von  ihnen  besetzte  Reichsland  an  Zahlungsstatt  erhalten  werden, 
und  kümmern  sich  so  lange  nicht  weiter  um  die  königlichen  Ab- 
mahnungen. Ihre  Berechnung  war  richtig.  Unterm  22.  Juli  141 5 
verpfändete  ihnen  Sigmund  den  occupirten  Landestheil  um  elende 
5000  GL,  trotzdem  dass  eben  vorher  die  Eidgenossen  mitten  in 
dem  neu  geschlossnen  Waffenstillstände,  am  Pfingstsonntag  dem 
20.  Mai  die  mächtige  Veste  Stein  in  der  Stadt  Baden  verräthe-^ 
risch  erstiegen,  verbrannt  und  geschleift  hatten.  Mit  eignen 
Augen  sah  hier  Konrad  von  Weinsberg,  wie  die  plündernden 
Schwyzer  in's  Schlossarchiv  eindrangen  und  von  jener  Urkunde, 
durch  welche  ihr  Land  an  des  Herzogs  ersten  königlichen  Ahn 
gekommen  war,  die  Siegel  abrissen.*)  Das  gesammte  Archiv 
wurde  aus  den  Gewölben  heraus  geschafft,  auf  Wagen  geladen 
und  sogleich  weiter  in's  Innere  des  Landes  gebracht.**)  Auch 
die  ganze  Landschaft  an  derLimmat  und  untern  Reuss  überliess 
nun  der  König  um  den  Pfandschilling  von  4500  Gl.  den  occu- 
pirenden  Kantonen:  Zürich,  Luzern,  Schwyz,  Unterwaiden,  Zug 
und  Glarus.  Der  Greldpunkt,  ursprünglich  schon  die  alleinige 
Quelle  des  Krieges,  war  auch  dessen  Schlusspunkt. 

Schloss  Brunegg  hatte  sich  bisher  den  Bernern  nicht  ergeben 
gehabt,  sondern  war  durch  den  Weinsberger  zu  des  Reiches 
Händen  eingenommen  und  mit  dessen  Mannschaft  besetzt  worden. 


*)  Konrad  von  Weinsl^ergs  Zeugnissbrief,  an  Eidesstatt  abgegeben,   hat  sich 
erhalten  und  steht  gedruckt  in  Chmel's  Materialien  I,   pag.  272,    No.  CXVI. 

**)  »Die  briefe,  so  vf  der  vesti  warent,  wurden  gefürt  gen  Luzern.  c   Justinger, 
Ausg.  V.  18 19,  S.  303. 


I.    FamilieDgeschichte  der  aaiganer  Gessler  etc.  jJß*j 

Pies  geht  unzweifelhaft  aus  der  Chronik  Justingers  hervor,  welcher 
1420  starb  und  als  Bemer  Stadtschreiber  an  der  Ausfertigung 
der  damaligen  Verträge  amtlich  selbst  mit  zu  arbeiten  hatte. 
Er  schreibt  S.  227  (Neue  Ausg.  1870),  an  die  Belagerung  von 
Schloss  Lenzburg  anknüpfend :  >In  gelicher  wise  warb  der  von 
Winsperg  mit  Bruaegge,  und  uf  dieselben  sine  guten  wort  hielt 
sich  die  Geslerin,  der  Brunegg  waz,  und  ouch  der  Schultheis  von 
Lentzburg,  untz  daz  bede  halb  verdurben.c  AlsderWeins- 
berger  es  erleben  musste,  wie  der  von  ihm  eben  erst  zum  Reiche 
gebrachte  Aargau  wieder  an  die  Eidgenossen  verschleudert  wurde ; 
wie  er  selbst  in  dem  von  ihnen  rings  besetzten  Lande  ein  ver- 
lorner Posten  war;  wie  die  Soldrückstände  für  seine  Besatzungen 
in  den  drei  Vesten  Lenzburg,  Wildegg  und  Brunegg  schon  bis 
auf  6000  Gl.  aufgelaufen  waren;  wie  der  König  weder  diese  zu 
vergüten,  noch  die  bisher  getroffnen  Massnahmen  consequent 
zu  unterstützen  Miene  machte,  zog  er  seine  Truppen  an  sich  und 
verliess  im  Spätsommer  141 5  die  Schweiz.  Für  seine  schutz- 
befohlnen  Freunde  hier  glaubte  er  vorgesorgt  zu  haben.  Dem 
Schultheiss  war  sein  verbrieftes  Anrecht  auf  Schloss  und  Stadt 
Lenzburg  am  königlichen  Hofe  und  beim  Bemer  Rath  einstweilen 
gewährleistet.  Den  drei  Hallwilen,  die  auf  Schloss  Wildegg  sassen 
und  von  da  aus  den  Bemertruppen  die  Proviantzüge  weg- 
gefangen hatten,  war  durch  königliches  Decret  Friede  bei  Bern 
ausgewirkt;  Wildegg  und  ihre  übrigen  Schlösser  sollten  sie  den 
Bernem  in's  Reichslehen  geben  und  es  von  ihnen  als  Bernerlehen 
zurück  empfangen.  Dieselbe  Bedingung  traf  auch  des  Gesslers 
Schloss  Brunegg.  Uebergabe  und  Huldigung  erfolgte  hier  durch 
die  Mutter  Margaretha,  einer  damals  etwa  sechzigjährigen  Wittwe.*) 
Ihre  beiden  Söhne  waren  nicht '  mit  gegenwärtig.  Hermann, 
^  der  Aeltere,  stand  als  Hofmeister  Herzogin  Anna's,  Gemahlin 
j  Friedrichs,  damals  an  der  Hofhaltung  zu  Innsbruck.  Der  jüngere, 
Wilhelm,  hielt  sich  in  der  Stadt  Bremgarten  auf,  wo  der  dortige 
Stadtrath  sammt  dem  Abte  von  Muri  und  dem  Probste  von 
Beronmünster  ihm  behilflich  werden  sollten,  seine  in  dem  Obern 
Freiamt  liegende  Vogtei  gegen  die  Uebergriffe  der  Luzerner  zu 
behaupten.    Die  Brunegg  wurde  in  Berner  Lehenschaft  genommen. 


i  *)   da   Margaretha   seit    1375    verheiratet    und    wahrscheinlich   als   Zwanzig- 

i  jährige  in  die  Ehe  getreten  war;  sie  erscheint  von  141 5  an  nur  noch  bis  13.  Nov. 
;   1420  in  den  Urkunden  und  stirbt  also  fünfundsechzigjährig. 


L 


^jSS  ^«    I^c  Gcssler  tdh  Bnmc^  in  Geschichte  imd  Sage. 

als  ein  Maiinslehen  tind  ai&der  Herrschaft  offnes  Haus  erklärt, 
wobei  die  Mutter  das  mit  der  Huldigung  verbundene  Udelgeld 
erlegte,  eine  stipulierte  Geldsumme,  die  der  Landadel  alljährlich 
für  das  Recht  entrichtete,  in  der  Stadt  Bern  wohnen  und  den 
städtischen  Schutz  gemessen  zu  dürfen.  Damit  war  indess  die 
Gefahr  von  dem  Schlosse  und  den  übrigen  Gesslerischen  Besitz- 
thümem,  soweit  dieselben  nun  unter  bemischer  Jurisdiction  lagen, 
keineswegs  entfernt.  Der  Gessler  Anrechte  an  die  Schlossherr- 
schaft Schenkenberg,  ihr  Besitz  des  Amtes  auf  dem  Bözberge, 
ob  der  Stadt  Brugg,  mussten  zu  unausbleibHchen  Verwicklungen 
mit  der  bemer  Verwaltung  fuhren,  und  bei  der  ersten  Gelegen- 
heit, da  der  neue  Lehensmann  sich  nicht  gefiigig  zeigte,  drohte 
Bern,  ihm,  der  gegen  das  Reich  und  die  Eidgenossen  Krieg  ge- 
führt, das  Lehen  nicht  mehr  zu  erneuen,  sondern  es  als  ein  ver- 
wirktes dem  Staatsgute  einzuverleiben.  Dieses  Loos  betraf  zwar 
die  Gessler  auf  Brunegg  nicht  mehr,  sondern  deren  Gutsnach- 
folger. Bruder  Wilhelm  besass  das  Schloss  noch  143 1,  da  er 
daselbst,  wie  weiter  zu  berichten  ist,  sein  Eheweib  gefangen  hielt, 
und  trat  es  erst  dann  den  Segessem  von  Mellingen,  denen  er 
schon  lange  verschuldet  war,  käuflich  ab,  worauf  diese  in  einen 
bittem  Prozess  mit  Bern  gerathen,  dessen  Ende  ist,  dass  sie  1538 
der  oberherrlichen  Quälereien  müde,  dasJLehen  aufgeben,  die 
Liegenschaften  verkaufen  und  auswandern. 

Mutter  Margaretha  steht  mit  ihrem  Sohne  schon  seit 
I.  August  141 5  hilfesuchend  vor  dem  Luzemer  Rathe,  der  ihr 
die  Aemter  Meienberg  und  Richensee  kriegsrechtlich  weggenom- 
men und  bereits  mit  dem  städtischen  Landvogte  Hans  Wiechsler 
neu  besetzt  hatte.  Sämmtliche  Natural-  und  Steuerbezüge,  welche 
der  Mutter  dabei  verloren  giengen,  stehen  im  Rechnungsbuche  der 
luzemer  Vogteien  verzeichnet  und  sind  daraus  in  unsre  Gessler- 
Regesten  unter  das  vorgenannte  Jahr  gesetzt.  Fünf  Jahre  lang 
wird  nun  die  Frau  mit  Versprechungen  hingehalten.  Schiedsge- 
richte erkennen  zu  ihrem  Vortheile.  Abt  Jörg  Russinger  von 
Muri,  Chorherr  Ofenburg  von  Beronmünster,  Schultheiss  und 
Rath  von  Bremgarten  vertreten  und  unterstützen  sie.  Alles  aber 
bleibt  Project,  kein  zu  ihren  Gunsten  lautender  Spruch  erwächst 
in  Rechtskraft.  Von  der  grossen  Bedrängniss,  in  welche  sie  zur 
Zeit  geräth,  zeugen  urkundliche  Veräusserungen  von  Teppichen, 
Gefässen  und  andern  Schaustücken  des  Hausrathes  an  die  Nonnen 
in  Gnadenthal  (4.  Juli  1420).    Als  dann  ihre  Tochter  Kunigunde 


i 


I.    Familiengieschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^6q 

als  Laienschwester  im  Kloster  Königsfelden  mit  Hinterlassung 
einer  Rente  von  acht  Goldgulden  stirbt,  die  ihr  auf  den  Gess- 
lerischen  Zehntenbesitz  zu  Alikon  (bei  Meienberg)  angewiesen 
waren,  Alikon  aber  damals  schon  im  Besitze  der  Luzemer  ist, 
so  übertragen  diese  der  Wittwe  jene  acht  Gl.  als  Leibgeding, 
pressen  ihr  dagegen  die  Urkunden  und  Rechtstitel  über  ihre 
sonstigen  Zehntrechte  und  Gefalle  in  den  Obern  Freiämtem  ab, 
und  damit  hat  das  ganze  Entschädigungsgeschäft  ein  Ende.  Um 
die  Wucherprocente  zu  erschwingen,  welche  die  Gläubiger  des 
verstorbnen  Vaters  fordern,  oder  uiyi  die  wachsenden  Summen 
fiir  Tagegelder  und  Spruchkosten  des  an  alle  Instanzen  und  Räthe 
appellirten  Prozesses  aufzubringen,  verkaufen  die  Brüder  Stadt 
und  Herrschaft  Grüningen  an  Zürich  (20.  Juni  14 18),  und  ebenso 
ihre  Gefalle  in  fünf  rechtsrheinischen  Dörfern  bei  Rheinfelden, 
sammt  Wohnhäusern  und  Gärten  in  dieser  Stadt  an  das  Rhein- 
feldner  Martinusstift  (29.  und  30.  Juni  1427).  Als  dann  die  bei 
der  ersten  Eroberung  der  Obern  Freiämter  mitbetheiligt  gewesnen 
sechs  Mitstände  neben  und  mit  Luzem  den  gemeinsamen  Besitz 
dieser  Landstriche  beanspruchten  und  durch  Berns  Schiedsspruch 
vom  28.  Juli  1425  durchsetzten,  lagen  nunmehr  die  dortigen 
Gesslerischen  Lehen  und  Gefälle  in  der  Hand  eines  siebenfachen 
Souverains.  Luzem  hatte  bis  dahin  dem  Bruder  Wilhelm  ein 
Minimum  von  Entschädigung  angewiesen  gehabt,  unter  dem  krän- 
kenden Vorbehalt :  dies  gelte  nur  auf  so  lange,  als  Petent  sich 
gegen  die  Obrigkeit  unklagbar  verhalten  werde,  i.  Juli  1420. 
Sobald  er  aber  mit  seinem  Begehren  vor  die  Kantone  treten 
muss,  beschliesst  die  Tagsatzung  schon  in  der  erstmaligen  Be- 
rathung :  Wilhelm  Gesslers  Angelegenheit  aus  den  Verhandlungs- 
gegenständen zu  streichen,  27.  April  1421.  Solcherlei  Enttäu- 
schungen machen  den  Junker  geschmeidig  und  schlau ;  er  bequemt 
sich,  der  Rentmeister  (»Trägere)  Zürichs  in  den  Aemtern  Brem- 
garten  und  Muri  zu  werden,  giebt  sich  darüber  den  damals  ganz 
gegenstandslos  gewordnen  Titel:  Twingherr  zu  Muri  und  Her- 
metswil,  und  geräth  auf  die  andere  Grille,  eine  Standes-  und 
Geldheirat  zu  versuchen.  Darüber  stürzt  er  in. eine  Reihe  schän- 
dender Skandale  und  stirbt  in  moralischer  und  finanzieller  Zer- 
rüttung. Er  ehlicht  nemlich  eine  junge  Adelige  (sie  heisst  undeut- 
lich Anna  von  Stürfis  oder  von  Stäffis) ,  die,  wie  ihre  nachmaligen 
Stiftungen  zeigen  (Regest  vom  Jahre  143 1),  einiges  Baarvermögen 
besass  und  bei  ihrer  vornehmen  Luzemer  Verwandtschaft  Aussicht 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  24 


yjQ  II.    Die  Gessler  von  Bnine^  in  Geschichte  und  Sage. 

auf  Erbschaften  haben  mochte.  Wegen  dieser  Frau  hat  er  seit 
1427  an  seinem  Wohnorte  Luzem  Verbal-  und  Real-Injurienhändel 
gröblichster  Art  auszufechten,  ja  er  steht  daselbst  1430  einen 
Moment  sogar  wegen  Diebshehlerei  vor  Gericht,  da  einige  Werth- 
geschirre,  in  dortiger  Stadt  gestohlen,  in  seinem  Wohnhause  hinter 
Verschluss  aufgefunden  werden.  Er  weiss  sich  hierüber  zu  ent- 
schuldigen und  der  Rath  erklärt  sich  hiemit  zufrieden.  Das  Jahr 
darauf  folgt  seine  Ehescheidung  unter  überaus  schändenden  Vor- 
gängen. Es  ergab  sich  nemlich  die  Thatsache,  dass  er  seine 
Gemahlin  mehrere  Wochen  lang  in  einem  Kerker  auf  Brunegg 
gefangen  gehalten  hatte.  Erst  auf  gerichtliches  Einschreiten  und 
ohne  dass  er  seine  barbarische  That  zu  motivieren  wusste,  lieferte 
er  das  Weib  ihrem  Vetter  aus,  dem  luzemer  Schultheissen  Ulrich 
von  Hertenstein.  *)  Er  musste  demselben  Urfehde  schwören,  d.  h. 
eidlich  angeloben  und  urkundlich  verbriefen,  dass  er  seines  ferneren 
Klagerechtes  in  diesem  Handel  sich  begebe  und  auf  jegliche  Rache 
wegen  erlittener  Bussen  verzichte.  Regest  vom  25.  September  143 1. 
Im  Gesslerischen  Sagenkreise  stellt  der  Aufsatz  »Bertha  die  Brun- 
eggerin«  die  auffallende  Uebereinstimmung  dar,  welche  zwischen 
dieser  Ehescheidungsgeschichte  und  der  Bninegger  Schlosssage 
besteht.  Wilhelm  ist  mit  Hinterlassung  einer  Tochter  Anna  vor 
dem  21.  Mai  1440  gestorben. 

Bruder  Hermann  befand  sich  während  dieser  Ereignisse  zu 
Meran  und  Innsbruck  am  Hofe  des  Herzogs  Friedrich,  der  sich 
inzwischen  mit  dem  Kaiser  ausgeglichen  hatte.  Die  förmliche 
Wiederaussöhnung  mit  letzterem  war  am  8.  Mai  141 8  zu  Konstanz 
auf  dem  obern  Markte  im  Beisein  von  1 500  Berittenen  geschehen. 
Friedrich  wurde  in  seine  vorarlberger,  sundgauer,  breisgauer  und 
Schwarzwälder  Herrschaften  wieder  eingesetzt,  die  grosse  Remune- 
rationssumme,  welche  er  dem  Könige  hieflir  bezahlen  musste,  j 
betrug  ursprünglich  70,000  Gl.,  von  denen  auf  dringendes  Bitten 
20,000  nachgelassen  wurden.  **)    Die  völlige  Aussöhnung  mit  Her- 


*)  Er  war  Schlossherr  von  Buonas  am  Zugersee,  seit  141 9  Landvogt  zu 
Rotenburg,  seit  1422  ebenso  in  den  Freiämtem.  Sein  Sohn  Kaspar  fährte  in  der 
Schlacht  zu  Murten  die  Nachhut  und  wurde  deshalb  zum  Ritter  geschlagen. 

**)  14.  Sept.  1418:  Herzog  Friedrich  nimmt  zu  Wien  36,000  Gl.  auf  zur 
Abzahlung  des  Restes  der  an  Sigmund  zugesagten  Lösungssumme,  und  meldet 
dies  am  25.  Juli  141 9  an  die  Stadt  Freiburg:  »Nu  haben  wir  dem  künig  36,000 
guidein  bezalt  vnd  allen  andern  stucken  gnug  getan,  der  wir  vns  verschriben 
haben,  c     Schreiber,  Freiburger  Urkundenbuch  II.  i,  294. 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^yi 

mann  Gessler  erhellt  daraus,  dass  dieser  als  herzoglicher  Gesandter 
seit  1420  im  Elsass  lebt,  um  die  confiscirten  herzoglichen  Be- 
sitzungen im  Sundgau  und  Breisgau  auf  friedlichem  und  auf  krie- 
gerischem Wege  wieder  zu  gewinnen.  Von^nsisheim  aus  weiss 
er  den  Rath  zu  Basel  und  den  ihm  ursprünglich  feindseligen 
Basler  Bischof  auf  seine  Seite  zu  ziehen,  beide  bilden  ein  Schieds- 
gericht und  sprechen  dem  Herzog  das  Besitzrecht  auf  die  breis- 
gauer  Herrschaft  Badenweiler  zu,  dem  Grafen  Konrad  von  Frei- 
burg aber  ab.     Damit  allein  war  eine  Kaufsumme  von  28,000  Gl. 

i  gewonnen.  Das  Glück  lächelte  Friedrichen  wieder.  Er,  so  lange 
als  Friedel  mit  der  leeren  Tasche  gescholten,  hatte  in  den  tiroler 
Bergwerken  reiche  Metalladern  entdeckt  und  wusste  sie  mit 
solchem  Erfolge  auszubeuten,  dass  man  bei  seinem  Tode  sein 
Vermögen  über  zehnmalhunderttausend  Dukaten  [schätzte.  So 
allgemein  war  der  Ruf  von  seinen  Baarschaften ,  dass  das  Basler 
Kirchenconcil  ihn  um  ein  Darlehen  von  70,000  Dukaten,  obschon 
vergeblich  ersucht  hatte.  Etwas  davon  kam  dem  Diener  zu 
Statten;  er  erhielt  1436  die  tiroler  Veste  Forst,  nachdem  er  1432 
vorher  als  Gesandter  in  Zürich  .erschienen  war.  Gessler  tritt 
dorten  vor  die  Tagsatzung  und  verlangt  Namens  des  Herzogs 
die  Auslieferung  jener  Urkunden  und  Urbare,  welche  bei  der 
Eroberung  Badens  aus  dem  österreichischen  Schlossarchive  geraubt 
worden  waren.  Schon  mehrfach  hatte  wegen  deren  Rückgabe 
König  Sigmund  den  Eidgenossen  geschrieben  gehabt.  Nun  erhielt 
der  Gesandte  nachfolgende,  von  allen  Kantonen  vertretene  Ant- 
wort :  Soweit  solcherlei  Urkunden  jetzt  noch  vorhanden  sind  und 
keinerlei  Rechtsbeziehungen  enthalten  auf  die  von  den  Eidge- 
nossen dem  Herzoge  aberoberten  Lande  und  Leute,   wolle  man 

I  sie  auf  des  Königs  eingelegte  Bitte  ausantworten,  nachdem  zuvor 
der  Herzog  Brief  und  Siegel  darüber  gegeben  haben  werde, 
dass  er  das  ihm  aberoberte  Land  von  den  Eidgenossen  nicht  mehr 
zurück  verlange.     Eidg.  Absch.  II,  93. 

Allen  diesen  Planen  machte  der  Tod  ein  Endie.  Herzogin 
Anna,  Tochter  Herzogs  Friedrich  von  Braunschweig,  seit  1410 
vermählt,  starb  im  Christmonat  1432;  ihr  folgte  der  herzogliche 
Gemahl  am  24.  Brachmonat  1439,  und  Beiden  Hermann  Gessler  am 
26.  Brachmonat  1440.  Die  dreizehn  ununterbrochnen  Dienstjahre, 
die  er  bei  der  Herzogin  zugebracht  hatte,  lohnte  ihm  diese  auf  eine 
fromme  Weise.  Sie  stiftete  und  übertrug  das  Vermögen  der 
Bremgartner  Pfarrkirche  an   das  Spital  dieser  Stadt  mit  der  aus- 

24* 


2  72  II'    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

drücklichen  Beifügung,  dass  Herr  Hermann  Gessler  diese  Gnade 
erwirkt  habe,  und  dass  daher  dessen  Andenken,  sowie  das  seines 
Vaters,  des  Ritters  Heinrich,  alljährlich  daselbst  am  ersten  Heu- 
monat mit  einem  gesungenen  Amte  zu  begehen  sei. 

Hermann  war  vermählt  mit  der  Freiin  Beatrix  von  Klingen- 
berg auf  Hohenklingen,  gelegen  ob  Stein  a/Rh.»;  seine  Gemahlin, 
eine  Tochter  Margaretha  und  die  zwei  Söhne  Georg  und  Hein- 
rich (III.)  überlebten  ihn. 


5.    Der  Gesslerischen  Erben  Fehde  gegen   die   Schweiz.  1 

1446—1513. 

Siebenundzwanzig  Jahre  waren  seit  der  Eroberung  des  Aar- 
gau's  vorüber,  als  1442  Friedrich  III.  von  Oesterreich  den  deutschen 
Thron  bestieg.  Er  war  der  Sohn  und  Erbe  jenes  Herzogs  Ernst 
des  Eisernen,  welcher  gegen  die  von  König  Sigmund  den  Eid- 
genossen gemachten  Abtretungen-  österreichischen  Gebietes  feier- 
lichen Protest  erhoben,  demselben  mit  einem  Aufgebote  von 
Tirolertruppen  Nachdruck  gegeben  und  den  König  von  weiteren 
Willküracten  zurückgeschreckt  hatte.  Diesen  zur  Schirmung 
seiner  Hausrechte  veröffentlichten,  niemals  zurückgenommenen 
Protest  Emsts  nahm  jetzt  König  Friedrich  neuerdings  auf  und 
drang  bei  den  Eidgenossen  auf  Wiederherstellung  des  ehemaligen 
durch  den  fünfzigjährigen  Friedensbund  garantiert  gewesenen  Zu- 
standes.  Schon  als  die  Abgesandten  der  aargauer  Städte  zu 
Frankfurt  a.  M.  den  Neugewählten  begrüssten  und  um  Erneue- 
rung ihrer  Freiheitsbriefe  baten ,  willfahrte  er  ihnen  bereitwillig, 
verweigerte  hingegen  dasselbe  Gesuch  der  eidgenössischen  Bot- 
schaft unter  der  abweisenden  Erklärung,  erst  hätten  die  Kantone 
die  seinem  herzoglichen  Vetter  entrissnen  Lande  zurückzustellen. 
Nur  Uri  und  Solothurn,  welche  keinen  Theil  davon  in  Besitz 
hatten,  erhielten  Bestätigung  ihrer  Rechte.  Während  er  hierauf 
langsam  durch  das  Breisgau  nach  Basel  und  Konstanz  herauf- 
reiste, wo  er  eine  sich  vorstellende  Schweizer-Deputation  abermals 
mit  der  eben  erwähnten  Anforderung  empfieng,  hatte  er  die  aar- 
gauer Ritter  Wilhelm  von  Grünenberg  und  Thüring  von  Hallwil, 
den  Aelteren,   als  Botschafter  an  die  Tagsatzung    nach  Luzem 


i 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  J75 

geschickt,  um  letztere  in  seinem  Namen  befragen  zu  lassen,  ob 
die  Eidgenossen  die  Städte  und  Länder  Herzog  Friedrichs  dem 
Reiche,  oder  sich  selbst  erobert  hätten?  Wenn  dem  Reiche,  so 
seien  jene  Länder  des  Reiches,  überdies  durch  Vertrag  mit  weiland 
Herzog  Friedrich  jetzo  des  Königs  Eigenthum  und  gehörten  ihm 
zu;  wenn  aber  sich  selber,  so  sei  das  während  der  Dauer  des  mit 
dem  Herzog  geschlossnen,  eidlich  beschwornen  Friedensbündnisses 
geschehen,  wobei  sie  selbst  bekennen,  dass  der  Herzog  sie  niemals 
beleidigt  und  ihnen  keinen.  Grund  zum  Friedensbruche  gegeben 
habe.  (Eidg.  Abschiede  II,  162.)  Mit  der  Wirkung,  welche  die 
königliche  Forderung  alsbald  im  Aargau  hervorbrachte,  erwies  es 
sich,  dass  diese  Provinz  vormals  wirklich  gerne  unter  Oesterreich 
gestanden  und  für  ihren  dermaligen  Herrn  noch  keine  Neigung 
gefasst  hatte.  Baden  und  Bremgarten  erklärten  sich  sofort  für 
Oesterreich,  die  übrigen  Städte  waren  zu  ähnlichem  Zwecke  in 
Sur-,  bei  Aarau,  zusammengetreten  und  beriethen  über  ihre  Zu- 
kunft. Solche  Unbotmässigkeit  der  Unterthanen  hätte  das  stolze 
Bern  sonst  nicht  stillschweigend  hingenommen,  allein  gegenwärtig 
der  Unterstützung  durch  die  Mitstände  nichts  weniger  als  sicher, 
musste  es  gelindere  Saiten  aufziehen  und  behalf  sich  momentan 
mit  schlauer  Geduld.  Vorerst  machte  es  jene  Burgstädte  seines 
Seelandes  und  Oberlandes,  die  ihm  141 5  militärischen  Zuzug  ge- 
leistet hatten,  zu  seinen  Mitschuldigen  und  verlangte  z.  B.  »Rath 
von  der  Stadt  Thun,  die  seine  Helfer  gewesen,  die  Schlösser  im 
Aargau  zu  erobern,  da  der  König  jetzt  deren  Ablösung  verlange.« 
(Schreiben  vom  24.  Sept.  1442.  Lichnowsky  VI,  Urkk.  Nr.  400.) 
Gegen  die  neu  erworbnen  Städte  hingegen  bediente  es  sich  einer 
andern  Art  von  Anfrage,  einer  solchen,  die  hinter  dem  Anschein 
patriarchaler  Gremüthlichkeit  ein  ganz  gewöhnliches  Polizeimittel 
verbarg.  Es  forderte  nemlich  seinen  Aargauern  eine  öffentliche 
Erklärung  über  die  Verbindlichkeit  ihres  ihm  geleisteten  Huldi- 
gungseides ab  und  machte  den  Anfang  mit  diesem  in  Scene  ge- 
setzten suff  rage  universel  kluger  Weise  zu  Zofingen.  Seitdem 
diese  Stadt  eine  herzogliche  Münzstätte  gewesen,  hatte  sie  A'tn 
Handel  und  Wandel  im  Oberaargau  zu  beeinflussen,  reichlich 
Gelegenheit  gehabt,  und  da  Bern  bei  der  Capitulation  von  141 5 
aus  Gründen  damaliger  Kriegspolitik  dem  Orte  doppelte  Vorrechte 
vor  den  übrigen  Provinzialstädten  eingeräumt  hatte;  konnte  es 
jetzt  auf  eine  gehorsamende  Bereitwilligkeit  wohl  voraustechnen. 
Am  Tage  der  Abstimmung  erschienen  hier  zusammen  die  Berner 


yj±  II*   Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Rathsherren,  die  Ammänner  der  Nachbarorte  und  der  von  Oester- 
reich  beauftragte  Landadel.  Wie  man  es  gehofft  hatte,  so  er- 
klärte sich  die  versammelte  Gemeinde  für  ihre  dermaligen  Gnä- 
digen Herren  und  Hess  zum  redenden  Wahrzeichen  des  erfolgten 
Plebiscites  sogleich  einige  auf  Bretter  gemalte  bemer  Wappen- 
bären vor  den  Stadtthoren  aufstellen.*)  Allein  auf  demselben 
Wege  der  gegängelten  Volksabstimmung,  auf  welchem  Bern  sich 
seiner  neuen  Unterthanen  versicherte ,  Hess  nun  auch  der  König 
sich  in  Zürich  zuschwören,  gewährte,  der  Stadt  ihre  Privilegien, 
setzte  eine  Fülle  von  Versprechungen  hinzu  und  trennte  sie  so 
sammt  ihrem  Gebiete  von  der  Eidgenossenschaft.  Zürich  war 
damals  in  seinen  Ansprüchen  auf  den  Besitz  des  erledigten 
Toggenburger  Landes  den  Schwyzern  und  Glarnern  unterlegen, 
war  dabei  an  Land  und  Leuten  empfindlich  geschädigt  worden, 
glaubte  sich  von  den  Mitständen  verlassen  und  suchte  auswärts 
Hilfe.  Bürgermeister  Stüssi  nahm  daher  den  ehemaligen  Gedanken 
Rudolf  Bruns  wieder  auf  und  setzte  ihn  durch :  die  Bildung  einer 
östlichen  Eidgenossenschaft  in  Verbindung  mit  dem  Hause  Oester- 
reich.  Zürich  sollte  das  Haupt  einer  neuen  Eidgenossenschaft 
werden,  diese  aber  sich  vom  Schwarzwald  bis  in's  Vorarlberg  er- 
strecken, die  Bisthümer  Konstanz  und  Chur  sammt  dem  St.  Galler- 
lande umfassend.  Am  19.  Sept.  1442  hielt  der  König  seinen 
Einzug  in  die  Stadt,  vier  Tage  später  schwur  sie  ihm  den  Reichs- 
eid, trat  mit  ihm  in  ein  ewiges  Bündniss,  nahm  österreichische 
Besatzung  ein  und  steckte  die  Pfauenfeder  auf  Aber  gleichzeitig 
musste  sie  dem  Könige  die  theuer  erkaufte  Grafschaft  Kiburg 
rechts  der  Glatt  wieder  abtreten  und  ihm  ebenso  auf  ihre  längst 
erworbne  Pfandschaft  Grüningen  noch  fernere  2000  Gulden  nach- 
bezahlen »zu  der  summ  von  8000  Gulden,  als  uns  die  von  d< 
Gässlern  versetzt  ist«.  (Eidg.  Absch.  II,  S.  801).  Der  Moi 
lässt  hierauf  die  Städte  Diessenhofen,  Winterthur  und  Ra] 
dem  Reiche  ab-  und  sich  zu  seines  Hauses  Händen  zuschwören; 
dann  bereist  er  Baden,  Königsfelden ,  Brugg,  Solothum,  Bern. 
Als-  er  letztere  Stadt  mit  ähnlichen  Ansprachen  behelligte,  stellte 
sie  seiner  Geldforderung  eine  solche  von  10,000  Gulden  entgegen 
als  Ersatz  von  Kriegskosten,   die  im  Dienste  gegen   Oesterrdch 


*)  Diese  Bären  können  nicht  gerade  imponirend  gewesen  sein,  denn  die  ganze 
Rechnung  fiir  Malerei  und  Gerüste  lautet  auf  i  Pfund  und  2  Pfennig.  Histor. 
Notiz,  von  Zofingen  (1825)  S.  46. 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  17  c 

aufgelaufen,  von  diesem  anerkannt  und  garantiert,  aber  noch  keines- 
wegs bezahlt  waren.  Diese  Summe  wurde  dann  durch  Entscheid 
des  basler  Bischofs  auf  1500  Gulden  herabgemindert.  Absch.  II, 
806.  807.  Doch  die  Eidgenossen  blieben  der  habsburgischen 
Cabinetspolitik  gegenüber  keineswegs  verzagt  noch  unthätig;  sie 
erklären  dem  bundesbrüchig  gewordenen  Zürich  den  Krieg, 
schlagen  seine  Truppen  aus  dem  Felde,  gehen  an  die 
EinSchliessung  der  Stadt  und  bereiten  ihr  die  Niederlage 
bei  St.  Jakob  an  der  Sihl.  Dies  war  am  22.  Juli  1443  ge- 
schehen. Schon  am  22.  August  darauf  richtete  der  König  an 
Karl  VII.  von  Frankreich  die  Mahnung,  das  Armagnaken- 
heer  unter  dem  Dauphin  in  die  Schweiz  einrücken  zu  lassen, 
bot  am  30.  alle  seine  Reichsunterthanen  zur  Heeresfolge  auf  und 
beorderte  seinen  Bruder  Herzog  Albrecht,  das  Reichspanier  wider 
die  Schweizer  zu  erheben.*)  Es  ist  allbekannt,  wie  Sämmtliches 
misslang.  Das  zu  Zürichs  Entsätze  erschienene  französische  Heer 
kam  nicht  weiter  als  bis  Basel,  traf  hier  an  der  Birs  auf  einen 
schweizerischen  Heerhaufen  und  fand  solchen  Widerstand,  dass 
der  Dauphin  zwei  Monate  darauf  mit  den  Sieben  Orten  Frieden 
schloss  und  heimkehrte.  Allerdings  setzte  nun  Oesterreich  die 
Fehde  noch  zwei  Jahre  fort,  und  seine  waghalsige  Ritterschaft 
machte  namentlich  die  Städte  Rapperswil,  Baden,  Brugg  und 
Rheinfelden  zum  Schauplatze  von  Ueberfallen  und  Gewaltthätig- 
keiten.  Doch  mit  dem  Siege,  den  die  Schwyzer  und  Glarner  im 
Treffen  bei  Ragatz  erfochten  (1446),  schwand  die  Kriegslust,  den 
König  drückten  nähere  Sorgen,  Papst  und  Basler  Concil  riethen 
zum  Frieden,  die  Reichsstädte  vermittelten  ihn,  das  Zürich-öster- 
reichische Bündniss  wurde  durch  Schiedsspruch  aufgelöst,  die  Eid- 
genossenschaft stand  neu  geeinigt  da. 

So  weit  musste  der  Verlauf  der  Begebenheiten  in  gedrängter 
Kürze  hier  voran  gestellt  werden,  um  diejenigen  Privatplane  und 
Familien -Massnahmen  richtig  würdigen  zu  können,  die  von 
dem  Adel  der  Vorlande  an  eben  diese  Ereignisse  geknüpft  wurden. 
Hält  damals  der  deutsche  König  eine  Restauration  seiner  in  der 
Schweiz  eingebüssten  Machtverhältnisse  für  möglich  und  lässt  er 
es  in  dieser  Zuversicht  sogar  bis  zu  drei  für  ihn  verloren  gehenden 
Schlachten  kommen,  wie  soll  man  dann  seinem  hier  depossedierten 
Adel  und  darunter  dem  Gesslerstamme  es  verdenken,   wenn  der- 


•)  Chmel,  Regesten  No.  1517,   1708,  1709. 


^yß  11.    Die  Gessler  von  Bruneg^  in  Geschiohte  und  Sage. 

selbe  an  ein  gleichzeitiges  Wiedererstehen  seiner  ehemaligen 
Schloss-  und  Vogteiherrschaften  nicht  nur  lebhaft  glaubt,  sondern 
eine  staatsrechtliche  Frage  daraus  macht,  die  er,  wo  man  sie 
nicht  als  solche  anerkennt,  gleichfalls  mit  gezognem  Schwerte 
lösen  will.  Nach  solchem  Grund  und  Gewichte  sind  gerechter 
Massen  die  ferneren  Schicksale  der  Gresslerfamilie  zu  beurtheilen, 
denen  wir  uns  von  hier  an  ausschliesslich  zuwenden. 

Ritter  Hermanns  hinterlassne  Kinder  sind  Georg  und  Hein- 
rich (III.)  und  die  Tochter  Margaretha;  die  von  Bruder  Wilhelm 
hinterlassne  Tochter  heisst  Anna.  Margaretha  ist  an  den  Frei- 
herrn Johann  von  Fridingen,  Anna  an  den  Freiherm  Kaspar  von 
Freiberg  verheiratet.  Aus  beiden  Ehen  entspringen  Söhne,  die 
das  schweizerische  Erbe  ihrer  Oheime  und  Grosspheime  sich 
gegenseitig  streitig  machen.  Sie  ziehen  ihren  Prozess  vor  die  Tag- 
satzung, finden  hier  kein  Gehör,  greifen  zur  Fehde,  erleben  deren 
Ende  nicht  mehr  und  hinterlassen  ihre  Ansprüche  ihren  nach 
Deutschland  ausgewanderten  Söhnen.  Diese  sammt  ihren  adeligen 
Partisanen  setzen  den  Grenzkrieg  gegen  die  Schweiz  rauf-  und 
raublustig  fort,  verletzen  dabei  die  Rechte  Dritter  und  werden 
zuletzt  auf  die  Klage  oberdeutscher  Handelsstädte  durch  eine 
kleine  Executions- Armee  zu  Paaren  getrieben.  Ihre  Burgen  wer- 
den zusammengeschossen,  sie  selbst  geächtet.  Noch  zeitig  genug 
sagen  sich  die  Gessler  von  dieser  Sippschaft  los  und  fügen  sich 
dem  Gesetze.  Dieses  aber  vermag  einem  inzwischen  selbstherrlich 
gewordenen  Lande  gegenüber  verjährte  Erbansprüche  nicht  mehr 
geltend  zu  machen;  die  Gessler  sind  und  bleiben  schweizerisch 
depossediert.  Wiederum  stehen  einige  ihres  Geschlechtes  am  Hofe 
zu  Innsbruck,  andere  amten  als  Bürgermeister  und  Rathsherren 
in  den  Städten  zu  Ulm ,  Mühlhausen ,  Basel ,  St.  Gallen  und 
Ravensburg.  Dies  der  übersichtliche  Gang  des  nun  noch  zu  Be-  \ 
richtenden. 

Margaretha  Gessler  erscheint  seit  29.  März  141 7  als  die 
Wittwe  des  Freiherrn  Hans  von  Fridingen.  Ihr  Gremahl  stammte 
aus  einem  Hegauer  Geschlechte,  das  schon  im  12.  Jahrhundert 
dem  Konstanzer  Bisthume  Bischöfe  gegeben  hatte,  hernach  durch 
Lehensbesitz  auf  dem  Schwarzwalde  und  im  Thurgau  in  vielfache 
Beziehungen  zur  Schweiz  trat,  mit  deren  bedeutenderen  Städten 
in  Kaufsgeschäften  stand,  an.  Chur  Vögte, .  an  die  Bemer-Johanniter- 
stifte  Commenthure  lieferte  und  u.  A.  mit  der  Bemer  Patricierfamilie 
Ringoltingen  verschwägert  war.    Somit  besassen  die  Fridinger  in 


^   I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  yj*i 

und  ausserhalb  der  Eidgenossenschaft  hinreichenden  Einfhiss,  und 
der  waghalsige  Kampf  ihrer  Enkel  gegen  die  Schweiz  und  die 
oberdeutschen  Städte  wird  erst  hierdurch  möglich  und  begreiflich. 
Obigem  Hans  von  Fridingen  war  das  aargauer  Schloss  Schenken- 
berg sammt  der  angrenzenden  Amtei  auf  dem  Bözberge  von 
Herzog  Friedrich  IV.  als  Pfand  verschrieben  gewesen,  aber  bei 
des  Herzogs  Aechtung  wieder  verloren  gegangen.  Zwei  Jahre 
nachher  übertrug  König  Sigmund  beide  Lehen  neuerdings  auf 
Fridingens  Wittwe  und  deren  unmündigen  Sohn  Hans  Wilhelm. 
Während  der  Zeit  des  Lehenswechsels  war  aber  die  Bauernsame 
jener  Juragegend  unter  bernische  Oberhoheit  gekommen  und 
glaubte  der  wieder  erschienenen  Gutsherrin  gewisse  Feudal- 
pflichtigkeiten  nicht  mehr  schuldig  zu  sein.  Die  sechs  Dörfer 
Bozen,  Villingen,  Remigen,  Rüfenach,  Rynikon  und  Linn  errich- 
teten ein  Bündniss,  stellten  Satzungen  und  einen  eigenen  Vogt 
auf,  erklärten  den  herrschaftlichen  für  abgesetzt  und  vertrieben 
die  zur  Herstellung  der  Ordnung  einschreitenden  Amtsdiener. 
Bern  griff  zwar  bald  und  mit  harten  Geldstrafen  ein,  gleichwohl 
hielt  die  Adelsfrau  sich  nicht  mehr  für  sicher  und  verkaufte  Schloss 
und  Amt  an  Ritter  Thüring  von  Arburg,  19.  Jan.  1431.  Als 
nun  ihr  Sohn  Hans  Wilhelm  mündig  geworden  war,  meinte  er 
Anrechte  an  das  Erbe  des  verstorbenen  Wilhelm  Gesslers,  seiner 
Mutter  Oheim,  zu  haben,  meldete  sich  bei  der  Tagsatzung 
darum  an  (Verena- Abend  1440)  und  bezeichnete  derselben  als  das 
ihm  zukommende  Eigenthum  die  in  den  Oberen  Freiämtern  ge- 
legnen Vogtei-  und  Pfandschaften  zu  Muri,  Hermetswil,  Meienberg, 
Alikon  und  Richensee.  Wie  wir  bereits  wissen,  standen  diese 
Gegenden  damals  schon  unter  der  gemeinsamen  Beherrschung 
und  Verwaltung  der  Sieben  Orte  und  waren  ein  mit  Wilhelm 
Gesslers  Tode  ohnedies  erloschenes  Lehen  geworden.  Nichts 
destoweniger  kündigte  sich  in  demselben  Momente  noch  ein 
zweiter  Erbe  bei  der  Tagsatzung  an,  Hermann,  der  Grosssohn 
eben  jenes  verstorbenen  Wilhelm  Gessler's,  Sohn  der  Anna 
Gessler,  nunmehrigen  Wittwe  Kaspars  von  Freiberg.  *)  Fridingen 
protestiert  aufs  äusserste;   weder  erkennt  er  Hermanns  Begehren 


•)  Er  stammt  aus  dem  oberschwäbischen  Lehensadel  und  ist  sammt  seinen 
Brüdern  Heinrich  und  Konrad  141 5  mit  anwesend  auf  dem  Konstanzer  Concil.  — 
Senkenberg,  Selecta  Jur.  et  Hist.  II,  pag.  28.  Ulrich  von  Reichental,  Concil  zu 
Konstanz  (4\.ugsb.   1536)  pag.  173  und  202. 


^jS  U-    I^c  Gessler  von  Brun^ig  in  Geschichte  und  Sage. 

an,  noch  will  er  ihm  hierüber  vor  der  Tagsatzung  Rede  stehen, 
sondern  nur  mit  dieser  allein  ist  er  erbötig  über  den  Erbfall  zu 
unterhandeln.  Die  Behörde  erwidert  ihm,  wenn  sich  die  Mit- 
erben erst  verständigt  hätten,  werde  sie  Bescheid  geben,  in  wie 
weit  ehemalige  Gesslerische,  nunmehr  eidgenössische  Besitzthümer 
an  Landesfremde  ausgeantwortet  werden  könnten.  Nachdem  hier- 
auf Fridingen  auf  reichsstädtische  Schiedsgerichte  hingewiesen,  die 
Tagsatzung  aber  solche  abgelehnt  hatte,  erklärte  und  begann  er 
die  Fehde  vom  Schlosse  Hohenkrähen  aus,  einer  Felsenburg  im 
Hegau,  die  von  nun  an  der  Sitz  kühner  Abenteurer  wird  und  bis 
zu  ihrer  gänzlichen  Zerstörung  eine  berüchtigte  Rolle  in  der  Ge- 
schichte der  Schweiz  und  Oberschwabens  fortspielt.  Der  Berner 
Schultheiss  Thüring  von  Ringoltingen ,  dessen  Schwester  Anna 
der  Fridingen  zur  Frau  hatte,  brachte  zwar  schon  am  12.  Dec. 
1446  einen  Vergleich  zu  Stande,  womach  beide  Parteien  den 
Rechtsweg  betraten  und  sich  an  den  Entscheid  verweisen  Hessen, 
den  die  hiemit  beauftragte  Stadt  Ulm  fallen  würde.  Sobald  aber 
die  Tagsatzung  das  Ulmer  Schiedsgericht  als  ein  bloss  »unver- 
dingtes«,  d.  h.  als  ein  solches  qualificiert,  dessen  Entscheid  für  sie 
unverbindlich  sein  sollte,  einigen  sich  Wilhelm  Fridingen  und  die 
Briider  Georg  und  Heinrich  Gessler  und  verfangen  zu  dritt  binnen 
vierzehn  Tagen  entweder  den  fertigen  Tagsatzungsbeschluss  über 
das  Gessler-Erbe ,  oder  Einleitung  des  Prozesses  vor  einer  unbe- 
theiligten  und  rechtskräftigen  Instanz.  Letzteres  geschieht  nun, 
beide  Theile  setzen  sich  Tagfahrt  nach  Schaffhausen  an,  über- 
senden sich  die  begehrten  Sicherheits-  und  Geleitsbriefe,  die  Zu- 
sammenkunft findet  statt,  die  da  gewählten  Schiedsrichter  sind  der 
Herzog  bei  Rhein  und  abermals  die  Stadt  Ulm.  Doch  diese  zwei 
machen  Miene,  die  Sache  als  zwei  getrennte  Rechtsfragen  zu  be- 
handeln, sie  werden  darum  von  beiden  Parteien  perhorresciert,  und 
zwar  von  Seite  der  Tagsatzung  aus  einem  allerdings  wohlmoti- 
vierten Grunde.  Es  war  nemlich  zu  dieser  gleichen  Zeit  die  Wittwe 
Anna  von  Freiberg  mit  folgendem  Begehren  an  die  Tagsatzung 
gelangt-:  Da  Anna  in  der  gemeinsamen  Erbangelegenheit  weder 
mit  ihren  Neffen  (Georg  und  Heinrich  Gessler),  noch  mit  ihren 
Vettern  (Hans  Wilhelm  von  Fridingen)  sich  zu  einigen  wisse, 
so  möge  man  den  ganzen  väterlichen,  mütterlichen  und  vaters- 
brüderlichen Nachlass  (Ritter  Hermanns  und  Wilhelms  und  deren 
beider  Ehefrauen)  hinter  die  gewählten  Schiedsleute  in  Verwahrung 
geben    und    dadurch    die    Petentin    vor    Verlust    sicherh.      Frau 


r 


I.  Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  ^yo 

Aima's  Gesuch  wird  durch  einflussreiche  Behörden  und  Personen 
unterstützt:  durch  etliche  deutsche  Fürsten,  durch  den  Rath  von 
Ulm,  den  Augsburger  Bürgermeister  Peter  von  Argun,  *)  und  den 
bemer  Schultheissen  von  Ringoltingen.  Die  Kantone,  zur  Be- 
richtgabe über  die  Frage  eingeladen,  welches  Recht  man  der  Anna 
Freiberg  oder  dem  Fridingen  zu  bieten  gedenke,  kamen  weder  am 
17.  März  145 1,  noch  am  9.  Juni  1454  zu  einem  Entscheide,  ob- 
schon  Bern  den  um  diese  Zeit  ihm  übertragnen  Schiedsspruch 
wegen  Fridingens  Begehren  bereits  gefällt  hatte.  Daher  greift 
1455  Fridingen  abermals  zu  den  Waffen.  Das  Hegau,  an  den 
Grenzen  der  Grebiete  von  Schaff  hausen,  Zürich  und  Thurgau 
gelegen,  ein  Besitz  der  beiden  Landgrafen  Alwig  von  Sulz  und 
Hans  von  Tengen,  stand  damals  in  einem  schon  lange  währen- 
den Kampfe  gegen  die  Eidgenossen,  war  also  den  Fridingen  ein 
um  so  dienlicherer  Schauplatz  für  ihre  freibeuterische  Rachenahme. 
Hier  Hessen  sie  die  aus  der  Schweiz  kommenden  Kaufleute 
»niederwerfen  und  beschatzenc  und  wer  sich  nicht  ranzionieren 
(loskaufen)  konnte,  gefangen  nach  Hohenkrähen  abfuhren.  Der 
Verkehr  der  Städte  Zürich,  ScbaffTiausen ,  Basel  und  Strassburg 
litt  durch  dieses  Abfangen  der  Handelsgüter  beträchtlich,  sogar 
eine  momentane  Frucht-  und  Salzsperre  war  zu  befurchten.  In 
vier  verschiednen  Schreiben  beklagen  sich  die  Eidgenossen  bei 
Herzog  Albrecht  über  diese  von  seinen  Vasallen  verübten  Gewalt- 
.  thaten  und  bitten  ihn  um  eine  nach  Baden  zu  beschickende  Tag- 
fahrt. Indess  die  Unsicherheit  der  Strassen  ist  so  gross,  dass  er 
daselbst  seine  Boten  nicht  anders  als  40  Pferde  stark  einreiten 
lassen  will,  und  diese  dem  Brauche  ganz  zuwiderlaufende  Bedin- 
gung wird  ihm  gestattet.  Hierauf  werden  die  beiden  Hegauer 
Landgrafen  durch  Einfalle  in  ihr  eignes  Grebiet  zahm  gemacht, 
durch  einen  mit  den  Fridingen  geschlossnen  Sondervertrag  ebenso 
die  Hohenkrähener  Gefangenen  erledigt,  die  Gessler  legen  ihre 
Forderungen  in  die  Hand  Fridingens  und  die  Fehde  scheint  zu 
Ende.  Allein  nun  verbündet  letzterer  sich  mit  den  Klingen- 
bergen, fünf  raublustigen  Brüdern  auf  Schloss  Hohentwil,  Vettern 
der  Gessler,   und  versetzt   den  Krieg  auf  ein  weiteres  Jahrzehnt 


*)  Er  war  u.  A,  auch  Obmann  der  vier  eidgenössischen  Schiedsleute  gewesen, 
die  1447  <ien  zu  Recht  erwachsnen  Spruch  thaten,  dass  Zürich  aus  seinem;^Sonder- 
bündnisse  mit  Oesterreich  zu  treten,  bei  den  Eidgenossen  zu  verbleiben  habe  und 
also  wieder  schweizerisch  werden  müsse. 


l 


jSo  II*   I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

an  die  Ufer  des  Rheines  und  des  Bodensees.  Hier  geräth  er  zwar 
mit  dem  zahlreichen  Landadel  in  Streit  und  wird  von  drei  mäch- 
tigen Gegnern  zugleich  angegriffen :  Von  Johann  von  Werdemberg, 
dem  Hauptmann  des  Georgenschildes ;  von  den  benachbarten  Mit- 
gliedern dieser  Rittergesellschaft  und  von  dem  hartnäckigen  Grafen 
Eberhard  von  Würtemberg.  Er  zieht  Schweizersöldner  an  sich, 
stellt  diese  dem  Einen  gegenüber,  dem  Andern  trotzt  er  auf 
Hohentwil,  das  für  eben  so  uneinnehmbar  galt  wie  Hohenkrähen. 
Die  Städte  Konstanz  und  Zürich  einigen  sich  mit  Herzog  Sig- 
mund und  stiften  1465  Ruhe,  gleichwohl  bedroht  Hans  der  Fri- 
dinger  bald  darauf  Schaffhausen  und  Neukirch  und  stellt  dennoch 
das  freche  Begehren,  dass  die  Tagsatzung  ihm  sicheres  Geleite 
zu  seinen  Geschäftsreisen  in  die  Schweiz  ertheile.  Nach  der  Hand 
werden  die  Plane  des  Abenteurers  nicht  zwar  beendigt,  aber  doch 
unterbrochen  und  ihres  wirklichen  Rechtsgrundes  für  immer  ent- 
kleidet. 

Als  nemlich  seit  1471  zwischen  der  Herrschaft  Oesterreich 
und  der  Eidgenossenschaft  das  Bündniss  der  sogenannten  Ewigen 
Richtung  auf  mehrfachen  Tagfahrten  versucht  worden  war,  hatte 
.  Herzog  Sigmund  durch  seine  Gesandtschaft  ein  Verzeichniss  aller 
seinem  Hause  durch  die  Schweizer  weggenommenen  Landschaften, 
Aemter,  Städte,  Schlösser  und  Burgställe  einreichen  und  deren 
Rückgabe  beantragen  lassen.  Dieser  Rotel  (abgedruckt  in  Fontes 
Rer.  Austriac.  II,  390)  verlangt,  ausser  den  ehemaligen  Herrschafts- 
rechten in  den  Vierwaldstätten  und  im  Bemer  Oberlande,  die 
Ausantwortung  des  ganzen  Aargau*s.  Hierbei  werden  nun  folgende 
Besitzungen  namentlich  angeführt :  Lentzburg  sloss  vnd  stat,  Baden 
sloss  vnd  stat  Rottemburg  sloss  vnd  stat,  RapperswÜ,  Grüningen  sloss 
vnd  stat  mitsambt  dem  ambt.  Das  ambt  zu  Mure  und  das 
zu  Reichensee.  Das  frey  ambt  mit  seiner  zug^hö- 
rung.  Brawenegksloss.  Diese  letztgenannten  sind  nun  eben 
diejenigen  Kreise  und  Orte,  in  denen  durch  die  Gessler  theils  her- 
zogliche, theils  Familienrechte  ausgeübt  worden  waren  und  zwar 
so  stetig,  dass  die  Orte  zuletzt  in  den  Gesslerischen  Privatbesitz 
übergegangen  waren.  Der  hierüber  eben  jetzt  unterhandelnde 
Herzog  Sigmund  ist  der  Sohn  jenes  länderberaubten  Friedrich 
mit  der  leeren  Tasche.  Die  jetzt  erneute  Rückforderung  war 
begründet  in  der  feierlichen  Verwahrung  des  Herzogs  Ernst,  wo- 
mit dieser  zur  Schirmung  der  Rechte  seines  Hauses  gegen  die 
von  seinem  Bruder  Friedrich  gemachten  Gebietsabtretungen  prote- 


\ 


r 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  381 

stirt  hatte.  Welche  Ironie  nun,  dass  der  Sohn  Sigmund  zwar 
denselben  Protest  erhebt,  aber  ihn  fast  in  dem  gleichen  Augen- 
blicke wieder  zurücknimmt  und  hierin  also  des  Vaters  politisches 
Ungeschick  förmlich  wiederholt.  Denn  eben  in  der  am  11.  Juni 
1474  darauf  mit  den  Eidgenossen  eingegangenen  Richtung  wurde 
jenes  herzogliche  Anrecht  annullirt,  sie  war  eine  Verzichtleistung 
des  österreichischen  Hauses  auf  alle  Länder  und  Leute,  die  sich 
jetzt  in  Besitz  der  Eidgenossen  befanden.  Der  dahin  lautende 
Friedensartikel  besagt  nemlich:  »daz  auch  die  eitgenozschaft  bey 
den  landen,  stetten  vnd  slossen,  so  sy  in  vergangnen  zeiten  vnd 
kriegen  in  ir  gewalt  bracht  haben,  dem  haws  Österrich  zuge- 
hörende, des  bemelten  vnsers  Gn.  Hn.  herczog  Sigmunds  lebtag 
lang,  an  seiner  Gnaden  irrung  oder  yemands  von  seiner  Gnaden 
wegen,  bleiben  sullen ;  doch  den  pfandschaften,  so  die  eytgenossen, 
etlich  oder  sonderpersonen  vnder  inen,  von  dem  lobl.  haws 
Österrich  innhaben,  nach  laut  der  phantbrief,  der  sy  seinen 
Gnaden  glaublich  abschrift  geben  sullen,  an  der  lösung  vnver- 
griffenlich  vnd  an  schaden.  Desglichen  so  sol  auch  sust  yede 
partey  bey  seiner  ynnhabung  bleiben ,  wie  sfy  auf  heutigem  tag, 
dato  diczs  briefs,  darinn  gewesen  ist.« 

Hiemit  war  den  Eidgenossen  ihre  bisherige  factische  Besitz- 
nahme der  Gesslerischen  Güter  erst  zur  legalen  gemacht,  und  der 
darum  geführte  Prozess  der  Gesslerischen  Erben  war  ein  ver- 
lorner. 

Allerdings  gaben  von  nun  an  die  Gessler  ihre  Entschädigungs- 
klage auf,  nicht  aber  ebenso  die  Fridinger  ihr  Stegreifleben,  das 
sie  mit  jener  Klage  bisher  maskirt  hatten.  Jene  verlassen  die 
Schweiz  und  siedeln  sich  in  Deutschland  an,  diese  dagegen  müssen 
schliesslich  aus  dem  Reiche  entweichen  und  werden  die  frühesten 
politischen  Flüchtlinge,  welche  Deutschland  an  die  Schweiz 
abgegeben  hat.  Dieser  Hergang  soll  noch  zu  Ende  erzählt 
werden. 

Stephan  Hauser*  ein  Bürgerssohn  aus  Kauf  beuem,  hatte  eines 
ihm  gegebnen  aber  wieder  zurückgenommenen  Eheversprechens 
wegen  bei  weltlichem  und  geistlichem  Gerichte  vergeblich  Hilfe 
gesucht  und  trat  nun  sein  Klagerecht  gegen  seine  Vaterstadt  an 
einige  berüchtigte  Edelleute  ab,  die  bei  Benedikt  von  Ffidingen 
auf  Hohenkrähen  ab-  und  zuritten;  darunter  gehörte  Thomas 
Bauhof  und  der  Trebitzer  aus  Franken.  Sie  sagten  im  Mai  1 5 1 2  der 
Stadt  Kaufbeuem  ab   und  beschatzten  vier  dortige  Bürger,   die 


782  ^I«    ^^c  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

auf  dem  Wege  zur  Frankfurter  Messe  waren,  um  700  Gulden. 
Die  Raubgesellschaft  wuchs  auf  150  Knechte  an  und  trieb  ihr 
Unwesen  bis  in  den  Monat  September  fort,  wo  die  Sache  eine 
andre  Gestalt  gewann.  Es  hatte  nemlich  Georg  Kressling,  einer 
der  nach  Hohenkrähen  geschleppten  Kaufleute,  einen  Bruder  an 
des  Kaisers  Maximilian  Hofe,  den  sogenannten  Lorenz  von  der 
Rosen,  der  des  Kaisers  Bartscherer  war.  Dieser  trug  dem. 
Monarchen  das  Ungemach  der  Unterthanen  vor,  worauf  der 
Schwäbische  Bund,  zu  dessen  Bundesorten  Kaufbeuem  gehörte, 
den  Auftrag  zur  Zerstörung  des  Raubnestes  erhielt.  Georg  von 
PVundsberg,  der  Bundeshauptmann,  Hess  am  8.  Nov.  jenes  Jahres 
den  trotzigen  Schlossihhabern  durch  seinen  Kammerzwerg  den 
Absagebrief  überbringen,  rückte  mit  8000  Mann  an  und  begann 
am  IG.  Abends  die  Beschiessung.  Der  Kaiser  hatte  dazu  zehn 
seiner  schwersten  Geschütze  aus  Innsbruck  herbei  fahren  lassen, 
darunter  den  Weckauf,  Hurlebauss  und  Tumtratzel,  die  Frau 
Metze,  die  Nachtigall  und  das  Kätterlein.  Allein  die  Stückkugeln 
prallten  von  den  Felsen  ab  und  ihrer  manche  musste  bis  fünfmal 
abgeschossen  werden.  Das  Schloss  hatte  Proviant  auf  Monate 
und  galt  für  unüberwindlich.  Jedoch  ein  glücklicher  Schuss  zer- 
störte die  Pfisterei,  und  dem  Benedikt  Fridingen  begegnete  das 
Missgeschick,  dass  er  sich  beim  Laden  eines  Doppelhakens  den 
Ladstock  durch's  Bein  schoss.  Da  ein  Wundarzt  nicht  vorhanden 
war  und  der  Fridinger  entweder  verbunden  werden  oder  sterben 
musste,  so  entschlossen  sich  die  Adeligen  zur  Flucht. 

Ihrer  Vierzehn  Hessen  sich  an  Seilen  über  die  Mauer  hinaus, 
kletterten  auf  einem  schmalen  Geisenpfade,  der  rings  um  den 
Berg  führte,  mit  Hilfe  ihrer  Steigeisen  hinunter,  erreichten  im 
Schutze  der  Nacht  und  der  Wälder  Schaffhausen  und  wendeten 
sich  geraden  Weges  nach  Zürich.  Am  folgenden  Tage  ergab 
sich  das  Schloss  und  wurde  sammt  der  Nachbarburg  Fridingen 
niedergebrannt.  Kaum  sahen  sich  die  Fridingen  in  Sicherheit,  so 
eröffneten  sie  ihren  Protest  gegen  den  R.  König  und  den 
Schwäbischen  Bund  und  erhoben  Schadloshaltungs- Forderungen. 
Schlau  suchten  sie  dabei  die  Stadt  Zürich  in  Mitleidenschaft  zu 
ziehen,  indem  sie  in  ihre  Entschädigungsklage  diejenige  des 
Zürcherbürgers  Eberlin  von  Reischach  mit  aufnahmen,  welcher 
bei  der  Einnahme  vpn  Hohenkrähen  Einbusse  erlitten  hatte.  Mit 
dieser  Beschwerde  hat  sich  die  schwäbische  Bundesversammlung 
schon  am  23.  Jan.  1513  auf  dem  Tage  zu  Augsburg  zu  befassen 


i 


I.    Familiengeschichte  der  aargauer  Gessler  etc.  383 

und  beschliesst:  der  Bund  leiste  den  Beschwerdestellem  keine 
Entschädigung,  auf  Grund  der  Handlung,  deren  sich  Hans,  Martin 
und  Benedikt  Ernst  von  Fridingen  in  Betreff  Hohenkrähens 
schuldig  gemacht  haben.  Zudem  habe  Hans  von  Fridingen  als 
Feind  des  Stiftes  Konstanz  einen  Priester  von  dorten  gefangen 
gehalten  und  geschätzt.  Martin  von  Fridingen,  der  an  dem  Vor- 
fall auf  Krähen  unschuldig  zu  sein  vermeine,  habe  bei  der  Strafe 
nicht  gesondert  werden  können,  doch  wolle  man  sich  gegen  ihn 
auf  das  kaiserliche  Kammergericht  zu  Recht  erbieten.  Zu  Gunsten 
des  Begehrens,  das  die  Stadt  Zürich  für  ihren  Bürger  Eberlin 
Reischach  stellt,  möge  ein  Rechtstag  entscheiden,  auf  welchem 
die  Bundesfürsten,  die  Prälaten,  der  Adel  und  die  Städte  mit  ihren 
bereits  vorgeschlagnen  Schiedsmännern  vertreten  sein  sollen.  Die 
Eidgenossen  sind  ersucht,  den  Stoffel  Hauser,  den  Trebitzer, 
Benedikt  Ernst  von  Fridingen  und  Consorten,  die  sich  zu  Zürich 
und  Basel  aufhalten,  als  des  Reiches  Aechter  und  des  Bundes 
Feinde,  nicht  bei  sich  zu  dulden  ;noch  zu  begünstigen.  Das 
Zürcher  Schiedsgericht  erkannte  Eberlins  Forderung  für  begründet, 
er  wurde  mit  800  Gulden  entschädigt.  Um  so  weniger  geschah 
in  der  Hauptsache.  Die  Mitglieder  des  Schwäbischen  Bundes 
schoben  sich  gegenseitig  die  bei  der  Einnahme  des  Schlosses  auf- 
gelaufnen  Kriegskosten  zu;  die  Fürsten  lehnten  ihre  Beisteuer 
ganz  ab,  da  jener  Zug  allein  der  Stadt  Kauf  heuern  zu  lieb  unter- 
nommen worden  sei ;  ja  es  war  noch  nicht  einmal  das  gegen  das 
Felsennest  verschossne  Pulver  einbezahlt,  als  1516  die  Bundes- 
versammlung erfährt,  Krähen  werde  wieder  aufgebaut,  und  nun 
berathen  muss,  wie  man  dies  verhindern  wolle.*)  Die  in  die 
Schweiz  Geflohnen  hatten  es  hier  mittler  Weile  zu  einem  diplo- 
matischen Skandal  gebracht.  Johannes  Storch,  Dr.  jur. ,  der  an 
der  Tagsatzung  accreditierte  kaiserliche  Gesandte,  hatte  unterm 
16.  Nov.  15 12  zu  Zürich  von  jener  Behörde  Sicherheit  seiner 
Person  gefordert,  weil  deren  von  Fridingen  Verwandte  in  der 
Eidgenossenschaft  Drohungen  gegen  ihn  hatten  verlauten  lassen. 
Auf  die  ihm  gegebne  amtliche  Erklärung,  dass  er  schon  kraft  der 
Vereinigung  der  Schweiz  mit  kaiserlicher  Majestät  hier  Ortes  ge- 
nugsam persönlichen  Schutz  geniesse,  so  dass  weiteres  überflüssig 

*)  Vorstehender  Bericht  stützt  sich  auf  folgende  Schriften.  Klüpfel,  Urkk. 
zur  Gesch.  des  Schwab.  Bundes  II,  62  bis  126.  —  Liliencron,  Histor.  VolksU.  II, 
67  bis  80.  —  O.  Schönhuth,  Ritterburgen  des  Höhgau's,  Zweites  Heft,  Kon- 
stanz 1833. 


284  ^^'    ^^^  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

sei,  eröffnet  er,  dass  Hans  Benedikt  von  Fridingen,  Stoffel  Hauser, 
der  Trübenzer  und  andere  ihrer  Helfer  gegenwärtig  zu  Basel  und 
in  Zürich  selbst  sich  befinden,  verlangt,  man  möge  diesen  in  die 
Reichsacht  Gefallnen  ferneren  Aufenthalt  nicht  gestatten,  und  legt 
ein  kaiserliches  Schreiben  vor,  welches  diese  Forderung  bekräftigt. 
Die  Tagsatzungsboten  erklären  hierauf  erst  im  folgenden  Jahre 
(15 13,  4.  April,  Zürich):  da  ihnen  dem  kaiserlichen  Schreiben 
gegenüber  die  Instruction  mangle,  so  werde  man  dasselbe  nun  an 
die  Obrigkeiten  mit  heimnehmen,  »die  darin  förmlicher  und  ge- 
schicklicher zu  handeln  wüssend.«  Zugleich  aber  soll  jeder  Bote 
seiner  Regierung  berichten,  welche  Schmach  dem  Gesandten 
Johann  Storch  an  der  letzten  zu  Luzern  gehaltnen  Tagsatzung 
(15.  März  und  i.  April)  durch  etliche  Burger  daselbst  an- 
gethan  worden  ist,  indem  sie  ihm  das  Pferd  aus  dem  Stalle  ge- 
stohlen, und  man  möge  allenthalben  Vorkehr  treffen,  dass  solcher- 
lei Händel,  woraus  der  Eidgenossenschaft  grosse  Unehre  erwächst, 
nicht  mehr  vorkommen.*) 

Der  Gesandte  Storch  erkrankt  und  verlässt  die  Schweiz.  Die 
Angelegenheit  Fridingen  verschwindet  über  wichtigeren  Staats- 
ereignissen für  immer  aus  den  Tractanden.  Der  Gesslerische  , 
Erbschaftsprozess ,  dessen  kurze  Episode  die  Fridinger  Händel 
waren,  hatte  dagegen  zwei  grosse  Schweizerkriege  überdauert: 
den  Bürgerkrieg ,  welchen  man  den  Alten  Zürichkrieg  nennt, 
unter  König  Friedrich  III.,  und  den  Burgundischen  gegen  Karl 
den  Kühnen.  Ebenso  lange  also  mangelte  es  den  Gesslem  an 
Nachhaltigkeit  nicht,  allein  diese  musste  erfolglos  bleiben  bei  der 
Schwäche  des  Fürstenhauses,  dem  sie  dienten. 


♦)  Eidg.  Abschiede  III,  Abthl.  2,  Seite  683.  702.  703.  Der  Luzernerchronist 
Diebold  Schilling  schreibt  S.  241  über  die  innem  Unruhen  in  der  damaligen 
Schweiz:  »Es  was  aber  in  denselben  tagen  ein  sollich  vngemeistert  muotwillig  volk, 
dass  sich  der  Gewalt  muost  trucken,  vnd  wie  gar  ettlich  wol  ze  strafen  warend 
wirdig  gewäsen,  so  wolt  doch  keiner  erwarten,  daz  er  erstochen  würde.« 


IL 

Die  Gessler  als  schw^eizer  Bürger  und 

Bauern  bis  heute. 


I.    Gessler  im  Aargau,  von  1428  bis  1596. 

Der  Grund,  warum  der  Geschlechtsname  Gessler  seit  dem 
sechzehnten  Jahrhundert  in  der  inneren  Schweiz  erlosch  und  heute 
von  keinem  einzigen  dorten  eingebomen  Geschlechte  mehr  ge- 
führt wird,  lag  in  der  allgemeinen  Feindseligkeit,  mit  welcher 
hier  seit  den  Kriegen  der  Länderkantone  gegen  das  Haus  Oester- 
reich  aller  habsburgische  Adel  betrachtet  wurde.  Der  stehende 
Ausdruck,  mit  dem  man  diese  missgünstige  Stimmung  in  den  ein- 
heimischen G^schichtsquellen  selbst  bezeichnet  findet,  heisst  »Ver- 
hassung  des  Adels«.  Nicht  etwa  erst  Kaiser  Maximilian  I. 
brachte  diese  Benennung  auf,  sondern  setzte  sie  bloss  frisch  in 
Umlauf,  als  er  in  seinem  1499  erlassnen  Reichsmanifeste  (datirt 
Freiburg  im  Breisgau,  Montag  nach  Jubilate)  den  Schweizern  zum 
Vorwurf  macht:  »die  Verfolgung  des  teutschen  Adels 
und  die  Verhassung  der  teutschen  Nation.« 

Die  von  den  Urkantonen  ausgegangene  und  über  die  nächst 
verbündeten  Kantone  weiter  verbreitete  Verdächtigung  des  ein. 
heimischen  Erbadels  zwang  diesen  theils  zur  Auswanderung,  theils 
zur  Namensänderung;  und  so  ist  es  gekommen,  dass  heut  zu 
Tage  ein  schweizerisches  Geschlecht  des  Namens  Gressler  allein 
noch  in  der  erst  am  23.  Brachmonat  1501  der  Eidgenossenschaft 
beigetretenen  Grenzstadt  Basel  und  in  dem  kleinen  Flecken  Zurzach 
am  Rhein  bürgerlich  fortbesteht,  in  der  ganzen  übrigen  Schweiz 
aber  erloschen  ist.  Damit  man  die  Erklärung  dieser  Thatsache 
nicht  unter  die  hypothetischen  zähle,  ist  es  am  besten,  eine  Reihe 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  2$ 


ßg6  II.   Die  Gessler  von  Bninegg  in  Geschiebte  und  Sage. 

gleicher  Thatsachen  aus  schweizerischen  Urkunden  in  ihren  da- 
selbst deutlich  ausgedrückten  Motiven  hier  anzureihen. 

Junker  Hartmann  von  Hünenberg  im  Zugerlande  gab  im 
Beginn  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  seinen  Adelsnamen  auf  und 
benannte  sich  nach  seinem  Zuger  Hofgute  Benggen  von  Brämen, 
»damit  die  Seinigen  vom  gemeinen  Mann,  der  dem  Adel  aufsäs- 
sig war,  nicht  auch  verhasset  und  für  Ausspäher  gehalten  würden.« 
So  besagt  die  Urkunde  vom  Jahre  1421,  in  Zurlaubens  Monu- 
menta  Tugiensia  VII,  243  b.  Die  Familiengeschichte  des  Zuger- 
geschlechtes  der  Barone  von  Zurlauben,  welche  ursprünglich 
Gestelenburg  geheissen  hatten,  liefert  ein  ähnliches  Beispiel. 
Die  Zurlauben  stehen  im  Nekrologium  des  Lazariterklosters  See- 
dorf in  Uri,  unterm  28.  April,  in  Einer  Reihe  mit  dem  Henricus 
nobilis  de  Attingenhusen  eingeschrieben,  wie  fofgt:  IUI  Kai.  Mail: 
Baltaser  von  Gestelenburg  vs  Wallis  (hat)  sit  der  flucht  vnd  ver- 
hassung  des  Adels  sich  Selbsten  genent  Laubast  old  Zurlauben 
(Zurlaub.,  Stemmatogr.  Bd.  V,  S.  16).  In  demselben  Seedorfer 
Nekrologium  steht  unterm  14.  Juni  eingezeichnet:  XVIII.  Cal. 
Julii:  Caspar  de  Rotenbach  et  frater  Joannes  de  Rotenbach.  Sit 
verhassung  des  Adels  werden  Sy  genemt  Zum  Bach  und  sitzend 
ze  Bare  bi  Zug.    Stemmatographie  Bd.  37,  pag.  283  b. 

Wie  wohlfeil  unter  solchen  Verhältnissen  der  Adelstitel  in 
der  Schweiz  werden  musste,  davon  schreibt  F.  Balthasar  in  Lu- 
zern  am  25.  August  1761  an  Zurlauben  in  Zug  Mehreres  und 
theilt  auch  folgendes  Beispiel  mit,  das  er  in  der  historischen  Hand- 
schriftensammlung Rennw.  Cysats  zu  Luzern  gefunden  hatte: 
»Der  letzte  des  Edelgeschlechtes  von  Utzingen  war  1585  ein 
grober  Paur,  der  sin  adel  und  wappen  einem  Wirt  in  Ury  ver- 
kaufte.«    Zurlaub.,  Mon.  Tug.  IV,  305. 

So  erloschen  die  Namen  der  alten  und  geschichtlichen  Adels- 
geschlechter. Allein  seit  den  zwei  geldgierigen  Kaisern  Sigmund 
und  Friedrich  III.,  die  in  der  Regierung  auf  einander  folgten  und 
beiderseits  in  andauernden  politischen  Verhältnissen  zur  Schweiz 
standen,  verbreitete  sich  in  diesem  Lande  der  Briefadel.  No- ' 
bilitirt  wurde  da  Jedermann,  der  die  verlangte  Geldsumme  an  die 
Reichskanzlei  einbezahlte.  Von  Sigmund  berichtet  darum  die 
Klingenberger  Chronik,  pag.  208:  »Er  gab  allen  puren  Wappen, 
welche  es  von  ihm  begehrten,  schluog  och  vil  puren  ze  ritter, 
die  sich  vor  keines  adels  nie  angenament.«  Der  Einsidlener 
Dekan  Albert  von  Bonstetten  war  Friedrichs  III.   Hofkaplan  ge- 


2.   Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  ^g? 

wesen  und  erhielt  sowohl  von  diesem  Monarchen  als  auch  noch 
von  dessen  Sohn  Max  I.  170  unterschriebene  und  besiegelte  For- 
mulare von  Adelsbriefen  geschenkt,  welche  Bonstetten  mit  jedem 
ihm  beliebigen  Namen  ausfüllen  und  verkaufen  durfte.  Er  gab 
das  Stück  oft  um  einen  Gulden.  Da  entstand  dann  jener  sonder- 
bare Namensadel,  über  welchen  der  Solothurner  Pfarrer  Vit  im 
fünfzehnten  Jahrhundert  spottete:  »Was  ist  das  für  ein  Adel  zu 
Solotuml  sie  sind  nützit  denn  Hebel  und  Knebel,  Stölli 
und  Knölli,  Ochsenbein,  Kisslingstein  und  Hachen- 
hauer.«  Glutz-Blothheim ,  Gesch.  d.  Eidgenoss.  491.  Das  Ber- 
nische Adelsedict  vom  9.  April  1783  ertheilte  sämmtlichen  Stadt- 
bürgem  die  Vollmacht,  gegen  Erlegung  weniger  Batzen  auf  dor- 
tiger Staatskanzlei,  das  adelnde  Von  ihren  Familiennamen  vorzu- 
setzen. Nur  sechzehn  Geschlechter  machten  damals  davon  Ge- 
brauch, die  übrigen  verblieben  vor  der  Hand  noch  ungeadelte 
Metzger,  Kaminfeger  und  Strumpfwirker;  man  kennt  Friedrichs 
des  Grossen  Ausspruch  hierüber:  Messieurs  de  Berne  se  sont 
ddffiis. 

Die  Gesslerischen  Zinsgüter  im  Obern  Freiamte  zu  Meien- 
berg,  Au  und  Wiggwil  waren  seit  1415  von  den  Eidgenossen  confis- 
cirt  und  zu  deren  Vogteigütern  geschlagen  worden.  Das  im  lu- 
zemer  Staatsarchiv  liegende  »Rechnungsbuch  dess  zwings  zu  Rü- 
^^^.^i  angefangen  1520,  verzeichnet  unter  den  Jahres-Einnahmen 
des  luzerner  Landvogtes  solche  Gesslerische  Güter  im  dortigen 
Dorfe  Au:  Ow.  Item  aber  Vllj  Schilling  gond  ab  gess- 
lers  guot  in  dem  dorf  zwüschen  des  Wijen  (Haus)  vnd 
dem  bach.  Ist  ein  hüs  darüff,  ist  by  einem  halben 
mannwerch.  Noch  1534  bezieht  der  Landvogt  diesen  Zins 
ab  gesslers  gutt,  1598  wird  derselbe  von  einem  Hans  Woli- 
mann  entrichtet,  das  Gut  aber  hatte  damals  keinen  Namen  mehr. 
(Mittheil,  durch  Archivar  Th.  v.  Liebenau).  Ein  ähnlicher  Fall 
ergiebt  sich  aus  dem  Freiämter  Urbarbuch  von  1574,  im  aargauer 
Staatsarchiv,  Abthl.  Muri,  No.  30;  39.  In  diesem  obrigkeitlich 
legalisirten  Folianten  ist  in  der  Abtheilung  Wiggwil  (dem  Gess- 
lerischen Heimatsdorfe)  von  einem  Beren-Gut  die  Rede,  das  anno 
1586  empfangen  hat  Hans  Gi ssler,  und  sodann  dessen  Sohns- 
sohn Wendel  Geissler.  Man  möchte  etwa  einwenden,  diese 
Beiden  seien  hiemit  keineswegs  als  Leute  des  Gesslergeschlechtes 
gekennzeichnet;  allein  der  neubackene  Adel,  sagt  das  Sprichwort, 
vergisst  wie  die  Leute  heissen ;  darum  muss  man  ihm  zeigen,  dass 

25* 


^gg  II.    Die  Gessler  yon  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

er  obige  Namen  wirklich  entstellt  hat.  Es  stirbt  nemlich,  zufolge 
unsrer  Regestensammlung,  1428  Heinricus  Gessler  de  Meien- 
berg,  alias  Gisler,  als  Ortspfarrer  und  Dekan  zu  luzemisch 
Hochdorf,  nachdem  derselbe  1422  Subprior  und  Kammerer  des 
Grotteshauses  Rüti  gewesen  war.  Dieselbe  Namensentstellung 
machte  sich  auch  in  der  Volkspoesie  geltend.  »Das  Lied  von 
Wilhelm  Teil  vnnd  dem  vogt  Geyssler  genant.  Sing*s  jm  thon 
wie  das  lied  von  Pafy.«  Basel,  o.  J.,  4  Bl.  8°  mit  Titelholz- 
schnitt —  steht  verzeichnet  in  v.  d.  Hagen's  Bücherschatz  No.  943, 
und  darnach  in  Weller's  Annalen  I,  S.  102,  No.  479. 

Gessler  bestanden  einst  zu  Zofingen  und  Brugg  und  leben 
heute  noch  zu  Zurzach,  wie  nachfolgende  Regeste  zeigen. 

15 13.  Dem  Fähnlein  Zofinger  Burger,  das  in  fremdem  Kriegs- 
dienste nach  Hochburgund  gezogen  war,  wurde  von  der  Vater- 
stadt durch  deren  Fuhrmann  Jörg  Gessler  ein  grosses  Reis- 
fass  mit  Anken,  Dürrfleisch,  Käse  und  Oel  nebst  iio  Gl.  Bar- 
schaft nach  Dijon  nachgeschickt.  (S.  Gränicher :)  Histor.  Notizen 
V.  Zofingen  1825,  105. 

1519,  25.  Juli.  Georg  Gessler,  von  Zofingen,  aus  der 
städtischen  Zunft  der  Ackerleute,  ist  mit  unter  den  zwölf  nament- 
lich verzeichneten  Wallfahrern,  die  mit  ihrem  Schiffe  oberhalb 
Aarburg  versinken  und  ertrinken.  (S.  Gränicher:)  Chronik  d.  St. 
Zofingen  181 2.  II,  145;  Histor.  Notizen,  S.   115. 

1537.  In  der  Stadt  Brugg  Rothem  Buche,  zubenannt  Mit 
dem  Ringgen,  Band  2,  beginnend  mit  dem  Jahre  1505,  steht  pag. 
109  eingeschrieben:  Dionysius  Gessler  von  Diessenhofen  ist 
vnser  burger  worden  vff  den  12.  heuwmanots  im  1537  jar,  hat 
sin  mannrecht  bracht,  den  eyd  g'than  vnd  für  sin  burgrecht  geben 
12  pfund.  —  Archiv  der  St.  Brugg. 

1596  das  Freienämter  Nachgericht,  das  über  den  abgesetzten 
Abt  des  Klosters  Muri,  Jakob  Meyer  von  Luzem,  und  über  dessen 
Concubine  Katharina  Strüblin,  wegen  der  von  Beiden  am  Kloster- 
gute verübten  Unterschlagungen  dreimal  versammelt  gewesen,  hat 
in  den  dortigen  Wirthshäusern  verzehrt:  in  Ludwig  Gesslers 
Hause  5  GL  22  Schilling.  Klosterarchiv  Muri,  Documentenbuch 
A,  pag.  384. 

1520,  2.  Juni  wird  zu  Thiengen  im  Kletgau  Maiengericht  ge- 
halten, wobei  als  Urthelsprecher  mit  verhandelt  Kon  rät  Gass- 
1er  von  Koblenz,  am  aargauischen  Rheinufer.     Mone,  Oberrhein. 


J 


2.    Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  389 

Ztschr.  14,  469;  jedoch  auf  S.  504»  steht  derselbe  verzeichnet  als 
Konrat  Gessler. 

161 7,  23.  Sept.  Stoffel  Gessler,  ein  Maurer,  besitzt  als 
Lehensmann  des  Verenastiftes  zu  Zurzach  das  ausserhalb  dieses 
Fleckens  am  Rheinufer  gelegne  Schlösslein  Mandach  im  Lehen- 
zinse.    Huber,  Die  Urkk.  des  Stiftes  Zurzach,  S.  68. 

1854  erkaufen  Ant.  und  Jos.  Gessler,  letzterer  ein  Maurer, 
beide  als  Ortsbürger  Zurzachs,  vom  dortigen  Verenastifte  ein  Stück 
Mattland.  Huber,  ibid.  S.  328.  Der  im  Jahre  1873  am  Zurzacher 
Bezirksgerichte  functionirende  Amtsweibel,  Bürger  daselbst,  heisst 
Gessler  und  erklärt,  sein  Geschlecht  sei  seit  der  schweizer  Kirchen- 
reformation aus  Zürich  hieher  eingewandert. 


2.   Die  Gessler  zu  Basel,  von   1378 — 1871. 

Die  Stadt  Basel  pflegte  in  Kriegszeiten  denjenigen  Fremden, 
die  ihr  als  Söldner  und  Reisige  tapfer  dienten,  mit  dem  Ge- 
schenk des  Bürgerrechtes  zu  lohnen.  Auf  diesem  Wege  des  Kriegs- 
dienstes gelangte  daselbst  das  Geschlecht  der  Gessler  seit  dem 
vierzehnten  Jahrhundert  zur  Aufnahme  unter  die  erbgesessne  Bürger- 
schaft. Nachweisbar  war  dasselbe  aus  dem  Ober-Elsass  hieher 
gekommen.  Die  frühesten  Angaben  hierüber,  enthalten  in  der 
Geschichte  der  Stadt  und  Landschaft  Basel,  verfasst  von  Peter 
Ochs,  folgen  hier  der  Reihe  nach. 

1378 1  feria  III*^  ante  fest  S,  Johannis  Bapt 

Sub  Domino  Johanni  Puliant  Milite^  magistro  civium  Basileensium, 
wurden  zu  Burger  gemacht  und  verdienten  es  diese  nachgeschrie- 
benen Personen,  als  man  vor  die  Veste  Wildenstein  (bei  Waiden- 
burg in  Baselland)  wollte  gezogen  sein.  (Es  folgt  unter  187  Namen) : 
»Hanemann  Gessler,  der  Wilde(-mann)wirth,  caupo.^  Rothes 
Buch,  Baslerarchiv;  Peter  Ochs,  Oberzunftmeister  1796,  Gesch. 
der  St.  u.  Landsch.  Basel,  IV,  739.  Justinger*s  Bernerchronik 
Ausg.  I,  S.  73. 

1412,  feria  IV^  post  nativitatem  Christi,  zugen  wir  us,  für 
Blauenstein  (Schloss  im  Sundgau),  von  Manung  wegen  der  hoch- 
geb.  Fürstin  Frau  Katharinen  von  Burgund,  Herzogin  zu  Oester- 
reich,  zu  der  wir  verbunden  waren;  und  dazu  desselben  Tages,, 
ungebeten  und   ungemahnet,   für  die  zwo  Vestinen  Fürstenstein 


4qo  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  nnd  Sage. 

und  Neuenstein.  Und  hatten  uns  in  drie  Huffen  getheilt,  mit 
denen  die  Vestinen  belagert  und  in  sieben  Tagen  alle  drie  ge- 
nummen,  verbrennt  und  darnach  geschlissen  wurden.  Der  Stadt 
Basel  Rathsbuch.  Unter  den  455  Söldnern,  welche  diesen  Feld- 
zug gemeinsam  mit  den  Zünften  der  Stadt  Basel  niitgemacht  und 
hier  deshalb  zu  Neubürgem  angenommen  wurden,  steht  mit  ver- 
zeichnet: (N.)  Gesseler.  Peter  Ochs,  Geschichte  Basels  III, 
93  und  94. 

1442  nach  dem  Heinrichstage,  Basel.  HansGesseler  zieht 
mit  dem  Aufgebot  der  Stadt  in's  Breisgau  gegen  den  Markgrafen 
Bernhard  von  Baden,  und  wird  dafür  sammt  317  seiner  Kriegs- 
gesellen in's  Basler  Bürgerrecht  aufgenommen.  Peter  Ochs,  ibid. 
III,   147. 

1444.  Zum  Bürger  angenommen  Hans  G  e  s  s  1  e  r  von  Ruffach. 
Bürgerbuch  d.  St.  Basel,  Schweighäuser'sche  Bchhdlg.  18 19. 

15 19.     Hans  Gessler.  —  Ochs  V,  414. 

1521.  Franz  Gessler  von  Allschwilen,  Bürgerbuch  d.  St. 
Basel,  18 19. 

1657.  Hans  Georg  Gessler  wird  von  der  Zunft  der  Gerber 
in  den  Grossen  Rath  der  Stadt  gewählt,  gelangt  1677  in  den 
Kleinen  Rath  und  stirbt  22.  Aug.  1701.  —  Leu,  Helvet.  Lexik., 
Supplement  II,  499. 

1702  ist  des  Vorgenannten  gleichnamiger  Sohn  Mitglied  des 
Grossen  Rathes  zu  Basel.     Leu,  ibid. 

1744.  Des  Vorhergehenden  Sohn  Johann  Rud.  G.  kehrt 
aus  französischen  Feldzügen  mit  Oberstlieutenants -Rang  heim. 
Leu,  ibid. 

1798.  Samuel  Gessler  ist  einer  der  40  Stadtbürger,  welche 
beim  Ausbruch  der  helvetischen  Revolution,  von  den  vereinigten 
Landes-Ausschüssen  zu  Repräsentanten  der  Nationalversammlung 
gewählt,  auf  dem  Rathhause  zu  Basel  zusammen  treten.  Auf 
einen  blinden  Kriegslärmen  hin  erbricht  hier  ein  reactionärer 
Volkshaufe  die  Thüren  des  Rathssaals,  ein  an  der  Spitze  stehen- 
der Hutmacher  Gessler  entreisst  der  Wache  das  Gewehr  und  be- 
droht damit  den  Präsidenten  der  Versammlung.  Ochs,  ibid.  tom  8, 
pag.  304  u.  307. 

Das  Adressbuch  der  Stadt  Basel  vom  Jahre  1862  verzeichnet 
26  dortige  Bürgerfamilien  der  Sippschaft  Gessler,  meistens  Ge- 
werbsleute, die  in  den  dortigen  Localblättern  sich  zu  annonciren 
pflegen,   wie  folgt:   E.  Gessler  empfiehlt  seine  Bierbrauerei  Zum 


• 


2.    Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  iqi 

Dolder ;  J.  Gessler-Zeller  beim  Komhaus  seine  extra-feinen  Basler 
Leckerli;  Karl  Gessler  in  der  Steinen -Vorstadt  seine  echten 
Berner  Bärenlebkuchen;  Flubacher- Gessler  im  Cafö  Helm  sein 
altes  und  allein  echtes  >  Bürgermeistern  c  (Liqueur);  Abrah.  Rud. 
Gessler  seinen  Glasladen  sammt  Spiegelrahmen;  Ludw.  Gessler 
seine  Mahlmühle  zu  Baselaugst;  Fritz  und  Moritz  Gessler  in  der 
Hutgasse  No.  19  ihre  Filzhüte;  Leonh.  Gessler  seinfe  Buchbinderei. 
Seit  November  1872  war  Rudolf  Gessler  von  Basel  zum  eidgenös- 
sischen Consul  zu  Santa  Fe  in  den  argentinischen  Staaten  er- 
nannt gewesen. 

Die  Sippschaft  führt  durchgehends  das  Adelswappen  der 
aargauer  Linie  und  wird  dasselbe  durch  den  bekannten  Basler 
Petschirstecher  und  cames  palaünus  Samson  empfangen  haben,  wel- 
cher jedem  Stadtbürger,  weil  Alle  regierungsfähig  waren,  einen 
offnen  Wappenhelm  gab,  oder  ihm  einen  gekrönten  Helm  in's 
Wappen  setzte,  wenn  einer  von  Standeshäuptem  abstammte.  Die 
Stadt  selbst  aber  führte  kein  obrigkeitliches  Wappenbuch. 
P.  Ochs,  ibid.  VI,  514. 


3.   Gessler  im  Luzernerlande. 

1460  besassen  Hensli  und  Hemman  Gressler  den  Hof  Zopfen- 
berg  bei  Oberkirch. 

Laut  Kundschaft  vom  Jahre  1471  war  zur  Zeit  des  Walds- 
huter  Krieges  Hans  Gessler  Weibel  im  luzerner  Amte  Bero- 
münster. 

1487.  Nachdem  die  zum  Schutze  des  Bischofs  von  Sitten 
gegen  die  Herzoge  von  Mailand  über  den  Gotthafd  gezogenen 
schweizer  Söldner  durch  den  Zwist  ihrer  Führer  Verluste  erlitten 
hatten  und  im  Eschenthale  (Domo  d^Ossola)  feldflüchtig  geworden 
waren,  lässt  der  Rath  zu  Luzern  über  seine  mitbetheiligten  Haupt- 
leute Kundschaft  aufnehmen.  Dabei  bezeugt  Welti  Gessler 
aus  luzemisch  Eschenbach :  als  Hans  Mure  von  Luzern  die  Knechte 
in's  Eschenthal  führte,  sei  das  Vendly  (der  Luzerner)  aus  dem 
Felde  geflohen. 

Diese  Kundschaft  ist  im  Luzemer  Archiv  doppelt  vorhanden : 
im  RathsprotokoU  VI,  176  und  bei  den  Acten,  Abtheil.  »Kriegs- 
wesenc,  Fase.  114.    Ueber  das  Ende  obiger  Untersuchung  gegen 


JQ2  II.    Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

die  Hauptleute  meldet  Diebold  Schilling's  Luzemer  Chronik  pag. 
102:  doch  ward  inen  das  demnach  in  miner  heren  statt  nit  ge- 
schenkt, sunder  wurdend  sy  am  lib  vnd  eren,  aber  nit  am  laben 
gestraffet. 

1534  bis  1550.  Hans  Gässler,  genannt  Rotwiler,  seines  Ge- 
werbes ein  Pfister,  ist  wohnhaft  in  Luzem. 

1548  wunde  dem  Rathe  zu  Luzem  berichtet,  des  Heinrich 
Gesslers  Frau  habe  zu  Zurzach  den  fiinf  katholischen  Kantonen 
nachgeredet,  dieselben  hätten  sich  vom  Kaiser  bestechen  lassen, 
sie  wird  deshalb  in  peinliche  Untersuchung  genommen. 

1571  lebte  zu  Omelingen,  luzemer  Gemeinde  Hildisrieden  ob 
Sempach,  Martin  Gessler. 

1573  war  Jak.  Gässler  Buchfiihrer,  d.h.  Buchhändler,  zu  Luzem. 

1575,  Donnerstag  nach  Aller  Seelen.  Ritter  Ludw.  Pfyffer, 
Schultheiss  und  Pannerherr  von  Luzem,  belehnt  Anna  Gesslerin, 
Wittwe  des  Valentin  Rüttimann  selig  von  Sursee,  und  deren  drei 
Söhne  mit  einem  Fischerrechte  auf  dem  Senipacher  See.  Copien- 
buch  II,  197,  im  Staatsarchiv  Luzem. 

In:  den  ersten  Decennien  des  16.  Jahrhunderts  lebt  ein 
Gressler  zu  Sempach,  der  laut  luzemer  RathsprotokoU  (tom.  IX, 
280  b  und  305  b)  als  ein  streitsüchtiger  Mann  erscheint. 

Vorstehendes  sämmtlich  ist  aus  den  bezüglichen  luzemer 
Rathsprotpkollen  durch  den  dortigen  Staatsarchivar  Th.  v.  Lie- 
benau  erhoben  und  uns  brieflich  mitgetheilt  worden. 


4.  Gessler  im  Thurgau. 

1386  IG.  Jan.  Johannes  Gässler,  Kirchherr  zu  Nieder- 
Helfenschwil  (an  der  Thur  ob  Bischofszeil  gelegen),  hat  Lehen  von 
St.  Gallen. 

Obiges  Datum.  Johannes  Gaessler,  de  Cella  EpiscopaU 
(Bischofszell)  rector  parochiaHs^  'cansiderans  Utes,  guerras,  exactiones  et 
ahstractiones  injustas  ubique  terrarum  —  begiebt  sich  in  den  Schutz 
Lütolos  des  Schenken  von  Landegg. 

Beide  Urkunden  im  Stiftsarchiv  St.  Gallen,  mitgetheilt  durch 
Th.  V.  Liebenau. 

1549,  I.  Juli,  Jahresrechnung  in  Baden. 

Nachdem  Heinrich  Gässler,  genannt  Täppel,  von  Wein- 


1 

i 


2.   Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  ^gj 

felden,  mit  Hans  Bomer,  dem  Müller  zu  Frauenfeld,  vor  dem 
Stadtgerichte  zu  Frauenfeld  einen  langwierigen  Rechtsstreit  ge- 
habt, den  Prozess  verloren  und  auch  in  den  Appellationen  an  die 
Eidgenossen  unterlegen ;  nachdem  er  dann  die  Bürger  von  Frauen- 
feld beschimpft,  so  dass  sie  ihn  vor  Landgericht  geladen;  nach- 
dem er  hierauf  nicht  erschienen  und  deshalb  nach  Gerichtsbrauch 
öffentlich  ausgeschrieben  worden  ist  —  so  hat  derselbe  nichts- 
destoweniger auf  gegenwärtiger  Jahresrechnung  mit  dem  Begehren 
sich  eingefunden,  ihm  das  Recht  wieder  aufzuthun.  Es  sind  des- 
halb auch  der  Müller  und  die  von  Frauenfeld  vorbeschieden,  an- 
gehört, und  darauf  die  schon  ergangenen  Urtheile  abermals  be- 
stätiget worden.  Weil  aber  zu  vermuthen  ist,  dass  Gässler  von 
Ort  zu  Ort  gehen  und  um  Wieder-Eröffnung  des  Rechtes  ansuchen 
werde,  so  wird  jedem  der  hier  versammelten  Orts-Boten  aufge- 
tragen, den  über  diese  Sache  erstatteten  Bericht  des  Nikolaus 
Kloos  von  Luzem,  Landvogts  im  Thurgau,  heimzubringen,  damit 
man  den  Petenten  desto  besser  abzuweisen  wisse. 

Aus  dem  weitläufigen  Berichte  von  Kloos,  erstattet  am  Mar- 
garethatag  1549,  geht  Folgendes  hervor.  Täppels  Streit  war 
schon  unter  den  Landvögten  Gallati  von  Glarus  und  Holzhalb 
von  Zürich  anhängig  gewesen.  Täppel  sei  dann  aus  dem  Lande 
geflohen  und  habe  vorgegeben,  der  Streit  sei  darüber  entstanden, 
weil  er  »dem  Herrn  von  Sax  ettlich  zwyfach  Tuggaten  entwerte 
und  an  die  Kirche  zu  Weinfelden  etwas  zu  Ungunsten  Jak.  Lochers 
und  des  Messpriesters  angeschlagen  habe,  was  dem  Landfrieden 
zuwider  sei.  Es  sei  1 547  dem  Täppel  Geleite  auf  die  Tagsatzung 
in  Baden  ertheilt,  weil  er  aber  ausgeblieben,  sein  Gut  verhaftet 
worden.  Nachdem  er  über  die  Frauenfelder  Verleumdungen  aus- 
gestreut, sei  er  in  die  Acht  gekommen.  Auf  Bitten  seiner  Frau 
habe  man  ihm  anerboten,  nach  Recht  mit  ihm  zu  verfahren,  so- 
fern er  das  Urtheil  der  Eidgenossen  anerkennen  wolle,  er  habe 
dies  jedoch  ausgeschlagen. 

Tagsatzungs- Acten  im  luzerner  Staatsarchive,  unterm  4.  Jan. 
1871  mitgetheilt  durch  Herrn  Archivar  Th.  von  Liebenau. 

1589 — 90.  Aus  den  Justizsachen  der  Landgrafschaft  Thurgau, 
als  der  VII  Orte  gemeinsamen  Herrschaft. 

Jakob  Gessler  von  Weinfelden  im  Thurgau  hat  seinen 
Handel  gegen  Hans  Häberli  um  ein  streitiges  Gut  vor  die  Tag- 
satzung zu  Baden  gezogen  und  erhält  hier  gegen  Häberli  80  streitig 
gewesne  Gulden  nebst  60  Gulden  Schadloshaltung  zugesprochen. 


394  ^^*    ^®  Gessler  von  Bninegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Es  wird  ihm  die  vom  Landvogt  auferlegte  Strafe  in  Gnaden  er- 
lassen, seine  eignen  unziemlichen  Reden  gegen  die  Regierung  von 
Zürich  liat  er  zu  widerrufen.    Eidg.  Absch.  V.  i,  S.  1327. 

1595.  Der  Thurgauische  Landvogt  zeigt  an,  dass  Vogt  Kessel- 
ring zu  Weinfelden  umgebracht  worden  sei,  Hauptbetheiligte  seien 
der  Gessler  und  der  jetzt  in  Uri  sich  auf  haltende  Zimmermann, 
ibid.,  S.   1329. 

1599,  14.  Juli.  Statthalter  und  Rath  von  Luzern  empfehlen 
der  Tagsatzung  »den  eersamen,  erbaren,  sonders  lieben,  gethrüwen 
Haps  Jakob  Gessler,  den  Blyzähenmacher  von  Wynfelden  vss 
demThurgöw«,  der  den  Rechtstag  wegen  des  (ermordeten)  Vogtes 
Kesselring  von  Weinfelden  nicht  habe  besuchen  können,  weil  er 
den  Glasermeistern  von  Luzern  die  zu  ihrem  Handwerke  be- 
nöthigten  »Bly zähen«  (Bleifassungen)  habe  machen  müssen.  Sie 
bitten  deshalb  um  Ansetzung  eines  neuen  Rechtstages.  —  Unge- 
bundene Abschiede  im  Staatsarchiv  Luzern.  Brieflich  mitgetheilt 
am  27.  Dezember  1875   durch   Herrn  Archivar  Th.  v.  Liebenau. 

1610 — 12.  Hans  Jak.  Gessler  von  Weinfelden  klagt  vor 
der  Tagsatzung  und  erbietet  den  Beweis,  dass  Hans  Karrer 
seine  eigne  Gevatterin  geschwächt,  zwei  Meineide  geschworen,  bei 
Aufstellung  des  Zehntens  betrogen  und  gegen  fremdes  Eigenthum 
gefrevelt  habe.  Der  Thurgauer  Landvogt  wird  hierauf  von  der 
Tagsatzung  mit  Untersuchung  und  rechtlicher  Execution  beordert. 
Derselbe  Gessler  ist  im  Injurienhandel  gegen  Sebast.  AUenbor 
landvögtisch  verurtheilt  worden,  appellirt  deshalb  an  die  regieren- 
den Orte,  muss  auf  deren  Entscheid  die  gegen  Landvogt  Inder- 
bitzi  ausgestossenen  Schmähreden  zwar  widerrufen,  erhält  aber 
später  400  Gl.  als  Schadloshaltung  zugesprochen,  welche  sein 
Gegner  Allenbor  zu  zahlen  hat. 

Im  gleichen  Jahre  1610  berichtet  Landvogt  Wirz,  Hans  Jak. 
Gessler  von  Weinfelden,  der  zu  Luzern  aus  dem  Gefangnisse 
entwichen  ist ,  habe  letzter  Tage  auf  vier  ihm  Begegnende  das 
Gewehr  angeschlagen,  nur  durch  schleunige  Flucht  in  die  Ge- 
büsche seien  sie  ihm  entronnen.  Ferner  drohe  er  Allen,  die  von 
obrigkeitswegen  in  seiner  Sache  gehandelt  haben,  den  Lohn  geben 
zu  wollen,  trage  bei  Tag  und  Nacht'ein  geladnes  Rohr  und  bren- 
nenden Zündstrick  mit  sich  und  schweife  so  im  Lande  herum. 
Auf  Verlangen  wird  dem  Landvogt  verwilligt ,  Gesslern  in  Kon- 
stanz, wo  derselbe  häufig  sich  aufhalte,  gegen  einen  Revers 
-heraus  verlangen   zu  dürfen.      Eidg.  Absch.,  1.  c.  S.  1332  u.  33. 


i 


r 


2.   Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  305 

1636  bis  1653.    Johann  Gressler,  Pfarrer  in  thurgauisch  Hagen- 
wil,  stirbt  1656.    Kuhn,  Thurgovia  Sacra  II,  71. 


5.   Gessler  im  Zugerlande. 

Im  Nekrologium  der  Pfarrkirche  St.  Michael  in  Zug,  Hs.  des 
sechzehnten  Jahrhunderts,  steht  verzeichnet  unterm 

X.  Kai.  Martii:  Lienhart  Gaesler  und  Anna  Engelhartin 
sine  Wirtin,  haec  scripta  sunt  1^16.  —  Zurlauben,  Monumenta  Tu- 
giensta,  tom  I,  pag.  12,  Auf  der  aargauer  Kantons-Bibliothek :  MS. 
Bibl.  Zur!.  7,  fol. 

1515»  Schlacht  bei  Marignano.  Das  Namensverzeichniss  der 
aus  der  Stadt  Zug  in  diesem  Treffen  Umgekommenen  nennt  den 
Peter  Gessler.     Stadiin,  Gesch.  des  Kt.  Zug  IV,  738. 

1516.  Dis  sind  Zuogewandte  vnd  Hindersässen  von  Egeri, 
so  zuo  Meyland  sind  vmkommen  an  des  Hl.  Creutz  der  Erhöhung 
abend,  1516:  Peter  gessler.  (Er  steht  hier  mit  unter  andern 
^6  nach  Namen  und  Abkunft  Verzeichneten).  Jahrzeitbuoch  zue 
Ober-Egerin.      Auszug   in    Zurlaubens    Monum.   Tug.    tom.  IV, 

pag.  314- 


6.    Gessler  im  Züricherlande. 

Geschlechter-Buch  der  Statt  Zürich,  darinnen  ver- 
zeichnet alle  Geschlechter,  die  von  Ao.  im  (1111)  das  Alte  und 
Neue  Statt-Regiment  besessen,  nebendt  meidung  jedes  Geschlechts 
harkommen,  zu  welcher  Zeit  sie  zu  Burgeren  angenommen  und 
in  dcis  Regiment  kommen.  Bis  auf  gegenwürtige  Zeit  continuiert, 
zusammen  getragen  und  gemahlt  durch  Hans  Heinr.  Stadler 
1694.  Aargauer  Kant.-Bblth:  MS.  Bibl.  Mur.  fol.  65,  hält  1303 
paginirte  und  beschriebene  Folioblätter.  Auf  S.  314  ist  gemalt 
das  Wappen  der  Gessler,  und  folgende  Note  dazu  gesetzt: 

Die  Herrschafft  Grüningen  versetztend  die  Fürsten  von  Oester- 
rych  den  Gässlem,  Edelleuth.  Herr  Hermann  und  Herr  Wil- 
helm die  Gässler,  gebrüder,  übergabeiid  alle  ihre  Rechtung  über 
Land,  Leuth  und  Gut  obgemeldter  Herrschaffl  der  Statt  Zürich 
umb  8000  Gl.  Rhynisch   den   11.  July  141 8.     Hans   Gässler  von 


396  ^   ^^^  Gessler  von  Brun^g  in  Geschichte  und  Sage. 

Nider- Engstringen  ward  Burger  1440.  Heinrich  Gässler  ward 
Zwölfer  bei  der  Safem   (Safran -Zunft)  auf  Johanni   15 17,   starb 

1532. 

1521,  21.  Nov.   Die  Boten  der  XIII  Eidgenössischen  Orte  sind 

nach  Italien  gesendet,  um  zwischen  den  Führern  des  päpstlich- 
kaiserlichen, sowie  des  königlich  französischen  Heeres  eine  Frie- 
densunterhandlung anzuknüpfen.  Sie  berichten  aus  Como  an  die 
Tagsatzung  heim,  dass  sie  den  im  päpstlichen  Heere  stehenden 
Schweizer  Truppen,  bei  Verlust  des  Bürgerrechtes  und  der  Oberen 
Huld  und  Gnade,  den  Rückzug  aus  dem  Mailändischen  geboten 
haben.  Dieses  Missive  haben  den  Truppen  Hans  Gässler  und 
Funk,  beide  von  Zürich,  und  ein  Trompeter  als  der  Beiden  Ge- 
leitsmann, unaufgehalten  überbracht.  Eidgen.  Absch.  IV,  l»^ 
Seite  135. 

1527,  IG.  Mai.  Die  Stadt  St.  Gallen  schreibt  an  Zürich: 
Andreas  Gessler,  Burger  von  Zürich,  habe  angezeigt,  es  gehe 
das  Gerücht,  dass  Erzherzog  Ferdinand  ein  Heer  rüste,  um  den 
neuen  Glauben  auszurotten.  Die  in  den  letzten  Teigen  aus  Nürn- 
berg nach  St.  Gallen  gekommenen  Kaufleute  und  die  auswärts 
wohnenden  Bürger  wissen  aber  von  derartigen  Gerüchten  nichts 
zu  melden.  (Staats -Archiv  Zürich.)  Eidgen.  Absch.  IV,  la, 
Seite  1088. 

1531.  Die  handschriftliche  Chronik  des  Hans  Cunrat  Rollen- 
butz  von  Zürich,  beendigt  25.  Februar  1572,  ein  1034  Folioseiten 
haltender  Sammelband  (auf  der  aargauer  "Kt.-Bblth. :  MS.  BibL 
Nov.  31  foL),  enthält  das  Namensverzeichniss  der  512  Mann, 
welche  im  Treffen  bei  Kappel  auf  Zürcherseite  umkamen,  und 
schreibt  hiebei,  pag.  584,  also:  »Von  Kilchberg  vss  der  gantzen 
pfaar,  als  Rüschlikon,  Münchaltorff  vnd  Wolishofen  ist  vmbkomen 
Junghans  gässler.t 

Der  berühmte  Naturforscher  Conrad  Gesner  von  Zürich  Hess 
daselbst  bei  Froschauer  1574  in  fol.  erscheinen:  Bibliotheca  insu- 
tuta  et  coüecta;  nachmals  in  zweiter  Ausgabe  durch  Jos.  Simler 
und  Fries  besorgt:  Tiguri  1583.  In  dieser  letzteren  steht  pag. 
445:  Joannis  Gesleri  praestanUora  contra  pestem  remedia,  ex  me- 
dicis  antiquis  excerpta.  Sollte  dieser  medicinische  Schriftsteller  nicht 
derselbe  Joh.  Gessler  sein,  den  wir  1528  als  Kirchherr  zu  bernisch 
Bümplitz  kennen  lernen? 


i 


2.    Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  ^gy 

7.   Gessler  in  der  Stadt  St  Gallen. 

Ulrich  Gas s  1er,  anno  1400  Bürgermeister  der  Stadt  St.  Gal- 
len. Haberer,  Schweytzerischer  Regiments -Ehren -Spiegel.  Zug 
1706,  Th.  I,  S.  57. 

141 3  am  St.  Johannistag  zu  Sonnenwenden,  als  VI  rieh 
Gössler  der  ältere  Bürgermeister  zu  St.  Gallen  war,*  übergiebt 
Heinrich  von  Gundelfingen,  Stiftsabt  daselbst,  dem  Rathe  der 
Stadt  mittels  besiegelter  Urkunde  die  Verwaltung  der  dortigen 
St.  Laurenzen-Pfarrei.  Johann  Stumpff,  Gemeiner  lobl.  Eydgno- 
schafFt  etc.  Chronikwirdiger  thaaten  beschreybung  etc.,  1548  bey 
Christoffel  Froschauer.  Fol.  II,  pag.  30  b.  Das  hier  in  Holz- 
schnitt beigesetzte  Gösslerwappen  zeigt  einen  im  getheilten  Felde 
des  Schildes  stehenden  Adlersfuss  und  auf  dem  Helme  einen 
zweifarbig  getheilten  Flug.  Vergl.  Leu,  Helvetisches  Lexikon 
Vni.   164  a. 

1432,  7.  Sept.,  Konstanz.  Jak.  v.  Langenhart  und  Anna 
Hartzerin,  gen.  von  Mageisberg,  seine  Hausfrau,  lassen  sich  an 
Johann  Gässler,  Mitflirweser  der  Leutepriesterei  zu  St.  Gallen, 
in  Conrad  Höron  Haus  vor  vielen  Biederleuten  vermählen.  Schrif- 
ten des  Vereins  für  Geschichte  des  Bodensees,  fünftes  Heft,  S.  66, 
Lindau  1874. 

1454.  Ulrich  Gössler,  Burger  von  St.  Gallen,  wird  zu  den 
Zwölfen  des  Kleinen  Rathes  dortiger  Stadt  gewählt.  Leu,  Hel- 
vet.  Lexik.  VIII,  169  b. 

1472.  Hans  Gessler,  Burger  von  St.  Gallen,  aus  der 
Zunft  der  Schmiden  daselbst,  (in  welcher  gleichzeitig  auch  Schwert- 
feger,  Zinngiesser,  Goldschmiede  etc.  zünftig  wären)  wird  von 
dieser  zum  Zunftmeister  und  zum  Beisitzer  des  Kleinen  Rathes 
dortiger  Stadt  erwählt.    Leu,  Helvet.  Lexik.  VIII,  178  a. 

1473.  Hans  Gessler,  genannt  Krenk,  Burger  zu  St. 
X  Gallen,  aus  der  Zunft  der  Schneidern  daselbst  (in  welche  Tuch- 
i  scherer,   Kürsner,   Färber,  Apotheker  etc.  mitgehören),  wird  von 

dieser  zum  Zunftmeister  und  zu  einem  der  zwölf  Beisitzer  des 
Kleinen  Rathes  der  Stadt  gewählt.  Leu,  ibid.  VIII,  i8oa 
und  170  a. 

i486,  13.  März.  Bürgermeister  und  Rath  der  Stadt  St.  Gallen 
übersenden  durch  ihren  Mitbürger  Virich  Gössler  von   den  Re- 


n 


398  I^«   ^^c  Gessler  von  Bnm^g  in  Geschichte  und  Sage, 

liquien  des  hl.  Gallus  dem  Erzherzog  Sigmund  und  dessen  Ge- 
mahlin Katharina.  Lichnowsky,  Habsb.  VIII,  Urkk.  No.  794, 
pag.  608  römisch. 

Virich  gösslers   Hus   im  brül. 

Verzeichniss  der  Häuser  der  Stadt  St.  Gallen  um  das 
Jahr  1470,  Hs.  im  dortigen  Stiftsarchiv.  —  Mittheill.  zur  vaterländ. 
Gesch.  von  St.  Gallen,  Neue  Folge,  i.  Heft  (1869)  S.  188,  No.  36. 

Im  lujemer  Staatsarchiv  findet  sich  in  der  Abtheilung  Appen- 
zeller-Acten  eine  datumslose  Relation  über  die  Vorgänge  in  der 
Stadt  St.  Gallen  aus  den  Jahren  1489 — 90.  Die  Bürgerschaft 
hatte  dem  Abt  Virich  VIII.  sein  Kloster  zu  Rorschach  gebrochen 
und  machte  sich  hierauf  bereit,  den  zur  Execution  gegen  sie  an- 
rückenden Eidgenossen  Widerstand  zu  leisten.  Zwar  ergab  sich 
die  Stadt  nach  rühmlicher  Ausdauer  gegen  Vertrag,  Bürgermeister 
Vambühler  jedoch  war  entkommen  und  hatte  Hilfe  bei  Kaiser 
Max  I.  gesucht.  In  Bezug  auf  diese  Sachlage,  wobei  es  aller- 
dings  zu  einer  kaiserlichen  Intervention  kam,  wird  nun  in  obiger 
Relation  Folgendes  erzählt:  Ulrich  Gössler  sei  eines  Tages 
zu  St.  Gallen  vor  dem  Kornhaus  im  Gespräche  mit  einem  Bieder- 
mann gestanden  und  habe  gesagt:  »Wir  wend  das  leben  vnd  den 
gwalt  von  den  Eidgnossen  vnd  dem  Abt  nümen  liden,  soltint  si 
den  tüffel  zum  gehilffen  nemenl  Wir  hand  hilfi*  gnug,  so  vil 
weis  ichs  sin.« 

»Item  demnach  ist  Volrich  Gössler  hinweg  geschickt  vnd  bi 
XII  Wochen  hinweg  gesin.  Nun  hat  er  denen  von  sant  Gallen  vor 
vil  erworben  hi  dem  kaiser  vnd  anderschwa;  so  er  widerkomen 
ist,  hat  ein  guter  Fründ  mit  im  geredt:  als  er  ein  guter  sant- 
galler  sig,  Si  müssint  in  grossen  sorgen  stan,  denn  die 
macht  der  Eidgnossen  sig  gros  vnd  moegent  komen  vmb  alles 
daz,  daz  si  hand.  Hat  er  (Gössler)  gesprochen:  Nützl  ich  bin 
in  grossen  geschäften  gesin  mit  grosser  Werbung,  wir  findent  hilff 
vnd  trostz  gnug,  darumb  sind  manlich  vff  dem  land  vnd  vner- 
schrockenl« 

Diese  sodann  auf  Anderes  überspringende  Relation  bemerkt 
zum  Schlüsse : 

Aber  ietz  ist  volrich  Gössler  vber  den  Bodensee  vs,  der 
guter  masen  ir  (der  St.  Galler  Bürgerschaft)  sachen  tribt. 

[Mittheil,  von  Staatsarchivar  Th.  von  Liebenau  in  Luzem.] 

1504  confirmirt  der  Fürstabt  von  St.  Gallen  dem  Amli  von 
Winkelried  das  Schlossgpit  Spisseck  sammt  Burgstall  und  Gütern, 


2.    Die  Gessler  als  schweizer  Bürger  und  Bauern  bis  heute.  iqo 

als  ein  dem  Winkelried  von  dessen  Ehefrau  Helena  Gässler  zu- 
gebrachtes Adelslehen.  (Schloss  Spisseck  an  der  Sitter,  eine 
Stunde  von  St.  Gallen,  soll  1466  dem  Ulr.  Gässler  von  St.  Gallen 
durch  K.  Friedrich  III.  verliehen  worden  sein.)  Briefl.  Mittheil, 
von  E.  F.  V.  Jenner  zu  Bern ,  Mitglied  der  schweizer,  geschichts- 
forsch.  Gesellsch.    f  1875. 


8.    Gessler  in  Schaffhausen. 

Zum  Jahre  1392  findet  sich  im  Steuerbuche  der  Stadt  Schaff- 
hausen ein  daselbst  wohnhaft  gewesner  »Gässler«  eingetragen. 
Später  ist  daselbst  und  in  der  Umgegend  dieses  Geschlecht  nicht 
mehr  vertreten.  Briefl.  Mittheil,  von  Director  H.  W.  Härder  in 
Schaffhausen,  f  5.  Sept.  1872. 

1635.  Nach  diesem  durch  eine  herrschende  Pest  bekannten 
Jahre  waren  in  dem  Städtlein  Stein  am  Rhein  mehrere  daselbst 
sesshaft  gewesne  Geschlechter  gänzlich  ausgestorben,  darunter 
auch  dasjenige  der  von  Gessler.  Fr.  Ziegler,  Gesch.  der  St. 
Stein.     Schaffhausen  1862,  S.  80. 

Charlotte  von  Schiller  (»und  ihre  Freunde.  »Stuttg.  1860. 
Bd.  I,  S.  44)  meldet  von  ihrer  1783  gemachten  Schweizerreise 
aus  Schaffhausen:  »Man  zeigte  uns  den  Anfang  des  Baues  eines 
Waisenhauses,  es  hat  seinen  Ursprung  einem  Bürger,  G  e  z  1  e  r  ge- 
nannt, zu  danken,  er  ist  Aufseher  des  Baues.«  —  Der  Genannte 
ist  der  Stadtbauherr  und  Professor  Christoph  Jetzier  gewesen,  der 
den  dritten  Theil  seines  Capitalvermögens  an  Stiftung  und  Bau 
eines  Schaffhauser  Waisenhauses  vergabte  und  dasselbe  auch  vol- 
I  lendete,  durch  den  Neid  der  Mitbürger  aber  aus  seiner  Wirksam- 
keit verdrängt  wurde,  f  1791. 


9.    Gessler  im  Bernerlande. 

141 4.    Johannes  Gessler,  Leutpriester  in  Huttwil. 

J.  Nyffeler,  Heimatskunde  von  Huttwil,  Bern  1871,  177. 

1528.  Johann  Gessler,  Kirchherr  in  Bümplitz,  unterzeich- 
net alle  Artikel  der  Berner  Reformations-Disputation.  M.  v.  Stür- 
1er,  Actenstücke  z.  bern.  Reformat.-Gesch.  I,  550. 

Vor  nun  einem  Menschenalter  hat  zu  Moosseedorf  bei  München- 


400  ^I*   ^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage, 

buchsee  einBauemgeschlechtGessler  in  einem  alten  Wohnhause 
gelebt,  welches  daselbst  jetzt  noch  deh  Namen  Gesslerstock 
trägt.  Der  letzte  der  Familie  war  ein  umherziehender  Pferdearzt 
und  Kaltschmied  gewesen.  Briefl.  Mittheil,  von  Ed.  Langhans, 
Pfarrer  in  Münchenbu^hsee.  Man  vgl.  Durheim,  Bern.  Ortschafts- 
Lex.,  und  Gatschet,  Ortsetymolog.  Forsch,  i,  S.  7. 


10.    Irrthümlich  als  Gessler  Zubenannte. 

1595.  Benedikt  Gessler,  Conventuale  zu  Disentis  in  Grau- 
bünden, verfasst  eine  handschriftliche  Chronik  dieses  seines  Klo- 
sters. Haller,  Schweiz.  Biblth.  III,  No.  1272.  Egb.  v.  Mülinen, 
Prodromus  einer  schwz.  Historiographie  1874,  28. 

1604,  26.  Aug.  Peter  Gessler,  Ritter,  Landammann  und  Ge- 
sandter des  Landes  Uri.  C.  v.  Mohr,  Denkwürdigkeiten  des  For- 
tunat  V.  Juvalta.  Chur  1848,  21;  dasselbe  wiederholt  in  Sprecher's 
V.  Bernegg  Bündnergeschichte,  Chur  1856.    I,  43. 

1670 — 75.  Kasp.  Roman  Gessler  von  Uri,  Theol.  Dr.,  Pfar- 
rer in  Bussnang.     Kuhn,  Thurgovia  Sacra  i,  60. 

Unzweifelhaft  gehören  hier  die  beiden  letztgenannten  dem 
Urnergeschlechte  der  Gisler  an. 

Gessler,  ein  katholisches,  tagwen-berechtigt  gewesnes  Land- 
leutengeschlecht  im  Glamerlande,  nun  ausgestorben.  (Ohne  Zeit- 
angabe.)   Jahrb.  d.  histor.  Vereins  v.  Glarus.  Bd.  i,  Heft  8,  S.  116. 


IIL 

Yerzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen 

Gessler'schen  Linien. 


I.    Die  Gessler  von  Ulm  und  Augsburg. 

1292 — 1871. 

(Die  hier  mit  einem  *  bezeichneten  Regeste  werden  der 
brieflichen  Mittheilung  des  Herrn  Prof.  Dr.  Fr.  Pressel  zu  Ulm 
auf's  angelegentlichste  verdankt,  welcher  dieselben  theils  in  dem 
Ulmer  Stadtarchive,  theils  in  den  Collectaneen  des  f  Würtemb. 
Prälaten  Joh.  Christoph  von  Schmid  aus  Ulm  erhoben  hat.) 

*  1292  Amman  von  Reysenspurg,  genannt  Gässler. 

*  1337  Konrad  Rulle  der  G e s s  1  e  r ,  Conr.  und  Heinrich  seine 
Söhne;  Johannes,  Hartm.  und  Reinart,  Ulrichs  des  Gesslers 
sei.  Söhne;  Joh.  der  Gessler,  Johannes  des  Gesslers  sei.  Sohn; 
Sizzo  der  Gessler. 

1344,  7.  März,  München.  Kaiser  Ludwig  der  Baier  genehmigt 
die  Anweisung  von  550  Pf  Heller,  welche  sein  Sohn  seinem 
Wirthe  Otto  dem  Bezzerer  und  Johann  dem  G  e  z  z  e  1  e  r ,  Bürgern 
zu  Ulm,  gegeben  hat.  —  Böhmers  Regest.  K.  Ludwigs,  no.  2428. 

*  1361  Heinrich  der  Gessler. 

*  ^366,  23.  April.  Hans  der  Gösseler,  der  Alte,  Burger 
zu  Ulm,  besiegelt  daselbst  den  an  das  dortige  Spital  gemachten 
Verkauf  des  Hofes  von  Obern  Bubenshain.  Das  Siegel  hängt.  — 
no.  109  der  Ulmer  Archivs-Regesten  von  Fr.  Pressel,  in  den  Ver- 
handlungg.  des  Vereins  f.  Ulm  und  Oberschwaben,  Drittes  Heft, 
S.  49.    Ulm  1871. 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  26 


A02  II«   Die  Gesslcr  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

*  1372,  30.  Sept.  Agnes  von  Augsburg,  Bürgerin  zu  Ulm, 
vermacht  dem  dortigen  Stadtspital  Haus  und  Hofreiti:  ^guae  est 
Sita  iuxta  domum  Renhardi  dicti  Gösseler.<L  Verhandll.  d.  Vereins 
f.  Ulm  und  Oberschwaben.     Drittes  Heft,  S.  54,  no.  135. 

*  1374,  4.  Sept.  Hartmann  der  Gessler,  Ammann  zu  Ulm, 
sitzt  zu  Gericht  daselbst  auf  dem  Kaufhaus  und  besiegelt  mit 
eine  Urkunde.     Das  Siegel  hängt.  —  ibid.  S.  55,  no.  141. 

*  1380,  4.  April:  Ulrich  Gessler,  Pfarrer  zu  Ulm.  — 
ibid,  S.  57,  no.  152. 

*  1394,  27.  Okt.  Lutz  der  Gesseler  ist  Mitsiegler  beim 
Verkauf  eines  Hofes  zu  Stainhain  an  das  Spital  der  Stadt  Ulm.  — 
ibid.  S.  61,  no.   178. 

1 396  Ulrich  Gessler,  Fatricius  Ulmens.  et  Canonicus  Augusiens, 

—  Mich.   Praun,   Beschreib,  der  adel.  und  erbar.  Geschlechter  in 
den  frey.  Reichsstädten.     Kempt.  1667,  8°.  pag.  63. 

*  1399  Hans  G.  und  seine  Hausfrau  Elisabet  die  Rötin. 
1401    Mont.   n.    Valentin,   Rotenburg  a.  Nekar.  —  Hans  der 

Gessler  v.  Ulm  und  Ulr.  v.  Rot  empfangen  von  Herzog  Leopold 
V.   Oesterr.   die  Veste   Rietheim  zu  Lehen.  —  Staatsarchiv  Bern. 

—  Mitthl.  durch  Th.  v.  Liebenau,  Staatsarchivar  zu  Luzern. 

1404,  4.  Sept.  Tann.  —  Hrzg.  Friedrich  v.  Oesterr.  belehnt 
Luczen  Gessler,  Burger  zu  Ulm,  mit  dem  Weiler  Betlishausen 
und  dem  Hofe  zu  Kissendorf,  des  Gesslers  Erbe  von  seinen 
Brüdern  Hans   und  Peter.  —  Lichnowsky  VI,   Urkk.   pag.   XXI, 

no.  639  n. 

« 

*  1406  Lutz  G.  und  seine  Tochter  Engle. 

*  1415  Agathe  G.,  Hausfrau  des  Christoph  von  Freiberg. 

*  1419  Lutz  und  Hans  G.,  Gebrüder,  Burger  zu  Ulm.  Ihre 
Mutter  Ursula,  in  zweiter  Ehe  mit  Konr.  Schwingrist,  welcher 
Burger  zu  Ulm  wird. 

*  1419  Ulrich  G.,  Domherr  zu  Augsburg  und  Pfarrer  zu 
Ukn;  sein  Bruder  Lutz  G.,  Burger  zu  Ulm. 

1424  Jost  Gessler  v.  Ulm,  Domherr  zu  Augsburg,  Regest. 
Boica  XIII,  298. 

1425,  24.   Sept.  — 'Bürgermeister,  Räthe   und  Richter   von 
Ulm,    unter  denen  als  sechster  Ludw.  Gessler  angeführt  steht,, 
bevollmächtigen  den  Dr.  Heinr.  Neidhard,  das  von  Papst  Martin  V. 
genehmigte,  mit  der  Abtei  Reichenau  unterhandelte  Abkommen' 
zur  Erledigung  zu  bringen,   nemlich  die  Ulmer  Pfarrkirche   von 


i 

j 


3.    Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Linien.      ^03 

genannter  Abtei  zu  eximiren.  —  Verhandll.  des  histor.  Vereines 
für  Ulm  und  Oberschwaben  1869,  Heft  i,  Anhang  S.  16, 

*  1425  Hans  G.,  Sohn  des  Luz  G.,  verheiratet  mit  Elisabet 
Eberhartin  von  Halle. 

*  1427  Luz,  Hans  und  Jos  die  Gessler. 

*  1438  Heinrich  der  G.,  —  Hermann  G.,  Ritter. 

*  1439  Ulrich  der  G.  von  Günzburg.  —  Luz  G.  und  dessen 
Sohn  Hans. 

*  1441  Hans  G.,  Ammann  zu  Günzburg. 

1447  Leonardus  G  e  s  s  e  1,  J^.  C/,  Licentiatus,  Diaconus  et  Canonicus 
Augustänus.  —  1452:  Vicarius  Officialis  zu  Augsburg,  Probst  i'm 
Stift  Häbach.  —  1443:  Derselbe  ist  Canonicus  am  Stifte  Frei- 
singen; 1453,  IG.  September:  »Meister  Lienhart  Gessel,  tumherr 
vnd  obrister  schuolmeister  zu  Augsburg,«  urk.  Zeuge.  (Chmel, 
Fmtes  rer,  Austriac,  II,  S.  173.)  —  1457  resignirt  er  das  Freisinger 
Canonicat  zu  Gunsten  des  Sebast.  v.  Ebenheim.  —  1460  ist  er 
Archidiakonus  am  CoUegiatstift  St.  Moriz  zii  Augsburg,  vermacht 
der  Kathedrale  daselbst  Reliquien  aus  dem  Jungfrauenheere  der 
hl.  Ursula  und  einen  beträchtlichen  Baarfond  zu  seiner  Stiftung 
zweier  jährlich  abzuhaltenden  Kirchenprozessionen,  stirbt  1465. 
lieber  ihn  handeln ,  nachfolgende  Autoren  und  Werke.  Corbinius 
Khamm:  Hierarchia  Augtisiana,  pars  I,  pag.  546  und  570.  — 
Mathias  Lederer:  Chronologia  Augustano  -  EcclesiasHca  etc,  seu 
Decanorum  et  Praepositorum  majoris  Ecclesiae  August.  Series,  — 
Typis  Lab  hart  (1770)   fol. 

*  1452  Johann  G.,  Bürger  zu  Ulm,  hat  den  Pfarrsatz  zu  Bühel. 
1458  bis  1472  ist  Martha  Gessler  von  Ulm  Priorin  in  Medin- 

gen.    Jahresbericht  des  hist.  Vereins  f.  Schwaben-Neuburg  185 1, 

pag.  7- 

»Anno  dni.  1462.  Hans  Gessler«  Grabmal-Inschrift 
und  Wappenschild  im  Münster  zu  Ulm.  Der  Schildgrund  blau, 
der  Schrägbalken  gold,  das  Hirschgeweih  fünfendig  und  roth,  der 
dritte  Zinken  jedoch  schwarz.  Briefl.  Mitthl.  v.  Herrn  Prof. 
E.  Manch  in  Ulm. 

1462  war  Andreas  Truchsess,  ein  Edelmann,  der  zu  Augsburg 
im  Kriegsdienste  der  Stadt  mit  4  Rossen  lag,  dem  Leonharten 
Gessel,  Domdechanten  zu  ULFrau  daselbst,  in  sein  Haus  gefallen, 
hatte  die  Schlösser  erbrochen  und  da  Sackmann  gemacht.  Der 
Rath  liess  ihn  fangen,  thürmen  und  Urfehde  schwören.  ^Der 
techant,  dem  die  schmachheit  geschehen  ist,   ist  zwar  ein  reicher 

26* 


AO/L  n.   Die  Gesskr  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

pfaff,  als  reich  als  ir  kainer  in  der  stat,  von  grossem  gold,  silber 
und  guetem  gewand  und  ein  voller  kocher«  (er  ist  gleichwie  ein 
mit  Pfeilen  gespickter  Köcher).  BurkardZink,  Augsburger-Chronik; 
C.  Hegel,  Städtechroniken  Bd.  V,  268. 

1467,  20.  Nov.  Kaiser  Friedrich  IV.  gestattet  dem  Hans 
Gessler  von  Ulm  in  dem  Dorfe  Bühel  ein  Gericht  als  sein  Reichs- 
lehen zu  besetzen.     Chmel,  Regest,  über  Friedrich  IV.,  no.  5260. 

1474,  12.  Aug.  Kaiser  Friedrich  IV.  verleiht  dem  Hans 
Gessler  das  von  dessen  Vater  ererbte  Reichslehen:  einen  Hof 
zu  Albrechtshofen  und  die  Mühle  zu  Haslach.  Chmel,  Regest 
1.  c.  no.  6918. 

1487,  28.  Sept.  K.  Friedrich  IV.  ertaubt,  dass  vorgenannter 
Gessler  seiner  Ehefrau  Felicie  auf  erwähnte  zwei  Güter  eine  Heim- 
steuer von  500  Gl.  verschreiben  möge.     Chmel,  1.  c.  no.  8158. 

1490  wurde  Hans  Gessler  zu  Augsburg  als  Schüler  des 
Ludw.  Schonauer  vor  dem  Handwerke  der  dortigen  Malerzunft 
losgesagt.  Er  war  mehrere  Jahre  daselbst  thätig,  ist  aber  im 
dortigen  noch  vorhandnen  Malerbuche  nicht  unter  den  Todten 
eingetragen.   Nagler,  Die  Monogrammisten,  Band  3,  no.  968. 

1492,  26.  Juni,  Linz.  Kaiser  Friedrich  bevollmächtigt  den 
Johann  Gessel,  kaiserl.  Kammer-Prokuratorfiskal  zu  Regensburg, 
ein  Geschäft  daselbst  zu  untersuchen  und  zu  ordnen.  Chmel, 
Regest,  no.  8809.  Lichnowsky,  Habsb.  Bd.  8,  Urkk.  pag.  707, 
no.    181 1.  — 

1500  ca.  Felix  Faber,  Dominikanermönch  zu  Ulm,  f  1502, 
verfasst  daselbst  den  Tractattts  de  civitate  Ulmensi,  handelt  darin 
von  der  sechsfachen  Ständeordnung,  nach  welcher  im  15.  Jahrh. 
die  Ulmer  Bürgerschaft  gegliedert  war,  und  zählt  unter  deren 
dritten  Klasse,  welche  von  Mutter  oder  Vater  her  adeliger  Ab- 
kunft zu  sein  hatte,  das  Ulmer  Geschlecht  der  Gessler  mit  auf. 
Verhandll.  des  Hist.  Vereins  für  Ulm  und  Oberschwab.  1870, 
Heft  2,  S.  37. 

1522,  29.  Okt.  Die  Familie  Gessler  hat  sich  nebst  andern 
Ulmischen  Geschlechtern  im  Kriege  gegen  Frankreich  durch 
treues  Festhalten  an  Kaiser  und  Reich  hervorgethan  und  erhält 
dafür  von  Kaiser  Karl  V.  eine  Adelsconfirmation.  Crusius, 
Schwab.  Chron.  II,  283.  Praun,  adel.  Geschlechter  in  den  Reichs- 
städten 187 — 192. 


3>    Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Liaien.       ^05 

G essler:    Satyrisch- moralisches    Allerlei.     Ulm  1762,    drei 
Theile. 

Gässler,  Taglöhner:   Ulmer  Adressbuch  von  1870.     S.  87. 


2.   Die  Gessler  in  Markdorf  und  Ravensburg, 

1372— 1859. 

1372,  15.  Sept.  Hermann  der  Gessler  von  Marchdorf 
und  Heinz  Vitz  von  Sanwalshofen  erkaufen  an  diesem  Orte  ge- 
meinsam das  Benzengut,  welches  ein  theilweises  Lehen  von  Hans 
dem  Truchsess  zu  Waldburg  ist,  um  85  Pfd.  Pfenn.;  und 

1378*  13«  Sept.  empfängt  obiger  Herm.  Gessler  dieses 
Benzengut  als  Werdenbergisches  Lehen  von  Graf  Albert  zu 
Heiligenberg.  Pupikofer,  Regest,  des  thurgau.  Stiftes  Kreuzungen, 
no.   233   und  244  im  II.  Bd.  der  Regesten  der  Schweiz.  Archive. 

1382.  Hermann  Gesslers  Erben  vergaben  vorgenannten 
Hof  dem  Stifte  in  Kreuzlingen  zum  Danke  für  die  Aufnahme 
und  Pflege,  welche  hier  Hermann  G.  gefunden.  Pupikofer  1.  c. 
no.  249. 

1438  Lutz  Gässler,  Stadtamann  zu  Ravensburg,  ist  Mit- 
begründer der  dortigen  Adelszunft  Zum  grauen  Esel.  Eben, 
Gesch.  v.  Ravensb.  I,  487.  495. 

1483  gründet  Dr.  Johannes  Gässler  von  Ravensburg,  als 
gewesner  Pfarrer  zu  St.  Jost  daselbst,  eine  Bruderschaft  für 
sterbende  Pilger  (Mone,  Oberrhein.  Ztschr.  12,  34),  Er  hatte  148 1 
an  der  Universität  Tübingen  gemeinsam  mit  Rudolf  Engelhard 
von  Gessler  studirt  (Crusius,  Schwab.  Chronik  III,  117).  In  dem 
bis  zum  Jahre  1504  reichenden  Nekrologium  des  bei  Ravensburg 
gelegnen  Prämonstratenser-Klosters  Weissenau  (genannt  Minor 
augia,  Minderau)  steht  er  als  Abt  eingezeichnet:  Commemoraüo 
Joh.  Gässler  de  Rcojcnspurg  ^  Abbaus  huj\  monasterii,  obiit  j.  April 
I4gg,  sui  regiminis  anno  77.  (Mone  Ztschr.  8,  320.)  Als  geist- 
licher Liederdichter  ist  er  erwähnt  in  Mone's  Latein.  Hymnen 
3,  527.  Ueber  ihn  handelt  nachfolgende  Druckschrift,  welche 
verzeichnet  steht  in  G.  Veesenmeyers  Miscellaneen  (Nürnb.  181 2) 
S.  161:  »Von  sant  Vrsulen  schifflin.  Getruckt  zu  strass- 
burg  vff  grüneck  von  meister  bartholomeus  küstler.  In  dem  iar 
M.CCCC.xvij«  (d.  i.  1517).  Hier  wird  obiger  »Johannes 
Gössel  er,    pfarher   vnn   Doctor  zu  sant   iost  zu  Raffenspurg,« 


^o6  II«    pie  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

gerühmt  als  der  die  geistliche  Bruderschaft,  genannt  der  ster- 
benden Menschen,  gestiftet  hat,  dem  unerachtet  aber  in  allen 
seinen  Messen  auch  der  Bruderschaft  St.  Ursula  ernstlich  gedacht 
und  »das  Liede  vber  sant  Vrsulen  ^schifflin€  gedichtet  hat  sammt 
den  musikalischen  Noten  dazu.    Die  zwei  ersten  Strophen  lauten: 

Ein  zyt  hört  ich  vü  guter  mär 

Von  einem  sch3rfflin  sagen, 

Wie  es  mit  tugenden  also  gar 

Köstlichen  war*  beladen. 

Zu  dem  schyfilin  gewann  ich  ein  herz, 

Ich  fand  darin  vil  guter  gemerz 

In  mancher  hande  Gaden. 

Diss  schyflflin  ist  ein  bruderschaft, 

Zu  strassburg  ufgestanden. 

Hat  ein  karthuser  gut  besacht 

Mit  aller  tugenden  banden, 

Dem  höchsten  gott  zu  lob  und  ehr 

Der  mutter  sin,  samt  vrsulen  beer. 

Den  'iunkfrowen  allesampte.  ^ 

Von  Joh.  Gösseler  und  dessen  Lied  von  sant  Vrsulen 
schifflin  handelt  Weller,  Repertorium  fypographkum,  no.  Il3. 

15x6  bis  1537:  Johann  Gessler  von  Ravensburg,  verehlicht 
mit  Elisabeth  Elebog.  —  Wiedemann,  Oesterreich.  Vierteljahrs- 
schrift f.  kathol.  Theol.  1870,  pag.  49. 

1517  stiftet  Gabriel  Gässler  an  die  Ravensb.  Pfarrkirche 
85  Pfund  etc.  zu  einem  ewigen  Jahrtag.    Eben,  1.  c.  II,   191. 

1676,  29.  Aug.  ernennt  und  beglaubigt  der  Konstanzer 
Bischof  Franz  Johann  als  Visitatoren  des  zum  KonstanzerrSprengel 
gehörenden  Secularclerus :  Den  Suffragan  Georg  Sigismund,  den 
Dr.  Joh.  Christ.  Krenkel  und  Dr.  Franz  Leop.  Gessler.  Fünf- 
ortischer  Geschichtsfreund,   Bd.  28,  S.  66, 

Gessler,  der  Wirth  zur  Lochbrücke,  einem  Vergnügungs- 
orte bei  Friedrichshafen  am  Bodensee,  wird  in  der  Umgegend 
scherzhafter  Weise  »Herr  Landvogt«  betitelt.  Sein  Sohn  ist 
sesshaft  in  dem  würtemb.  Pfrd.  Schlier,  i'/a  St.  von  Ravensburg. 
—  Schnars,  Der  Bodensee  1859.  2,  92. 


3.    Verzeidmiss  der  in  Deutschland  ansissigen  Gessler' sehen  Linien.       ^f 

-3.   Urkundliche  Gessler  im  übrigen  Schwaben. 

1362.  Laut  Urkunde  verkauft  im  obigen  Jahre  Heinrich  von 
Tettingen  an  Rudolf  von  Honburg,  Landcomthur  zu  BcSimen, 
und  an  Eberhard  von  Küngsegg,  Comthur  ;in  der  Mainau,  die 
hörigen  Leute  zu  Hedingen,  worunter  sind  »Adelhait  Gäss- 
1er in  und  zwai  irü  kind«  Diese  Urkunde  wird  dann  durch 
Bruder  Heinrich  von  Schletten,  Landcomthur  von  Elsass,  Burgund 
und  Schwaben,  am  19.  Nov.  1405  dem  Abt  Friedrich  und  dessen 
Convent  von  Reichenau  vorgelegt  und  von  diesen  bestätigt, 
Dr,  K.  H.  Frh.  Roth  von  Schreckenstein:  Die  Insel  Mainau 
(Karlsruhe  1873),  S.  35^— 353  und  371. 

1396,  26.  Sept.  Die  Stadt  Groningen  verschreibt  sich  dem 
Grafen  Eberhard  v.  Würtemb.,  nimmermehr  der  würtemb.  Herr- 
schaft sich  zu  entfremden.  Sämmtliche  Stadtbürger  sind  hiebei 
namentlich  aufgezählt  und  darunter :  Der  Nibelungin  Söhne  Cuntzlin 
Niblung  und  Haintz  Niblung,  der  Pfister;  Haintzlin  Gessler, 
der  Krioll.  Chr.  Fr.  Sattler,  Gesch.  v.  Würtemb.  unter  den  Graven 
n,  S.  21  (zweite  Aufl.). 

1401,  4.  April.  Heinrich  von  Meckingen,  Ritter,  urkundet, 
dass  er  mit  Herrn  Heinrich  von  Schletten,  Landcomthur  in  Hsass- 
Burgund  und  (iomthur  zu  Mainau,  einen  Tausch  abgeschlossen 
habe  wegen  seiner  Hofstatt  zu  Ruchahusen  gelegen  (heute  Rohe- 
hausen  im  Amt  Konstanz),  die  gehört  hat  in  das  Gut,  welches 
vor  Zeiten  Hans  Gas s  1er  besessen,  gegen  eine  andere  Hofstatt 
zu  Ruchcihusen,  die  dem  Hause  Mainau  gehörte  und  auf  welcher 
Cuntz  Zymmermann  gesessen  war.  Roth  v.  Schreckenstein,  Die 
Insel  Mainau,  S.  367. 

143 1.  Johann  Gessler  von  Tettnang,  Lcutpriester  in 
St.  Gallen.  Wegelin,  Die  Pfarrkirche  St.  Laurenzen  in  St.  Gal- 
len, pag.  26. 

1450  ca.  Margaretha  Gessler,  Gemahlin  des  Hans  von 
Prassberg.  Schilling  von  Cannstadt,  Greschlechtsbeschreib.  der 
Familie  von  Schilling,  pag.  234. 

1467,  17.  Febr.  Villingen.  Konrad  Stöckli,  Scbultheiss  zu 
Villingen,  beurkundet,  dass  vor  ihm  an  offnem  Gerichte  da- 
selbst Barbara  Gessler  ihrer  Mutter  Barb.  Rieser,  fiir  den 
Fall,     dass   die    Tochter   früher    ab    sterbe,    mit    Verwilligung 


jj08  n.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte. und  Sage. 

des  Johanniter  Comthurs  Wilh.  Spät  den  Leibgedingzins  von  jähr- 
lich 32  GL,  welchen  sie  bei  den  Johannitern  dieser  Stadt  erkauft 
hatte,  vermacht  habe.  Es  siegeln  der  Schultheiss  nebst  Lorenz 
Arnold  und  Hans  Egenheimer,  den  Vögten  beider  Frauen, 
Dienstag  nach  Invocavit.     Mone,  Oberrh.  Ztschr.  8,  246. 

1500 — 1517.  Johann  Gesseler,  Pfarrer  zu  Geisslingen. 

Panzer  meldet  in  iseinem  »Heinrich  Bebelc  (Augsburg  1802) 
S.  28,  Bebel  habe  ein  Epitaphium  auf  Johann  Casselius  oder 
Gesseler,  einen  ehemaligen  Pfarrer  zu  Geisslingen,  im  Jahre  1517 
verfertigt,  als  auf  ebendenselben,  welchen  Bebel  im  Jahre  1504 
Johann  Kössler  nenne;  dieses  lautet  (pag.  73) : 
Epitaphium  Joannis  CasseUi  Gyslingensis  sacerdotis  Anno  Dni.  MDXVIL 

Qui  coluii  semper  praecepia  scUubria  Chrisü 

Presbyter:  et  ejus  vita  prohata  fuit^ 
Qui  coluit  Musas:  et  docti  carminis  auctor 

ExHtit:  hac  Vrna  Casselius  tegitur, 

H,  Bebeüus  faciebat. 

Ein  an  diesen  Kössler  gerichtqjtes  Epigramm  findet  sich  in 
Bebeis  Oratio  ad  Regem  Maximilianum,  1504;  [ibid,  73)  und  ist 
überschrieben:  Ad  Johannem  Kösler  Gysiingensem  sacerdotem. 

In  Weyermanns  Nachrichten  von  Gelehrten,  Künstlern  etc. 
aus  Ulm  (1798)  pag.  261  soll  Gesslers  Tod  in's  Jahr  1500  ver- 
setzt sein. 

1560  an  St.  Johannis  Sonnenwende  verkauft  Wolf  Caspar 
von  Horkheim  an  Thomas  Gessler  zu  Haunsheim  ein  Haus 
sammt  Stallungen,  Stadeln,  3  Juchart  Acker  und  ein  Tagwerk 
Wiesen  um  200  Fl.  baar  und  900  Fl.  Schuldbrief;  Originalurk.  im 
Haunsheimer  Archiv.  Wirtembergisch  Franken  v.  1870, 
Ztschr.  Bd.  8.  Heft  3,  Seite  495. 

162 1  — 1655.  Ueber  diese  Jahre  fuhrt  Georg  Gaisser  II. 
aus  Ingoltingen,  würtemb.  OA.  Waldsee,  als  nachmaliger  Abt  zu 
St-  Greorgen  im  Schwarzwalde  (3  St.  hinter  Villingen),  ein  Tage- 
buch, worin  das  Schicksal  des  St.  Georgischen  Pfarrdorfes  Ingol- 
tingen und  deren  Bewohner  während  des  30jähr.  Krieges  vielfach 
erwähnt  ist.  Mone  hat  es  im  2.  Bd.  der  Quellensammlung  der 
Badischen  Landesgesch.  zum  Abdruck  gebracht,  und  nach  diesem 
sind  die  hier  unten  folgenden  Paginas  notirt.  Es  ist  hier  wieder- 
holt die  Rede  vom  Klosterboten  Johannes  Gessler: 


3>    Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Linien.       aoq 

1637,  II.  Nov.  Venit  Ingoltingä  Gessler,  ferens  literas  ex  Ur- 
springen  a  conventu  et  confessarw  etc.  Mone,  Quellensammlung  der 
Bajdischen  Landesgesch.  2,  342. 

1643,  25.  Merz.  Supervenit  Joa,  Gessler,  notißcans  spoUationem 
Ulms  loci  a  Geilingensibus  militibus  factam  21.  März.  Mone,  ibid. 
S.  419. 

1646,  14.  Oct.  Interim  huc  venit  Joa,  Gessler  cum  famulo  fratris 
mei,  adducens  aliquot  pecora,  quandoquidem  omnia  rapinis  militum  in 
partibus  illis  circa  Bihracum  essent  exposita,  ibid.  pag.  460. 

1654,  10.  Sept.  Revertitur  Joa,  Gessler  renuncians,  magistrum 
Urspringensem  2,  die  Septemb,  iter  Oenipontanum  ingressam  cum  suo 
(Economo  et  organicine,   ibid.  pag.  516. 

1648  wird  in  Folge  des  Westföl.  Friedens  das  Gotteshaus 
St.  Georgen  von  Oesterreich  an  Würtemberg  abgetreten.  Abt 
Georg  Gas s er  und  seine  Conventsgeistlichkeit  erhält  jedoch  die 
Erlaubniss  in  der  Vorderösterreich.  Stadt  Villingen  zu  verbleiben, 
wo  ihm  die  Bürgerschaft  den  Bauplatz  zu  einem  grösseren  Gottes- 
hause und  einem  Schülerconvict  anweist.  Marian,  Austria  Sacra 
I,  290. 

1755.  Andreas  Gessler,  Lauingens.f  Th,  Baccalaur.f  Secre- 
tarius  Capituli  RurcUis  Blaubeüren,  natus  1683,  Farochus  in  Hart- 
hausen  7  an,  loc.  Cath,  Filial.  in  Eggingen,  Ehrenstein^ 
Einsingen,  Ermingen  et  Stafelkingen, 

Catcdogus  personarum  ecclesiasticarum  et  locorum  Diacesis  Con- 
stantiensis.      Ex    typograph.    Episcop,    (Constanz)    apud  Ant,  Labhart 

755.  4°.  pag.  42. 

Josephus  Gessler,  Horbens,,  natus  171g ,  Parochus  inBihl, 
Capituli  Ruralis  Rottenburg  ad  Niccarum.    ibid.  pag.   195. 

Das  Würtemb.  Staatshandbuch  von  1869  verzeichnet 
nachfolgende  23  Beamtete  des  Namens  Gessler: 

Gessl.er,  würtemb.  Minister  des  Innern,  geadelt. 
—  Dr.  Th.  von,   früher  Kanzler  der  Universität  Tübingen,  seit 
1869  Kultusminister,   Bruder  des  vorigen.*)     Th.  v.  Gessler 
und  Fricker:  Gesch.  der  Verfass.  Würtembergs.   Stuttg.  1869. 


*)  Laut  eigenhändigen  Schreibens  unterm  28.  Juli  1870  durch  den  königlich 
würtembergischen  Kultusminister  Herrn  Dr.  Th.  v.  Gessler,  Excellenz,  stammt 
dessen  Familie  aus  Augsburg,  und  zwar  von  Jak.  Gessler,  einem  Färber,  welcher 
dorten   am   4.  Febr.  1624   sich   verehelichte;    ein   anderer    desselben   Geschlechtes 


AiO        ^      n.   Die  Gessler  Ton  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Gessler,  Domänendirector. 

—  Postsecretär.    Diese  bisher  Genannten  sämmtl.  in  Stuttgart, 

—  Stadtpfarrer  in  Owen,  OA.  Klirchheim. 

—  Schultheiss  in  Wolpertschwende,  OA.  Ravensburg. 

—  »  »   Hirschlatt,  OA.  Tettnang. 
Gössler,  Oberlehrer  in  Nürtingen. 

—  Helfer  in  Brackenheim. 

Der  gefälligen  Mittheil,  des  Hn.  Hugo  Bazing,  kgl.  O.  Justiz- 
raths  in  Ulm,  sind  nachfolgende  weitere  Nummern  aus  Würtem- 
berg  zu  verdanken: 

I  Gässler  in  Herbrachtingen. 

8  „  „    Sontheim  an  der  Brenz. 

^  »  »   Vaihingen  an  der  Enz. 

3  Gessler  in  Horb;  ein  vierter  ist  als  Seidenfabrikant  vor 
ca.  20  Jahren  von  Horb  nach  Tettnang  gezogen.  Ein  Gressler 
von  Tettnang  erhielt  1867  die  goldne  Preismedaille  bei  der  inter- 
nationalen Hopfenausstellung  zu  Hagenau.  Die  Gessler  zu  Tett- 
nang werden  hier  frühzeitig  genannt:  1431  ist  Johann  Gessler  von 
Tettnang  Leutpriester  in  St.  Gallen.  K.  Wegelin,  Die  Pfarrk. 
St,  Laurenz  in  St.  Gallen,  pag.  26. 


4.    Gessler  im  Breisgau. 
1361— 1865. 

1361,  27.  Okt.    Freiburg  im  Breisgau. 

Die  in  der  Stadt  Freiburg  neugegründete  bürgerliche  Gesell- 
schaft »Ze  dem  Govchc  (zubenannt  nach  dem  Gukuksbilde  des 
Eckhauses  in  dortiger  Gauchgasse)  erlässt  unter  obigem  Datum 
Satzungen  über  ihren  Verein,  als  dessen  sechstes  Mitglied  unter 
37  Mitgesellen  genannt  ist  der  from  vnd  bescheiden  Johans 
der  Gesseler,  zugleich  Mitbesiegler  der  Urkunde.  Dieser 
Verein,  welcher  gleichzeitig  neben  der  städtischen  Adelsgesellschaft 
»Zum  Ritter«   daselbst  bestand,   hat  sich  bis  zum  Jahre  1741  be- 


wird daselbst  im  15.  Jahrhundert  als  städtischer  Baumeister  genannt.  Im  vorigen 
Jahrhundert  wohnte  diese  Gesslerische  Linie  im  Hohenlohenschen ,  sie  fährt  das 
den  schweizer  Gesslern  zuständige  Wappen,  ohne  angeben  zu,  können,  von  wel- 
cher Zeit  an  dasselbe  bei  ihr  in  Gebrauch  gekommen  ist. 


3.    Verzeichniss  der  in  Deutschlaüd  ansSssigen  Gessler' sehen  Linien.       ah 

hauptet.  —  Heinr.  Schreiber,  Gesch.   der  St.  Freiburg  i.  Breisg. 
n,  260.    Urkundenbuch  I,  Abthl.  i,  S.  483—486. 

1384,  30.  Mai.  Die  Gesellschaft  zum  Gauch  in  Freiburg, 
unter  deren  Mitgliedern  HeinrichGesseler  mit  aufgezählt  ist, 
errichtet  neue  Zunftsatzungen.     Schreiber,  Urkkb.  IL  i,  S.  37. 

1 384,  24.  Oct.  Laut  Uebergabe  des  Dinghofes  zu  Hecklingen 
(im  Bad.  A.  Kenzingen)  durch  Grafen  Konrad  von  Tübingen  an  das 
Kloster  St.  JJlrich  auf  dem  Schwarzwalde,  haben  unter  den  Zins- 
leuten dieses  Hofes  »des  Gesselers  Erben«  sechs  Viertel  Weins 
von  sechs  Mannshauet  (circa  ein  Morgen)  Reben ,  sodann  fünf 
Schill.  Geldes  und  einen  halben  Saum  Weins  von  zwei  andern 
Gutsantheilen   daselbst  zu  entrichten.     Mone,  Ztschr.  17,  S.  328. 

1 3^6»  9-  Heumonat :  Burkard  G  e  s  se  1  e  r  von  Breisach,  gefallen 
auf  österreichischer  Seite  im  Treffen  bei  Sempach.  Vgk  unter 
dem  genannten  Datum  die  Gessler-Regesten. 

^399*  2.  Jänner.  Ueber  die  von  dem  Bürger  J.  Sattler  zu 
Freiburg  seinem  Bruder  Konrad,  dem  Johanniter-Prior  daselbst, 
für  eine  Schuld  von  47  M.  S.  verschriebnen  Jahreszinse  im  Banne 
von  Schliengen  ist  mit  noch  Anderen  Zeuge:  honorabilis  vir  Hein- 
ricus  Gcessler  de  Friburg,     Mone,  Oberrhein.  Zeitschr.  16,  234. 

1493.  Hein  ricus  Geszler  von  Fryburg  im  Breisgau  ver- 
fasst  das  Werk:  »Rhetorik  vnd  Briefformular  Wie  man  einem 
yecklichen,  was  würden  vnd  Stands  er  ist,  schryben  soll.  Usw., 
Hab  ich  Heinricus  geszler  von  Frybui^,  schuler  der  keyserlichen 
rechten,  mein  erfarenheit,  so  vss  des  adels  zucht,  u.  s.  w.  jn  diss 
buchlj  geformt.  1493,  10.  Merz.  Strassburg,  Johannes  Prüss.«  [Hain, 
Repertorium  I.  2,  no.  7516.]  Der  Verf.  nennt  sich  in  den  Urkk. 
seines  Formelbuches:  Heinr.  Gessler  v.  Friburg,  burger  zu  Co- 
stantz;  Unser  frauwen  Schreiber  zu  Costantz;  Legist,  fursprech 
des  grossen  Rats  strassburg  1485 ;  ebenso  1492  fursprech  zu 
strassburg.  Er  sagt ,  er  publiciere  die  seit  30  Jahren  am  Ober- 
rhein, in  Schwaben  und  Elsass  gesammelten  Erfahrungen.  Er 
starb  1519  zu  Freiburg  an  der  Pest.  [Dr.  Rod.  Stintzing,  Handb. 
der  populär.  Lit.  des  römisch-kanonischen  Rechtes  in  Deutschland, 
P*^-  323 — 326.]  Eine  von  ihm  als  kaiserl.  Notar  gemachte  Ab- 
schrift einer  vom  26.  Juni  1 506  datirenden  Urkunde  ist  abgedruckt 
in  Mone's  Ztschr.  18,  S.  474. 

1558.  Johannes  Gessler,  gebürtig  von  Horb,  studiert  zu 
Tübingen   Theologie,   tritt   in  den  Deutschorden,   wird  der  erste 


412  II*    I^ic  Gessler  von  Branegg  in  Geschichte  und  Sage. 

reformirte  Pfarrer  zu  Weil,  im  Bad.  Amt  Lörrach.  —  Joh.  Chr. 
Sachs,  Einleit.  in  die  Gesch.  der  Markgrafsch.  Baden  (Carlsruhe 
1770)  IV,  114.  —  C.  G.  Fecht,  Die  bad.  Amtsbezirke  Waldshut, 
Seckingen  u.  s.  w.,  S.  434. 

1865.  C.  Gessler,  Dekan  und  Pfr.  in  Gurtweil,  Capitels 
Waldshut.  —  Freiburger  Diöcesan- Archiv  1865,  Bd.  i,  pag.  XVIIa. 
Verzeichniss  der  Mitglieder  des  kirchlich-histor.  Vereins  für  die 
Erzdiözese  Freiburg  i.  Br.,  im  Jahre  1872,  Seite  VIII. 

Gessler,  im  Karlsruher  Namensbuch  vom  Jahre  1856,  S.  44. 


5.     Gessler   im  Elsass. 
1271  (1249) — 1761. 

1271,6.  Juli.    Basel.    Johannes    Marschalch,    Schultheiss   zu 
Sulz    (jetz.  Cantons  -  Hauptort  im   elsass.  Depart.  Oberrhein)    be- 
stätigt,   dass  Jakob  von  Reginsheim  (Rixheim),   Sohn  Ruodegers 
des  Reichen  {Dwiäs),  Bürgers  zu  Sulz,  seine  im  Friedkreise  dieser  I 
Stadt  gelegnen  Weinberge,  welche  25  Schatz-Reben  betragen,  der  . 
St.  Leonhardskirche  zu  Basel  um  25  Basl.  Pfund  und  eine  Karrate  i 
Weines   verkauft  hat.     Vier  von  diesen  Schatz-Reben'  grenzen  an 
diejenigen  Hedwigen  der   Gesslerin,  adjacent  prope   Hedewigin  dir 
Gesselcrin,     TrouiUat,  Monuments    de   Vhist   de  ÜAncien  J&v^chi  dt 
Bäle.  II,  no.  162.     [Schatzreben  sind  ein  Landmass  zinspflich- 
tiger Rebgüter,  mlat.:    scaücum,  entgegen  den  mit  Spanndiensten 
belasteten.      Eine  Kar  rate    ist  ein    Fuder   Weines;   carrata  Ug- 
norum,  i.  e.  unum  fuder  holzis.    Urkunde  von  1280.    Maurer,  Dorf- 
verfassung I,  234.] 

1337*  20.  Dez.   Konrad  von  Ilzach,  Ritter  und  Schultheiss  zu 
Mülhausen,    sowie  dessen  Bruder  Fritschmann  und  Dietrich  vom 
Huse,  sind  zu  dritt  Schiedsmänner  im  Streite  der  Stadt  Mülhausen 
und  der  Cisterzerabtei  Lützel,    Basler  Bisthums,   über  Eigenleute,  ] 
die   sie  beiderseits  zu  Luterbach  für  sich  ansprechen;  von  diesen  | 
werden   der  Stadt  2  Familien  und  3  Personen  zugesprochen,    der  ; 
Abtei    drei    Personen;     unter    den    letzteren    ist    genannt    Eisin 
Ge(n)selerin.     TrouiUat,  Monum.  III,  pag.  479. 

1372,   I.  April.    Hanebach  von  Wattwiler,   Jakob   G es  1er 
von  Gebwiler  sammt  Ehefrau,  und  Peter  Lütold  von  Mülhauseii  ; 


i 


3.   Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Linien.       41 3 

sind  Eigenthümer  des  Erbzinses  der  bei  Klein-Lutterbach  liegenden 
Mühle  sammt  Feldern  und  Wiesen,  und  bestreiten  der  Abtei 
Lützel  das  gleiche  Anrecht,  von  welcher  diese  Mühle  dem  Müller 
Wegelin  bereits  zum  Erblehen  gegeben  ist.  Der  Basler  bischöfl. 
Official,  als  Vertreter  der  Rechte  der  Abtei,  fordert  obige  drei 
Mithaften  auf,  der  Abtei  deren  Theil  des  Mühlen-Erbzinses  zu 
entrichten,  unter  Androhung  des  Kirchenbannes.  Trouillat,  Monum, 
IV,  pag.  724. 

1372,  27.  April.  Jeckelin  Gesseler,  Burger  von  Geb- 
wiler,  verkauft  seinem  Mitbürger  Clowelin  Schietken  zu  dessen 
Schwester  Gerschin  Händen  einen  Jahreszins  von  10  Basler  Solidi, 
angewiesen  auf  4  Schatz*)  Reben,  gelegen  im  Banne  von  Sulz, 
um  den  Preis  von  9  Basl.  Pfund.  Siegler:  Der  Amtmann  von 
Gebwiler.     Trouillaty  Monum.  IV,  pag.  726. 

1393,  12.  Nov.  Gebwiler  im  Elsass.  Wilhein,  Edelknecht  und 
Schultheiss  zu  Gebwiler,  fertigt  und  siegelt  eine  Erbverleihung  von 
Weinbergen,  geschehen  von  Johann  von  Kecz,  demLandcommenthur 
des  Deutschordens  zu  Gebwiler,  an  vier  mit  Namen  aufgeführte 
Bürger  daselbst.  »Hiebi  worent  in  gerichte  Peter  Gesseler 
der  underschulthesse,  Rutsche  Gesseler  sin  brüoder;«  folgen  noch 
fünf  andere  Bürger  als  Zeugen.  Archiv  Karlsruhe.  Mone,  Ober- 
rhein. Zeitschr.  VIII,  187. 

1398.  Enderlin  Gesseler,  zum  Bürgermeister  der  Stadt* 
Mülhausen  erwählt.    Leu,  Helvet.  Lexik.  XIII,  358  b. 

Das  Geschlecht  Gesseler  ist  in  Mülhausen  vor  1551  aus- 
gestorben und  zudem  auch  seine  Genealogie  beim  Brande  des 
vorderen  Rathhauses  1551,  31. Jan.,  sammt  dem  Alt.  Bürgerbuche 
verloren  gegangen.  Der  St.  Mülhaus.  privilegirtes  Bürger- 
buch   bis    1798,    herausgegeben   von  Nikolaus  Ehrsam,    Stadt- 


•)  Das  aestimium  als  Ackermass  wurde  deutsch  mit  Schatz  übersetzt,  von 
schätzen.  Ein  hs.  Feldmessbüchlein  zu  Kolmar  von  1596  enthält  darüber  Fol- 
gendes: »I  tagwen  matten,  i  juchart  reben,  i  juchart.veldacker  soll  jedes  9  schätz' 
gross  sein,  i  schätz  ist  i  rute  breit  und  30  raten  lang,  i  juch  velts,  holz  oder 
ackerreben  soll  6  schätz  gross  sein ,  30  raten  lang  und  6  breit.«  Dieses  Acker- 
mass, heute  noch  im  Elsass  gebräuchlich,  erscheint  daselbst  schon  im  ii.  Jahr- 
liundert  urkundlich;  eine  Handschrift  des  Klosters  Rheinau,  No.  81,  aus  dem 
II.  Jahrhundert,  schreibt  S.  378  in  einer  elsass,  Schenkung:  dederunt  undecim 
scazza  et  duo  jugera,     Mone,  Bad.  Urgeschichte  2,  52. 


^I^,  II.    Die  Gcssler  toxi  Bmn^g  in  Geschichte  und  Sage. 

archivar.    Gedruckt  bei  Rissler  1850  (S.  23  und  417).   Das  Werk 
kam  nicht  in  den  Buchhandel. 

V.  J.  1405 — 1555  werden  im  Summarischen  Inventar 
des  Strasburg,  bischöfl.  Archivs  die  von  den  dortigen  Bischöfen 
vergabten  Lehen  und  bewilligten  Renten  verzeichnet;  darunter: 
Fiefs  Gessler  etc.;  InvesHture  (funbün  sis  ä  Griesheim,  accordie  par 
Vevique  Erasme  ä  Frangois  Gessler,  —  L.  Spach:  Inventaire' 
Sommaire  des  archives  dipartementales^  Tom,  III,  fol.  94.  Der  mit- 
genannte Strassb.  Bischof  Erasmus  von  Limburg  schrieb  1549^ 
4.  Febr.  eine  Kirchensynode  nach  Zabem  aus  (Schöpflin,  Alsat, 
Diplom,  no.  1471,  iom.  II,  pag.  466)  und  starb  1568.  Marfan 
Austria  Sacra  I,  2.  pag.  146.  Griesheim,  wo  Franz  Gessler  Lehen 
tnig,  gehörte  zum  Breisgau:  Alsat.  Illustr,  I,  647. 

1434  ca.  Dis  sint  die  Güter  vnd  zinse  jn  der  phlege  ze 
Sultze  jn  dem  Elsasz.  Henni  Gaeszler  der  müUer  sol  ierlich 
(zinsen)  vj  fs.  dn.  von  zwein  schätz  reben  vnd  von  einem  garten 
bi  der  müli  zwüschen  den  wassern.  Das  Zinsbuoche  miner 
gnedigen  frovwen  ze  Küngsvelden,  Blatt  106  einer  von 
Einer  Hand  beschriebnen ,  178  rubrizirte  Folioblätter  haltenden 
Pap.-Hds.  aus  dem  Jahre  1432;  auf  der  aargau.  Kt.-Bblth.  be- 
zeichnet: MS.  Bibl.  Nov.  no.  11,  fol. 

1463.  In  dem  jor,  do  man  zait  von  der  geburt  Christi  tusent 
fier  hundert  seschtig  vnd  dry  jor,  uff  samstag  nest  noch  der  heylgen 
dry  kunigen  tag,  so  ist  zuo  wissen,  dz  ich  Tenge  Geszler 
also  ein  geschwomer  meyger  desz  dinghoffes  zuo  WilterszdorfT 
(lies  Wittersdorf),  der  do  gon  Emiingen  vnd  gon  Dagestdorff 
gehört,  bin  zuo  gericht  gesessen  .... 

zuo  wissen  ist,  das  vff  samstag  nest  vor  Tengentag,  jn  dem 
LXIII  jor,  ich  Martin  Granter,  probst  des  gotzhuss  zuo  sant 
Morand,  (bei  Altkirch)  mit  mim  meyger  Teng  Gesseler,  der 
denn  min  gesworner  meyger  ist  des  dinghoffes  zuo  Wilterszdorff, 
zuo  Emiingen  vnd  zuo  Tagstorff 

Archiv   der   Präfectur   des    Ober-Rheins.     Fonds:   Prieuri  de- 
St  Morand,  ein  Band  in  Papier  von  1420  bis  1541,  foHo  14  u.  12. 
Die   genannten   Dinghöfe   Emiingen,    Wittersdorf  und   Tagsdorf 
liegen  östlich  von  Altkirch  und  gehörten  in  die  Probstei  zu  St. 
Morand.    J.  Grimm,  Weisthümer  IV,  31. 

1465,  März.     Altkirch  in  Elsass. 

»Thenige  Gessler  der  Ziegler  vnd  jetz  geschwomer  Bott 


3.   Veneichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Linien.       ^it 

ZU  AltkilchjC  vnd  Emelin  seine  ehl.  Hausfrau,  verkaufen  dem 
Ehrw.  Hn.  Granter  (Propst  des  Gotteshauses  St.  Morand  fbei 
Altkirch)  lO  Schill.  Pfenn.  Stehler  Baslermünze  ah  ihrem  Haus, 
Hof,  Garten,  Ziegel-scheuer  und  -Ofen,  gelegen  am  Dorfe  Witters- 
dorf.    Trouillat  V,  S.  832. 

1477,  7  Cal.  Jan.,  Bologna.  Petrus  Schott  von  Strassburg, 
Student  zu  Bologna,  dankt  dem  Gelehrten  Herrn  Joh.  Gesler, 
seinem  hochgeehrten  Freunde,  für  dessen  Brief  und  die  darin  mit- 
übersendeten  Latein.  Gedichte  Geslers.  I^efrt  Schottiy  Argenünensis 
Patricü,  Juris  utriusque  Doctoris,  Oratoris  ei  Poeiae:  Lucubraciunculoi, 
Strassburg  bei  Mart.  Schott  1498,  S.  154. 

1489,  26.  Apr.  Der  päpstl.  Commissar  Raimundus  Peirand 
übermittelt  dem  Frauenconvent  zu  St.  Katharinen  in  Kolmar  des 
Papstes  Innocenz  VIII.  verliehene  Indulgenzen.  Unter  den  dortigen 
von  der  Urk.  mit  Namen  angeführten  Klosterfrauen  befinden  sich 
Soror  Margaretha  G es s  1er in  und  Soror  Barbara  Gesslerin. 

Trouillat  V,  S.  634. 

1499.  In  der  Bibliothek  zu  Zwiefalten  fand  sich  das  gegen- 
ivärtig  zu  Stuttgart  aufbewahrte  Buch:  Bernardus  über  florutn, 
Paris.  Philippus  Figoucheius,  impensibus  communihus  eiusdem  et  Durandi 
Gtsleri,  almae  universitaüs  Paris,  librariorum,  1499.  4®.  —  Nau- 
mann Serapeum  XXI,  28.  Abthl:  Intelligenzblatt. 

Gesslerus  (Gesl.),  Petrus :  Meditatio  passionis  et  resurrectionis 
iomini  nostri  Jesu  Christi,  elegiaco  carmine  conscripta,  8^,  Argent,  1578^ 


6.    Gessler  in  Alt-  und  Neu-Baiern. 

1319 — 1866. 

13 19,  8.  Mai:  Werner  Gessler,  Priester  in  Fultenbach. 
Mm.  Boica  33,  416. 

1329,  29.  Sept.    Dillingen:  Heinrich  Gessler.   ibid.  33,  533, 

1330,  20.  Juni.  Peter,  genannt  Meye,  Offula  seine  Gemahlin 
und  sein  Bruder  Dietrich  Spijs,  Edelknechte,  entleihen  von  der 
Lyeba,  genannt  Flemenzen  von  Worms,  50  Pfd.  Heller  und 
geben  ihr  davon  als  Zins  jährlich  10  Malter  Korn.  Presentibus: 
Engilmanno    dicto    Gesseler,  Joh.    de    Meckinheim,     Theoderico    de 


41 6  n.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Haselach,  miliHbus;  Theoderko  Ge sseler  et  Peiro  Gesseler,  armu 
geris  de  Lamsheim,  Cunrado  sculteto,  Heinrico  dicto  Kolhe  et  Joh,  fabro, 
hubariis  de  Wissen,  —  Mone,  Oberrhein.  Ztschr.  XXI,  192 — 193, 
Laut  Note  8  daselbst  ist  obiges  Lämbsheim  bei  Frankenthal  1 
■gelegen,  Meckenheim  und  Hassloch  bei  Neustadt  a.  d.  Hard,! 
sämmtlich  in  der  bair.  Pfalz. 

1360.     Hans  Gessler.     Mon,  Bote.  7,  182. 

1422  acht  Tage  nach  St.  Urban  wird  zu  Lindau  am  Boden- 

see  auf  dem  dortigen  Brodplatze,  an  der  Stelle  eines  dem  Ulrich! 

Gässler  zugehörigen  Weingartens,  der  Bau  des  städtischen  Rath-' 

hauses  (jetzt   ausser  Gebrauch   gesetzt)  begonnen.     Anzeiger  deSi 

German.  Museums  1873,  no.  I,  Seite  11,  Note. 

1 
1432.     Heinrich   Gesler,  Kaplan  zu  Mäsenhauseii  bei  Frei 

sing,  beendigt  die  Abschrift  der  von  Heinr.  Hellär  (13.  Jh.)  ge- 
reimten, 23,000  Verse  haltenden  Apokalypse.  Karl  Roth,  Kl. 
Beiträge  zur  Gesch.  und  Ortsforschung.  München,  1850.  I,  33. 
IX,  194. 

161 3.  Helena  Gessler,  Äbtissin  der  Franziskanerinnen  m 
Speier.  —  Remling,  Urkundl.  Geschichte  der  rheinbair.  Abteieuj 
II,  248. 

1620.  Die  Gässler  von  Klaham  gehören  dem  alt 
bairischen  Briefadel  an.  Ihr  Wappenbrief  stammt  jedoch  erst 
von  1620.  Ein  P.  P.  Gässler  war  1742  kurfürstl.  Kriegskassier; 
das  Adelsdiplom  für  Joh.  Mich.  Gässler,  Malteserordens- Amtmann 
zu  Landshut,  ist  von  1799. 

O.  T.  von  Hefner:  Bayerischer  Adelicher  Antiquarius  (1867 
II,  S.  310. 


' 


1866  stirbt  an  seinen  im  Gefechte  bei  Kissingen  gegen  die 
Preussen  erhaltnen  Schusswunden  der  bairische  Soldat  Joseph 
Gessler,  Taglöhnerssohn  aus  Haslach  bei  Dinkelsbühl.  Ztschn 
Daheim  1866,  no.  48,  Si  712.  Hier  scheint  das  Geschlecht  au5 
Würtemberg  und  zwar  aus  dem  benachbarten  Hohenlohe'schen- 
zugewandert  zu  sein. 


J 


3.   Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler'schen  Linien.       41^ 

7.    Gessler  in  Deutsch  -  Oesterreich. 

1318 — 1700. 

1334,  Vergleich  zwischen  dem  österreichischen  Herzoge 
Albrecht  und  dem  Bischof  von  Bamberg,  wobei  eines  G  e  s  s  1  e  r  s 
mitgedacht  wird,  der  in  der  Gegend  von  Villach  in  Kämthen 
drei  Schupossen  besass. 

Lünig,  Reichsarchiv  XVII,  42 — 44. 

27.  Aug.  1437,  Pfannberg.  Sigmund  Gössler,  Pfarrer  zu 
St  Veit  am  Eigen,  bekennt  mit  Lienhart  Harracher,  einem  Ritter 
und  herrschaftlichen  Pfleger  zu  Pfannberg,  nebst  noch  sechs 
andern  namentlich  angeführten  Zeugen  österreichischer  Abkunft, 
dass  der  verstorbene  Graf  Stephan  von  Montfort-Bregenz  die 
genannten  Zeugen  am  letztvergangnen  Abend  von  ULFrauen 
Schidung  vor  sich  gefordert  und  seine  damaligen  österreichischen 
Sätze  und  Pfandschaften:  die  Stadt  Fürstenfeld  und  die  Veste 
Neuenburg  in  Churwalchen,  dem  österreichischen  Herzoge  Friedrich 
dem  Jüngeren,  ohne  alles  Geld  ledig  gelassen  und  aufgegeben 
habe.     Sigmund  Gössler  druckt  sein  Petschaft  unter  die  Urkunde. 

J.  Chmel,  Materialien  zur  österr.  Gesch.  I,  Zweite  Paginirung. 
Urkundenbuch  S.  48,  no.  XXIX. 

1577.  Petrus  Gesler,  Brigantinus,  schrieb:  Elegia,  de fiUo 
frodigo  Historia,  ad  .  .  ,  Christoph  Hos,  Dmi,  Marquardi  Episcopi 
AugusUani  questorem.     Friburg.  Brisg,  1^77' 

Naumann  Serapeum  XIX,' 10. 

1600.  Wolfgang  Gessler,  Pfarrer  in  Biedermannsdorf. 
Histor.  Topographie  Oesterreichs  II,  145. 

12.  Nov.  17  .  .  obiit  reverendus  pater,  presbyter  ei  manachtis  ex 
monasterio  Altenburgensi  (Benedictinerordens  in  Niederösterreich) 
sCarolus  Gössler. 

Pangerl,  Die  beid.  ältest.  Todtenbücher  des  Benedictinerstiftes 
ßt.  Lamprecht  in  Obersteier.     Wien,  1869,  S.  213. 


8.    Gessler  in  Preussen. 
1634— 1871. 

^eopold  von  Gessler,    1634  Kaiserlicher  General-Major, 
schlägt  sich  zur  Wallenstein'schen  Partei,  wird  mit  dieser  geächtet 

R  o  c h h  o  1  z ,  Teil  und  Gessler.  27 


^l3  II*   Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

und  entflieht,  mit  seinen  bqiden  Söhnen,  dem  Major  Anton  und 
dem  Capitain  Konrad  Ernst,  unter  schwedischen  Schutz  nach 
Pommern.  Von  des  letztgenannten  Konr.  Ernst  Gesslers  drei 
Söhnen  stirbt  Rittmeister  Anton  ohne  Erben  auf  seinem  Gute 
Schwessle  in  Pommern ;  der  zweite,  Peter  Daniel,  fällt  40  Jahr 
alt,  in  der  Schlacht  bei  Höchst^dt.  Der  dritte,  Konrad  Ernst, 
wird  churbrandenburgischer  Obrist,  zieht  sich  in's  Privatleben  auf 
sein  Gut  Schwägerau  im  Kreise  Insterburg  zurück  und  hinterlässt 
aus  seiner  Ehe  mit  Gertrud  von  Gättenhofen  zwei  Söhne:  ' 

i)  Heinrich  Albrecht,  poln.  General-Quartiermeister. 

2)  Friedrich  Leopold,  preuss.  Obrist,  Chef  eines  Reiter- 
regimentes, Johanniter,  Gutsherr  auf  Schievelbein,  Kindschen, 
Gessler-Ort,  Pelau  und  Klingenberg.  Er  ist  jener  tapfere  Reiter- 
general Friedrichs  des  Grossen,  der  in  der  Schlacht  bei  Hohen- 
friedberg  am  4.  Juni  1745  an  der  Spitze  des  Baireuthischen  Dra- 
goner-Regiments 20  österreichische  Bataillone  in  die  Flucht  schlug 
und  6^]  Fahnen  nahm.  Gessler  erhielt  hierauf  die  Grafenwürde 
und  die  Zahl  6j  in's  Wappen.*)     Er  hinterliess  3  Söhne: 

a)  Georg  Ludw.  Konrad,'  geb.  1721. 

b)  Wilh.  Leop.  August,  geb.  1724. 

c)  Justus  Bernhard,  geb.  1726. 
Nach.  Wolbrechts  preuss.  Adels-Genealogie,  4n  Zedlers  Uni« 

Versallexikon  X,  1298.  Dazu:  Vehse,  Gesch.  des  preuss.  Hofes 
und  Adels  III,  249, 

Graf  Gessler,  der  Enkel  jenes  Helden  von  Hohenfriedberg, 
gehörte  dem  diplomatischen  Corps  Preussens  nach  Ausbruch  dt 
-französischen  Krieges  an  und  stand  als  Gesandter  längere  Z( 
am  sächsischen  Hofe.  Unter  den  Briefen  dieses  heisssprudelnden, 
gelehrten  und  freiheitsliebenden  Welt-  und  Lebemannes,  welche 
E.  M.  Arndt  mitgetheilt  hat,  finden  sich  die  stärksten  Expecto- 
rationen  über  Sachsens  damalige  undeutsche  Politik.  Der  Gra^ 
war  ein  Patron  des  jungen  Dichters  Theodor  Kömer  gewesen.! 
Er  starb,  über  siebenzigj ährig,  als  Junggeselle  während  deri 
Zwanziger  Jahre  zu  Schmiedeberg  in  Schlesien.  j 

Vehse,  1.  c.  V,  243.  | 


*)  Von  ihm  war  in  der  AUg.  Augsb.  Ztg.,  Jahrg.  1863  zu  lesen :  »Wenn  die: 
preussischen  Trompeter  heute  zur  Parade  blasen,  so  ertönen  dieselben  Klänge, 
mit  denen  einst  General  Gessler  die  Baireuth-Dragoner  bei  Hausdorf  vor  dem! 
Crossen  Fritz  vorüber  führte. 


3»    Verzeichniss  der  in  Deutschland  ansässigen  Gessler' sehen  Linien.       419 

Die  nachfolgenden  wenigen  Notizen  über  das  heutige  Geschlecht 
der  preussischen  Gessler  gehören  der  blossen  Zufallslectüre  an. 
Hermann  Gessler  aus  Preussen,  wo  seine  Brüder  ein  Fidei- 
Conunissgut  besassen,  war  während  des  letzten  russisch-türkischen 
Feldzuges  als  Instructionsofficier  in  die  türkische  Armee  ein- 
getreten, avancirte  zum  Range  eines  Bei,  garnisonirte  zu  Damascus, 
wo  ihn  der  Wiener  Reisende  Dr.  Frankl  kennen  lernte  und  in 
seinem  Reisebericht  (Nach  Jerusalem.  Leipzig,  1858.  i,  345) 
erwähnt,  und  gieng  im  Jahre  1861  aus  Kleinasien  zu  einem  Militär- 
commando  nach  Albanien  ab.    Allg.  Augsb.  Ztg.  1861,  14.  April. 

Ein  von  Gessler  amtete  1859  als  preuss.  Consul  inDamascus 
(Augsb.  Ztg.  1859,  no.  243,  pag.  3960);  ein  gleichnamiger  stand 
1863  zu  Königsberg  als  Tribunalgerichts-Präsident. 


27* 


IV. 
Konrad  Gesslers  apokryphe  Chronik. 


Im  Jahre  1470  begegnet  in  unseren  Regesten  ein  Konrad , 
Gessler,  der  ein  Mönch  zu  Reichenau  und  Burger  zu  Zürich  ist, 
und  in  dem  man  jenen  angeblichen  gleichnamigen  Chronisten  zu 
suchen  haben  wird,  welchem  die  schweizerische  Geschichtsliteratur 
zwei  apokryphe  Geschichtswerke  beigelegt  hat.  Ausser  einer  an- 
geblichen Schweizerchronik,  von  welcher  sogleich  ausführlicher 
zu  handeln  ist,  soll  er  auch  ein  genealogisches,  bis  jetzt  noch 
nicht  aufgefundenes  Werk  verfasst  haben :  Conradi  Gessler  chronicon 
de  cunciis  Argoviae  nohilibus  et  civitatibus,  I.  E.  v.  Haller,  Bblth. 
der  Schwz.  Gesch.  IV,  No.  161,  371,  435,  713.  Auch  die  Fa- 
miliengeschichte der  Grafen  von  Mülinen  (Berlin  1844,  S.  3) 
legt  ihm  dieses  letztere  Werk  bei  und  setzt  den  Autor  zugleich 
bis  in's  Jahr  1280  hinauf,  indem  sie  wahrscheinlich  durch  die  An- 
gabe des  Seedorfer  Nekrologiums ,  das  mit  dem  Jahre  1115  be- 
ginnt und  einen  Konrad  Gessler  verzeichnet,  hiezu  sich  hat  be-") 
stimmen  lassen.  Vgl.  unser  Regest  von  1279,  7.  Febf-uar.  Die 
Grundlosigkeit  aller  dieser  bisherigen  Angaben  glauben  wir  nun 
im  Nachfolgenden  sattsam  zum  Erweise  bringen  zu  können. 

Der  älteste  Autor,  welcher  ausführlicher  der  Chronik  eines 
Schweiz.  Gesslers  Erwähnung  thut,  ist  Caspar  Suter  von  Horgen 
am  Zürchersee.  Dieser  Reisläufer  und  Reimpoet  stand  mit  3400 
Schweizersöldnern  unter  französischen  Fahnen  in  Piemont  und 
nimmt  hier  theil  an  der  Schlacht  bei  Carmagnola,  14.  April  iS44j 
in  welcher  die  Franzosen  über  die  Kaiserlichen  siegten.  Sei 
Lied  über  diese  „Bemunder-  (Piemonter)  Schlacht,    so   geschehe 


4.   Koniad  Gesslers  apokryphe  Chronik.  a21 

ist  im  IS44  Jahre  auf  den  Ostermontag,  vor  Carmiolen.  Im  Thon 
des  Toll-  oder  Gennouwer  Lieds  (Holzschnitt:  ein  Reitergefecht) 
Getruck  im  Jahr  Christi"  —  hält  39  neunzeilige  jambische  Reim- 
jtrophen,  anfangend:  »Im  Namen  der  heiligen  Dreyfaltigkeit,  So 
will  ich  heben  an.«  In  der  Schlussstrophe  nennt  er  sich  als  Ver- 
fasser: 

Der  vnns  diss  Lied  hat  gsungen, 

von  neuwem  hat  gemacht, 

vor  frewd  hat  er  gesprungen, 
'  bald  er  kam  ab  der  schlacht. 

Er  ist  weit  vmb  gezogen 

in  Teutsch-  vnd  Welschem  Land, 

kein  Trew  kan  er  nit  finden, 

die  Welt  ist  voller  Sünden, 

ist  Caspar  Sutter  genannt.*) 

Derselbe  Caspar  Saut  er  berühmt  sich  1549  vor  seinem 
rcher  Grossen  Rathe:  wie  ein  Schmachlied  des  Bösen  Eidge- 
ssen  Lux  Lerchers  von  Nördlingen  gegen  die  Schweizer  in 
ck  ausgegangen,  und  wie  dagegen  er  demselben  von  Zeile  zu 
ile  geantwortet  und  ihm  wohl  90  Widerstand  gethan.**)  Er 
rde  nachmals  Lehrmeister  der  deutschen  Schule  in  Zug,  ver- 
ste  hier  eine  Zugerchronik  von  Gründung  der  Stadt  bis  1580,***) 

d  schrieb  eine  grössere  Schweizerchronik  nebst  einem  Auszug 
aus.     Letzterer  ist  von  dessen  gegenwärtigem  Besitzer,  Staats- 

chivar    Theodor  v.    Liebenau,   im   Anzeiger  f.   Schweiz.  Gesch. 

65  näher  beschrieben  worden.  Durch  eben  denselben  Forscher 
später   im  luzerner  Archiv    auch    der  Brief  aufgefunden   und 

m  Verf.  dieses  gütig  mitgetheilt  worden,  worin  Suter  iAi  Jahre 

49  sein  Chronikwerk  der  luzerner  Regierung  käuflich  anbietet. 

hannes  Stumpf,  sagt  er  da,  habe  in  seiner  Chronik  zu  vielerlei 
atsachen  ausgelassen;    er,    Suter,    habe    dagegen    sein   neues 

erk  um  mehr  als   50   schweizerische   Stürme,   Schlachten  und 

eifzüge  vervollständigt,   habe    sämmtliche  eidgenössische  Ver- 

mnisse  und  Bündnisse,   vom  ersten  Bundesschwure  der  drei 


11     *)  .Liliencron,  Histor.  VolksU.  IV,    No.  508.     Dasselbe  Lied  findet  sich  auf 

If  aargauer  Kt.-Biblth. :  »Rariora  I,  8°,  No.  6.« 

1     **)  Schweiz.  Museum,  Jahrgang  1795,  S.  654. 

r  **•)  Handschrift  40  im  Kloster  Einsiedeln.     Vgl.  Archiv  d.  Reformat.-Gesch., 

lisgabe  vom  Schweiz,  Piusverein  III,  S.  80. 


422  II'    I^ie  Gtesslef  von  Brtfnegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Länder  an  bis  auf  die  gegenwärt^  mit  König  Heinrich  von  Frank- 
reich geschiossne  Einigung,  mit  aufgenommen  und  27  verschiedene 
Chroniken  dazu  benutzt.     Bis  auf  300  Kronen  habe  er  unter  Ar- 
muth  auf  diese  Sammlung  verwendet^  den  i — 100.  Bogen   davon-, 
fertig  geschrieben ,   und  sie  bereits  von  Ort  zu  Ort  angetragen/ 
jetzt  wünsche  er  sie  gegen   Mühentgelt    der    luzerner    Regierung 
zu  überantworten.    Eine  von  ihm  hier  zuerst  benützte  Quelle  sei  | 
jene  alte,  erst  während  des  Sempacherkrieges  im  Schlosse  Reusseg  | 
aufgefundene  Chronik,  »welche  der  Her  gässler,  der  dasSchloss 
Scharffenstein  geschlissen  und  daraus   die   Stadt   Meienberg    mit  | 
Mauern  und  Thürmen  aufgebaut  hat,  habe  schreiben  lassen.     Was  : 
der  luzemer  Regierung  an  seiner  Arbeit  etwa  missfalle,  z.  B.  die  Er- ! 
wähnung  der  Religionssatzungen,  oder  sein  Bericht  vom  Cappeler  | 
Religionskriege  und  von  der  neuen  Bibel  (der  Zürcher  Reformirten), 
das  Alles  möge  die  Obrigkeit  mindern,  mehren,  anders  stellen  oder 
auch  ganz  durchthun:    damit   darin   nichts   zu   der  fünf    kathol. 
Orte  ewigem  Ehrengedächtnisse  Diensames    verunwerthet    stehe» 
In   solchem  Tone  völliger  Gewissenlosigkeit  schrieb   damals  ein 
Zürcher,  wenige  Jahre  nach  seines  Landes  Kirchenreform  und  aa, 
deren  ungestümste  Widersacher,  so  gänzlich  waren  diese  Chronisten 
blosse  Lohnschreiber  und  Ohrenmelker,  ad  demulcendos  aures 
Nobilium.   Da  Suters  Chronik- Auszug  den  Gessler  zur  Quelle  der 
vaterländischen  Geschichtskunde  macht,  so  kann  er  denselben  in 
der  Rolle  des  von  Teil  Erlegten  freilich  nicht  mehr  verwerthen^ 
an  der  betreffenden    Stelle    fügt   er  daher  kleinlaut  hinzu:  „Von 
thel    und    dem    grisler^   etlich  schribent,    er   hab    gässler 
g'heissen,  des  geschlechtz,  so  diu  vogti  Grüningen  vnd  raperschwil 
ing'hept  haben,  ouch   zuo  Meienberg  schloss  vnd  stat  ing'hept.c 
Dass  Suter  dies  sein  Opus  in  Zug  abgefasst  habe,  besagt  der  In- 
dex   einer    Zuger    Stadtchronik  (in  Zuriaubens  Stemmatographie, 
Bd.  92,  S.  311)  ausdrücklich:  »ao.  1549,  Schulmeister  Sutters  von ; 
da    vorhabende    Schreibung    einer    Eidgenöss.    Histori.«      Eben 
daselbst  und  aus  derselben  Quelle,  deren  Suter  sich  bediente ,  ist 
die   Gessler-Chronik   selbst    entstanden,   denn   diese,    um    es  j 
kurz  zu  sagen ,   ist   nichts  anderes  als  eine  in  der  Zuger  Familie  '■ 
Koli  von  mehreren  Gliedern  dieses   Geschlechtes   vor  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  begonnene  und  bis   in's  17.   Jahrhundert  fortge- 
führte Zuger  Stadtchronik.     Ihre   Entstehungs-  und  Ergänzungs- 
weise liegt  uns  pjprsönlich  in  fünferlei  verschiedenartig  concipierten 


4-    Konrad  Gesslers  apokryphe  Chronik.  ^  j 

Handschriften  vor,  welche  zusammen  dem  aargauer  Staatsarchifve 
und  der  Kantons-Bibliothek  angehören,  und  über  ihre  Entstehung 
keinen  Zweifel  lassen.  Drei  davon  sind  mit  der  Handschriften- 
Sammlung  des  Baron  von  Zurlauben  aus  Zug  an  die  aargauer 
Bibliothek  gekommen,  zwei  andere  waren  Eigenthum  der  nach 
Aarau  versetzten  Bibliothek  des  Klosters  Muri  gewesen.  Die 
ältere  der  ersten  beiden  Handschriften,  ein  schlecht  geschriebener, 
stark  abgegriffener  Folioband,  trägt  den  Namen  ihres  Verfassers 
>Lazarus  Koli  von  Zug«  (über  ihn  nachher)  und  besagt  Bl.  8b 
»Herr  Cunrat  Gässler,  Freyherr  zuo  Meyenberg  im  Ergöuw,  hat 
mit  siner  hand  von  jm  und  sonst  vil  alter  gschichten  in  ein 
gross  buch  gschriben.«  Die  jüngere,  eine  höchst  sauber  gehaltne 
Abschrift,  i8  doppelt  beschriebne  Folioblätter  stark,  ist  enthalten 
in  Zurlaubens  Monumenta  Helvetico-Tugiensia ,  toin,  JII,  i$2 — 168, 
läuft  bis  2.  Februar  1700  und  giebt  die  Schlussnotiz,  dass  ihre 
£inzeichnungen  vom  Jahre  1682  an  entnommen  sind  der  Chronik 
s  Zuger  Statthalters  Brandenberg.     Die  dritte  Handschrift  liegt  • 

zu  Aarau  in  dreierlei  Exemplaren  vor:  No.  i  und  2  sind 
igenthiim  der  dortigen  Kantonsbibliothek,  bezeichnet  MS.  Bibl. 
ur.  No.  61  Fol.,  und  MS.  Bibl.  Zurl.  No.  61  Fol.  —  No.  3  ist 
ine  blosse  Abschrift,  liegt  im  aargauer  Staatsarchiv,  enthalten 
Documentenbuch  R.  III  des  Archivs  Muri.  Das  zweite  dieser 
ei  Exemplare,  für  unser  Thema  das  massgebende,  ist  betitelt 
Chronik^der  Stadt  Zug«  und  hat  auf  der  innem  Deckelseite  fol- 
nde  Einzeichnung :  »Disses  Buch  ist  geschriben  durch  mich 
anss  Khollj,  Landtschriber  zu  Zug,  vnd  ist  angefangen  1587, 
t  der  Mütt  Kernen  155  batzen,  das  Malter  Haber  160  batzen.t 
Dieses  ebenerwähnte  Abfassungsjahr  steht  dann  S.  4  in  den  Ini- 
tialbuchstaben des  dortigen  Capitels  noch  einmal  sorgfältig  hinein- 
geschrieben.  Wir  müssen  uns  mit  dem  genannten  Verfasser  einen 
jAugenblick  bekannt  machen,  denn  schon  sein  Vater,  er  selbst 
|Uid  sein  Sohn  sind  zu  dritt  Zuger-Chronisten.  Die  Kolin  gelten 
b  Zug  als  die  älteste  Familie  und  sollen  daselbst  seit  dem  Jahre 
I387  die  Pannerherren- Stelle  bekleidet  haben.  (Leonh.  Meister, 
Öelvetiens  berühmte  Männer  II,  268.)  Der  Vater  Hans  Kolin  ist 
1536  Vogt  zu  Gangolfschwil ,  1548  Vogt  zu  Steinhausen,  1569 
Pannerherr  und  des  Rathes.  Die  von  ihm  zusammengetragene 
Kuger  Stadtchronik  vererbte  sich  auf  seinen  gleichnamigen  Sohn 
flans,  den  Landschreiber,   der  1595   Vogt   zu  Gangolfschwil  war 


424  ^^'    ^^  Gessler  von  Bninegg  in  Geschichte  und  Sage. 

und  1609  in  Zug  starb*).    Wiederum  dessen  Sohn  Johann  Jakob 
hat  aus  des  Vaters  Werk  einen  Auszug  gefertigt  und  handschrift- 
lich hinterlassen:   Kurze  Beschreibung  einer  Lobl.  Eydgenozsch. 
Harkommens  etc.,   sonderlich  in  Schwiz  und  Zug    1633   (in  4^. 
Zurlauben,  Stemmatogr.  Bd.  85,  S.  129b.     Es  stimmen  nun  so- 
wohl dieses  letztere  Werk,  als  auch  dessen  sämmtliche  Vorläufer 
aus  der  Kolin'schen  Sippschaft  darin  mit  der  Chronik  des  Schul- 
meisters Suter  überein,  dass  sie  das  ihrer  Compilation  vollständig 
mangelnde  historische  Fundament  durch  die  Autorität  des  Namens 
Gessler  und  durch  dessen  angebliche   Chronik  zu   ersetzen  oder 
vielmehr  zu   decken  suchen,  daher  denn  ganz  dieselbe   Art  der 
Beweisführung  und  in  dem  gleichen  Wortlaute  bei  Suter  und  bei 
den  Kolinen.     Hans  Kolin  beginnt  mit  Zugs  Erbauung,  »deren' 
Jarzahl   ich  nienen  in  keinen  getruckten  Cronisten  finde«; 
hierauf  folgt,  »wie  der  wolgebome,  edle,  gestrenge  Herr  Cuonradt 
gässler,   Freyherr  zuo  Meyenberg  im  Ergeuw  erzehlen    und 
•  schreiben   thuet,    der    dz   Schloss  Scharpfenstein    bey  der  alte 
veste  geschlissen  und  die  Stadt  Meyenberg  gebauwen  und  gewiteret, 
mit  Muren,  Schantzgräben  und  anderen  bollwerkhen  umbfange 
Und  nach  Vollendung  dess  Buws  hat  er  gewisssaget,   dass    ne 
lieh  dise  statt,   die  letzte  im  Ergeuw  erbuwen,  aber  zum  erst 
solte  zerstört  werden ;  welches  beschehen ;  alss  die  von  Ury,  Schwi 
Underwalden  und   andere  Eidtgenossen  dorthin  gezogen,   habei 
sie  diese    Stadt   zerstört.     Diser  gemelte    Herr  hat  eine    gro 
Cronik   von  alten  geschichten,    stetten,   Schlössern    und  ande 
Sachen  lassen  beschriben,  welches  buoch   zuo  Rüseckh   giefunde 
worden  sampt  dem  Ursprung  der  Lobl.  Statt  Zug.« 

Auf  eben  diese  Stelle  haben  sich  mehrere  spätere  Geschichtsj 
werke  gestützt  und  damit  der  Handschrift    eine   Art   Bedeutu 
gegeben.     Aus  ihr  entlehnt  die  Klingenberger  Chronik  (Ausg.  voi 
Anton  Henne  1861)  eine  Reihe  von  Zuger  Rittersagen  und  pfl 
dabei  den  Gewährsmann  zu   eitleren   (pag.    12):    »wie  her  gäsl 
von   meyenberg  beschreibt«.     Noch    ausfuhrlicher    thut   dies  d 
Luzerner  Stadtschreiber  Rennw.  Cysat.     Derselbe  war  nemlich  i60| 
in  Amtsgeschäften  nach  Zug  gesendet  worden,  hatte  sich  dasei 


♦)  Leu,   Helvet.  Lexik.  Suppl.  III,    kennt  ihn  und  sein  Werk   und  fügt  bei, 
die   von   ihm  verfasste  Chronik  sei   eigentlich  ein  Auszug  und   Continuation  d( 
Chronik  des  Conrad  Gessler,   mit  Beifügung  des  Gesetzbuches  von  Stadt  un( 
Amt  Zug  von  dem  Jahre  1566  bis  1591. 


4*    Koniad  Gesslen  apokryphe  Chronik.  a2C 

vom  5.  bis  10.  October  aufgehalten  und  hier  Auszüge  über  die 
Ortsgeschichte  gemacht ;  in  seinen  auf  der  Luzemer  Burger-Biblioth. 
übenden  Handschriften  (MS.  L,  pag.  158)  hat  er  das  vorhin  ge- 
gebene ,  Cit^t  der  Gesslerchronik  folgendennassen  ausgesponnen : 
>Vss  dem  Zugerbuch  Lazari  Kolis.  Herr  Conrat  Gässler,  fryherr 
vnd  gesessen  zu  Meyenbei^,  Ein  gelerter,  beläsener,  wol  erfamer 
Mann,  ouch  liebhaber  der  geschrifften ,  hatt  von  eigner  Hand  vil 
historien  diser  Landen  In  ein  gross  buch  geschriben,  besonders 
von  der  Statt  Zug  vnd  Iren  Gschichten ,  wöllichs  harnach  vff  der 
Veste  Rüsegk  funden  worden.  Diser  H.  Gässler  war  der  Herr- 
schaft österych  Rhat  vnd  Landvogt  Im  Ergöw,  Hess  das  Schloss' 
Scharpfenstein  by  der  alten  Veste  zu  Meyenberg  Erbuwen  vnd 
erwytteren,  ouch  mit  graben,  Muren  vnd  Thürmen  vmfachenc. 
—  Auch  Franz  Guillimann  aus  Romont  im  Kanton  Freiburg,  bezieht 
sich  in  zweien  seiner  Werke  auf  diese  Gesslerchronik:  I?e  rebus 
Helvetiorum  {4.^  Friburg  1598)  lib.  III,  caf,  VII;  \xtA  Habshurgica 
(40  Mediol.  1605)    üb,   IV,  cap.   III   (in    Thesauro   hist.   Helvetkae), 

Neu  wird  die  Mittheilung  sein,  dass  auch  Aegid  Tschudi  die- 
selbe Chronik  besass  und  für  den  Entwurf  seines  eignen  Werkes 
benützte.  Unter  seinen  Sammelschriften,  die  uns  in  den  fünfziger 
Jahren  vorgelegen  hatten,  fand  sich  nemlich  folgende  von  Tschudi's 
Hand  geschriebene  Notiz:  »Uss  einer  geschrybnen  Chronica, 
;die  myr  Lazarus  Choli  von  Zug  geliechen  (in  Parenthese:)  1598«. 
I  Dieser  genannte  Lazarus  Kolin  (I.)  war  1585  Pannerherr  und 
des  Rathes  in  Zug,  starb  1605,  und  hatte  einen  gleichnamigen 
I  Bmder  Lazarus,  zubenannt  Nüeri,  der  ebenfalls  Panner-  und  Raths- 
;herr  war  und  161 2  starb. 

Alle  diese  Spezialitäten  entnehmen  wir  der  Genealogie  des 
Kolin'schen  Geschlechtes,  welche,  vom  Jahre  1387  bis  1748  ent- 
worfen, sich  findet  in  Zurlaubens  Helvet.  Stemmatographie  Bd.  7, 
S.  706 — 711;  Bd.  6y,  47b;  und  in  desselben  Verf.  Turri-Laubiani 
Stemmaiis  Cartae  genealogicae,  tom,  VI,  pag,  J75  (letzterer  Band  ist 
auf  der  aargauer  Kt.-Bblthk.  bezeichnet :  MS.  Bibl.  Zurl.  No.  35). 
Zurlauben  war  seit  1754  mit  Maria  Elisabeth  Kolin  verheiratet, 
daher  sein  diesem   Geschlechte  gewidmeter  genealogischer  Eifer. 

Nachdem  hiemit  die  Frage  über  Ursprung  und  Abfassung 
dieser  sogen.  Gessler-Chronik  erledigt  ist,  muss  erst  ein  Blick  auf 
den  Gesammtinhalt  und  die  Tendenz  derselben  geworfen  werden. 
Sie  erzählt  durchweg  Sagen;  leider  aber  keine  ursprünglichen 
Volkssagen,    sondern    fremdländische    Anekdoten,    entlehnt   aus 


/^2ß  II-    I^ie  Gessler  von  Bninegg:  in  Geschichte  und  Sage. 

Klosterchroniken  und  mit  widerwärt^er  Aufgeblähtheit  und  Igno- 
ranz angewendet  auf  das  winzige  Städtlein  Zug.  Das  Thema  ist 
die  ausdauernde  Tapferkeit  der  Zuger  Bürgerschaft  gegen  den 
umwohnenden  Landadel  und  verfolgt  den  überall  durchscheinen^ 
den  Zweck,  mittels  dieser  Erzählungen  von  Fehden  und  Mord- 
nächten den  wiederholten  Vertragsbruch  zu  entschuldigen  und  zu 
verschleiern,  dessen  sich  der  Ort  gegen  seine  herzoglichen  Herren 
schuldig  gemacht  hatte.  In  Folge  dieser  Tendenz  wird  eine  : 
Reihe  allgeniein  lautender  Tyrannensagen  in  das  kleine  Zuger-  i 
ländlein  herein  entlehnt  und  hier  nach  Oertlichkeit  und  Burgnamen 
accomodirt.  Dies  gilt  besonders  den  Schlossherren  von  Hünen- 
berg, Wildenberg  und  Sanct  Andreas,  über  welche  der  unwissende 
oder  freche  Chronist  so  berichtet,  als  ob  diese  Ritter  verschiedene  \ 
Landesdynasten  gewesen  wären,  da  sie  doch  zusammen  einem  und 
demselben  Greschlechte  der  in  der  zuger  Landesgeschichte  so  ge- 
nau gekannten  Hünenberge  angehören. 

Im  ursprünglichen  Besitze  der  Edeln  von  Hünenberg  waren 
fast  alle  nachmaligen  Unterthanenlande  der  Stadt  Zug  gewesen, 
und  ausserdem  noch  weite  Strecken  in  dem  angrenzenden  Zür- 
cher-, luzemer  und  aargauer  Gebiete.  Ihr  Name  erscheint  voff 
1096  bis  1443  in  vielen  wichtigen  Urkunden,  wo  sie  als  Zeugent 
und  Vermittler,  als  weltliche  und  geistliche  Machthaber  auftreten; 
derselbe  knüpft  sich  schon  an  die  erste  Freiheitsschlacht  bei  Mor^ 
garten,  da  Heinrich  von  Hünenberg,  Kirchherr  zu  Art,  durch  den  war- 
nenden Pfeil  dorten  die  Eidgenossen  rettete.  Ihre  eine  Linie,  ge* 
nannt  Storch,  war  zu  Luzern  verburgrechtet,  ihre  andere,  genannt 
Wolf,  zu  Zürich.  In  dieser  letzteren  Stadt  waren  schon  i35oGotfr; 
und  Peter  Hünenberg  des  Rathes,  1393  Hartmann  Hünenberg  Schult- 
heiss*),  1434  Heinrich  abermals  Schultheiss.  Siebenzelm  diesem 
Geschlechtes  sind  aufgezählt  unter  den  Wohlthätem  des  Stifte» 
Cappel,  hier  war  ihre  Familiengruft.  Noch  liegt  hier  der  Sarkophag' 
Gottfrieds  von  Hünenberg  und  seiner  Gemahlin  Margaretha  von^Frir 
dingen**).  Durch  die  Fridingen  aber  waren  die  Hünenr^ 
berge  zugleich  auch  mit  den  Gesslern  verschwägert 

Die  verschiedenen  Koline  und  ihr  Nachtreter,  der  Chronü' 
Suter,  wissen  nun  eben  so  verschiedene  als  sich  widersprechende 
Zwinghermhistörchen   über  die   Hünen*   und  Wildenberger  zu  be- 


•)  Segesser  RG.  I,  552  u.  555. 

■•)  Züricher  Antiq.  AGttheiU.  III,  pag.  10. 


X 


4»    Konrad  Gesslers  apokryphe  Chronik.  427 

richten.  In  lüsterner  Absicht  lauert  der  Schlossherr  öfters  auf 
das  Mädchen  des  Bauern  Ab  dem  Berge ,  wenn  dieses  auf  dem 
Wege  nach  dem  Zugermarkte  am  Schlosse  vorbei  geht.  Sie  klagt 
die  Nachstellung  dem  Vater ,  dieser  legt  sich  bei  der  Burg  in's 
Versteck  des  Lorze  -  Tobeis ,  ertappt  den  Wüstling,  erschlägt  ihn 
und  bringt  dessen  abgehauenen  Schenkel  auf  der  Hellebarde  nach 
Zug  zur  Schau  getragen.  Man  kann  diese  Indianer -Scene  schon 
fertig  abgemalt  sehen  in  des  Abtes  Silbereisen  illustrirter  Schweizer- 
chronik, handschriftlich  auf»  der  aargauer  Bblth.  Denselben  Burg- 
hemi  lässt  aber  Joh.  Kolin  *)  vorerst  auf  zwei  Beinen  entkommen 
uad  erst  nachmals  in  der  Fremde  abgescbUchtet  werden:  »Der 
Herr  uff  Wildenburg ,  da  er  siner  underthanen  widerspäristigkeit 
gesehen,  so  durfte  er  auch  dem  übrigen  Adel  nit  trauen,  dann 
dn  ieder  uff  sein  schantz  schaute ;  da  rüstet  er  sich  mit  hab  und 
gueth  und  fuer  nachts  heimlich  uff  Rapperschwil.  Weil  er  aber 
auch  alldort  sein  Salua  Honore  Hurery  nit  liesse,  ist  er  bald 
«m  lib  und  laben  kommen  c.  Als  Zurlauben  alle  ihm  erreichbaren 
Urkunden  für  seine  fünf  Foliobände  haltenden  Monumenta  Tugiensia 
aufsammelte,  hatte  er  im  Jahre  1761  einen  Beat  Jak.  Ant.  Hilten- 
iperger  beauftragt,  ihm  jene  Schlossruinen  zu  zeichnen  [und  die 
etwa  daran  noch  haftenden  Localtraditionen  mit  einzusenden. 
Hiltenspergers  getuschte  Federzeichnungen  sammt  beschreibendem 
Texte  finden  sich  in  tom.  I,  61 — 79  genannten  Werkes,  und  da- 
selbst steht  nun  auch  jene  Geschichte  vom  amputirten  Tyrannen- 
«chenkel,  der  Berichterstatter  fügt  jedoch  aufrichtig  bei :  »Ich  lasse 
diese  Historie  auf  sich  beruhen,  muss  aber  gestehen,  dass  ich  darüber 
gelesen  habe,  nicht  der  Schlossherr,  sondern  einer  seiner' Diener 
sei  der  Lüstling  gewesen  und  deshalb  vom  Bauern  erschlagen 
worden.  Uebrigens  haben  sich  die  Herren  von  Hünenberg  auch 
von  Wildenburg  benamsetc 

Stadiin,  der  Verfasser  der  Geschichte  von  Zug,  trägt  Bd.  III, 
155  (dieser  dritte  Band  erschien  erst  1821)  die  eben  erwähnte 
Unzuchtsgeschichte  mit  dem  Pathos  eines  Johannes  von  Müller 
vor.  Da  er  aber  schon  im  ersten  Bande  seines  Werkes  (S.  239 
bis  253)  die  Urkunden  von  I4i4bis  1416  hatte  abdrucken  lassen, 
womach    die   Edeln  von    Hünenberg  sowohl  ihr  Schloss  Wilden- 


*)  Jobannis  Kolini  Excerpta  ex  Chronicon  Gesleriano,  nunc  de  novo 
et  elegantiori  stylo  conscripta  a  Joh.  Bern.  Meyenberg,  Barensi.  Abschriftlich  in 
Ziirlaubens  Monumenta  Tugiensia  VI,  21  ff. 


428  II»  I^ic  Gessler  von  Branegg  in  Geschichte  und  Sage. 

bürg,  als  worauf  sie  damals  »sesshaft«  sind,  wie  auch  die  dazu 
gehörenden  Güter  an  namentlich  mitangefuhrte  Hünenberger 
Bauern  um  204  Goldgulden  verkaufen  und  sich  zu  Bremgarten 
und  zu  Zug  einbürgern;  so  weiss  er  mit  des  Wildenburgers  Er- 
mordung und  seines  Schlosses  Zerstörung  nichts  mehr  anzufangen. 
.Er  erklärt  daher,  der  Erschlagne  sei  nicht  der  Schlossherr  selbst, 
sondern  ein  Fremdling  in  dessen  Diensten  gewesen,  die  Burg 
aber  sei  schon  vorher  im  Sempacherkriege  gebrochen  worden. 

Die  Gemeinde  Hünenberg  verburgrechtet  sich  dann  1416  unter 
Vorbehalt  ihrer  Freiheiten  mit  der  Stadt  Zug.  Allein  schon  fünf- 
zehn Jahre  nachher  werden  diese  Freibauern  von  den  Stadt-Re- 
publikanern um  ihr  gutes  Herkommen  betrogen  und  stehen  daher 
im  Zuger  Stadtburgerbuche  als  »die  Underdanen  von  Hünen- 
berge verzeichnet.     Renaud,  Rechtsgesch.  von  Zug  (1847),  S.  14. 

Lassen  wir  den  Stadtchronisten  in  seinen  Raubrittergeschich- 
ten fortfahren.  Der  Ritter  auf  Wildenburg  pflegt  seinen  Knecht 
nach  Zug  in  die  Metzge  zu  schicken,  ohne  je  für  das  hier  geholte 
FleisJch  bezahlen  zu  lassen.  Zuletzt  fragt  der  Metzger  den  wieder- 
kommenden Kunden,  von  welchem  Stück  er  heute  begehre,  haut 
ihm,  als  dieser  abermals  aufs  Beste  deutet,  die  Hand  ab,  wirft 
sie  ihm  in  den  Fleischkorb  und  spricht:  »Gang  hin  vnd  bring 
das  dinem  herm,  ich  werd  jm  furhin  sines  Übermuts  nümmen 
gehorsam  sin.«  Vff  dis  hub  sich  der  herr  vnd  wolts  gerochen 
haben,  bis  er  gar  vmb  sin  laben  khomen  ist.  So  derzu  ge- 
schriben:  Es  sey  ein  alte  sag,  man  find  aber  nit  grundlichs  dar- 
umb.*)  Allerdings  eine  alte  Sagel  Schon  Felix  Hemmerlin**) 
lässt  auf  dieselbe  Weise  den  Koch  des  Schlossvogtes  von  Roten- 
burg in  der  Metzge  zu  Luzern  abgestraft  werden  und  die  Scene 
unter  Rudolf  von  Habsburg  im  Jahre  1291  spielen.  Man  hat  hier 
jene  bekannte,  noch  von  Fr.  Rückert •  bedichtete  Nixensage  vof 
sich;  die  fleischkaufende  Wasserfräu  bezahlt  da  den  Metzger  mit 
scheinbar  blanker  Münze,  diese  verwandelt  sich  aber  nachher  in 
blosse  Fischschuppen.  Er  haut  dafür  der  Wiederkehrenden  die- 
Hand  ab,  allein  auf  ihr  Wehgeschrei  eilen  die  übrigen  Nixen ^ 
herbei  und  lassen  durch  eine  rasch  wachsende  Wasserfluth  das^ 
Metizgerhaus  mit  Allem  untergehen. 


*)  Hans  Koly  s  Chronik,   1587  verfasst.     MS.  Bibl.  Zurl.  61,  Blatt  lob. 
**)  Dialogtts  de  Suitensibus,  gedruckt  im  Thesaur.  Hist.  Helvet  etc.  —  Tignri 
1735.  pag.  2. 


J 


4.    Konrad  Gesslers  apokryphe  Chronik.  a2Q 

Die  Edelfrau  von  PfuUendorf,  so  erzählt  der  Stadtchronist 
weiter,  wohnt  auf  der  Burg*)  in  der  Stadt  Zug  und  ist  ein  so  lecker- 
haftes  Weib,  dass  sie  den  dortigen  besten  Landwein  »Rosssaft« 
schilt  und  nichts  anderes  mehr  essen  will,  als  die  Leber  der 
Trüschen**)  aus  dem  Zugersee.  Die  verdiente  Strafe  bleibt  nicht 
aus.  Das  adelige  Leckermaul  stirbt  verarmt  im  Spital  zu  Zürich, 
ihr  Schloss  bewohnt  der  Zugerburger  Uely  Eberhard. 

Hier  sind  zwei  Sagen  aus  dem  Zürcher  und  aus  dem  Schwaben- 
lande in  eine  zusammen  genöthet.  Elisabeth  von  Matzingen,  Äb- 
tissin des  Regula-Felixstiftes  in  Zürich,  soll  nach  der  Erzählung 
dortiger  Chronisten  den  Weinberg  zur  Goldnen  Halden  am  ZoUi- 
konerberge  in  lauter  Trüschenlebern' durchgebracht  haben.  (Zürch : 
Antiq.-Mitthll.  III,  117.)  Die  gleichnamige  schwäbische  Sage  steht 
in  der  Chronik  des  Stiftes  Reichenau***):  »Es  ist  ouch  die  sag, 
das  ain  frow  (gräfin)  von  PfuUendorf  die  statt  PfuUendorf  ver- 
zert  und  verton  hab  an  trischenlebren  zuo  essen.«  Gerade  diese 
Stelle  hat  Aeg.  Tschudi  aus  Reichenauer  Quellen  (er  nennt  sie 
Gesta  Augiae)  in  seine  handschriftlichen  Excerpten  eingetragen, 
welch  letztere  in  der  Engelberger  Klosterbibliothek  aufbewahrt 
werden,  und  aus  diesen  hat  sie  Zurlauben  für  seine  Mon,  Tugiensia 
ni.  126b.  copiert. 

Mit  einem  Sprunge  geht  hierauf  der  Chronist  aus  der 
Zuger  Ortssage  über  auf  die  Unabhängigkeitsgeschichte  der 
Waldstätte,  um  dann  gleichfalls  diejenige  der  Stadt  Zug  daran 
knüpfen  zu  können.  Unter  dem  Schutzherrrn  Rudolf  von  Habs- 
burg, sagt  er,  waren  die  drei  Länder  in  guter  Hut,  nach  ihm 
aber  sind  sie  gar  streng  bevogtet  worden.  »Da  erhueb  sich  Wil- 
helm Thell  vnd  Emy  vss  Melchtal  sambt  dem  Stauffacher,  die 
fiengen  an  zum  Erst  die  Vogt  vertriben.«  Wie  stabil  nun  der 
Gebrauch  gerade  dieser  Phrase  schon  damals  in  der  katholischen 
Schweiz  geworden  war  und  wie  ganz  zwecklos  dieselbe  weiter 
angewendet   wurde,    erweist    das  Jahrzeitbuch    der   Freienämter- 


•)  Das  Haus  Namens  Burg  lag  im  15.  Jahrhundert  noch  ausserhalb  der 
Mauern  Zugs  und  war  das  städtische  Sesshaus  der  Freiherren  v.  Wildenburg ;  jetzt 
ist  es  neben  St.  Oswald  gelegen  und  heisst  noch  die  Burg.  MS.  Bibl.  Zurl. 
fol.  23,  pag.   14. 

*•)  Die  Aalraupe,  gadus  Iota,  im  Mittelalter  überaus  beliebt. 
**•)  Diese  Chronik,  seit  149 1  durch  den  Reichenauer  Stiftskaplan  Gallus  Oheim 
aus   vielerlei  Quellen    und   Chroniken  zusammen  getragen,    hat  Barak  1866  edirt. 
Unser  Citat  steht  da  auf  S.  127. 


430  II«   I^>c  Gessler  von  Bninegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Kirche  von  Vilmergen,  welches  1591  geschrieben  ist.  Dasselbe 
enthält  auf  Fol.  141  unterm  29.  September,  als  am  Feste  St 
Michaels,  folgende  mit  obiger  Stelle  wörtlich  übereinstimmende  Ein- 
zeichnung:  »1291  starb  küng  Rudolff  vnd  wurdend  die  lender  vast 
hart  bevogtet.  Da  erhub  sich  der  Stauffacher  vnd  Wilhelm  Tel! 
mit  iren  geselschaften  vnd  vertribend  die  vögt  vnd  den  gewalt.c 

Nachdem  den  Vögten  alles  Böse  nachgesagt  ist ,  Zug  die 
seinigen  erschlagen  und  vertrieben  hat ;  nachdem  sodann  der  adel- 
ige Chronist  Konrad  Gessler  dem  Städtlein  Zug  zum  Schild- 
halter gedient  hat,  niuss  derselbe  an  jener  gefährlichen  Stelle,  wo 
dem  Vogte  in  der  Hohlen  Gasse  ein  Ende  gemacht  wird,  freilich 
ganz  aus  dem  Spiele  bleiben,  weil  er  ja  schon  in  die  Urzeit  Zugs^ 
gehört.  So  wird  Gesslers  sagenhaftes  Ende  stillschweigend  um- 
gangen und  es  liegt  an  jener  Vogtsgeschichte  für  Zug  auch  nichts^ 
wenn  man  dasselbe  an  der  Unabhängigkeitsgeschichte  der  Wald« 
Stätte  nur  noch  rechtzeitig  mitprofitiren  lassen  kann.  Darum  erz 
das  Schlusskapitel  mit  schlaugemeintem  Nachdruck,  wie  Zug  135 
>genöthigt  wird,«  dem  Bunde  der  Waldstätte  beizutreten.  Es  i 
von  letzteren  belagert;  um  nun  seinem  ursprünglichen  He 
nicht  treulos  werden  zu  müssen,  schickt  es  schleunig  einen  Bot 
gen  Königsfelden  zu  Herzog  Albrecht. 

Das  Ende  ist  hier  abermals  die  allbekannte  Anekdote.  Aa 
statt  der  Bürger  dringlichen  Brief  zu  lesen,  fragt  der  Herzog  sein 
Falkner,  ob  die  Sperber  heute  richtig  gefressen  haben.  »Vff 
verbunden  sich  die  Burger  recht  starkh  mit  Eidt  vnd  pflicht  zu  d 
Eidtgnossen,  doch  ohn  entziehung  jhrer  Fryheiten,  wie  sie  va 
dem  Adel  herbekommen.  Die  Eidtgnossen  Hessen  jren  zus^ 
in  Zug,  damit  die  Zuger  nit  überfallen  wurdent  von  dem  öd 
richer  Adel,  der  noch  hin  vnd  her  streipfte.«  Diese  emöthel 
Versicherung  heisst  mit  den  Worten  der  wirklichen  Geschichi 
also.  Die  Vierwaldstätte  haben  das  Amt  Zug  gegen  dessen  AI 
sieht  gewaltsam  überzogen  und  darauf  von  sich  aus  seit  1371 
1389,  also  achtzehn  Jahre  lang,  hier  den  Ammann  gesetzt*).  Wi 
müssen,  sagt  daher  ein  einheimischer  Geschichtsforscher  **),  zweifeJ 
an  einer  Abordnung  von  Boten,  an  ihren  Gesprächen  mit  d 
Herzog  und  an   dem  Histörchen  wegen    des  Falkners.  —  G 


*)  Die  bezügliche  Urkunde  von  Mitte  März  1371  liegt  im  luzern.  Staatsarchii 
Segesser  RG.  II,  35. 

♦♦)  Prof.  Bonifaz.  Staub  von  Zug,  im  Geschichtsfreund  Bd.  8,  176. 


4«   .Koniftd  Gesslers  apokryphe  Chronik.  ^^I 

wohl;  allein  woher  doch  diese  durch  jede  Schweizerchronik  lau- 
fende Frage  des  Herzogs  i;m  seine  Sperber  ?  Es  stammt  zunächst 
aus  der  von  den  eidgenössischen  Vögten  in  den  gemeinen  Herr- 
schaften erhobnen  Abgabe,  die  das  Vogelmahl  und  die  Sper- 
bersuppe genannt  und  unter  diesem  Namen  von  Mitte  des  15. 
bis  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  fortbezogen  worden  ist .*) 
Diese  Steuer  war  aus  dem  Schutze  erwachsen,  den  der  Zwing- 
und  Grundherr,  als  alleiniger  Inhaber  der  Hochjagd,  durch  Ver- 
tilgung der  Raubthiere  der  weidenden  Heerde  der  Markgenossen- 
schaft angedeihen  liess.  Und  aus  dieser  Rechtssatzung  bildete 
nachweisbar  das  Zuger  Histörchen  sich  heraus,  sei's  missverständ- 
lich, sei's  mit  absichtlicher  Sachverdrehung.  So  ergiebt  sich  dies 
aus  der  Öffnung  des  Hofrechtes  von  Egeri.  Dieses  Weisthum,  bald 
nach  1352  niedergeschrieben,  schliesst  mit  folgender  Angabe: 
euch  hat  min  her  von  Oesternch  sin  rechtung  hie  gehebt,  do 
wir  sin  vogtlüt  warent.  das  stund  an  vier  stuckinen:  an  zins- 
habern,  an  zinspfennigen,  an  zinsvischen  und  an  der  stür.  Vnd 
wenn  wir  die  Summ  ald  die  stuck  ze  .[end]  gerichtend,  damit  sol- 
tend  wir  von  im  sin  vnzit  [bis]  an  den  hochen  wald:  das  sind 
die  sperwer,  die  sind  ouch  mins  herren.  Grimn^,  Weisth. 
I,   161. 

Durch  noch  mancherlei  kolossale  Angaben  fordert  die  Chro- 
nik unser  Erstaunen  heraus,  wie  z.  B.  dass  Cham  hundert  Jahre 
vor  Christo  zu  den  Zeiten  des  Kaisers  Wenzeslaus  zerstört  wor- 
den ist;  indess  hiemit  schon  genug,  um  die  fernere  Nachfrage 
nach  der  Gesslerchronik  überflüssig  gemacht  zu  haben.  Warum 
aber  geschah's,  dass  gerade  ein  Konrad  Gessler  von  Meienberg  zum 
Autor  dieser  Erzählungen  gemacht  wurde,  und  dass  er  sein  Werk 
gerade  auf  dem  Schlosse  Reussegg  geschrieben  haben  sollte? 
Hierauf  enthält  unser  vorliegendes  Buch  schon  eine  Reihe  erschöpfen- 
der Antworten,  und  es  genügt,  hier  nur  einige  hervor  zu  heben.  Seit 
125 1  sind  die  aargauischen  Gessler  Bürger  im  herzoglichen  Städt- 


*)  Anno  1483.  Die  zu  Wallenstadt  sollen  alljährlich  dem  Vogte  das  her- 
kömmliche Vogelmahl  auf  ihren  Alpen  geben.  Eidg.  Absch.  III.  i,  159.  — 
Die  eidgenössische  Jahresrechnung  von  1645  bestimmt  über  die  Moderation  der 
Gefälle  des  Landvogtes  in  der  Grafschaft  Baden:  Es  soll  ein  Landvogt  wegen 
des  Sperbers  mehr  nit  für  jeden  Zurzacher  Markt  verrechnen,  als  zwei  Pfund. 
Documentenbuch  des  Klosterarchivs  Muri,  Q.  I— III,  pag.  168.  Das  hds,  Ma- 
nuale des  Badener  Landvogtes  Nabholz  vom  Jahre  1724  bestimmt:  »Für  die 
Sperbersuppen  in  dem  Audienzhaus:  37  Pfund  16  Schilling. 


A72  n.  Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  nnd  Sage. 

chen  Meienberg,  seit  1369  Landvögte  daselbst.  In  dieses  Amt 
aber  gehörte  die  Herrschaft  und  Burg  Reussegg  so  gänzlich,  dass. 
alle  ausserhalb  des  Reussegger  Burggrabens  verübte  Frevel  unter 
die  Gerichtsbarkeit  des  Meienberger  Vogtes  fielen  und  dass  dieser 
hier  ausser  der  Obergerichtsbarkeit  auch  das  Verfugungsrecht 
über  die  Kriegsmannschaft  ausübte.  Nach  dem  Abgange  der 
Gessler  liegen  die  Gemeinden  des  Amtes  gegen  den  Reuss^ger 
Burgherrn  in  einem  mehrjährigen  Streite,  welchen'  Luzem,  als  da- 
maliger  Oberherr  des  Amtes,  dahin  entscheidet,  dass  alle  dortige 
Mannschaft  ausnahmslos  unter  Meienbergs  Panner  in's  Feld  zu. 
rücken  pflichtig  sei.  Die  Burg  kam  durch  Verkauf  von  deni 
Freien  von  Reussegg  1429  erstlich  an  die  zwei  Luzemer  Hans 
Iberg  und  an  den  Stadtschreiber  Melchior  Russ,  alsdann  1503  aa 
die  Stadt  selbst.  (Segesser  RG.  II,  66 — 68.)  Grundes  genug 
für  den  seine  Chronik  feilbietenden  Suter,  eben  dieser  Stadt  Lu* 
zern  ein  historisches  Compliment  zu  machen  zum  Besitze  diesen 
Burg,  zu  deren  Herrlichkeit  nun  nichts  mehr  fehlte  als  die  ad 
ihr  verfasste  Gesslerchronik. 


r 


Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  heilige 

Kümmernisskapelle. 


Ich  bin  Regent  im  Land  an  Kaisers  Statt, 

Ich  will  nicht,  dass  der  Bauer  Häuser  baue 

Auf  seine  eigne  Hand.     Ich  werd^  mich  unterstehen. 

Euch  das  zu  wehren. 

Mit  obigen  Worten  erzählt  Schiller  dem  Chronisten  Tschudi 
öach,  der  Landvogt  Gessler,  eines  Tages  durch  das  Dorf  Steinen 
im  Bezirke  Schwyz  reitend,  habe  hier  Wernher  Staufachers  neu 
gebautes  Wohnhaus  bemerkt  und  ärgerlichen  Tones  die  Frage 
gethan,  wessen  es  sei;  worauf  Staufacher  unverweilt  erwiedert 
habe:  das  Haus  sei  des  Kaisers,  sowie  Sr.  Gnaden  des  Reichs- 
vogtes Eigenthum,  er  selber  trage  es  zu  Lehen.  Gessler  habe 
sich  indessen  mit  dieser  demüthigen  Antwort  nicht  befriedigt, 
sondern  im  Wegreiten  erklärt,  ohne  seine  Erlaubniss  sei  und 
bleibe  es  den  Bauern  untersagt,  Häuser  aufzufuhren.  Tschudi, 
hierüber  weiter  berichtend  *),  bedient  sich  sofort  derjenigen  Phrase 
von  bekümmert  sein  und  seinen  Kummer  klagen,  welche 
er  in  demselben  Sachzusammenhange  bereits  bei  seinem  chronisti- 
schen Vorgänger,  dem  Schälly  von  Obwalden,  gefunden  hatte. 
Bei  diesem  macht  sich  nemlich  Staufacher  über  Gesslers  Rede 
grossen  kumber,  wird  von  der  Hausfrau  ausgeforscht  und 
gebeten,  das  er  jra  seit,  was  sin  kumber  was,   geht   auf 


*)  Erster   handschriftlicher  Entwurf  zur  Chronik,   abgedruckt  im 
Archiv  für  Schweiz.  Gesch.,  Band  19,  S.  386 — 392. 

Rochholx,  Teil  und  Gessler.  2$ 


A^A  TL    Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

ihren    Rath    nach  Uri    und    findet   daselbst    einen,    der   auch 
sollichen   Icunber  hat,    worauf  diese  Beiden  sich  zum  Fürst 
aus   Uri  gesellen  und   klagt   jekl icher    dem   andern  sin 
not  und  sin  kumber.*)     Während  wir  diesem  aufiallend  oft 
gebrauchten  Stichworte  heut  zu  Tage  nur  den  allgemeinen  BegriiF 
eines  natürlichen  Grames  beilegen,  hat  es  hier  bei  beiden  Chro- 
nisten den  besondem  einer  erlittnen,    in  Rechtskraft  erwachsnen 
Beschlagnahme  und  Behaftung,   weiter  aber  ist  es  dann  zu  jener 
sonderbaren  Heiligen  Kümmerniss  personificiert  worden,  welche 
ihre   Gläubigen    miraculös    entkümmert   und    der    drückenden 
Behaftung  wieder  entledigt.     Eben   darum    sind   dieser   Heiligen 
zwei  Wallfahrtskapellen   zu   Bürglen   in  Uri   und  zu    Steinen   in 
Schwyz  errichtet,    als   an   den   Orten,   wo   Teil  und  Staufacher , 
wohnten,   die  zwei  durch  Gessler  Bekümmerten.     Muss   es   schon! 
genugsam  befremden,  hieraus  zu  ersehen,  dass  man  die  Gründung  | 
des  Rütlibundes  abhängig  gemacht  hat  von  einer  Heiligen,  gegen  I 
die  sich  deren  eigne  Kirche  und  unsre  Muttersprache  gleichmässig  | 
sträubt,    so    geht  doch  die  Keckheit,    mit  welcher  Tschudi  hier  i 
seine  Gessler  -  Anekdote  vorträgt,   noch  viel  weiter  und  es  bleibt  | 
geradezu  unbegreiflich,  dass  ihn  deshalb  nicht  schon  seine  eignen  j 
Zeitgenossen    entweder    zurecht    gewiesen   oder    verlacht  haben ; 
sollen.     Sahen   sie   doch   in  diesem  Märchen  keineswegs  ein  ver- 
meintliches  Beispiel   des    über   den   bäuerlichen  Wohlstand    aus- 
brechenden groben  Adelsneides,   sondern  nichts  anderes  als  die 
von  ihren  einheimischen  Satzungen  dictierte  und  von  ihren  selbst- 
gewählten Ammännem  correct  voUzogne  Amtshandlung.     Zwei- 
mal  war  Tschudi   Landvogt    der  Altgrafschaft  Baden   gewesen, 
von  1533  bis  35,   und  von  1549  bis   51;   er  musste   als   solcher 
das  dem  Gessler  nur  einmal  in  den  Mund  gelegte  Urtheil   amts- 
gemäss  und  auf  Grund  des  Landrechtes  selber  und  so  oft  sprechen^ 
als  der  gleiche  Fall  vor  dortigen  Grafschaftsgerichten  anhängig 
war.    Dies  lässt  sich  aus  gleichzeitigen  und  aus  späteren  Erkennt- 
nissen der  Obrigkeit  darthun. 

Am  16.  Juli  1596  verklagt  die  aargauer  Gemeinde  Alikon^ 
im  Kreise  Meienberg  in  den  Obern  Freiämtern,  ihren  Mitbürger 
Hans  Huwiler  an  der  Tagsatzung  der  Schirmorte  zu  Frauenfeld, 
weil  derselbe  »seiner  vielen  Buoben  und  Meitschinen  wegen«  ein 
neues  H'aus  ohne  Bewilligung  der  Ortschaft  zu  bauen  begonnen. 


*)  Chronik  des  Weissen  Buches,  Sonderabdruck  durch  G.  v.  Wyss,  S.  7. 


i 


r  5.    Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  hl.  Kümmernisskapelle.  A^t 

i 

Der  Entscheid  hiess:  Das  neue  Haus  solle  als  keine  »Ehrenhof- 
statt«, sondern  als  ein  »unehrliches  Haus«  gelten,  und  so  es  ver- 
brenne oder  sonst  zu  Grund  gehe,  müsste  das  Holz  zu  dessen 
etwaigem  Wiederbau  ausserhalb  der  Gemeifide  hergenommen 
werden.*)  Zwei  Zürcher  Raths- Entscheidungen  von  1586  und 
1679  besagen : ,  »Es  sollen  künftig  ohne  höchste  und  ohnentbär- 
liehe  Nothwendigkeit  keine  neue  Häuser  mehr  gehauen  werden; 
wer  aber  also  eines  bauwt,  der  soll  des  Gemeindwerks  in  Holz 
und  Feld  nicht  Genoss  sin,  er  bezalle  dann  der  Gemeind  hundert 
Pfund  gelds.«  Bluntschli  RG.  2,  75.  Es  beschliessen  im  Jahre 
1606  die  Gesandten  von  Städten  und  Ländern  auf  der  Jahresrech- 
nung zu  Baden :  »Widerumb  werdent  wir  berichtt,  dass  by  Vch 
man  sich  der  alten  Hüseren  und  Hofstetten  vilmalen  nicht  mehr 
behelfen,  sondern  nüwer  habent  welle;  dardurch  das  Gemeine 
Werk  übel  geschwechet  und  die  Dörfer  mit  grossem  schaden 
übersetzt  werdent.  Deswegen  wir  aber  angesechen  und  verordnet: 
dass  furhin  kein  Dorf  oder  Gemeind  einige  nüwe  Huss-  und  Hof- 
stett  auszutiieilen  solle  Gewalt  haben  ohne  Vorwissen  und 
Bewilligung  Vnseres  Landvogts,  welcher  dann  Solches  nit 
leichtlich  und  ohne  nothwendige  Ursach  erlauben 
soll.«**)  Diese  letztere  Verfügung  blieb  dauernd  und  wurde 
darum  auch  in  das  Landesurbar  der  Freiämter  von  1634  auf 
S.  337  eingetragen.  Die  Zuger  Dorfgemeinde  Baar  beschliesst 
1741:  Kein  neues  Haus,  an  der  Stelle  erbaut,  wo  vorher  noch 
keins  war,  darf  die  Dorfgerechtigkeit  mitnutzen,  selbst  wenn  es  von 
einem  Dorfmanne,  einem  erbgesessnen  Ortsbürger,  erbaut  ist.***) 
Sehen  wir  nun,  ob  solcherlei  Satzungen  nicht  auch  in  der  Land-  * 
Schaft  Schwyz  von  jeher  bestanden  hatten.  Diese  letztere  war 
getheilt  in  die  vier  Viertel  oder  Genossenschaften  des  Fleckens 
Schwyz,  die  sich  ennet  der  Blatten  nannten,  und  in  die  zwei 
Genossenschaften  von  Steinen  und  Art,  diesseits  der  Blatte 
gelegen.  Die  Orte  Steinen  und  Art,  als  Privateigenthum  der 
Österreicher  Herzoge  noch  im  Habsburger  Urbar  vom  Jahre  1309 
verzeichnet  stehend  (Ausg.  von  Pfeiffer,  S.  192),  waren  erst  seit 
1319  mit  dem  Lande  Schwyz  in  staatliche  Verbindung  getreten, 


*)  Geschichte   von    Meienberg.     Beigabe   zur   Zeitung  Freischütz,    Jahrgang 
1867,  S.  150. 

**)  Archiv  des  Klosters  Muri :  Dokumentenbuch  Q.  I — III,  S.  269, 
')  Stadiin,  Gesch.  des  Kt.  Zug  III,  S.  136,  158,  163. 

28* 


i 


A26  ^   ^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

wie  die  Textstelle  ausdrücklich  besagt :  universiiates  de  Suize, 
de  Steina,  de  Mutedal  et  de  Ariha.  Blumer  RG.  i.  210. 
Fr.  V.  Wyss,  Ztschr.  f.  Schweiz.  Recht,  Bd.  18,  86.  Wo  lag  nun 
daselbst  Staufachers  Wohnhaus  ?  Wie  wir  wissen,  in  der  Gremeinde 
Steinen  und,  wie  bei  Schälly  und  Tschudi  ausdrücklich  mit  an- 
gegeben steht:  dissent  der  brugg,  mithin  gerade  an  der  Grenze 
zweier  hier  aneinander  stossenden  Markgenossenschaften.  Die 
Gemeindemark  war  aber  im  Lande  Schwyz  ein  in  Feld,  Wald, 
Weide  und  Gewässern  unvertheilter,  nicht  in's  Sondereigenthum 
übergehender  Gesammtbesitz  der  Genossenschaften,  dessen  Mit- 
nutzniessung  den  Lehnsleuten  und  Hintersassen  nur  bedingt  und 
zeitweilig  gestattet  war;  so  besagt  es  die  Urkunde  von  1294  Jbi 
des  Römschen  kvnges  Adolfes  zitenc,  in  Kothing's 
Schwyzer- Landbuch,  S.  265.  Die  Genossen  zusammen  regelten 
die  Art  und  Weise  des  Anbaues  oder  der  Brachlegung  der  Feld- ; 
flur,  die  Ordnung  der  Almendbenutzung  etc.  Ueber  die  Einhal- 
tung ihrer  Satzungen  wachten  die  Viertels-  und  Einungsmeister 
und  deren  Haupt,  der  Ammann.  Eine  seiner  besonderen  Amts- 
pflichten war,  die  Gefahr  der  Schmälerung  von  der  Gemeinde- 
marche abzuwenden,  welche  derselben  durch  jedes  in  ihr  neu  ent- 
stehende Sondergut  drohte.  Sämmtliche  Nutzungsberechtigungen 
und  Gemeindelasten  ruhten  auf  den  vollberechtigten  Bauernhöfen, 
deren  Zahl  darum  eine  feststehende  und  schon  seit  dem  14.  Jahr- 
hundert für  eine  abgeschlossne  erklärt  worden  war.  Nicht  also 
erst  ein  Landvogt,  sondern  ein  jeder  Ammann  musste  sein  Veto 
einlegen  gegen  einen  die  Zahl  der  Bauernwohnungen  hier  ver- 
•  mehrenden  Neubau ,  auch  wenn  letzterer  von  einem  Landleuten- 
geschlechte  unternommen  wurde,  also  von  einem  solchen,  welchem 
bereits  ein  volles  Gemeinderecht  an  Feld-,  Wald-  und  Weide- 
nutzung hier  zukam.  Es  kann  daher  nicht  im  mindesten  auffallen, 
dass  dasselbe  Verbot,  welches  dem  Gessler  zugeschrieben  wird, 
in  den  Beschlüssen  der  Landsgemeindei^ ,  in  den  Rathsdecreten 
der  Städte  und  in  den  Erlassen  der  Tagsatzung  gleichmässig  und 
zu  allen  Zeiten  sich  wiederfindet,  immer  und  ausdrücklich  auf 
den  Schaden  hindeutend,  welcher  durch  Neubauten  dem  Gemeinde- 
werke erwachse.  Die  Schwyzer-Landsgemeinde  kam  1405  sogar 
zu  dem  schreienden  Beschlüsse :  Die  Beisassen  aus  andern  schwy- 
zerischen  Bezirken  sollen  im  Dorfe  Schwyz  Häuser  nicht  einmal 
kaufen  dürfen.     Meyer-Knonau,  D.  Kt.  Schwyz,  S.  loi. 

Bestanden  nun   derlei  gemeindewirthschaftliche  Massnahmei 


5*    Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  hL  Kümmemisskapelle.  a^j 

im  Schwyzerlande  schon  ursprünglich,  waren  sie  hier  vom  Volke 
selbst  ausgegangen  und  wurden  sie  von  ihm  im  Laufe  der  Zeit 
i  nicht  etwa  zeit-  und  sachgemäss  beschränkt  und  gemildert,  son- 
I  dem  sogar  noch  bis  zur  Grausamkeit  verschärft,  so  lief  jene  Sage 
von  Gesslers  Verbot  gegen  Staufachers  Hausbau  Gefahr,  als  eine 
blosse  Ungereimtheit  erkannt  zu  werden,  und  man  musste  ihr 
darum  mit  einer  kirchlichen  Zuthat  beispringen.  Man  gab  daher 
vor,  Staufachers  Wohnhaus  sei  seit  dem  Jahre  1400  in  die  Kapelle 
zum  heiligen  Kreuz  uitigebaut  worden,  stellte  darin  das  Bildniss 
der  heiligen  Künunemiss  aus  und  verbreitete  amtlich  und  kirchlich 
den  Glauben,  dies  sei  das  seit  Gesslers  Zeiten  für  die  Freiheit  der 
Schwyzer  und  Umer  wunderthätig  gewesene  Gnadenbild,  welches 
darum  zu  bewallfahrten  beider  Länder  fortdauernde  Christen-  und 
Bürgerpflicht  rei.  Die  Kapelle  trug  im  Jahre  1782  folgende 
von  Zurlauberi  kopierte  Inschriften. 

Hier  ist  zu  sechen  wo  gebaut  Staufach  sein  Hauss. 

1307  ist  £ss  gewesen 

darbei  gesler  sein  Rachgiehr  üebte  auss.  *) 

Margarith  die  getreue 

diese  andung  gschmertzet  sehr, 

hatte  gut  befunden 

mit  Fürst  vnd  arnold  sich  z'berathen, 

auch  andern  Freunden  mehr. 

(Auf  der  andern  Haus-Seite): 

Von  dahär  hat  wieder  angfangen  d'freyheit  Leben, 
die  vnsre  vätter  durch  Tapferkeit  bracht  zVegen 
Vnd  auch  wir  geNiesen  solche  in  der  ruh, 
Aber  achl  wie  schauet  man  darzu? 
Gott  geb  seinen  fehmeren  seegen  darzu. 

Ueber  das  Alter  und  den  Zweck  der  Kümmemisskapelle  zu 
Steinen  giebt  es  mehrfache,  durchweg  sich  widersprechende  An- 
gaben. Wir  haben  dieselben  bereits  im  Sagenkreise  von  Teil 
auf  S.  150  bis  134  besprochen.  Caspar  Lang  lässt  die  Kapelle 
sammt  dem  Gnadenbilde  schon  1 307  als  zu  Staufachers  Lebzeiten 


*)  Zurlauben,  Stemmatographie  Bd.  64,  S.  8   setzt  zur  Abschrift  der  zweiten 
lind  dritten  Verszeile  eine  die  Jahreszahl  und  den  Vogtsnamen  bessernde  Variante: 

1308  ist  Es  gewessen 


I 

i  f 

I  daGrissler  sein  Räch  geübet  Aus. 


^^8  II«    I^^c  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  and  Sage. 

bestehen ;  das  falsche  Urner-Landesdecret  setzt  ihr  Vorhaadenseia 
i^uf  1387  an;  noch  jünger  wird  sie  bei  Jos.  Thom.  Fassbind,*) 
dessen  Worte  wir  aniiihren  müssen.  »Die  heilige  Kreuz -Capell 
an  der  Landtstrass,  in  der  Kilchhöri  Steina.  Vnweith  uom  dorfT 
an  der  Landtstrass  gehn  Schwiz  ist  anno  1400  eine  Capell  zum 
andenken  jener  begegnuss  des  Herrn  Werners  von  Staufach  mit^ 
dem  Reichsvogt  gessler   erbaut  worden.    Auf  der  andern  Seith^ 

* 

der  gass  stuhnd  die  bürg,  so  gedachter  Werner  wider  Willen  dtf 
Vogts  hat  bauwen  lassen  und  wouon  noch  starke  Rudera,  nacK' 
zeugnuss  alter  Leuthen  im  vorigen  Seculo,  fenster,  thüren^ 
gewölber,  alles  von  Stein,  zu  sehen  gewesen»  jez  aber  ganz 
zerfallen  und  überwasmet  ist.  1684  hat  Innozenz  XI.,  Rom. 
Papst,  diser  Capell  laut  Bulla  einen  Ablassbrief  uerlichen; 
1788  ist  sie  erneueret,  1790  ein  neuer  altar  darein  gemacht  wor- 
den, uon  aussenher  aber  ist  sie  mit  vier  gemälden  (geschmückt 
worden),  so  die  da  uerloffne  that,  den  Krieg  am  Morgarten,  die 
bürg  Schwanau  und  die  beschwörung  dess  Bunds  im  Rütlin  uor- 
stellen,  alles  auf  Unkosten  einiger  Partikularen.  Seith  undenk-- 
liehen  Zeit  befindt  sich  da  ein  hölzenes  Kreuz,  daran  die  bild- 
nuss  der  heiligen  Jungfrau  und  Martirin  Wilgefordis,  oder' 
Kümmernuss  ins  gemein  genent,  mit  einem  langen  hart  hanget, 
ganz  gleich  dero  zu  Bürglen  und  zu  Einsidlen,  deren  sich  die 
Steiner  in  ihren  Kreuzgängen  bedienen.  Die  Steiner  tragen  gar 
grosse  andacht  zu  disser  bildnuss  und  war  lange  Zeit  mitten  der 
Kirch  ob  dem  Kleineren  altar  aufgestellt  und  heisset  in  ihren  alten 
Schriften  das  heilige  Bild.  Und  hat  sich  einsmals  gar  wunderlich 
zugetragen,  dass,  als  man  eines  Jahrs  die  Bittfahrt  nach  Bürglen 
unterlassen,  dise  bildnuss  durch  übernatürliche  Krafft  uon  da  weg- 
kommen und  morgendes  zu  Bürglen  in  der  Kirch  gefunden  wor- 
den, Worauff  die  Bittfahrt  neuerdings  und  mehrerem  Eifer  wider 
uor  genohmen  und  bis  auf  heutigen  Tag  fortg^esetzt  wird.€  So 
schrieb  Fassbind  im  Jahre  1792. 

Den  Anlass  zur  Sage  von  einer  politischen  Erinnerungsfahrt 
der  Bürglener  nach  Steinen  und  der  Steinaer  nach  Bürglen  könnte 
man  in  den  frühzeitigen  Beziehungen  suchen,  in  denen  das  schwy- ' 
zer  Frauenkloster  Steinen  zum  umerischen  Bürglen  gestanden 
hatte.    Es  urkundet  nemlich  am  8.  Mai  1287  Ritter  Rudolf  von 


*)  Geistliche  Alterthümer  des  Landes  Schwyz,  tom.  II,  pag.  141 ;  Handschrift 
der  aargauer  Kt.-Biblth.,  bezeichnet:  Bibl.  Nov.  43  fol« 


5«    Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  hl.  Kümmemisskapelle.  430 

hzermsch  Schauensee  und  vermacht  da  unter  letztwilligen  Ver- 
iilgungen  von  seinen  Gütern:  dien  vrowen  von  Stein a  ein 
guot,  heisset  Heldis  und  lit  ze  Bürgeion.  Gesch.-Freund 
11,7$.  Es  war  demnach  das  Kloster  Steinen  schon  im  13.  Jahrh. 
gnmdherrlich  zu  Bürglen  in  Uri,  und  ein  Zusammenhang  Idrchen- 
"fienstlicher  Feier,  gleichzeitig  begangen  im  Schwyzerkloster  und 
''if  dessen  Umergute,  ist  also  damals  schon  erklärlich:  die  zu 
>eiden  Ortskapellen  gehörenden  Dienst-  und  Zinsleute  hatten 
virthschaftlichen  Anlass  und  ortskirchliche  Pflicht,  sich  gegenseitig 
zu  bewallfahrten.  Hatten  sie  sich  doch  auch  unter  die  gleiche 
Kirchenpatronin  gestellt,  verehrten  deren  Holzbild,  und  dieses,  wie 
die  Legende  erzählt,  machte  aus  eignem  Antriebe  die  Wanderung 
von  Steinen  nach  Bürglen,  wenn  die  Kirchhörigen  dies  zu  thun 
unterlassen  hatten.  Jedoch  den  richtigen  Grund  von  Allem  hat 
man  gewiss  nur  in  der  Legende  und  dem  Heiligenbilde  der 
Kümmerniss  zu  suchen,  wie  aus  Nachfolgendem  erhellen  soll. 

Das  Kümmemissbild  in  Steinen  ist  neben  der  Kanzel  an  der 
Kirchenmauer  aufgestellt,  ein  vier  Fuss  hohes  bemaltes  Schnitz- 
)ild,  an  ein  7  Fuss  langes  Kreuz  geheftet.  Es  stellt  einen  leben- 
den Frauenkörper  vor  und  trägt  ein  weissgrünes  Hemde,  das  die 
Hüfte  gürtet,  bis  an's  Knie  reicht,  Füsse,  Hände  und  Hals  ent- 
fclösst  lässt.  Das  Haupt  ist  gekrönt,  das  Haar  wallt  frei  über 
Nacken  und  Schulter,  Wange  und  Kinn  umgiebt  ein  mächtiger 
Vollbart.  Wozu  nun  dieses  bärtige  Mädchen  Namens  Kümmer- 
»ss  hier  in  Staufachers  ehemaligem  Wohnhause  ?  Sife  hat,  ist  die 
Antwort,  den  in  seinem  Besitze  widerrechtlich  Bedrückten  und 
Behafteten  von  dieser  Gesslerischen  Uebergewalt  wunderbar  er- 
ledigt. Eben  diese  gerichtliche  Anfechtung  und  Wieder-Erledigung 
des  Eigenthums  heisst  in  der  Rechtssprache  Bekümmern  und 
Entkümmern,  wie  vorhin  bei  Tschudi  und  Schälly  Kummer, 
und  dieser  sprachliche  Grund  hat  den  Anlass  gegeben,  die  Na- 
menssage  von  der  heiligen  Kümmerniss  kirchlich  zu  produciren 
und  hier  politisch  zu  localisiren.  Was  vorerst  den  Inhalt  und 
Charakter  der  Legende  betrifft,  so  stützen  sich  alle  hierüber 
nachfolgenden  Angaben  auf  die  BoUandisten ,  bei  denen,  Bd.  5, 
S.  50  bis  70,  die  Legende  unterm*  20.  Julius  weitschweifig  erzählt 
jund  mit  verschiedenen  Abbildungen  illustrirt  ist. 
I  Die  Heilige  ist  eine  Königstöchter;  bald  eines  lusitanischen, 
bald  niederländischen,  schottischen,  sorbenwendischen  u.  s.  w. 
Heidenfürsten,  je   nachdem   eben  die  heimatlose  Geschichte  sich 


^j\n  II.    Die  Gessler-von  Brandig  in  Geschichte  und  Sage. 


nach  einem  Heimatsorte  umsehen  muss.  In  Folge  ihrer  kömg^ 
liehen  Abkunft  wird  ihr  Bild  stets  gekrönt  dargestellt.  Bei  ihrer 
hohen  Körperschönheit  hat  sie  sich  der  Anfechtungen  von  Seite 
des  eignen  Vaters  so  sehr  zu  erwehren,  dass  dieser  darüber  er- 
grimmt und  sie  an's  Kreuz  schlagen  lässt.  Bereits  aber  hat  der 
Himmel  ihr  Flehen  erhört  und  ihre  Wohlgestalt  plötzlich  durch 
einen  hängenden  Vollbart  entstellt ,  und  so  trägt  sie  als  ein  keu« 
sches  und  tapferes  Mannweib  eine  ganze  Reihe  von  Ehrennamen. 
Aus  dem  kirchlichen  Beinamen  Virgo  fortis  und  dem  welschen 
Vierge forte  'Wurde  eine  belgische  und  niederdeutsche  Wilgt- 
fortis,  und  wiederum  eine  welsche  Dignefiortis.*)  Die  Bei^ 
namen  Liberata  und  Lih  erft  tr  i  x,  französisch  Sa  in  te  Livra  de, 
erhielt  sie  als  die  durch  Gottes  Hilfe  aus  der  Tyrannenwillkür 
Erledigte  und  Erledigende,  und  hiemit  beginnt  diejenige  politische 
Rolle,  welche  der  Heiligen  in  der  Steinaer  Kapelle  zugedacht 
ist.**)  Der  Name  Liberairix  verdeutschte  sich  am  Mittelrhein  und 
in  Hessen  zum  kirchlichen  Sünte  Hilpe,  Sanct  Hilf,  mit  dem 
Wallfahrtsbilde  auf  dem  Hilfenberge  bei  Hessisch  Wanfriedt. 
Grimm,  Deutsche  Sag.  No,  i8i  und  329.  Gemäss  ihrer  körper- 
lichen Verstaltung  wird  sie  am  Main  um  Aschaffenburg  die  hLt 
Veränderung  genannt.     Birlinger,  Aus  Schwaben  i,  S.  498. 

Nun  tritt  zu  dieser  Namenszahl  noch  ein  scheinbar  neuer,  ifli 
Wahrheit  aber  bloss  ungeschickt  entstellter.  Er  steht  in  der  altd* 
Legende  der  Pfalzer  Handschrift  zu  Heidelberg  (abgedruckt  in 
Mone's  Anzeiger  1838,  S.  584)  und  wiederum  in  der  Chronik  vom 
Schuttem,  Strassburger  Diöcese,  abgedruckt  in  Mone's  Quellen- 
sammlung III,  io8a:  »Sie  haist  mit  Namen  Kymini  und  wirtf 
genant  Kymmemuss  und  liegt  in  Hollandt  in  einer  kyrchen,  ge* 


*)  Es  giebt  eine  heilige  Edigna  in  Baiern,  geschildert  in  Panzers  Bair.  Sag.> 
2,  S.  49;  und  eine  heilige  Digna  von  Aquileja,  deren  Jungfräulichkeit  der  Hunnenr;. 
könig  Attila  vergebens  bedroht.     Zedier,  Universallexikon. 

**)  Das  Officium  Seguntinum  (Siguenga  in  Spanien)  ist  vom  Jahre  1682  und, 
enthält   zum   20.  Juli   nachfolgendes   canonisch  approbirte  Festgebet:    O  felix  li- 
berata, a  tyrannorum  saevitia  liberata,  o  gloriosa Wilgefortis,  quae  nbique 
fortis  in  certamine  reperta  es!   o  patrona   admiranda  civitatis  et  dioecesis  SeguiH 
tinae,    fac  nos  tuis  precibus  ad  gaudia  coelestia  pervenire.    Quaesumus,  Domineg 
ut  quae  pro  pudicitiae  defensione  in  cruce  pependit,   ab  inimicorum  insidiit 
sua  nos  protectione  defendat.     Acta  SS.  tom.  V,  55.     Aus  dieser  Seguntiner- Li- 
berata und  der  belgischen  Wilgefortis  zusammen  hat  der  trügerische  Pseudo-Dextcr 
zu  Ende  des  16.  Jahrhunderts  Eine  Person  gemacht   und  jener  Beider  Namen  in 
einen  zusammengesetzt.     Acta  SS.  1.  c.  No.  83  u.  86. 


5.    Staufacheis  Haus  zu  Steinen  und  die  W.  Kümmernisskapelle.         441 

nant  Stonberg.«  Gemeint  ist  mit  letzterem  Orte  die  braban- 
tische  Stadt  Steenbergen,  woselbst  zu  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  ein  Dünenstrich  Sinte  Ontcommers  Polder,  der 
heiligen  Ontkommera  Meerdamm,  genannt  worden  ist.  Diese 
Notiz  ist  auch  in  der  bei  den  Bollandisten  gedruckten  Legende 
mitenthalten.  Da  aber  zu  Steenbergen  weder  sonst  noch  jetzt 
von  einem  Wilgefortis-  oder  Ontkommera -Grabe  etwas  bekannt 
gewesen  ist,  noch  viel  weniger,  wann  oder  wohin  derlei  Reliquien 
aus  diesem  protestantischen  Orte  versetzt  worden  wären,  so  hat 
selbst  der  Bericht  erstattende  BoUandist  sich  über  die  Leicht- 
gläubigkeit der  Baiern  und  Schweizer  verwundem  müssen,  welche 
gerade  dieses  holländische  Steenberg  so  nachdrücklich  als  der 
Heiligen  Grabstätte  bezeichnen.  Allein  dieser  Wirrwarr  entspringt 
lediglich  aus  der  Entstellung  und  Missdeutung  der  Formen,  die 
das  Wort  Kummer  in  den  deutschen  und  welschen  Idiomen 
angenommen  hat.  Jener  Sinte  Ontkommers  Polder  ist  buch- 
stäblich ein  Meerdamm,  der  die  dortige  flache  Küste  zu  ent- 
kummern,  d.  h.  des  Meerschlammes  zu  entlasten  hat.  Das 
Wort  Kummer  stützt    sich   auf  den  lateinischen  Wortstamm  cu- 

lulus  und  drückt  in  den  deutschen  und  romanischen  Idiomen 
ursprünglich  denselben  sinnlichen  und  sodann  den  aus  ersterem 
fclgenden  moralischen  Begriff  aus,  auf  welchem  beiderseits  Name 
Und  Legende  der  Kümmemiss  beruht. 

Mittellateinisch  ist  ^^^^r«j  Bauschutt;  altfranzösisch  dicom- 
ires,  encombrey  neufranzösisch  comble;  portugiesisch  combro, 
Damm  am-Wasser;  ahd..  kumbar^  mhd.  kumber  und  kommer 
bezeichnet  den  Schutt-  und  Steinhaufen,  den  lastenden  Abraum. 
In  Justingers  Bemerchronik,  ed.  Studer  196,  heisst  es  bei  Erzählung 
einer  Feuersbrunst  zu  Bern :  Die  Bürger  aus  Freiburg  hülfen  ze 
Beme  die  stat  rumen  und  den  kumber  und  den  herd  usfiiren. 
h  der  aargauer  Mundart  ist  kumber  der  in  den  Wiesengräben 
angeschwemmte  Bodenschlamm,  der  zur  neuen  Düngung  des  Grund- 
ttückes  ausgeschaufelt  wird,  kummern  heisst  Schutt  wegschaffen. 
Vgl.  Öffnung  von  aargauisch  Tettingen,  in  Grimms  Weisthümem  i, 
301.  Aus  der  Uebertragung  eines  mechanischen  Druckes  auf  einen 
moralischen  empfieng  das  Wort  kummer  in  deutschen  und  altfran- 
2ösischen  Rechtsquellen  den  Begriff  persönlicher  Belästigung  und 
Behaftung  in  dem  Sinne  von  Sachen-  und  Personal- Arrest.  Das 
Schöffenweisthum  zu  Martrachdorf  in  der  Altgrafschaft  Isenburg 
bestimmt:  under  den  selbigen  gerichten  soll  man  keinen  komern 


l 


j^jj^n.  II*    Die  Gessler  Ton  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

(aussergerichtlich  exequieren  und  in  Schuldhaft  bringen  lassen)^ 
sondier  mit  recht  vümemen.  Grimm  Weisth.  VI,  740.  Eine  wal- 
lonische Urkunde  aus  Namur  vom  20.  April  1439  ^S^  ^^  einem 
Erbvertrage  zum  Schutze  der  betreffenden  Erben  bei:  ^ue  taut 
ks  dis  heritegaiz  nesioent  de  riens  enpechiez  ne  encombrez  (:  verhin- 
dert). Mone,  Oberrh.  Ztschr.  19,  264.  Es  beschliesst  1294  »Tri 
des  Römschen  Kvnges  Hern  Adolfes  ziten«  die  Gemeinde  von 
Schwyz,  dass  auf  ihrem  Schwyzer-Gebiete  die  Klöster  und  die 
Fremden  keine  Grundstücke  erwerben  dürfen,  dass  aber  der  Einr 
hieimische  auch  für  dasjenige  Gnmdeigenthum,  welches  er  aa 
Ausleute  zu  Lehen  giebt,  mitsteuem  müsse,  ohne  dem  Lehens- 
manne  dafür  den  Zins  aufbürden  zu  dürfen:  ieman,  der  sinea- 
lenman  dar  vber  kvnberren  wolte...  swer  denne  in  kvm- 
berte  .  .  .  derselbige  büsst,  so  oft  er  dies  thut,  fünf  Pfund  und 
entschädigt  zugleich  den  Lehensmann.  Kothing,  Schwyzer-Land- 
buch,  265.  Im  ersten  Waffenstillstände,  den  die  Waldstätte  am 
19.  Heumonat  1318  mit  den  Österreicher  Herzogen  abschliessend 
verwahren  jene  sich  gegen  jede  Belästigung  durch  Berufung  vor 
fremde  Gerichts-Instanzen:  Es  ist  ouch  ger6t  vnd  gelobt,  das  diei 
vorgenampden  Herren,  die  Herzogen  vnd  ir'  diener,  in  disemi 
selben  fride  vns  nüet  bekumeren  svnt  oder  angrifen  mit  j 
deheinen  geislichen  oder  weltlichen  gerichteft. 

Die  Forschung  der  BoUandisten  über  die  Begründetheit  xxxA 
geschichtliche  Herkunft  der  Kümmemisslegende  äussert  sich 
schliesslich  höchst  ungehalten,  ja  wegwerfend  bezüglich  des  ganzen  I 
Gegenstandes*),  c Linguistische  Idioten, . sagt  da  Wilhelm  Cuper 
no.  95,  pag.  69  — müssen  es  gewesen  sein,  die  so  vielerlei 
sprachlich  dunkle  Eigennamen  auf  eine  einzige  Heilige  zusammen 
gehäuft  haben.  Aber,  fahrt  er  fort,  dass  sie  nur  dies  gewesen 
wären  1  Dass  sie  nicht  aus  priesterlicher  Geldgier  auch  dazu  er- 
dichtet und  solcherlei  Gebete  an  die  Heilige  ersonnen  hätten^ 
welche  weitab  von  wahrer  Demuth  liegen  und  nichts  enthalten, 
als  ein  den  Volksglauben  anstachelndes  Vorausversprechen,  aia, 
werde  diese  Heilige,  wenn  man  ihr  mehr  zulaufe  und  mehr  opfere,- 
auch  mehr  erfüllen,  als  eine  Andere,  welche  weniger  voraus  zu 
versprechen   hat.«      Erst   die    beiden    deutschen  Jesuiten    Adam 


*)  At  taedet  nos  in  hoc  labyrintho  diutius  frustra  vagari !  .  .  .  An  tales  Sancti,  j 
Omnibus  historicis  et  martyrologiis  ignoti,  qui  in  quodam  Pseudo-chronico  tantum*  i 
modo  canonizantur,  in  ecclesia  colendi  sint,  Sanctae  Sedi  judicandum  reUnquo. 


5«    Stanfacbeis  Hans  zu  Steinen  und  die  hl.  KUmmemisskapelle«         >j>jj 

Walasser  und  Peter  Canisius,  so  erzählt  Cuper  weiter,  hätten  in 
ihrem  bis  1599  mehrmals  erschienenen  Martyrologium  die  Wilge- 
fortis  als  die  heilige  Onkummer  erklärt  oder  vermehrt,  nachdem 
sie.  den  Wilgefortis- Namen  in  des  Greven  1515  zu  Köln  er- 
schienenem Martyrologium  einmal  vorgefunden  hatten.  Und  ähn- 
lich hätten  auch  die  belgischen  Theologen  zu  Antwerpen  und 
Loewen  bis  zum  Jahre  1583  verfahren.  Erst  nach  diesen  Vor- 
arbeiten und  aus  ihnen  sei  dann  unter  Gregor  XIII.  die  Wilgefortis 
k  das  Martyrologium  Romanum,  gedruckt  zu  Antwerpen  1586, 
eingetragen  worden  (Acta  SS.  1.  c,  no.  80  u.  82). 

Die  Steinenkapelle  in  Schwyz  vermag  ihre  früheste  Ur- 
kunde erst  aus  dem  Jahre  1684  aufzuweisen;  und  wenn  ihre  Er- 
bauung auf  das  angebliche  Jahr  1400  zurück  datirt  wird,  so  ist 
sogar  dieses  Datum  eine  blosse  Entlehnung  aus  derjenigen  Wand- 
schrift, welche,  laut  den  BoUandisten,  in  der  Kümmemisskapelle 
zu  Neufahm  zu  lesen  ist,  einer  Dorfkirche  bei  Freising,  also 
lautend:  »Ihr  Leib  ruht  zu  Stein  wart  im  Sand  oder  Pöringen 
k  Holland,  dort  ward  er  1404  feierlich  erhoben.«  Stadler-Ginal, 
Heiligen-Lexikon  III,  644.  Die  Steinenkapelle  will  zwar  früherhin 
ausschliesslich  zum  Heiligen  ICreuz  geweiht  gewesen  sein ;  allein  dies 
doch  nur  darum,  weil  das  hier  verehrte  Bild  eben  .eine  Gekreuzigte 
darstellt.  Aus  demselben  Grunde  wird  auch  in  der  heiligen 
Kreuzkirche  zu  München  ein  Kümmemissbild  verehrt  (Stadler- 
Ginal  l.*c.),  und  ebenso  wurde  zu  Baar  im  Zugerlande  die  Neue 
keilige  Kreuzkapelle  1642,  28.  August,  durch  den  Konstanzer 
Weihbischof  Franz  Carl  Joseph  zu  Ehren  der  heiligen  Wilgefortis 
.oder  Kümmemiss  geweiht.     Zurlauben  Mon.  Tug.,  Bd.  5,  289. 

In  diese  Zeit  des  17.  Jahrhunderts  fallt  für  Süddeutschland 
und  die  Schweiz  die  Ausdehnung  der  Jesuitencollegien  und  damit 
die  weitere  Verbreitung  des  Kümmemisscultus.  Ueberall  wo 
dieser  wundersüchtige  Orden  vorherrschte,  treffen  wir  Kümmer- 
oissbilder  in  den  Hauptkirchen  und  lesen  daran  das  Jahr  ihrer 
hier  geschehenen  Aufstellung.  Dasjenige  in  der  Leonhards- 
kirche  zwischen  baierisch  Dillingen  und  Steinheim,  trägt  die  In- 
schrift* 1674  (Sulzbacher -Kalender  1864,  S.  49;  1865,  S.  115; 
i866).  Eines  von  zweien  solcher  Bilder  in  der  Stadt  Lauingen 
zeigt  die  Jahrzahl  1675.  Schöppner,  Baier.  Sagb.  i,  S.  427. 
Dasjenige  in  der  bischöflichen  Kathedralkirche  zu  Freiburg  in 
der  Schweiz  (genannt  in  den  Actis  SS.  1.  c.  pag.  64,  no.  72)  ge- 
hört eben  der  Zeit  an,  da  hier  der  Jesuitismus,  seines  politischen 


AAA  II*  Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Uebergewichtes  sicher,  zu  den  Kriegswaffen  griff  und  die  Refor- 
mirten  in  der  ersten  Vilmergner- Schlacht  1656  aus  dem  Felde 
schlug.  Anderwärts  und  unter  anderen  kirchlichen  Einflüssen  war 
damals  bereits  der  öffentliche  Spott  über  so  unschickliche  Bild- 
werke wach,  wie  deren  eines  zu  Muringen  im  Schwarzwalde 
hieng,  »bis  zum  Nabel  nackt,  die  Cumerana  genannt«;  und  der 
katholische  Theologe  G.  Zeämann,  der  in  seinem  Newen  Wunder- 
spiegel (Kempten  1624,  S.  163)  dies  meldet,  hält  darum  diese 
ganze  Legende  »fast  einem  Märlein  gleiche.  Der  französische 
Carmeliter-Provinzial  Andreas  a  S.  Nicolaus  meldete  1706  brieflich 
aus  Besangon,  viele  wackere  Katholiken  daselbst  hätten  sich  ent- 
setzt, als  man  ihnen  das  monstruose  Bild  einer  bärtigen  Jungfrau 
zur  kirchlichen  Verehrung  aufstellte,  und  dessen  Entfernung  ver- 
langt, damit  die  weniger  kirchlich  gesinnte  Menge  nicht  in  Hohn- 
gelächter ausbreche.  Acta  SS.  1.  c.  pag.  64,  no.  71.  Das 
Kümmemissbild  im  Veitskirchlein  oberhalb  Telfs  in  Tirol  Hess 
der  dorten  stationirte  Franziskaner -Pater  verbrennen;  dasselbe 
Strafgericht  ergieng  durch  den  Augsburger  Bischof  über  die 
gleichnamigen  Bilder,  welche  sich  in  der  vorhin  genannten 
Leonhardskirche  bei  Dillingen  sogar  mehrfach  vorfanden.  Hier 
hatten  baierische  Soldaten  eine  Dirne,  deren  sie  müde  waren,  so 
geschickt  durch  die  Kleider  hindurch  an  die  Kapellenthüre  an- 
genagelt, dass  sie  über  Nacht  hängen  blieb,  bis  Leute  kamen  und 
die  neue  Kümmerniss  losmachten.  Ja  dieser  Name  galt  und  gilt 
in  Tirol  von  solchen  Frauenspersonen,  »die  Jeder  bekommen  kann.f 
Webers  Leipziger  lUustr.  Ztg.  1874,  21.  Nov.,  S.  404.  Endlich  | 
kam  die  Reihe  auch  an  die  Kümmemisswallfahrten  in  der  Schwdz. 
Auf  Befehl  der  helvetischen  Regierung  wurden  sie  durch  den 
bischöflichen  Konstanzer  Generalvicar  J.  Thaddäus  Müller,  Stadt* 
pfarrer  zu  Luzern,  kirchlich  aufgehoben  »als  Anlässe  zum  Aus- 
tausche  falscher,  ruhestörender  und  unpatriotischer  Begriffe.« 
Gesch.-Freund  19,  189.  Doch  nach  dem  Wiener  Frieden  er- 
schienen die  Jesuiten  neuerdings  im 'Lande,  Rom  riss  die  deutschen 
Kantone  vom  Kbnstanzer  Bisthum  und  von  Wessenbergs  Einflüsse 
los,  jener  Pfarrer  Müller  erhielt  seinen  Abschied  (Gesch.-Fr;, 
28,  176),  die  Stiftung  neuer  Bruderschaften  und  Kreuzwallfahrten 
begann  abermals.  Das  Kümmernissbild  zu  Schönbrunn  bei  Zug, 
das  hilfreich  bei  Geschwüren  (Aissen)  sich  erwies  und  daher  den 
Namen  »das  Aissen-Mannli«  trug,  erhielt  vor  einigen  Jahrzehnten 
sein  neues  weibliches  Kleid  (Dr.  Hotz,   in  der  Leipziger  lUustr. 


5.    Staufachers  Haus  zu  Steinen  und  die  hl.  Kümmemisskapelle.         AAt 

Ztg.  vom  15.  April  1876).  Im  luzemer  Pfarrdorfe  Ruswil  wurde 
1828  eine  Bruderschaft  der  heiligen  Kumeri  errichtet  und  gleich- 
zeitig auch  in  dessen  Filiale  Rüediswil  ein  Heiligenhäuslein  dem 
heiligen  Bischof  und  Märtyrer  Kummerus  geweiht.  Geschichts- 
freund Bd.  26,  S.  lOi  und  147.  So  ist  also  die  bärtige  Jungfrau 
hiea-  nun  völlig  masculin  gemacht,  wie  ähnliches  schon  vorher  auch 
zu  Rankwil  in  Vorarlberg  geschehen  war,  woselbst  das  Bild  des 
Gekreuzigten  die  Inschrift  trägt  Sanctvs  Kvmernvs.  Dass 
der  Kanton  Wallis,  dessen  Bevölkerung  bis  auf  die  Gegenwart 
von  Jesuiten  erzogen  wurde,  in  diesem  Cultus  nicht  zurückblieb, 
dies  berichteten  jüngst  die  zwei  dortigen  Priester  Ruppen  und 
Tscheinen  in  den  Wallisersagen  1872,  S.  136.  Man  erfährt  hier 
Folgendes.  Das  Kümmemissbild  im  Beinhause  des  Pfarrdorfes 
Naters,  eine  Holzstatue  mit  bärtigem  Weibergesichte  in  gekreuzigter 
Stellung,  hängt  da  in  vier  verschiedenfarbige  alte  Tuchröcke  ge- 
kleidetl  Unzufrieden  mit  diesem  Übeln  Costüm,  war.  dasselbe 
Willens  geworden,  aus  dem  Dorfe  wegzulaufen,  Hess  sich  aber 
durch  einen  ihm  begegnenden  Bauern  zur  Umkehr  bereden  auf 
die  Zusage  hin,  dass  man  es  alle  sieben  Jahre  neu  kleide.  Diese 
armselige  Bedingung  ist  bis  jetzt  unerfüllt  geblieben,  wie  die  vier 
schlechten  Weiberjüppen  beweisen,  die  es  heute  noch  ungewechselt 
trägt. 

Inzwischen  hat  Dr.  Hotz  von  Zürich  in  der  Leipziger  lUustr. 
Zeitung  vom  15.  und  22.  April  1876  einen  Bericht  über  die 
Kümmemissbilder  veröffentlicht.  Er  steht  dabei  auf  der  Voraus- 
setzung, dieselben  seien  ursprünglich  männlich  gedachte,  wenn 
auch  missverstandene  Nachbildungen  des  Salvator  Mundi,  der  dar- 
gestellt werde,  mit  weit  geöffneten  Armen  die  Mühseligen  ein- 
ladend: Kommet  Alle  zu  mirl  Diese  Prämisse  stützt  Hotz  vor- 
nemlich  auf  ein  rohes  Steinbild  der  Kirche  zu  Ober-Winterthur, 
das  einen  Heiligen  gekrönt  und  gebartet  zeigt  und  mit  wagrecht 
ausgespannten  Armen  so  in  die  Mauernische  hineingestellt,  als 
wäre  er  mit  den  Händen  angenagelt.  Diese  symbolische  Stellung 
des  All -Erbarmenden  sei  missverständlich  auf  diejenige  des  Ge- 
kreuzigten gedeutet  worden.  Der  eine  Fuss  dieser  Oberwinter- 
thurer  Figur  ist  beschuht,  der  andere  nackt,  der  daran  gehörende 
Schuh  liegt  am  Boden,  im  Vordergrunde  ist  die  Figur  eines 
knieenden  Mannes  angebracht.  Hierin  wird  jener  sagenhafte  Spiel- 
mann erkannt,  der  seine  Bedrängniss  dem  Gnadenbilde  in  Tönen 
vorspielt  und  dafür  dessen   einen  goldnen  Schuh  zum  Geschenke 


A^Q  II.    Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

zugeworfen  erhält.  Dieser  eine  schönere  Bestandth^il  der  Le« 
gende  (bekanntlich  durch  Justinus  Kemer  bedichtet  im  »Geiger 
von  Gemündc)  bleibt  fremdartig  neben  dem  anderen  stehen,  wel* 
eher  sich  bemüht,  begreiflich  zu  machen,  wie  und  warum  St. 
Kümmerniss  zu  einem  Bart  und  an  das  Kreuz  gekommen  sei. 
Den  Aufschluss  über  Letzteres  glaubt  Hotz  im  Namen  Kymini  zu 
finden,  welcher  der  heiligen  Kümmemiss  jedoch  nur  ein  einziges  mal 
beigelegt  wird,  derselbe  solle  nemlich  ableiten  aus  dem  schottisch- 
irischen  Komar,  welches  aufnehmen  und  umfassen  heisse 
und  also  der  Handlung  und  Geberde  eines  Salvators  entspreche. 
Auf  dieses  vage  Gebiet  keltischer  Etymologieen  braucht  unsere 
schon  entwickelte  Namensdeutung  sich  nicht  mehr  zu  begeben. 


i 


VI. 
Zwing-Uri. 


Das  Uraerdörflein  Amsteg  an  der  Gotthardstrasse  gehört  in 
das  Pfarrdorf  Silinen  und  hiess  daher  vor  Zeiten  auch  Ober- 
Silinen ,  sein  anderer  Name  ist  Unter-Stege.  Hier  mündet  der 
wilde  Kerstelenbach  in  die  Reuss,  die  neben  dem  Flusse  hin- 
laufende Strasse  ist  in  den  Felsenhügel  Flühli  selbst  gesprengt, 
hinter  demselben  liegt  das  Dorf  mit  seinen  etlichen  dreissig  Häu- 
sern geborgen.  Es  ist  eingeengt  von  der  Windgelle,  dem  Bristen- 
iind  Arniberg  und  auf  der  vierten  Seite  von  jenem  Felsendamm 
Flühli,  unmittelbar  hinter  dem  Orte  beginnt  das  Steigen  der 
Strasse.  Eine  den  Durchpass  sichernde  Brücke  und  die  dreistün- 
dige Entfernung  vom  Hauptflecken  Altorf  bestimmte  diesen  Punkt 
I  2um  Susthause  für  die  Transitgüter  und  zum  Futterort  für  die 
Saumthiere,  dies  gab  ihm  Entstehung  und  Benennung.  In  den 
wenigen  Mauerresten,  die  ohne  Anzeichen  ehmaliger  Grösse  oder 
Stärke,  bis  in  die  Dreissiger  Jahre  auf  dem  Flühli  vorhanden  ge- 
wesen, sah  man  nicht  ohne  Grund  eine  Zollstätte  der  Meier  von 
Silinen,  welche  hier  die  Gefälle  des  Zürcher  Frauenmünster-Stiftes 
einzuziehen  hatten.  Erst  1481  kaufte  sich  die  Gemeinde  von  der 
Zürcher  Grundherrlichkeit  los.  Bei  Unter-Stege  war  vor  1231  die 
Südgrenze  des  Gebietes  Rudolfs  des  Alten  von  Habsburg  gewesen, 
während  das  übrige  Thal  von  Steg  aufwärts  in  den  Händen  der 
Rapperswiler  Grafen  sich  befand.  Es  trafen  hier  also  zweierlei 
Twinge  zusammen,  der  Umer  Twing  Unter-  und  der  Ob  den 
Stegen.  Mit  diesen  einfachen  Angaben  sind  nun  aber  die  Ge- 
schichtsromantiker nicht  befriedigt,  durchaus  wollen  sie  in  jenem 
spärlichen  Gemäuer  die  Ruinen  der  Gesslerburg  Zwing-Uri  sehen, 


^8  n.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

und  obwohl  weder  Urkunden,  noch  auch  nur  locale  Traditionen 
etwas  von  einem  angeblichen  Schlosse  hier  zu  berichten  wissen, 
so  ist  man  bis  jetzt  noch  nicht  müde,  diesen  nackten  Fels  den 
übrigen  »Classischen  Stellen  der  Urschweizc  beizuzählen,  ihn 
touristisch  zu  beschreiben,  zu  beversen  und  abzubilden.  Woher 
diese  aufdringliche  Wichtig^uerei,?  Sie  stammt  von  den  Chro- 
nisten, die  den  Namen  Twing,  ein  harmloses  Appellativ,  zu  einem 
bedrohlich  lautenden  Eigennamen  aufgebläht  haben.  Lassen  wir 
ihre  Angaben  die  Musterung  passiren. 

Das  Obwaldner  Weisse  Buch  erzählt  von  Gessler  noch  ganz 
einfach:  >Nu  hat  der  selb  herr  ein'  Tum  angefangen  vnder 
Steg  vf  eim  bül,  den  wölt  er  nemmen  Twing  Üren.c  (Gesch.- 
Freund  13,  S.  74.)  Entweder  dieser  oder  einer  gemeinsamen 
Quelle  nachschreibend,  die  Sache  aber  schon  überbietend,  meldet 
hierauf  der  luzemer  Petermann  Etterlin:  >in  sunderheit  so  hat  der 
selb  herr  der  Gryssler  ein'  tum  angefangen  ze  buwen  ufF  dem 
büwel  ze  Solenturn,  den  wolt  er  nennen  Zwing  Ury  vnder 
die  Stegen.«  Der  auf  diese  Beiden  folgende  Tschudi  weiss  die 
Sache  noch  genauer.  Ihm  zufolge  errichtet  Gessler  seinen  gegen 
urnerischen  Landesaufruhr  bestimmten  Schlossbau 'nicht  in  dem 
geringfügigen,  abgelegnen  Weiler  Untersteg,  sondern  sachgemäss 
beim  Hauptflecken  Altorf:  »Liess  also  den  Winter  Stein,  Kalch, 
Sand  und  Zimmerholtz  uff  ein  Büchel,  der  Solathurn  genant, 
bi  Altdorff  dem  Houptfläcken  gelegen  [füren].  Und  alsbald  der 
früling  anno  Domini  1 307  angieng,  fieng  er  an  den  Buw  volfüren. 
Und  wann  man  jnne  fragt,  wie  die  Vesti  hassen  wurd,  sprach  er, 
jr  Namen  wurd  sin  Zwing  Uri  vnder  die  Stägen.  Das  ver- 
dross  die  Landtlüt  und  edle  Landtsässen  jn  Uri  gar  übel  und  was 
jnen  diser  Buw  ein  grosser  Dom  in  Augen.«  So  Tschudi  in 
seinem  ersten  Chronik-Entwürfe,  handschriftlich  auf  der  Zürcher 
Stadt  .-Biblth.,  abgedmckt  im  Schweiz.  Archiv  f.  Gesch.,  Bd.  19^ 
S.  384.  Weitschweifiger  und  mit  oratorischem  Pmnke  erzählt 
denselben  Umstand  Gualtherus*),  Rodolphus,  Tigurinus:  De  Helr, 
veüae  Origine,  successu,  incremento,  gloria,  statu  praesenti  Libri  tres. 
Ao,  Dm.  IS38  (abschriftlich  in  Zurlaubens  Stemmatographie,  tonu 
LXII).  Von  Abschnitt  19  bis  28  wird  hier  vom  kaiserlichen  Landr 
vogt  gehandelt:  tyrannus  omnium  crudelissimus ,  cui  non  Phalariüs 
mtperium,  non  Dionysiorum  cUrocitas,  non  Syllana  crudeütaSy  non  Nero* 


*)  Schwiegersohn  des  Reformators  Ulr«  Zwingli,  stirbt  ö/jährig  in  Zürich  158$. 


6.   Zwing-Uri.  j^/^j^ 

nis  crumium  imperium  comparari poterat,  Grislerus  nomine^  turrim 
Uria  isdificare  insHtuebat,  quam  odioso  nomine  Zwing  Urj  under 
die  Stägen  nominare  voluerat  etc.  In  Joh.  Hürlimanns *)  hand- 
schriftlicher Chronik  lautet  es  S.  20  ^eder  anders:  iDer  Tum 
zuo  Vrj,  genambt  Schräcken-die  Buren,  oder  Zwing  Vrj 
vnder  der  Stägen,  ward  gemacht  in  dem  jor  1261, €  —  In  Joh. 
Jak.  Wagner^s  Mercurius  Helvtt  (Tiguri  ijoi)  heisst.  es  pag.  43 : 
Rudera  arcis  Tyranni  vulgo  Zwing  Uri  unter  die  stägen  ijoj 
primo  die  anni  fuerunt  solo  aquatiz,  —  Der  gewesene  umer  Land- 
ammann Dr.  K.  Franz  Lusser  hat  1862  die  Geschichte  des  Kan- 
tons Uri  in  einem  644  Seiten  starken  Bande  herausgegeben  und 
erzählt  dorten  S.  47  mit  ungestörter  Sicherheit  also :  »Ritter  Her- 
mann Gessler  von  Brunneck  aus  dem  Aargau  war  von  Kaiser 
Albrecht  als  Reichsvogt  nach  Uri  gesendet  worden  und  schlug, 
gegen  alle  frühere  Gewohnheit,  hier  selbst  seinen  Wohnsitz  auf. 
Als  ihm  Frau  Kunigunde  von  Wasserstelz,  Aeb.tissin  des  Frauen- 
münsters  in  Zürich,  keine  ihrer  Umerburgen  in  Altorf,  Bürglen 
oder  Sillinen  einräumte,  auch  keine  adelige  Umerfamilie  ihm  die 
flirige  abtrat,  hielt  er  sich  grösstentheils  zu  Küssnach  in  Schwyz 
auf  und  wohnte,  wenn  er  nach  Uri  kam,  hart  an  Altorf  im  Hause 
deren  von  Winterberg.  Er  war  gesonnen,  hier  eine  Burg  zu 
bauen,  die  er  Twing-Uri  nennen  wollte.  Das  Wort  Twing  aber 
^etzt  schon  Eigenthum  voraus,  daher  konnte  das  Volk 
diesen  Namen,   der  auch  wie  Zwing- Uri  lautete,   nicht  leiden. c 

Aus  diesen  bisherigen  Citaten  ergiebt  sich  der  uns  schon  be- 
I  kannte  Umstand,  dass  die  Chronisten,  je  entfernter  sie  selbst  der 
zu  berichtenden  Begebenheit  stehen,  eine  um  so  genauere  Detail- 
kenntniss  über  dieselbe  zur  Schau  tragen,  so  dass  dann  der  jüngste 
Erzähler  die  Thatsache  erst  mit  derjenigen  charakteristischen  Be- 
sonderheit abschliesst,  mit  welcher  das  Thema,  wäre  es  ursprüng- 
lich wahr,  schon  beim  ältesten  hättelbeginnen  müssen. 

Wie  nun  kommt  Vogt  Gressler  nach  Altorf  und  wie  geräth 
er  da  auf  die  dreierlei  Schlossnamen  Solatum,  Schreckdenbauem 
und  Zwing-Uri  unter  die  Stegen  ?  Es  geschieht  beiderseits  durch 
blosse  Namens-Entlehnung  und  Namensverdrehung;  wie,  dies  er- 
weist sich  aus  den  Urkunden  und  der  einheimischen  Rechtsge- 
schichte. 


*)  Er  starb  1577  als  Chorherr  zu  Beronmünster ;  seine  handschriftliche  Chro- 
nilc  ist  auf  der  Zofinger  Stadtbibliothek,  bezeichnet:  P.  51,  40. 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  29 


1 


ACQ  II.   Die  Gessler  von  Bran^^  in  .Geschichte  und  Sage. 


Die  herzoglichen  Brüder  Leopold  und  Albrecht  schulden  an 
Heinrich  den  Gezzler,    »unsem  getreuen  lieben  Kammermeister« ^ 
4CXX)  Gl.  Darlehen,  geben  dafiir  ihm  und  seinen  Erben  Stadt  und 
Feste  Grüningen  zu  Pfand   und  versetzen  ihm  dazu  neben  drei 
andern  genannten  Höfen   des   Grüninger  Amtes  den  zu  Altorf. 
Actum  1374,  Mittwoch  vor  Pfingsten,  Baden  im  Aargau    (Staats- 
archiv Zürich,  Abthl.  Grüningeramt,    Bündel  2,  No.  12).      Dieser 
grosse  Hof  Altorf,    der  schon  seit  744  an  das  Kloster  St.  Gallea 
gehört  hatte    und  darnach  MöncSialtorf,  altorf  monachorunty 
geheissen  war,  besäss  hohe  und  niedere  Gerichte  .über  Land  und 
Leute  und  hatte  die  Entstehung  der  mit  der  Burg  Grüningen  ver- 
bundnen    Amtsherrschaft    ursprünglich    veranlasst.      Mit    seinea 
Zinsen  und  Gefällen  steht   er  im  Habsburger  Urbar  verzeichnet. 
Auf  seine  Dingstatt,    unter  deren  Stab  14  namentlich  mit  aufge- 
zählte Orte  und  Höfe  gehörten*),   setzte  Ritter  Heinrich  Gressler 
seinen  Untervogt.    Als  dann  dessen  Sohn,  Ritter  Hermann,  nach 
langer  Fehde  am  15.  October  1405  sich  mit  Zürich  befriedet,  ver- 
schreibt er   der   Stadt    erstlich   1000  Gl.   auf  einige  Vesten  und 
Vogteien  des  Grüninger  Amtes  und  tritt  ihr  hernach  am  11.  und 
15.  Juli  1408  das  ganze  Amt  käuflich  ab  (Gessler-Regesten).    Diese. 
Ritter  Gessler  nun,  welche  von  1 374  bis  1408  ununterbrochen  die 
herzoglich-österreichischen  Vögte  und  Schlossherren  zu  Altorf  im 
Zürcherlande  gewesen  waren,  als  eben  solche  in  das  Umer  Altorf  1 
zu  versetzen,  machte  den  leichtfertigen  Chronisten  wenig  Bedenken. ; 
Und  da  die  Gessler  an  die  Vesten  und  Burgen  des  Grüninger- 
amtes  grosse  Summen  verbaut  hatten,  deren  Betrag  einen  zwischen 
ihnen,   den  Herzogen  und  schliesslich  der  Stadt  Zürich  oftmals 
behandelten  Abrechnungspunkt  bildete ,  so  konnte  man  den  nach  j 
Uri  versetzten  Phantasie-Gessler  auch  hier  zu  Altorf  und  Amst^  \ 
abermals  Zwingburgen  erbauen  lassen.    Nun  kam  es  noch  darauf  i 
an,  diesen  Neubauten  aus  der  Schreckenszeit  auch  neue  befremd-  1 
lieh  und  grausam  lautende  Namen  zu  geben,   und  eben  da  ent- 
hüllt sich  die  plumpe  Bosheit  der  Erfindung  vollends. 

Wie  kommt  der  halblateinische  Schlossname  Solaturn  in 
den  Mund  der  alemannischen  Bauernschaft  zu  Amsteg?  Er  ist 
von  der  Ostgrenze  des  Umerlandes,  aus  dem  rhäto-romanischen 
Sprachgebiete  des  Ursefenthales  und  Bündnerlandes,    gewaltsam 


*)  Sie   stehen   genannt  im   Grüninger  Amtsrecht,    pag.  62,    MS.  BibL  Nov.,    ' 
fol'  33»  auf  der  aargauer  Kt.-Biblth.  1 


I 

i 


6.    Zwing- Uri.  ac  i 

hieher  versetzt.  Ein  Ausdorf  der  Bündner  Gemeinde  Vals  im 
Lugnezthale  heisst  Solodura  und  hat  erst  neulich  noch  von  sich 
reden  gemacht,  als  am  25.  März  1872  Lawinenstürze  es  ver- 
schütteten. Der  andere  erkeckte  Schlossname  Schreckden- 
bauern  gehört  unter  die  schon  seit  dem  dreizehnten  Jahrhundert 
zahlreich  auftretenden  poetischen  Namenscomposita ,  welche  man 
Festungsthürmen,  später  auch  grossen  Geschützstücken  beizulegen 
pflegte;  sie  setzen  den  Imperativ  voraus  und  lassen  das  Sub- 
stantiv (im  Accusativ)  nachfolgen:  Störenfried,  Scheuchenpflug, 
Schreckdenfeind,  Schreckdengast.  Grimm,  Grammat.  2, 962.  Eben 
solchen  Formen  abentlehnt,  aber  kein  wirkliches  Namenscompo- 
situm  mehr,  sondern  eine  aller  Namensschöpfung  zuwiderlaufende 
ganze  Phrase  ist  das  albern  lautende  Zwing  Uri  unter  die 
[Stegen.  Es  ist  in  der  feindseligen  Absicht  erfunden,  einen  durch 
Sprache  und  Satzung  im  ganzen  Lande  giltigen  und  allverständ- 
lichen Begriff  durch  Wortverdrehung  zu  verdunkeln.  Hierin  allein 
liegt  der  Kern  der  Zwingburgsgeschichte;  er  soll  nun  aus  seiner 
schwachen  Hülse  herausgeschält  werden. 

Tschudi  wusste  zu  seiner  Zeit  noch  mit  aller  Lebhaftigkeit 
des  Sprachbrauches  und  der  Rechtsübung,  dass  bei  Amsteg  von 
jeher  zwei  Zwinge  sich  schieden;  ihrer  einer,  ob  den  Stegen, 
hatte  unter  der  Gerechtsame  der  Grafen  von  Alt-Rapperswil  ge- 
standen; der  andere,  unterhalb  der  Stege,  ebenso  unter  der  Aeb- 
pssin  des  Zürcher  Frauenmünsters.  Aus  diesen  beiden  Land- 
schaftsnamen wagte  nun  der  Chronist  einen  imperativischen  Trutz- 
^men  heraus  zu  deuteln,  der  das  ganze  Urnerland  damit  be- 
oht,  dass  es  kopfüber  unter  die  Stege  der  Reuss  hinab- 
worfen,  oder  gar  unter  die  Stägen  des  Vogthauses,  wo 
bil  der  Hundezwinger  ist,  hinein  gesperrt  werden  solle;  wahr- 
fch,  ein  gar  zu  armseliger  Calembourg  über  den  Namen  Zwing, 
etzterer  leitet  ab  von  althd.  twingan,  dicht  zusammenfügen,  und 
zieht  sich  auf  den  gehegten  Umfang  eines  nach  gemeinsamer 
tzung  bebauten  und  verwalteten  Landbezirkes.  Die  hier  unter 
:leichen  Rechten  wohnende  und  wirthschaftende  Bevölkerung  war 
ie  Mark-  und  Twinggenossenschaft ;  den  Umkreis  ihres  von  Dorf- 
iöid  Hofzaun  eingefriedeten  Areals  sammt  den  dazu  gehörenden 
^eld-  und  Waldstrecken,  die  durch  den  Bannzaun  von  der  Nach- 
bargemarkung  geschieden  waren,  und  die  hier  geltenden  Satzungen 
verzeichnete  und  enthielt  der  Twingrodel,  nach  dessen  Wortlaute 

3er  die  Civiljustiz  und  Polizei  innerhalb  des  Bezirkes  handhabende 

29* 


AC2  II«    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Richter,  der  entweder  von  den  Twinggenossen  gewählte*)  oder 
von  dem  Lehensherm  gesetzte  Twingherr ,  das  für  die  ganze  Ge- 
nossame  verbindliche,  feierlich  gebannte  Twinggericht,  gewöhnlich 
zweimal  des  Jahres,  abhielt.     Zwing  und  Bann  zusammen   begriff 
die  Handhabung  der  wirthschaftlichen  und  polizeilichen  Ordnui^ 
in  Dorf  und  Felde  und  wurde  mittels  des  CoUectivs  Getwing  aus- 
gedrückt.    Grimm  Weisth.  I.  80,  173.    Zeitschr.  f.  Schweiz.  Recht, 
Bd.  18,  162.     Aus  den   Genossenschaften    der    Twinggemeinden 
und  Kirchgemeinden  hat  sich  alles  Gemeindeleben  entwickelt.    In 
der  Twinggemeinde  gilt  die  gemeine  Mark  als  Gesammteigenthum 
und  die  persönlich   erbliche  Genossame;    in  der  Kirchgemeinde 
gelten  die  Kirchspielsgrenzen  und  der  berechtigte  Wohnsitz  im 
Pfarrsprengel.    Die  Kirchgemeinden  erschöpfen  Bevölkerung  und 
Territorium;   bei   der  Twinggemeinde  ist  letzteres  nicht  der  Fall, 
denn  sie  ist  eine  sociale  Bildung,  deren  Zweck  sich  auf  geregelte 
Nutzung  gemeinsamen  Gutes  beschränkt.    Für  die  Realisirung  all- 
gemeiner staatlicher  Zwecke  erscheinen  die  Kirchgemeinden  bloss 
als  Surrogate   der  Twinggemeinden.     Die  patrimoniale  Gerichts- 
barkeit in  den  Twingen  bedurfte  der  Executivgewalt  der  Vogtei 
schon  in  privatrechtlicher  Beziehung,  das  ganze  Verhältniss  der 
Genossame  als  juridischer  Person  fiel   unter  die  schützende  Ob-, 
sorge  des  Vogtes.    Dcis  Gleiche  war  auch  bei  den  Kirchgemeinden 
der  Fall ;  Kirchen  und  Pfründen  werden  sogar  positiv  als  vogtbar- 
bezeichnet;  auch  ihre  Forderungen  wurden  in  letzter  Linie  durch; 
Vogtsgewalt  eingebracht,  wenn  die  ersten  Grebote  nicht  hinreich-- 
ten    und    Ungehorsame    gehorsam    gemacht    werden     mussten. 
Immerhin  bot  jedoch  die  Organisation  der  Twinggemeinde  Staat-, 
lieber  Einwirkung    mehr  Anhaltspunkte    dar,    als   die   der  Kirch-; 
gemeinde.      So    urtheilt  Segesser   in  seiner  Luzerner    Rechtsge-i 
schichte  (III,  Buch  13,  184)  über  Wesen,  Werth  und  sociale  Wir-^ 
kung  der  Twing  -  Genossenschaften.     Seitdem  man.  aber  begann,' 
die   allgemeine    Grundgerechtsame  in  Privatbesitz   auszuscheiden, 
die  Almende  zu  theilen,   liegendes  Gremeingut  in  fahrendes  Capi* 
tal  umzuwandeln,  sind  aus  den  Twinggemeinden  die  allenthalbea 


*)  Der  Dorfrodel  von  aargauisch  Hendschikon  vom  Jahre  1420,  abschriftlich 
im   Schlossarchiv   zu   Hallwil,    bestimmt    in   §  6  als  eines  dieser  Gemeinde  zaA 
stehenden  Rechte:    »dass  sie   mögen   einen  Zwingherren  unter  denen  von  HallwiU 
nemmen,    welchen   sie  wollen,    und  ob  derselb  sie  nicht  Hesse  bleiben  bey  Ihrea 
rechten   alten  herkommen,    so    mögend  sy  einen   anderen  nemmen.«     Ztschr.  für 
Schweiz.  Recht,  Bd.  18,  S.   10  der  Rechtsquellen. 


i 


6.    Zwing-Uri.  ^Jj 

noch  vorhandnen  Corporationsgemeinden  geworden,  heute  nicht 
mehr  politischen  Charakters,  sondern  von  rein  administrativer 
Natur.  Und  je  mehr  die  Grundherren  ihre  doppelte  Eigenschaft 
als  Miteigenthümer  der  Dorfmarke  und  als  Leibherren  der  hier 
auf  dem  Fronhofe  mitansässigen  Hofhörigen  geltend  machten; 
oder  je  mehr  die  Freien  hier  in  Gerichtsgemeinschaft  mit  den 
Eigen-  und  Vogtleuten  traten,  ^desto  mehr  musste  im  Laufe  der 
Zeit  Ausgleichung  eintreten,  die  Genossame  der  hier  ansässigen 
Fronhofsleute  und  die  der  Dorfmarkgemeinder  verschmolzen  mit 
einander  (Maurer,  Dorfverfassung  2,  194).  Der  Name  Twing, 
Sitz  einer  niedern  Gerichtsbarkeit,  eingesetzt  zu  Gunsten  des 
freien,  selbständigen  Verfügungsrechtes  der  Markgenossen  über 
die  Nutzung  der  Dorfmark,  erhielt  so  allmählich  den  Sinn  einer 
von  dem  Grundherrn  ausgehenden  gerichtlichen  Beschränkung 
örtlicher  Freiheiten,  verbunden  mit  auferlegten  Dienstleistungen, 
deren  Executor  derjenige  Vogt  oder  Meier  war,  hinter  dessen 
Obrigkeit  man  sass.  So  vermischte  sich  mit  dem  Worte  Zwing 
der  Begriff  des  nicht  gewollten  Zwanges.  In  eben  dem  Zustande 
betrifft  man  nun  laut  frühesten  Geschichtsquellen  die  einzelnen 
Theile  des  Umerländchens.  Schon  857  unter  König  Otto  I.  ge- 
hören daselbst  Bürglen  und  Silenen  (loca  Burgüla  et  Silana)  an  die 
Zürcher  Frauenmünster- Abtei ,  und  letztere  besass  ihre  dortigen 
»Regula-Leute«  als  Hörige,  y«rtf  serviiutis.  Gleiches  gilt  auch 
von  den  Besitzungen  daselbst,  welche  das  aargauer  Stift  Wettingen 
in  den  oberen  Landestheilen,  in  der  Gegend  von  Göschenen  und 
vom  Meyenthal  seit  1231  innehatte.  Da  empfängt  mit  Ur- 
kunde vom  16.  Februar  1248  Konrad  Niemirschin,  der  Wettinger 
Klostermeier,  von  den  urner  Thalleuten  und  den  dortigen  Wet- 
tinger Zinsleuten  gemeinschaftlich,  einen  Meierhof  und  einen 
Thurm  in  Schachdorf  {turrim  cum  adjacente  curia)  zu  lebensläng- 
lichem Lehen,  den  Thurm  zu  dem  besonderen  Zwecke,  ihn  in 
eine  Veste  innunicio^L  umzubauen  als  Zufluchtsstätte  für  sich  und 
seine  Leute  auf  den  Fall,  dass  unter  den  Thalbewohnern  ein  Auf- 
stand ausbreche.  Die  Gemeinde  von  Uri  und  die  Aebtissin  von 
Zürich  besiegeln  die  Urkunde*).  Von  eben  diesem  Stifte  aus 
,war  aber  auch  das  Urnerkloster  Seedorf,  genannt  in  Oberdorf, 
zunächst  bei  Altorf  gelegen,  mit  Nonnen  besetzt  worden,  worauf 
dann,  der  Seedorfer  Cronica  zufolge,  durch  einen  mythischen 


*)  Gesch.-Freund  IX,  3.  —  G.  v.  Wyss,  Abtei  Zürich,  Beilage  No.  506. 


A^^  II*    ^^^  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

König  Balduin  dem  Kloster  alles  Land  herwärts  der  Reuss  und 
bis  hinauf  an  die  SchöUenen  zum  Eigenthum  geschenkt  und  der 
Aebtissin  das  Recht  gegeben  wurde,  ihren  Umer  Unterthanen  »die 
Darm  vss  dem  lyb  ze  hasplen,  wie  diss  in  dess  gottshuss  stift- 
büchem  alles  ordentlich  ze  sechenc*). 

Doch  dass  man  sich  durch  eine  solche  Phrase  aus  der 
Schinderknechts  -  Sprache  ja  nicht  überraschen  lasse,  so  ist  die- 
selbe nicht  früher  als  1698  und  von  keinem  Andern  geschrieben, 
als  von  dem  Geschichtsfälscher  Rennwart  Cysat,  dem  bekannten 
Luzemer  Stadtschreiber,  Nährvater  der  dortigen  Jesuiten  und  Erb- 
feinde des  reformirten  Zürich**).  Die  vom  Zürcher  Frauenstifte 
schon  seit  dem  neunten  Jahrhundert  in  Uri  besessene  Grundherr- 
lichkeit musste  also  der  Faden  werden,  auf  den  man  alle  erdenk- 
lichen Zwingherrngreuel  und  Gessleriaden  zusammen  reihte.  Seit- 
dem war  das  Wort  Twing  und  alle  übrigen  damit  zusammen- 
hängenden Namen  bei  den  hierseitigen  Historikern  in  politischen 
Verruf  gethan,  ohne  dass  sie  bedachten,  wohin  dieser  Namens- 
hass  sie  selbst  fuhren  musste.  Ihre  ,eignen  ältesten  Landleuten- 
geschlechter  in  den  Urkantonen  wären  damit  zu  lauter  Ur-  und 
Vollbluts-Gesslem  ernannt  gewesen***).  Sogar  noch  der  beson- 
nene Conventuale'  Ildeph.  v.  Arx  verirrt  sich  in  seiner  Sanct 
Gallergeschichte  i,  486  bis  zu  der  Behauptung:  »das  Schweizer- 
volk pflege  mit  dem  Namen  Zwingherm  noch  heute  das  höchste 
Mass  von  Unterdrückung,  Gewaltthätigkeit  und  Wollust  zu  ver- 
binden«. Sei  dem  wirklich  also,  woher  denn  hätte  alsdann  das 
Volk  eine  so  sinnlose  Gepflogenheit,  wenn  nicht  von  seinen  Chro- 


*)  In  Jak.  Rueff 's  Spyl  von  Wilhelm  Teilen  (1545)  wird  dem  Samer  Land- 
vogt das  Wort  in  den  Mund  gelegt: 

Dann  s'  blut,  das  sie  in  dem  lychnam  tragen, 
d*  spyss,  kost,  die  lyt  in  jrem  magen, 
das  ist  mins  Herren  von  Oesterrich, 
E.  Weller,  das  alte  Volkstheater  der  Schweiz.     Frauenfeld  1863,  168. 

**)  Der  Erweis,  dass  Cysat  den  Seedorf  er  Codex  mit  »vorsätzlicher  Ver'- 
setzung  der  Sachen  verunstaltete«,  wird  geliefert  durch  die  von  dem 
Urner  Landammann  Peter  Gisler  161 6  gemachte  Abschrift  desselben  Codex.  Beides 
sammt  dem  von  uns  hierüber  nur  reproducirten  Urtheile  liegt  vor  in  Zurlauben^s 
Stemmatographie  Bd.  60,  S.  143  bis   183,  folio. 

***)  Hans  Twingli  aus  Unterwaiden  fällt  1443  im  Gefechte  am  Hirzel  (Zur- 
lauben,  Mon.  Tug.  tom.  8,  167);  dessen  Landsmann  Rudi  Twingli  1444  bei 
St.  Jakob  an  der  Birs  (Tschudi  II,  373.  427);  der  Reformator  Ulrich  Zwingli 
1531  in  der  Schlacht  bei  Kappel. 


6.    Zwing-Uri. 


455 


nisten,  die  einmüthig  eine  schweizerische  Urfreiheit  voraus- 
setzen und  darum  so  bitterlich  auf  die  Zeit  der  Vogtschaft  schel- 
ten. »Als  wenn  die  Schweizer  ein  ander  Schicksal  als  andere 
Völker  gehabt  und  Freiheit  genossen  hätten,  ehe  Freiheit  war!« 
J.  Conrad  Füesslin,  Staats-  u.  Erdbeschreib,  d.  schwz.  Eidgenosz- 
schaft  (1770)  II,  60. 

Geschichte  ist  Geschichte  des  Verstandes 
Und  ihr  Probierstein  ist  und  bleibt  Vernunft. 
Dem  Unvernünftigen  nur  giebt^s  Geschichten, 
Auch  tausend  Zungen  ^machen  noch  nichts  wahr. 

Leopold  Schefer,  Weltpriester  S.  62. 


I 


VII. 
Melchthals  Blendung. 


Die  geschichtliche  Vorbildlichkeit  zur  Sage  von  der  durch 
den  Österreicher  Landvogt  Landenberg  an  Vater  Melchth^l  in 
Unterwaiden  verübten  Pfändung  und  Blendung  ist  gegeben  in  der- 
selben Execution,  welche  Herzog  Friedrich  IV.  von  Oesterreich 
an  seines  Landvogtes  Hermann  Gesslers  Diener,  dem  Burkart 
Schlatter  von  Zürich,  im  Jahre  141 2  hat  vollziehen  lassen. 
Schälly,  der  in  den  Jahren  1445  bis  1480  Landschreiber  in  Ob- 
walden  war  und  daselbst  seine  Chtonik  des  Weissen  Buches  zu- 
sammentrug, ist  der  erste  und  früheste  der  Schweizer  Annalisten, 
welcher  die  Melchthals-Sage  erzählt*),  niedergeschrieben  hat  er 
sie  also  etwa  siebenundfiinfzig  Jahre  nach  der  von  Herzog  Friedrich 
in  Tirol  an  Burkart  Schlatter  verübten  Grausamkeit.  Die  Re- 
gierungsperiode sowohl  dieses  Herzogs,  zu  dessen  Ländern  die 
Grafschaft  Tirol  gehörte,  als  auch  die  seines  Sohnes  Sigmund, 
der  gleichfalls  den  Titel  eines  Grafen  von  Tirol  trug  und  mit  den 
Eidgenossen  zwischen  1460 — 70  feindlich   und  freundlich  vielfach 


*)  Nu  was  uf  Samen  einer  von  Landenberg  vogt  zu  des  Richs  banden,  der 
yemam  das  einer  jm  Melcbi  were,  der  betti  ein'  bübscben  zugg  mit  ocbsen.  Dt. 
für  der  Her  zu  und  schigt  sin  knecbt  dabin  und  biess  die  ocbsen  entwetten  (aus* 
jocben)  und  imm  die  bringen  und  bies  dem  arm  man  segen:  puren  solten  den 
pflüg  zien  und  er  wölti  die  ocbsen  ban.  (Melcbtbals  Sobn  widersetzt  sieb,  scblägt 
dem  zugreifenden  Vogtsknecbte  einen  Finger  entzwei  und  fliebt  aus  dem  Lande.) 
Der  berre  scbigt  umb  sin  vatter  und  bies  jnn  gan  Samen  füren  uf  das  bus  und 
erblant  jnn  und  namm  jmm  was  er  bat  und  tet  jmm  gross  übel.  Ausgabe  von 
G.  V.  Wyss,  S.  6. 


7»    Melchthäls  Blendung.  acj 

ZU  thun  hatte,  schwebt  dem  Chronisten  Schälly  so  lebhaft  vor, 
dass  er  die  Grafen  von  Tirol  zu  Zeitgenossen  König  Ru- 
dolfs macht,  auf  sie  nach  dessen  Tode  die  Herrschaft  in  den 
Waldstätten  übergehen  und  da  die  Vögte  G.essler  und  Lan- 
denberg  einsetzen  lässt*).  "N^ie  er  alsdann  die  Melchthäls- 
geschichte  einem  Einzelfalle  der  Gesslerischen  Familiengeschichte 
abentlehnt,  diesen  Fall  aber,  ein  den  Zeitgenossen  allbekanntes 
Ereigniss,  klüglich  der  richtigen  Personennamen  entkleidet  und 
ihn  hinter  den  für  Unterwaiden  unerweislichen  Vogtsnamen  Lan- 
denberg versteckt,  dies  wird  sich  aus  der  folgenden  Darlegung 
ergeben.  ' 

Ritter  Hermann  Gessler,  des  Herzogs  Friedrich  IV.  Landvogt 
in  Aargau,  Zürichgau,  auf  dem  Schwarzwalde  und  an  der  Etsch, 
hatte  sich  mit  seinem  Fürsten  wegen  Verwaltungs-  und  Bürg- 
schafts-Angelegenheiten überworfen  und  war  aus  der  hierauf  ge^en 
seine  Amtsführung  verhängten  Untersuchung  unbescholten  hervor- 
gegangen. Der  hiedurch  nicht  besser  gestimmte  Fürst  rächt  sich 
nun,  statt  an  dem  damals  ihm  unerreichbaren  Vogte,  an  dessen 
Diener  auf  eine  barbarische  Weise.  Dies  giebt  Anlass  zu  einer 
von  der  Stadt  Zürich,  dessen  Bürger  jener  misshandelte  Diener 
ist,  anhängig  gemachten  Klage,  welche  Jahrzehnte  vor  einheimischen 
und  auswärtigen  Gerichten  schwebt  und  darüber  alle  Zeit  hat, 
sich  durch  die  Eidgenossenschaft  zu  verbreiten  und  mit  Hermann 
Gesslers  Namen  verschwistert  zu  werden.  Mit  Zuschrift  vom 
3.  October   141 2   wendet  sich  nemlich  der  Stadtrath  von  Zürich 

Ian  Ritter  Burkart  von  Mannsberg,  österreichischen  Vogt  der  Graf- 
schaft Baden  (derselbe,  welcher  141 5  Stadt  und  Schloss  Baden 
gegen  die  belagernden  Eidgenossen  vertheidigt  hat),|  und  kündigt 
ihm  Tagfahrt  zum  Austrag  eines  Prozesses  an,  wornach  Burkart 
Schlatter,  Bürger  von  Zürich,  Schmerzensgeld  und  Entschädigung 
dafür  verlangt,  dass  ihm,  als  einem  gewesnen  Diener  des  herzog- 
lichen Landvogtes  Hermann  Gessler,  auf  Herzog  Friedrichs  Be- 
fehl die  Augen  ausgestochen,  die  Zunge  ausgeschnitten  und  seine 
Besitzthümer  im  Etschlande  confiscirt  worden  sind.  Diese  Gewalt- 
that,  bemerkt  dass  Zürcher  Schreiben,  sei  an  Schlatter  des  Her- 
mann Gesslers  wegen  verübt  worden.  Beigefügt  muss  hier  wer- 
den ,  dass  Gessler  sein  damaliges  Zerwürfniss  mit  dem  Herzoge 
I 


*)   Geschichts  -  Freund  Bd.  28,   252.     Vaucher,   im  Anzeiger  [für   Schweiz. 
Gesch.    1874,  No.  3. 


^cg  II.    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

unter  der  Hand  wieder  geschlichtet  und  in  diesen  Frieden  auch 
seine  Anhänger  und  Diener  mit  eingeschlossen  hatte.  Im  Ver- 
trauen darauf  war  nun  der  Diener  Schlatter  auf  sein  während  der 
Fehde  Verlassnes  Gut  an  der  Etsch  zurückgekehrt,  hier  aber  er- 
griffen und  von  dem  in  seiner  Leidenschaft  tollen  Herzog  ver- 
stümmelt worden.  Die  Stadt  Zürich  verwendete  sich  jfiir  ihren 
Mitbürger  aufs  lebhafteste  und  an  mehrfachen  Orten,  so  am  Hofe 
zu  Innsbruck,  hierauf  zu  Ensisheim  bei  Frau  Anna  von  Braun- 
schweig, Herzog  Friedrichs  Gemahlin,  schliesslich  auch  bei  .Kaiser 
Friedrich  III.  Es  wird  sogar,  weil  der  Herzog  zu  entsprechen 
zögert,  ein  von  dessen  Gemahlin  an  Zürich  gerichtetes  Ansuchen 
hier  gleichfalls  abschlägig  beschieden  und  der  Herzogin  no- 
tificirt,  dass  man  die  fürstlichen  Personen  schuldige  Artigkeit  in 
gegenwärtigem  Falle  vorerst  aufzuschieben  beschlossen  habe.  An 
den  Kaiser  nach  Aachen  endlich  wird  Bürgermeister  Heinrich 
Schwend,  Schlatters  Verwandter,  mit  einer  schriftlichen  Instruction 
gesendet,  in  welcher  auf  des  Misshandelten  und  seiner  Erben 
Schadloshaltung  unter  ausfuhrlich  dargelegten  Gründen  bestanden 
wird.  Nachdem  so  der  Prozess  volle  24  Jahre  geschwebt  hat, 
verliert  er  sich  aus  den  Acten  und  scheint  unerledigt  geblieben 
zu  sein. 

Diese  Blendungs-  und  Pfändungsgeschichte,  ausgehend  vom 
Österreicher  Herzog,  vollzogen  an  einem  eidgenössischen  Bürger, 
während  derselbe  im  Dienste  des  in  den  Vorlanden  amtenden 
herzoglichen  Landvogtes  Hermann  Gessler  steht ,  findet  sich,  wie 
wir  sie  soeben  erzählten,  eingetragen  zum  Jahre  1414  im  Zürcher 
Stadtbuche.  In  die  schweizer  Jahrbücher  dagegen  ist  sie  mit 
keiner  Sylbe  übergegangen,  trotzdem  dass  sie  so  lange  gerichtlich 
anhängig  gewesen  und  allgemein  bekannt  geworden  war.  Aus 
letzterem  ist  zu  schliessen,  dass  die  entsetzliche  Strafart,  welche 
den  Schlatter  traf,  damals  noch  nicht  nach  unserer  humaneren 
Empfindungsweise,  sondern  nach  solchen  Rechtsanschauungen  er- 
wogen worden  sein  mochte,  wie  sie  im  gegebenen  Falle  in  und 
ausserhalb  der  Schweiz  altherkömmliche  waren*).  Es  kam  da- 
mals  die   Strafe   der  Blendung   besonders   gegen  Solche   in  An- 


*)  Das  vom  luzeraer   Leodegarsstifte  geführte '  Aeltere   Siegel    stellt    die 
Stiftspatron    vollzogene  Blendung   dar:     Ein   Henkersknecht   des   fränkischen  Ty\ 
rannen  Ebroin   dreht  mit  einem  langen  Handbohrer  im  Auge   des  Bischofs 
degar  zimmermännisch  herum. 


I 


7*    Melchthals  Blendung.  ^^g 

wöidung,  die  auf  einer  unberechtigten  oder  falschen  Kundschaft 
ergriffen  wurden;    ebenso   wurde   die  fraudulose    oder  sonst   ge- 
richtlich ungiltige  Verschleppung  eines  Vermögenstheiles  der  eid- 
lichen Ableugnimg  gleichgeachtet  und  mit  Verlust  der  Zunge  ge- 
büsst.      Das    Fortbestehen    beider    Strafarten    im    Zürcher    pein- 
lichen   Rechte   noch    am  Schlüsse  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
ist  in   Schauberg's  Schweiz.  Rechtsquellen   i,  386  nachgewiesen. 
Unserem  Specialfalle  rückt   man  aber  durch  das   Stadtrecht  von 
Baden  aus  den  Jahren  1429  und  1439  noch  näher.     Hier,  wo  die 
■Gessler  damals  erst  achtzehn  Jahre  zuvor  geamtet  hatten,  verfugte  das 
Gesetz:    »dem  Schuldner,  welcher  fallige  20  Pfund  Stäbler  nicht 
rechtzeitig  bezahlen  kann,  werden  beide  Hände  abgehauen,  wegen 
io  Pfund  die  eine ;  wer  in  Auffall  gerathend,  von  seiner  Fahrhabe 
etwas  unterschlägt,  verliert  die  Zunge;   wer  als  Bote  Briefe  er- 
bricht, beide  Augen.«    Regest,  d.  St.  Baden,  im  Schweiz.  Archiv 
No.  260  und  291.    Die  Anwendung  hievon  aufSchlatter  ist  nahe- 
liegend.    Da  nemlich  derselbe   zur  Unzeit  des  zwischen  seinem 
Herrn  und  dem  Herzog  schwebenden  Unfriedens  von  der  Schweiz 
aus  auf  sein  Gut  an  der  Etsch  bei  Meran  vorgedrungen  ist,  um 
wahrscheinlich  die  gefährdete  Fahrhabe  zu  entfernen,  so  macht  er 
sich   beim   Gegner    der   unberechtigten   Spähe  und   zugleich  der 
Unterschlagung  schuldig  und  verliert  nach  österreichischer  Landes- 
satzung*) Augen  und  Zunge.     Das  Criminalverfahren  war  zur  sel- 
ben Zeit  in  unsem  Landschaften  um  nichts  gelinder  gewesen.   Die 
Stadt  Basel  bezahlte  im  Jahre    1406  ihrem  Scharfrichter  für  die 
Execution   des  Blendens  und  des  Zungeabschneidens  nur  je  fünf 
Schilling  Lohn,  während  die  Todtengräbertaxe  daselbst  schon  auf 
acht    Schilling    stand**).     Auch   im   Aargau    wurde   das  blosse 
Führen    falscher    Spielwürfel    mit   Augenausstechen  bestraft***), 
allein  als  wegen  dieses  Vergehens  Schultheiss  und  Rath  zu  Zo- 
fingen 1 399  den  Lorenz  von  Würzburg  zur  Blendung  verurtheilten, 
war  es  gerade  die  Frau   Gesslerin   (Ehefrau  des  Ritters  und 
Landvogtes  Heinrich  Gessler),  die  mit  Fürsprache  der  umwohnen- 


*)  Die  Wiener  Stadtverordnung  vom  21.  Januar  i486  verfügt:  Wer  die  Pali- 
saden   der    Stadt  überklettert   und   ergriffen  wird,   dem   soll  man  die  Augen  aus- 
brechen.    Schlager,  Wiener  Skizzen,    Neue  Folge  III,  230.    Aehnliches  im  Basler 
Stadtrechte,  vergl.  Peter  Ochs,  Gesch.  d.  St.  u.  Landsch.  £asel  II,  4:08. 
**)  Peter  Ochs,  ebenda  III,  170  und  203. 

***)  Dieselbe   Strafe  und  aus   dem  gleichen  Grunde  wird  am   ii«  Aug.  1434 
zu  Konstan2  vollzogen.     Konstanzerchronik  in  Mone's  Quellensammlung  I,  337  a. 


^6o  II«    I^ic  Gessler  von  Bronegg  in  Geschichte  und  Sage« 

den  Edelfrauen  den  armen  Sünder  losbat.   (Sam.  Gränicher : )  Hist. 
Notizen  von  Zofingen,  1825,  S.  20, 

So  verhalten  sich  die  geschichtlichen  Thatsachen  in  der 
Schlatter'schen  Blendungsgeschichte  zu  der  Melchthalischen  in 
der  Chronistenerzählung.  Jene  spielt  1414,  diese  wird  von  Stumpf 
gerade  um  ein  Jahrhundert  früher  angesetzt:  »vngefarlich  vmb 
das  jar  1314.«  Friedrichs,  des  strafenden  Herzogs  Name,  erlischt 
dem  Obwaldner  Chronisten  Schälly,  er  kennt  nur  einen  allgemei- 
nen Grafen  von  Tirol;  aber  eben  dieses  Herzogs  Landvögte  in 
den  Vorlanden,  die  im  Thur-  und  Aargau  amtenden  Gessler  und 
Landenberge,  nennt  er  und  stempelt  sie  zu  Werkzeugen  der  fürst- 
lichen Grausamkeit.  Sein  geplantes  Verfahren,  Vorfälle  aus  dem 
fünfzehnten  Jahrhundert  in  das  vierzehnte  zurück  zu  versetzen,  ist 
in  diesem  einen  Falle  aufgedeckt,  und  wir  könnten  nun  von  ihm 
scheiden.  Da  er  aber  mit  dem  einen  Plagiat  zugleich  ein  zweites 
begeht,  so  soll  auch  noch  dessen  Quelle  aufgewiesen  werden,  wir 
meinen  die  dem  Melchthal  vom  Pfluge  gepfändeten  Ochsen. 

Schälly  erzählt,  der  Anlass  zu  Melchthals  Blendung  seien 
dessen  Zugochsen  gewesen,  Vogt  Landenberg  habe  sie  abspannen 
und  ihm  sagen  lassen :  Die  Bauern  könnten  den  Pflug  selbst  ziehen» 
Dieses  Dictum  steht  bekanntlich  schon  bei  Saxo  Grammaticus :  der- 
selbe Dänenkönig  Harald,  der  den  Toko  zwang,  dessen  Söhnlein 
den  Apfel  vom  Haupte  zu  schiessen  und  dafür  nachmals  unter 
dieses  Schützen  Pfeil  fiel,  war,  sagt  Saxo  ausdrücklich,  in  seiner 
Tyrannei  gegen  die  Unterthanen  so  weit  gegangen,  dass  er  Men- 
schen und  Ochsen  zusammenspannen  Hess.  Die  Folge  davon  war  1 
die  Empörung  der  Dänen  und  des  Königs  Vertreibung.  Aber 
nicht  aus  Saxo  brauchte  Schälly  zu  entlehnen,  denn  die  Sage> 
dass  der  das  Pfluggespann  begehrende  Dränger  von  dem  Bedräng- 
ten erschlagen  wird,  hatte  in  unsrer  oberdeutschen  Literatur  schon 
seit  Anfang  des  vierzehnten  Jahrhunderts  öftere  Erwähnung  gefun- 
den. Der  Berner  Predigermönch  Ulrich  Boner  (urkundlich  zwi- 
schen den  Jahren  1324 — 1349)  lässt  in  seiner  Gedichtsammlung 
Edelstein   den  räuberischen  Twingherm  übermüthig  ausrufen: 

Hab  dir  das  kalp,  la  mir  diu  kuol 
wilt  du  des  niht,  so  var  ich  zuo 
imd  nim  diu  kuo  gesampt  dem  kalpl 

Aber  in  Boners  zwei  weiteren  Erzählungen  Von  boesen  voeg- 
ten,  und  Von  offenunge  des  rechtes,   wird   dann  hervorgehoben. 


•j 


7*   Melchthals  Blendung.  ^6l 

wie  der  Bauer  mit  dem  Ritter  kämpft  und  ihn  tödtet:  »den  ritter 
sluog  der  akerknecht«.  Solcherlei  Züge  stützen  sich  auf  Pflüger- 
und Kombauem-Sagen,  sie  mussten  demnach  ihren  ursprünglichen 
Wohnsitz  in  dem  Fruchtbau  treibenden  Vorlande  gehabt  haben, 
bevor  sie  in  das  Unterwaldner  Sennenland  hinein  entlehnt  werden 
konnten.  Und  wirklich  berichtet  die  Sage  gerade  aus  den  äusse- 
ren Kantonen  das  Gleichnamige,  wie  der  Burg-  und  Zwingherr 
einem  pflügenden  Bauern  das  schöne  Ochsengespann  abnöthigt, 
von  diesem  aber  auf  der  Stelle  mit  dem  Pflugsech  erschlagen  und 
unter  die  frische  Furche  geackert  wird.  Schon  im  luzemer  Lande 
findet  sich  diese  Erzählung  an  viererlei  Orten  localisirt;  und  zwar 
gilt  sie  vom  Schlossherm  zu  Grünenberg  bei  Wolhausen  im  Entle- 
buch ;  vom  Schlossherm  zu  Castelen ,  der  auf  einem  Acker :  In 
der  Gerechtigkeit,  zwischen  Wauwil  und  Ettiswil,  erschlagen  und 
verscharrt  liegt  —  hiebei  kommt  auch  der  Nebenzug  des  Finger- 
abschlagens  mit  vor ,  wie  in  der  Melchthals-Sage  — ;  ferner  vom 
Vogte  auf  Schloss  Wykon,  der  beim  Dorfe  Roggliswil  im  Todten- 
acker  des  Oelfeldes  liegt;  sodann. vom  Burgherrn  zu  Waldsberg 
am  nördlichen  Fusse  des  Napfberges  im  luzernischen  Luthern- 
thal.  Lütolf,  Fünfortische  Sagen,  S.  431.  Im  Bemerlande  kommt 
dieselbe  Sage  zweimal  vor;  der  Zwingherr  von  Wyler,  einem 
Burgstal  zwischen  den  Dörfern  Wyler  und  Koppigen,  und  ein 
anderer  .Ritter,  bei  Klein-DietWil  sesshaft,  im  Bezirk  Arwangen, 
werden  da  desselben  Begehrens  willen  in  die  offne  Furche  hinein 
gepflügt.  Die  ersterwähnte  Sage  berichtet  der  Berner  Pfarrer  E. 
Buss  in  den  lUustr.  Schweiz.  Jugendblättern  I,  362 ;  die  andere 
steht  ip  Otto  Henne- Amrhyn's  »Deutsche  Volkssage«  (1874)  S.  351. 
Sie  wiederholt  sich  sodann  in  den  aargauer  Dörfern  Botenstein 
und  Mooslerau,  dorten  mit  dem  Bauern  von  Krähenbühl,  hier  mit 
dem  von  Ruesserain,  und  steht  verzeichnet  in  meinen  Aargauer 
Sagen  I,  No.  106.  in.  Achtmal  also  begegnet  dieselbe  Sage  mit 
einheitlichem  Charakterzuge  im  schweizerischen  Vorlande  in  einem 
Umkreise  von  wenigen  Meilen ;  ihrer  jede  vermag  sich  über  Burg 
und  Dorf,  über  Burgherrn  und  Bauern  örtlich  auszuweisen, 
während  die  Melchthalsage  in  einer  dem  Pfluggange  noch  nicht 
ausgesetzten  Gebirgsgegend  spielt  und  es  nicht  einmal  versteht, 
an  dem  Dränger  die  verdiente  Justiz  üben  zu  lassen.  Anstatt 
den  Landenberg  selbst  zu  züchtigen,  schlägt  Melchthal  dessen 
Pfandknechte  nur  einen  Finger  entzwei,  lässt  Pflug,  Gespann  und 
Vater  im  Stich   und  entflieht;   der   Pfandherr   aber   blendet  des 


jg2  ^   I^  Gcsler  von  Unaegg  in  Gcscbichtc  und  Sage. 

Flüditigen  Vater  und  geht  schliesslich  straflos  aus  dem  Lande. 
Nun  erst  geräth  die  Erzählung  über  ihre  eigne  Schiefheit  in  Be- 
denldichkeit  und  versucht  einen  Ausw^.    Für  den  fireiau^n^^ange- 
nen  Landvogt    muss   dessen  Untervogt  Wolfenschiessen    in  den 
Riss  treten.    Letzterer  hat  zwar  nicht  Ochsen  gepfändet  und  nicht 
Bauern  geblendet,  aber  fremde  Weiber  gekebset.    Dafür  muss  er 
dann,  freilich  nicht  mit  dem  Sech,   sondern  mit  der  Axt,  nicht 
auf  dem  Acker,  sondern  in  der  Badewanne  ersdilagen  werden, 
und  zwar,  wie  der  Chronist  Pantaleon  ausdrücklich  schreibt,  »wie 
ein  Ochse  im  Badec*).    Denn  Ochsenstehlen,  denkt  sich  der 
viehzüchtende  Aelpler,   das  kann  kein  Bad  abwaschen!    Was  ist 
nun   verwunderlicher,   die  kindische   Unbeholfenheit   solcher  Er- 
zählungen, oder  das  kindische  Vergnügen,  dieselben  zur  Landes- 
geschichte zu  stempeln.  Doch  anstatt  hierüber  weiter  zu  sprechen, 
genügt  es  an  dem  einschlägigen  Worte  eines  schweizerischen  Ge- 
schichtsforschers**): Restent  les  baufs,  la  haignoirCy  la  mai- 
S0n,'le   chapeau   et  la  pomme,   qui  ont  fait  si  longtemps 
les  dilices  du  peuple  suisse. 


*)  Heldenbuch,  Basel  b.  Brylingers  Eiben  1567.  ü,  S.  389. 

^)  Prof.  P.  Vaucher,  im  Anzeiger  f.  Schweiz.  Gesch.  1874,  54. 


VIII. 

Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz 

Vögeli  dabei  als  Wache. 


Hs  demendent  toujours  ä  ceux  gut  cherchent  ä  dissiper  une  longue 
Teur:     Que    mettr ez-vous    ä    la  place?    Ce   que   nous  mettons 
la  place  de  la  Ugende,  c^est  l  '^histoire,  qui,  pour  Hre  inUressante,  n  *a 
>as  besoin  de  meniir, 

Hugo  Hungerbühler ,    Etüde  critique  sur  les  traditions  relatives  aux  origines 
la  Confediration  Suisse,  Geneve  i86g,  pag,  lo^. 


Dass  Gessler  ein  österreichischer  Landvogt  zu  Uri  gewesen 
ii  und  am  Marktplatze  zu  Altorf  seinen  Hut  auf  eine  Stange 
ibe  pflanzen  lassen  mit  dem  Befehle,  alle  Vorübergehenden  hätten 
lenselben  bei  Strafe  ehrerbietig  zu  salutifen,  dies  ist  aus  den  Chro- 
ten  hinreichend  bekannt.  Das  Obwaldner  Weisse  Buch,  bisher 
ie  älteste  hierüber  sprechende  Chronik,  weiss  indess  hiebei,  an- 
itt  von  einer  hohen  Stange,  nur  erst  von  einem  bescheidenen 
Jtecken:  der  lantvogt  der  gesler  stagt  ein  stecken  under  die  lin- 
len  ze  Ure  und  leit  ein  huot  uf  den  stecken  und  hat  daby  ein  knecht, 
id  tett  ein  gebott,  wer  da  für  giengi,  der  solti  dem  huot  nygen, 
id  wer  das  nit  täti,  den  solti  der  knecht  leiden.  Aegid.  Tschudi 
>ch  (t  1572),  welcher  in  seinem  handschriftlichen  Nachlasse 
tber  bekennt,  jenes  Weisse  Buch  zugeschickt  erhalten  und  für 
len  Chroniktext  benutzt  zu  haben  (er  nennt  dasselbe :  Thellen- 
sschycht   Vss   alter   Chronica   von  Vnderwalden),    schreibt   da: 


AjS/^,  IL    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

»Umb  St.  Jacobs-Tag  Hess  der   Gessler   zu  Altorff  am  Platz  bi 
den  Linden,  da  mengklich  für  gon  musst,  ein  Stangen  ufFrichten 
und  ein  Hut  oben  daruff  legen  und  liess  gebieten  mengklichem  im 
Land  wonhafft,  u.  s.  w.«  —  Tschudi  giebt  sich,  wie  immer,  so  auch 
hier  die  Miene,  Alles  nach  Datum  und  Jahr  genau  bestimmen  zu 
können.     Er  schreibt:     »Am  Sonntag    nach   Othmari,    was    der 
i8.  Wintermonats,  gieng  Wilh.  Teil  zu  Altorf  für  den  uflfgehenckten 
Hut  und  tett  jm  kein  Reverentz  an;«   und  hier  setzt  er  eben  so 
zuversichtlich  das  vorhin  erwähnte  Factum  auf  den  St.  Jacobstag 
an,  d.  h.  auf  den  25.  Juli  1307,  also  auf  einen  der  grösstenUmer 
Festtage,    und  will  uns  damit  verstehen  lassen,   dass  die  Umer 
durch  Gesslers    boshafte,     ein    hohes   Kirchenfest    entheiligende 
Prahlerei    um   so    mehr  gereizt  werden  mussten,   zugleich,   dass 
man  des  Chronisten   fix  datirter  Erzählung  um  so  mehr  Glauben 
schenken  könne.     Er  versichert  sogar,   den  Geheim- Verbündeten 
sei  des  Landvogtes  Ermordung  unlieb  gewesen,  weil  dieselbe  zur 
Ausfuhrung  ihres  Planes  verfrüht  gekommen  sei:    »und  was  Jnen 
doch  ouch  widrig,   dassj  der  Teil  nit  des  Landt- Vogts  ungebür- 
lichem   Gebott  mit  dem  Hut  noch   dissmals  gehorsam  gewesen, 
biss  zu  der  angestellten  Zit  Jrs  gemeinen  Anschlags.« 

Woher  aber  nun  jener  Hut  auf  der  Stange } 

Dieselbe  Sage  von  dem  zur  zwangsweisen  öffentlichen  Ver- 
ehrung aufgesteckten  Vogtshute  findet  sich  im  badischen  Tauber- 
grunde wieder  und  lautet  da  folgendermassen: 

In  einem  noch  jetzt  stehenden  Hause  der  Stadt  Königshofen 
an  der  Tauber  wohnte  einst  ein  Edelmann,  der  von  seinen  Unter- 
thanen  gleiche  Achtungsbezeugungen  verlangte,  wie  der  Umer 
Landvogt  Gessler.  Er  hatte  ausserhalb  des  Ortes  seinen  Hut  auf! 
einen  Pfahl  gepflanzt  und  schoss  vom  Fenster  aus  Jeden  nieder,, 
der  sich  vor  dem  Hute  nicht  verneigte.  Die  darüber  empörteai 
Bürger  stürmten  hierauf  das  Haus,  stürzten  den  Vogt  zum  Fenster 
des  Oberstockes  hinaus  und  schlössen  sich  dem  damals  ausge* 
brochnen  Bauernkriege  an  ^(Universal,- Lexikon  vom  Grossherzogv 
thum  Baden.  Karlsruhe  1843,  S.  675).  Als  der  schweizerischfl 
Bauernkrieg  seine  drei  Teilen  in's  Feld  stellte  und  politischen  Zu- 
sammenhang suchte  mit  den  ähnlich  gesinnten  Häuptern  der  aufe 
ständischen  Hegauer,  Schwarzwälder  und  Elsässer,  da  wurde  bei 
Volke  die  Tellensage  in  allgemeinen  Umlauf  gesetzt,  und  so  i 
obige  Taubersage  selber  eingeständig,  dass  sie  zu  eben  dieser  Auf-| 
ruhrszeit  spiele.    Auch  sie  bietet  uns  also  weder  Aufschluss  über) 


j 


8.  Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögcli  dabei  als  Wache.     465 

die  Gesslersage  selbst  noch  darüber,  woher  jener  auf  die  Stange 
erhöhte  sagenhafte  Vogtshut  seine  Entstehung  habe. 

Wie,  wenn  nun  letzterer  kein  anderer  wäre,  als  jener  härm-' 
loseste  Bauernhut,  der  als  ein  einfaches  Rechtssymbol  in  den 
deutschen  Dorfoffnungen  öfters  seine  Rolle  spielt?  Er,  auf  seinen 
Stecken  gesetzt,  ist  im  Lehensrechte  der  Hubbauern  das  Zeichen 
der  voUzognen  Gutsauflassung  gewesen  und  war  ebenso  im  Weide- 
rechte der  Hirten  das  Schutz-  und  Pfandzeichen.  Als  solches 
war  er  auch  für  unsre  oberdeutschen  Gegenden  altgiltig  gewesen, 
wie  aus  den  von  Burkhardt  veröffentlichten  Basler-Dinghofrodeln 
{1866.  S.  221,  §  II  und  Seite  228,  §  21)  erhellt.  Im  Egringer 
Hofrechte  (jetzt  badisches  OA.  Kandem),  aufgezeichnet  vor  1392, 
ist  zum  Schutze  des  weidenden  Wucherrindes  und  des  Zuchtebers 
dortigen  Meierhofes  bestimmt:  In  welen  Acker  sy  komment,  so 
sei  sy  Nieman  usstriben  denn  mit  einem  schwarzen  Hut  uff 
einen  Stecken  geleit.  Aehnliches  besagt  die  Ehhafte  von 
Inning  am  Moosrain  (jetzt  baierisches  Landgericht  Erding):  Ob 
»eines  umliegenden  Dorfes  Viehehüter  mit  einer  Heerde,  der  Ge- 
meinde (Mobs-Inning)  zu  nahe  weidet,  alsdann  soll  der  Hüter  von 
Inning  seinen  Hütstab  einstecken  und  den  Hut  daran 
hängen  zum  Zeichen,  dass  der  andere  Viehehüter  mit  seinem 
Viehe  weichen  solle.  Grimm,  Weisth.  III,  '662.  Die  Öffnung  von 
elsassisch  Olvisheim  stammt  vom  Jahre  1493  und  verfügt  über 
Lehensgüter,  welche  »über  Jahr  und  Tag  erledigt  bleiben  würden : 
Wenn  solche  weder  von  den  dortigen  Hubbauern,  noch  von  der 
Verwandtschaft  des  gewesnen  Lehensgut-Besitzers  um  Zins  und 
Kosten  übernommen  werden  wollen  und  darum  wieder  an  den 
Gutsherrn  zurückfallen:  So  soll  der  Meiger  ein  stap  in  den  ding- 
hof  und  ein  huot  daruffür  die  huober  setzen  und  das  Gut 
mit  der  huober  urteil  in  sin's  Dinkhofs  -  Herrn  hant  und  gewalt 
,  ziehen.  Grimm,  Weisth.  V,  470.  Eine  verwandte  Rolle  hatte  im 
, Jahre  1442  die  schwarzeKappe  bei  Kaufsfertigungen  auch  zu 
St.  Gallen  zu  spielen.  Ild.  v.  Arx,  Gesch.  2,  605.  Wenn  die  nord- 
deutschen Pferdejungen  den  Pfingstritt  abhalten,  so  geht  das  Ziel 
nach  einer  Stange,  auf  der  ein  Hut  aufgesteckt  ist,  davon  heisst 
dieser  Wettritt  das  Hutreiten.  Der  Pfingstschütze,  der  beim 
Schiessen  nach  dem  hölzernen  Vogel  das  Letzte  von  der  Stange 
schiesst ,  erhält  einen  geschmückten  Hut ,  den  er  am  Abendtanze 
trägt  und  bis  zum  nächsten  Jahr  behält,  und  bleibt  eben  so  lange 
Schützenkönig.    Kuhn,  Nordd.  Sag.,  S.  381. 

Rochholz,  Teil  und  Gessler.  3^ 


^66  II*  I^ie  Gessler  von  Bntnegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Jedenfalls  haben  die  älteren  Chronisten,  zumal  die  den  Ur- 
kantonen  angehörenden,  diese  Bedeutung  des  aufgesteckten  Hutes 
aus  den  Satzungen  und  Bräuchen  ihrer  eignen  Landschaft  wohl- 
gekannt; gleichwohl  haben  sie  aus  Voreingenommenheit  und  po- 
litischem Dünkel  sich  nicht  geschämt,  eine  vor  diesem  Hirtenhute 
anbefohlene  knechtische  Hauptentblössung  hinzu  zu  dichten.  Allein 
haben  denn  die  auf  sie  folgenden,  um  so  viel  gelehrteren  Ge- 
schichtschreiber des  Landes  es  ihnen  hierin  nicht  völlig  gleich 
gethan?  Haben  nicht  auch  sie  zusammen  diesen  Hut  auf  die 
Stelzen  der  Antike  und  dem  römischen  Freiheitshute  gleichgestellt? 
Darum  schreibt  Joh.  Müller,  der  doch  selbstgeständig  an  keinen 
geschichtlichen  Teil  glaubte*),  in  der  Schweiz.  Gesth.  (Aufl.  i, 
S.  599—614)  mit  krankhaftem  Pathos:  >Tell,  der  Freiheit 
Freund,  verschmähte  selbst,  ihr  Sinnbild,  einen  Hut,  auf  will- 
kürliches Gebot  knechtisch  zu  grüssen.«  Und  gleich  darauf,  da 
Müller  selbst  fühlt,  wie  hart  und  unlogisch  hier  der  Freiheits-  und 
der  Knechtschaftshut  einander  stossen,  fährt  er  ausweichend  fort: 
»Endlich  ist's  den  damaligen  Sitten  gar  nicht  entgegen,  dass 
Gessler  den  herzoglichen  Hut  von  Oesterreich  zu  einem  Partei- 
zeichen aufgeworfen  haben  soll«.  Müller  kann  hier  unter  dem 
aufgeworfnen  Parteizeichen  des  Hutes  nichts  anderes  verstanden 
haben,  als  des  Gewaltsherren  unter  diesem  Zeichen  an's  Volk  er- 
lassene Aufforderung  zur  Leistung  der  Heeres-  und  Gerichtsfolge ; 
und  J.  Grimm,  RA.  i,  151,  stimmte  dieser  Meinung  nachträglich 
bei:  »Auch  des  Gesslers  aufgesteckter  Hut  in  der  Schweizersage 
ist  Symbol  der  Obergewalt  zu  Gericht  und  Feld.«  Für  diese 
Meinung  vermochte  Grimm  keine  andere  als  die  Einzelbestim- 
mung aus  dem  altfriesischen  Rechte  vorzubringen;  allein  dass 
eben  dieselbe  Bestimmung  und  unter  demselben  Symbol  jemals 
in  den  Schweizergauen  bestanden  habe,  hieflir  ist  durchaus  kein 
Zeugniss  vorhanden,  wohl  aber  steckt  heute  noch  auf  den  meisten 
Dorfbrunnen  des  Solothurner-,  des  Bernerlandes  und  der  Urkantone 
ein  Blechfähnlein  an  eiserner  Stange,  zum  fortdauernden  Er- 


*)  Müller   schreibt  nach   Beendigung   der  zweiten  Ausgabe   von  Band  i  der  . 
Schweizergeschichte  im  Jahre  1 785  bezüglich  der  Frage,  ob  Teil  geschichtlich  oder 
sagenhaft  sei:  Ueber  die  Sache  selbst  bin  ich  mit  mir  selber  noch  nicht  Eins  und 
mag  doch  aus  mehreren  Gründen   meine   noch   überdies    nicht  >eifen  Vermuthun-   \ 
gen   dem   Publikum   nicht  vorlegen.      Du   wirst,   glaub  ich,    die    Manier  billigen, 
wie   ich   mich   daraus   gezogen.      (Briefe    an  seinen  ältesten  Freund  in  der   j 
Schweiz.     Zürich  1812,  S.  160.) 


I 


8.    Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögeli  dabei  als  Wache.     467 

weise,  dass  hier  das  Aufgebot  an  die  Kriegsmannschaft  mittels 
der  Fahne  geschah,  indem  man  diese  unter  dem  Schwur  in  den 
Brunnen  tauchte,  nicht  eher  wieder  heimzukehren,  als  bis  der 
Feind  geschlagen  und  die  Fahne  an  der  Luft  abgetrocknet  wäre. 
Glutz-Blotzheim,  Fortsetzung  der  Schweiz.  Gesch.,  S.  470.  Dass 
aber  der  als  ein  Freiheits-  und  Herrschafts -Symbol  gedeutete 
Gesslerhut  unter  den  deutschen  Schriftstellern  dieselbe  Verwirrung, 
wie  bei  Joh.  v.  Müller  und  lange  vor  ihm  schon,  angestiftet  hatte, 
dies  zeigt  uns  die  Schrift:  »Grespräche  im  Reiche  der  Todten, 
i66ste  Entrevue  zwischen  dem  berühmten  Schweitzer  Wilh.  Teil 
und  dem  neapolitanischen  Fischer  Masaniello  etc.  Leipzig  1732.  4^1 
Hier  wird  auf  S.  427  Teil  von  Masaniello  also  befragt:  »Merk- 
würdig ist  es,  dass  ein  Hut  denen  Helvetiern  oder  Schweitzern 
Anlass  gegeben,  die  Freiheit  zu  ergreifen,  welcher  von  Alters  her 
ein  Sinnbild  der  Freiheit  gewesen,  weil  'man  ehmals  den 
Knechten,  die  man  frei  machen  und  loslassen  wollte, 
die  Haare  abnahm  und  alsdann  auf  den  kahlen  Kopf 
einen  Hut  setzte.«  Der  befragte  Teil  hütet  sich  wohl,  auf 
diese  Aeusserung  einzugehen  und  eine  Antwort  zu  geben,  weil 
dieselbe  ihn  sammt  seinen  urner  Landsleuten  zu  beschorenen 
Sklaven  zu  machen  droht.  Und  ebenso  hat  auch  die  Bevölkerung 
der  Waldstätte  dem  Gesslerhute  nie  eine  andere  Deutung  beige- 
legt, als  die  grob  naturalistische,  dass  derselbe  nichts  als  ein  ge- 
meiner Filzhut  gewesen  sei.  Muheim's  Teilenlied  vom  Jahre  1633 
legt  dem  Teil  ausdrücklich  das   verächtliche  Wort  in  den  Mund: 

Den  filtz  weit  ich  nit  ehren, 
den  aufFgesteckten  Hut. 

Die  alten  Schulgelehrten  freilich,  die  Klasshelfer,  die  Chor- 
herren und  andere  sattelfeste  Latinisten  schrieben  ihre  thetprischen 
Heroiden  und  Distichen  zum  Preise  jenes  Hutes  wacker  fort,  und 
darunter  zählt  auch  nachfolgendes  herrenlose  Epigramm,  das  uns 
in  Zurlaubens  hds.  Helvetischer  Stemmatographie ,  tom.  38.  fol., 
pag.  232  begegnet  ist: 

Qui  pressum  quondath  lusit,  Grislere,  popeüum 
Pileus,  Helveiici  foederis  ansa  fuit,*) 


*)  Eben  dein  Hut,  der  des  Volkes  Verkhechtung  zu  höhnen  bestimmt  war, 
Grisler!  ward  das  Emblem  für  den  helvetischen  Bund. 
Dass   der  Name  Grisler  beim  Volke   und   den  Gelehrten  der  Schweiz  statt 

30* 


468  !!•    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Noch  am  Schlüsse  des  vorigen  Jahrhunderts  wollten  die  Ur- 
kantone  nichts  von  dieser  Symbolik  wissen,  obschon  zur  Zeit  der 
Helvetik  der  Tellenhut  mit  der  Straussenfeder  auf  Regierungs- 
beschluss  hin  in  sämmtlichen  Kantonen  zum  gemeinsamen  Landes- 
wappen erhoben«  worden  war.  Denn^  als  die  Waldstätte  am 
29.  April  1798  die  Stadt  Luzern  überfielen,  um  hier  das  Helve- 
tische Directorium  zu  sprengen  und  das  alte  Regierungsystem 
wieder  herzustellen,  war  ihr  erstes,  zusammen  in  die  dortige 
Jesuitenkirche  zu  gehen  und  sich  eine  heilige  Messe  lesen  zu 
lassen.  Ihr  zweites  Geschäft  galt  dem  Freiheitsbaume;  er  wurde 
umgehauen,  der  darauf  gepflanzte  Hut  sammt  den  Kränzen 
höhnend  durch  die  Strassen  getragen  und  dazii  das  Lied  abge- 
sungen : 

Wilhelm,  wo  bist  du,  der  Teile  ?^ 

Zschokke,   Kampf  und  Untergang  der  Waldkantone.     Bern  und 
Zürich  i8or,  pag.  298. 

Zeigen  wir  nun  des  Weiteren,  auf  welche  Weise  diese  schwei- 
zerische Hutgeschichte  hier  zu  Lande  seit  dem  sechzehnten  Jahr- 
hundert im  Volksschauspiele  dargestellt  worden  ist.  Es  dient 
uns  hiezu:  »Ein  schönes  Spyl  zu  Ury  von  Wilh.  Thellen  etc. 
Gedruckt  im  Jahre  Christi  MD.CC.XXXX.«  Dieser  Druck,  dem 
wir  folgen,  ist  auf  der  Berner  Stadt-Biblth.  bezeichnet:  Hn.  4°. 
Die  Editio  princeps  ist  um  das  Jahr  1 540  durch  August  Fries  in 
Zürich  veranstaltet  worden.  (Anzeig.  f.  Schweiz.  Gesch.  1866. 
113.)  Im  Epilog  zählt  der  »vierte  Herold«  die  von  den  Schwei- 
zern gelieferten  Schlachten  her: 

»Wider  den  hertzog  Carle  von  Burgund, 
•    Es  sey  zuo  Eligurt  und  Gransse, 
Dessgleichen  zuo  Murten,  auch  Nansse.« 

Alsdann  wird  auch  der  misslungene  Winter- Feldzug  nach 
Mailand  erwähnt:  »desselben  gleichen  im  Winterzug.« 
Hierauf  redet  der  »Beschluss  des  Herolds«  zu  seinem  umer 
Publikum :  »von  dem  durch  die  Geistlichen  zertheilten  Reiche,  da 
sie  haben  erweckt  in  unserm  alten  Bund  so  grossen  Zwytracht  in 
dem  Glauben;    seind  wir    nit    ein   zerteiltes   reich?«      Aus  diesen 


des  Namens  Gessler  gegolten  hat  und  zwar  bis  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts, 
ist  auf  Seite  241  dieses  Werkes  chronologisch  nachgewiesen. 


i 


8.    Gessiers  Hut  auf  der  Stange  und  Heins  Vögeli  dabei  als  Wache,    ^gg 

Stellen  ergiebt  sich,  dass  das  Stück  gegen  das  Jahr  1525  abge- 
fasst  ist.  Wir  lassen  hier  sogleich  das  Zwiegespräch  nachfolgen, 
das  der  umer  Landvogt,  der  im  ganzen  Stücke  anonym  bleibt, 
mit  seinem  Trabanten  über  die  Aufsteckung  des  Hutes  hält. 

Do  redt  der  landvogt  zuo  seinem  knecht: 

Heintz  Voegely,  lieber  knecht  mein, 

Ich  hab  bedacht  ein  guoten  sinn. 

Ob  ich  möcht  meine  pawren  paschgen*) 

Und  bringen  ir  gelt  in  mein  kästen. 

Darumb  so  luog,  das  du  zuon  zeiten, 

So  ich  aus  disem  land  wirt  reiten. 

Aufsteckest  mein  huot  in  die  strass 

Under  die  linden,  vnd  gebüt  auch  das: 

Welcher  baur  hingang  für  den  huot 

Und  dem  selben  nit  ehr^  anthuot 

Und  sich  neigt,  als  ob  ich  selbs  da  wer 

In  eigner  person,  on  alle  g^fer, 

Dem  selben  wil  ich  nemmen  sein  laben, 

Muoss  mir  auch  all  sein  guot  geben. 

So  redt  Heintz  Voegely: 

Herr,  dises  sol  doch  eylendts  bschaehen, 
Thuon  ich  bey  meiner  trew  verjaehen.  **) 

Der  vogt  reit  hinweg,  so  steckt  der  knecht   den  huot  auff  etc. 

Warum  trägt  hier  in  diesem  Dialog  und  so  auch  im  ganzen 
Stücke  der  Landvogt  keinen  Eigennamen,  und  warum  ist  zugleich 
sein  Kriegsknecht  so  bestimmt  Heinz  Vögelin  benannt?  Wir  ant- 
worten, weil  unter  der  Figur  des  Ersteren  der  gefürchtete  bur- 
gundische  Landvogt  Peter  Hagenbach,  und  zugleich  dessen  Kriegs- 
hauptmann Friedrich  Vögelin  in  der  Rolle  und  unter  dem 
Namen  des  Kriegsknechtes  abgebildet  sind.  Durch  den  einen  mit 
Namen  genannten  Diener  erklärt  dessen  ungenannt  bleibender  Herr 
sich  von  selbst  mit  Namen  und  Charakter.  Um  nun  anschaulich 
machen  zu  können,  dass  und  wie  jener  Landvogt  Hagenbach  wirk- 
lich diejenige  Persönlichkeit  gewesen  ist,  aus  welcher  sich  Dich- 
tung und  Sage  den  typischen  Charakter  des  Landvogts  Gessler 
zurecht  schnitt,   wird  man  uns  erst  einen  kurzen  Ausblick  in  die 


*)  bastgen,  bändigen. 
**)  behaupten. 


A'jQ  IL    Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Vorbegebenheiten  des   burgundisch- schweizerischen   Krieges  ge- 
statten. 

Als  dem  unmündigen  Herzog  Sigmund  von  Oesterreich  die 
Vorfände    zum   Erbe    zugefallen   waren:    Ober-Elsass,  Sundgau, 
BreisgaUy  Schwarzwald,  Hegau  und  Thurgau,  stand  er  unter  Vor- 
mundschaft   seines   herzoglichen   Vetters   Albrecht  IV.,    welcher 
wegen  seiner  ungehemmten  Freigebigkeit  den  Beinamen  Der  Ver- 
schwender trug.    Schon  diesem  Namen  zufolge  konnte  in  der  bis- 
herigen Missverwaltung  der  Vorlande  keine  heilsame  Aenderung 
eintreten.    Die  Landesschulden  wuchsen,  auf  ältere  Verpfändungen 
wurden  neue   Geldaufnahmen   gehäuft,   die  Gläubiger,    dem  Adel 
und  den  städtischen  Geldwucherem  angehörend,  hielten  sich  durch 
fortgesetzte   Raubzüge  und  Erpressungen  schadlos,   und  die  An- 
fälle  der    Schweizer   auf  den    Schwarzwald   wurden    gleichzeitig 
immer    gewaltthätiger.      Im  Jahre  1458    hatte   Sigmund   die  Re- 
gierung zwar  angetreten,    überliess    dieselbe  jedoch   schon  zwei 
Jahre  hernach,  als  ihn  die  Eidgenossen  auf  demselben  Wege  um 
den  Thurgau   brachten,   auf  welchem  sein  Vater  Friedrich  schon 
den  Aargau  an  sie  verloren  hatte,  abermals  an  Albrecht,   bis  zu 
dessen  am  2.  December  1463  erfolgtem  Tode.     Der  schlecht  be- 
rathene  Sigmund   setzte   nun   die   in  seinem  Hause  üblich  gewor- 
dene feindselige  Politik  gegen  die  Schweiz   fort.     Er  duldete  die 
Fehden  des  hegauer  und  sundgauer  Adels  gegen  die  schweizeri- 
schen  Grenzorte    und   unterstützte  jene   mittels  Connivenz  seiner 
Amtleute,   bis  darüber    1465    der  schweizerische  Kriegszug  nach 
Mülhausen,     und    1468   der   andere    gegen    Waldshut    ausbrach. 
Nachdem   der   letztere    durch  Vermittelung  beendigt  war,    sollte 
der   Herzog    10,000  Gl.  Kriegsentschädigung  an  die  Eidgenossen 
bezahlen,  und  der  deshalb  einberufene  Landtag  der  Vorlande  de- 
cretirte  zur  Abtragung  dieser  Summe  bereitwillig  eine  allgemeine 
Umlage.    Dieses  Abkommen  lag  jedoch  weder  dem  Herzog  noch 
dessen  Räthen  recht.    Zur  Befriedigung  ihrer  Rachegelüste  gegen' 
die  Schweiz  suchten  sie  unter  dem  Vorwande  eines  Anlehens  die 
Bundesgenossenschaft  Ludwigs  XL  von  Frankreich,  und  der  Herzog 
verlobte  sich  mit  des  Königs  Schwester.    Der  arglistige  König  er- 
sah  hierin  ein  Mittel   zum  Verderben  eines  seiner  politischen  Ri- 
valen und  wies  darum  Sigmund  mit  dessen  Geldbegehren  an  den 
reichen  Herzog  Karl  von  Burgund.     Hier  empfieng  Sigmund  ein 
Darlehen  von  80,000  Gl.  und  verpfändete  dafür  dem  Herzog  Ober- 
Elsass  mit  der   Grafschaft  Pfirt,    Sundgau,    Breisgau   nebst   dem 


S.    Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögeli  dabei  als  Wache.       ^*7\ 

obem  Schwarzwald  mit  den  vier  oberrheinischen  Waldstätten 
Rheinfelden,  Seckingen,  Laufenburg  und  Waldshut.  In  diesem 
Vertrage  vom  9.  Mai  1469  hatte  sich  in  einer  besonderen  Clausel 
der  Burgunderherzog  zum  Kriege  gegen  die  Eidgenossen  ver- 
pflichtet,  wenn  Sigmund  von  ihnen  angegriffen  würde ;  und  schon 
am  25.  Mai  darauf  verhalf  der  schwachsinnige  deutsche  König 
Friedrich  III.  dazu,  jenen  bloss  gedachten  Fall  zum  wirklichen  zu 
machen.  In  einem  unter  dem  letztgenannten  Datum  von  Graz 
aus  erlassnen  Edicte  erklärte  er  nemlich  den  Frieden  von  Walds- 
hut für  null  und  nichtig  und  Hess  am  31.  August  die  kaiserliche 
Achtserklärung  gegen  die  Schweizer  folgen  (Urkk.  im  Schweiz. 
Archiv  V,  S.  81.  ^"j,  89).  Inzwischen  war  bereits  Peter  von 
Hagenbach  als  burgundischer  Landvogt  in  den  neuen  Provinzen 
erschienen  und  hatte  die  Huldigung  für  seinen  Herrn  eingenom- 
men. So  waren  nun  zwei  Plane  eingeleitet.  Sigmund's  Rache- 
plan War,  der  Schweiz  einen  recht  trotzigen  Nachbar  auf  den 
Hals  zu  setzen,  und  des  französischen  Königs  Absicht  war,  eben 
dadurch  den  Herzog  Karl  von  Burgund  mit  den  Eidgenossen  in 
Krieg  verwickeln  und  dann  verderben  zu  können.  Beides  gieng 
rasch  in  Erfüllung.  Das  herausfordernde  Auftreten  des  burgun- 
dischen  Landvogtes  Hagenbach  gegen  die  mit  den  Eidgenossen 
verbündeten  Städte  Mülhausen  und  Basel  führte  zuletzt  zu  seiner 
Gefangennahme  und  Enthauptung ;  darüber  entbrannte  der  schwei- 
zerisch-burgundische  Krieg,  in  welchem  Herzog  Karl  Sieg  und 
Leben  verlor.  Das  tragische  Ende  dieses  allmächtigen  Mannes, 
zugleich  seines  Vogtes  und  Waffengenossen  schmählicher  Tod 
durch  Henkershand  erfüllte  und  erschütterte  das  Gemüth  der 
Zeitgenossen  auf's,  heftigste.  In  umfangreichen  Annalen,  Reim- 
chroniken und  Kriegsliedem  erzählen  sie  ihr  Erstaunen  über  ein 
Weltereigniss ,  dem  ihr  politischer  Verstand  durchaus  nicht  ge- 
wachsen war.  Allein  weder  Karls  noch  Hagenbachs  Persönlich- 
keit darf  nach  diesen  Schriften  bemessen  werden ,  an  denen  poli- 
tische Tendenzlüge,  kirchliche  Verketzerungssucht,  soldatischer 
Parteihass  und  spiessbürgerliche  Kurzsichtigkeit  nachweisbar  mit- 
geschrieben haben.  Dennoch  stützt  sich  auf  diese  mit  Sagen  und 
Märchen  überfüllten  unlautern  Quellen  der  nachfolgende  Bericht 
vorsätzlich,  eben  weil  er  nicht  mit  dem  geschichtlichen,  sondern 
mit  dem  sagenhaft  entstellten  Charakter  Hagenbachs  hier  zu 
thun    hat.      Denn  die  Aufgabe  ist,    an  der  Hand  dieser  Chro- 


^y2  .  ^    I^c  Gessler  von  Branegg  in  Geschichte  und  Sage. 

niken*)  zu  zeigen ,  wie  Landvogt  Peter  Hagenbach  und  dessen 
Kriegshauptmann  Vögelin  die  zwei  typischen  Figuren  gewesen 
sind,  welche  der  Sage  und  Dichtung  gedient  haben  zur  Charak- 
teristik des  umer  Landvogtes  Gessler  und  dessen  Dieners  Vögeli. 
Peter  von  Hagenbach  wurde  um  das  Jahr  1420  geboren  auf 
seinem  Familienschlosse  im  Dorfe  Hagenbach,  gelegen  bei  der 
oberelsässer  Stadt  Altkirch.  Seine  Hinrichtung  zu  Breisach  er- 
folgte am  9.  Mai  1474.  Begraben  soll  er  liegen  in  der  Hagen- 
bacher Kirche.**)  Er  stammt  aus  einer  sundgauer  Patrizier- 
familie, welche  habsburger,  pfälzer  und  burgunder  Lehen  trug 
und  daher  in  den  betreffenden  Urkunden  dieser  Landstriche  seit 
Beginn  des  14.  Jahrhunderts  oftmals,  hierauf  aber  kaum  minder 
häufig  in  den  basler-,  Züricher  und  aargauer  Urkunden  genannt 
ist.  ***)  .  Erst  um  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  starb  das  Ge- 
schlecht aus.  Es  hatte  mit  den  Österreicher  Herzogen  und  deren 
Vasallen  in  vielfachem  dienstlichen  Verkehr  gestanden  und  sein 
Name  erscheint  da  neben  dem  der  aargauischen  Gessler  früh- 
zeitig, f)    Während  der  nachmalige  burgundische  Landvogt  Peter 


*)  Das  hier  am  meisten  benützte  Material  liegt  in  zwei  sehr  ausgedehnten 
Werken  vor:  l)  Zusätze  der  Strassburger  Handschrift  zur  Königshofner  Chronik; 
abgedruckt  in  Mone's  Quellensanmilung  I.  —  2)  Reimchronik  über  Peter  von 
Hagenbach ;  Mone,  ibid.  III. 

**)  Mone,  1.  c,  nennt  dafür  das  obere  Franziskanerkloster  zu  Tann ,  weil  da- 
selbst schon  seit  1395  das  Hagenbach' sehe  Erbbegräbniss  gewesen.  Allein  das 
Lied  vom  Jahre  1474  (gedruckt  in  Liliencron's  histor.  Volksll.,  Bd.  2,  Na  132) 
sagt  Vers  160  des  Bestimmtesten  von  Hagenbach,  da  er  anfanglich  zur  Vier- 
theilung verurtheilt  war: 

Da  redt  er  mit  ganzer  kraft, 

Bdan  solt  doch  er'n  die  ritterschaft, 

man  solt  im  das  haupt  abslagn  uf  eim  schwarzen  duch 

und  solt  in  schicken  gein  Hagenbuch 

und  solt  in  da  begraben. 

Also  hat  man  im  sin  haupt  abgeslagn 

und  hat  in  des  gewert 

und  hat  die  ritterschaft  geert 

und  hat  in  gein  Hagenbuch  begraben, 

das  wil  ich  vor  war  sagen. 
***)  13 13.    Die  Gebrüder  Hagenbach :  Ritter  Jakob  und  die  Edelknechte  Hein- 
rich und  Hugo   verkaufen  ihre  zu  Lepuis  (d.  i.  Puteus)  liegenden  Güter  an  die 
Abtei  Bellelay   (im  bemischen  Jura)  und  besiegeln   unter   Zeugschaft  vieler  nam- 
haften Ritter  die  Urkunde  selbst.     Trouillat  III,  pag.  186. 

t)  ^35^'  8«  Sept.  Die  Gebrüder  Heinzmann  und  Hammann  v.  Hagenbach 
erscheinen  mit   Ulrich  dem  Gesseler  als  Zeugen  und  Mitsiegler,    da  Gotfried 


8.    Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögeli  dabei  als  Wache.       aj^ 


von  Hagenbach  noch  unter  ßerzog  Karl  als  Soldat  diente  und 
gegen  die  Lütticher  bei  Brüsthem  siegreich  focht  (28.  Oct.  1467), 
hatte  sein  Bruder  Stephan  am  österreichischen  Hof-  und  Land- 
gerichte zu  Ensisheim  als  Scheffe  gestanden,  war  bei  der  1469 
erfolgten  Verpfändung  der  Landschaft  Elsass  an  Burgund  be- 
sonders geschäftsthätig  gewesen  und  darauf  mit  dem  ganzen  dor- 
tigen Beamtenstande  iil  burgundische  Dienste  getreten.  Als  Peter 
die  elsässer  Vogtei  übernahm,  traf  er  daselbst  auf  eine  grosse 
Missstimmung  der  Bevölkerung.  Neben  vielerlei  landschaftlich 
und  örtlich  verschiedenartigen  Motiven  wollten  doch  weder  die 
Städte  noch  die  Landschaften  aus  dem  deutschen  Verbände  los- 
gerissen  und  an  die  welsche  Herrschaft  hingegeben  sein.  Schon 
die  Sprachenfrage  war  damals,  wie  die  gleichzeitigen  Quellen 
besonders  hervorheben,  eine  den  deutschen  Patriotismus  der 
Provinz  aufregende  Frage  geworden.  Ausserdem  'hieng  das 
Landvolk  am  Hause  Habsburg  und  nicht  minder  der  Bürger  an 
der  Reichsfreiheit.  Die  Stadt  Breisach,  nun  der  Sitz  des  neu- 
burgundischen  Vogtes,  war  seit  1185  ungefähr  90  Jahre  Reichs- 
burg, dann  85  Jahre  Reichsstadt  und  109  Jahre  beim  Hause  Habs- 
burg gewesen.  Es  kam  daher  bald  zu  etlichen  Aufstandsversuchen, 
von  denen  man  freilich  nichts  Genaueres  weiss,  als  dass  sie  zu- 
sammenhangslos blieben  und  vom  energischen  Landvogt  einzeln 
wieder  erdrückt  wurden.  Darunter  ist  namentlich  zu  zählen  der 
Aufstand  des  Frickthales  und  der  vier  mitverpföndeten  ober- 
rheinischen Waldstätte ;  derselbe  hatte  schon  vor  der  ersten  brei- 
sacher  Empörung  stattgefunden  und  konnte  trotz  soldatischer 
Grausamkeiten  nicht  vollständig  beendigt  werden.  Hagenbach  sah 
sich  dabei  gezwungen,  das  Frickthal  bis  zum  Bözberge,  als  da- 
maliger Herrschaftsgrenze  des  Kantons  Bern,  militärisch  zu  be- 
setzen, und  daher  ist  die  Chronisten- Anekdote  entstanden,  er  habe 
in  dem  dort  angrenzenden  berner  Amte  Schenkenberg  »heraus- 
fordernd« burgundische  Fahnen  aufstecken  lassen.  Tillier,  Gesch. 
Berns  II,   197. 

Stellen  wir  nun  alle  die  historischen  Thatsachen  und  die 
gleichzeitig  in  Umlauf  gesetzten  Gerüchte  zusammen,  laut 
dereri  der  burgundische  Landvogt  Peter  v.  Hagenbach  dem  an- 
geblichen urner  Landvogt  Gessler  verglichen  werden  konnte. 

Graf  von  Habsburg  den  vier  Österreicher  Herzogen  Rudolf,  Friedrich,  Albrecht 
und  Lüpolt  das  Schloss  Rapperswil  sammt  den  zwei  Landschaften  der  March  und 
Wegi  verkauft.     Herrgott,  Gen.  II,  696. 


474  II'    I^ic  Gcssler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

Beide  fuhren  dieselben  Titel  und  bekleiden  dieselben  Aemter 
und  Würden. 

Herzog  Karl  giebt  dem  Hagenbach  in  amtlichen  Zuschriften 
die  Titel:  Chevalier ,  Messire,  Grand  Baüly-  de  vicomti  Auxois  (d.  i. 
Ober-Elsass)  et  de  vicomti  de  Ferrette  (d.  i.  Pfirt) ;  er  ernennt  ihn 
nach  1469  zum  Hofmeister:  maitre  d"* hostet,  Hagenbachs  Siegel 
fuhrt  als  Legende:  »Peter  von  Hagenbach,  ritter,  lantvogt.c  Er 
Unterzeichnetsich  1470:  Peter  von  Hagenbach,  ritter,  Landvogt 
vnd  Hoffmeister.     Urk.  in  Mone's  Oberrhein.  Zeitschr.  V,  480. 

Durch  manches  Hundert  von  Urkunden  wird  nun  aber  die 
Thatsache  bestätigt,  dass  das  aargauer  Edelgeschlecht  der  Gess- 
1er  von  Meienberg  und  Brunegg  vom  14,  bis  zu  Ende  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  genau  dieselben  Aemter  und  Würden  bei 
den  Österreicher  Herzogen  bekleidete  und  schon  desshalb  von  den 
Chronisten  mit  dem  Märchen  beehrt  wurde,  der  grausame  urner 
Landvogt  sei  ein  aargauischer  Hermann  Gessler  von  Brunegg  ge- 
wesen. Dazu  kommt  noch  die  Zufälligkeit,  dass  eben  jene  Herr- 
schaft Schenkenberg  und  jenes  Amt  Bözberg,  wo  Peter  Hagen- 
bach die  burgundischen  Fahnen  angeblich  hatte  aufpflanzen  lassen, 
bis  141 5  im  wirklichen  Besitze  der  aargauer  Gessler  gewesen  war. 

Der  sagenhafte  Vogt  Gessler  erbaut  die  Feste  Zwing-Uri 
mittels  des  dabei  zum  Frondienste  gezwungenen  Urnervolkes. 
Gleiches  meldet  die  Breisacher  Reimchronik*)  über  den  dortigen 
Vogt  Hagenbach :  Er  Hess  ausrufen  auf  der  Kanzel  und  bei  Leib 
und  Leben  gebieten,  dass  Jedermann  zu  Breisach  und  ohne  Aus- 
nahme auf  den  Ostermontag  (11.  April  1474)  einen  Graben  um 
die  Stadt  aufwerfen  helfe: 

Hagenbach  forcht  sich  und  gerieth  in  grüwen 

und  hiess  die  statt  büwen 

mit  bollwergk  und  mit  graben, 

wie  er's  weit  haben. 

das  musten  bezalen  die  armen  burger. 

(Mone,  1.  c.  pag.  349  und  359.) 

Die  Anekdote  von  dem  durch  Gesslers  Neid  bedrohten  Wohn- 
hause Staufachers  in  Schwyz    findet   gleichfalls    ihre  Parallele   in 


*)  Sie  ist  gleichzeitig  mit  Hagenbachs  Prozess  und  Hinrichtung  zu  Breisach 
geschrieben,  und  ihr  Verfasser  scheint  einer  der  damaligen  Breisacher  Rathsherren 
zu  sein.     Mone,  Quellensammlung  III,  282,  Note. 


i 


8.    Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögeli  dabei  als  Wache. .     475 

Hagenbachs  Prozesse.  Die  Reimchronik  erzählt  S.  375  von  dem 
Hause  zum  Sternen  in  Breisach,  vor  welchem  die  Gerichtslaube 
war,  wo  am  9.  Mai  das  Todesurtheil  über  den  Vogt  gesprochen 
wurde : 

—  dis  war  des  burgers  hüs, 

den  er  hatt  getriben  üss. 

Gessler  lässt  den  Teil  binden,  um  ihn  zu  Schiffe  über 
den  See  nach  Küssnach  in  den  Thurm  zu  bringen.  Von  Hagen- 
bach galt  das  Gerücht,  er  habe  ein  grosses  Schiff  zu  Breisach 
auf  dem  Rheine  liegen  gehabt,  um  darin  alle  Stadtfrauen  gefäng- 
lich hinweg  zu  führen  (S.  343). 

Die  Blendungsstrafe,  welche  der  Unterwaldner  Landvogt  an 
dem  Vater  Anderhalden  vollziehen  lässt,  ist  dem  Hagenbach 
gleichfalls  eine  geläufige.  Denn  da  der  Bfeisacher  Stadtschreiber 
im  RathsprotokoU  einmal  versäumt,  des  Landvogts  Namen  die 
übliche  Titulatur  beizusetzen  und  Hagenbach  diese  Stelle  liest, 
schwört  er  beim  Ritter  St.  Georg,  dem  Schreiber  die  Augen 
ausstechen  zu  lassen: 

symmer  sant  Jörg,  ich  will  dir  dm  ougen  üssstechenl 

Mone  III,  330. 

Ueber  Hagenbachs  geschlechtliche  Ausschweifungen  werden 
dieselben  Klagen  vorgebracht,  welche  gegen  den  Unterwaldner 
Vogt  gelten  bezüglich  Baumgartens  Frau  zu  Altsellen:  »Er  be- 
slief  euch  manigem  biderman  sin  eliche  hüsfrouw,  wo  ein 
hübsche  junkfrow  was,  die  nam  er  ouch  und  treib  sin  unkusch- 
heit  mit  ir.  Und  wan  er  in  ein  statt  kam,  so  schickte  er  zuo 
d^i  burgersfrauwen ,  die  im  allerbast  gefielen,  und  treib  mit  in 
vil  bossheit,  sie  muosten  sich  ouch  bis  nackent  üssziehen  und  also 
de  vor  im  tanzen.«  Zusätze  der  Strassburger  Handschrift  zur 
Königshofner  Chronik.  Mone,  Quellensammlung  I,  pag.  278.  — 
Noch  ein  ähnlicher  und  spezieller  Fall:  Mone  III,  pag.  335. 

Die  Breisacher  Bürger  mussten  Maien- Bäume  vor's  Haus 
setzen  und  der  Vogt  Hess  die  Bevölkerung  dabei  durch  beson- 
ders.  aufgestellte  Schildwachen  beobachten  (ibid.  S.  321  und  353): 

wer  wolt  sin  fründ  sin, 

der  muost  für  das  hüss  sin 

ein  tannen  fest  setzen.  ^^ 


^^6  I^*    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

darby  kont  Er  wol  schätzen, 

ob  im  jemandt  trüge  hass, 

das  merkt  er  daby  fürbas. 

Er  hat  auch  gemacht 

in  der  statt  ein  schiltwacht, 

die  muostfen  riten  umb, 

das  einer  den  andern  bekum. 

Es  ist  nicht  nöthig,  eine  weitere  Zahl  solcher  Anschuldigun- 
gen hier  auszuschreiben,  da  ihnen  nachher  vom  Blutgerichte  selbst 
kein  Werth  beigelegt  worden  ist.    Der  nächste  Anlass  zu  Hagen- 
bachs Sturze   war   eine   alte  Rivalität    zwischen  seinen  welschen 
und  deutschen  Truppen,   worüber  die  zwei  deutschen  Hauptleute 
Friedrich  Vögelin  und  Friedrich  Kappeier  wegen  ungleichen  Sold- 
bezuges   schliesslich    eine    Soldaten-Meuterei    anstifteten.     Lands- 
knechte und  Bürger  zu  Breisach  drangen  an  jenem  schon  genann- 
ten II.  April  1474  in  Hagenbachs  dortige  Burg,  nahmen  ihn  ge- 
fangen und  legten  ihn  vierfach  gefesselt  in  den  Block.     Man*  be- ; 
rief  ein  Ausnahmsgericht  zusammen,  das  aus  Eidgenossen  und  aus 
Bundesmitgliedern  der  Niederen  Vereinigung  bestand  und  das  sich 
nun  anmasste,  über  den  Beamten  der  gesetzlich  bestehenden  Re- 
gierung in  einer  empörten  burgundischen  Stadt  nach  eignem  Gut- 
dünken Recht  zu   sprechen  als   über  einen   blossen  Privatmann. 
In  dem  angehobnen  Prozesse  Hess  man  jene  sittenwidrigen  Hand-- 
lungen  Hagenbachs  gegen  Bürgersfrauen  und  -Töchter,  ja  angeb- 
lich gegen  seine  eigene  Ehefrau,  sodann  auch  gegen  Geistliche  und  j 
Nonnen  (weshalb   ihn  die  Chronik  einen  Ketzer  nennt)   gänzlich: 
fallen,  weil  der  Vertheidiger  bestritt,   dass  Gewalt  dabei  geübt; 
worden  sei,  und  machte  nur  ein  einziges  Verbrechen  geltend.    Der* 
Fall  war  dieser.    Die  Stadt  Tann  hatte  sich  des  bösen  Pfenningsr 
wegen  1473  empört.    Hagenbach  war  augenblicklich  zu  entblösst 
von  Truppen  und  musste   daher  mit  dem  Aufgebote  der  Land* 
Schaft  die  feste  Stadt  blockiren;  und  auf  diesen  Umstand  gestützt^ 
konnte  er  nachher  bei  seiner  gerichtlichen  Vertheidigung  den  Fall< 
der  Nothwehr  allerdings  geltend  machen,  in  welchem  er  sich  da- 
mals befunden   gehabt  habe.    Mit  4CX)  Mann  seiner  Soldtruppea 
nahm  er  bald  darauf  die  Stadt  und  Hess  auf  dortigem  Marktplätze] 
drei  der  aufständischen  Bürger  standrechtlich  enthaupten.  Das  Brei- 1 
sacher  Blutgericht  erkannte  deshalb  auf  absichtliche  Tödtung,  -also 
auf  Mord.    Hagenbach  gab  die  Tödtung  zu,  machte  aber  geltend : 


J 


8.    Gesslers  Hut  auf  der  Stange  und  Heinz  Vögeli  dabei  als  .Wache.       aj'j 

Sie  sei  seine  im  Auftrage  des  Herzogs  vollzogene  Amtshandlung 
gewesen  und  überdies  nach  Kriegsbrauch  geschehen;  die  Stadt 
sei  durch  ihre  Empörung  und  als  eroberter  Ort  rechtlos  und  jeder 
ihrer  Bürger  vogelfrei  gewesen,  er  aber  mit  seiner  geringen  Mann- 
schaft habe  sich  in  der  Nothwehr  befunden.  Man  wollte  auf  der 
Folter  ihm  ein  Geständniss  des  Amtsmissbrauches  abpressen, 
jedoch  auch  hier  blieb  er  standhaft  dabei,  der  Herzog  habe  ihm 
zu  jenen  Hinrichtungen  in  Tann  den  Befehl  gegeben  gehabt,  und 
er  verlange  darum,  dass  man  des  Herzogs  Kundschaft  hierüber 
einhole.  Dies  Begehren  wurde  ihm  abgeschlagen,  so  erfolgte 
denn  das  Todesurtheil.  Alle  seine  übrigen  Vergehen  und  Hand- 
lungen, von  ihm  ebenfalls  als  Amtshandlungen  hingestellt,  wurden 
nur  deshalb  in  die  Anklage  aufgenommen,  um  zu  beweisen,  dass 
er  wiederholter  Vergehen  und  Verbrechen  schuldig  sei.  Er  starb 
mit  männlicher  Fassung.  Den  blauen  Sammthut  und  seine 
goldne  Halskette,  die  er  auf  dem  Gange  zum  Richtplatze  trug, 
vermachte  er  zusammen  der  Hagenbacher  Kirche,  und  mit  ihnen 
schmückte  man  jährlich  am  9.  Mai,  als  des  Ritters  Todestage,  sein 
.dortiges  Grabmal.    Mone,  1.  c,  S.  384. 

Hagenbachs  Verräther  waren  die  beiden  Hauptleute  seiner 
deutschen  Landsknechte,  Friedrich  Kappeier  von  Mülhausen  und 
Friedrich  Vögelin  von  Breisach.  Sie  sollen  Beide  bestochen  ge- 
wesen sein.  Es  ist  letzteres  schon  darum  sehr  glaublich,  weil 
beim  damaligen  Berufssoldaten  nicht  die  schlimme  oder  gute 
Sache,  sondern  allein  der  Sold,  um  den  man  diente,  den  Aus- 
schlag gab,  sodann  besonders  darum,  weil  Beide  sogleich  nach 
der  Meuterei  zum  Feinde  übergiengen.  Kappeier  machte  auf 
Seite  der  vereinigten  Schweizer  und  des  deutschen  Bundes  schon 
im  November  1474  den  Feldzug  nach  Hericourt  in  Hochburgund 
mit  und  wurde  später  österreichischer  Rath.  *)  Ganz  ähnliches 
weiss  man  über  Vögelin.  Er  stammte  aus  einer  Breisacher  Adels- 
familie und  war  also  keineswegs  seines  Handwerks  ein  Schneider, 
wofür  ihn  der  Brodneid  seines  Zeitgenossen,  des  luzerner  Reisläufers 
und  Chronisten  Petermann  Etterlin  (Chron.,  S.  191)  ausgiebt.  Im 
Gegentheil,  man  hatte  es  ihm,  als  einem  Patrizier,  sehr  verübelt, 
dass  er  in  Hagenbachs  Dienste  getreten  war,  und  so  Hess  er  sich 
vielleicht  aus  Verdruss  hierüber  in  die  Verschwörung  ein.    Schon 


*)  1478,  9.  Oct.     Friderich  Cappeler,  Ritter,   spricht  als  österreichischer  Rath 
im  herzoglichen  Hofgerichte  zu  Ensisheim.     Mone,  Ztschr.  Bd.  18,  S.  474. 


^7g  IL    Die  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

in  demselben  Jahre  1474  trat  er  dann  in  die  Dienste  Strassburgs 
über.  Ein  Originalbrief  von  ihm  im  Strassburger  Stadtarchiv, 
undatirt  und  unterzeichnet  FrijdleFögile,  kommt  aus  Lothrin- 
gen, woder  Schreibende  zwischen  1475 — y6  im  Felde  stand,  und  for- 
dert dem  Strassburger  Rathe  weitere  Soldgelder  ab,  damit  man 
die  »Knechtec  gutwillig  und  gehorsam  im  Felde  halte.  Mone, 
1.  c,  S.  434.  Sein  Geschlecht  besteht  noch  fort  in  elsassisch 
Ilzach*)  und  hat  auch  Zweige  in  Konstanz  und  in  Durlach.**) 


•)  Nile  Ehrsam,   Der  Stadt  Mülhausen   privilegirtes  Bürgerbuch.      Mülh.  bei 
Rissler  1850,  S.  357.    (Kam  nicht  in  den  Buchhandel.) 
•*)  Mone,  1.  c,  S.  361, 


IX. 
Bertha  die  Bruneggerin. 


Bis  in's  fünfzehnte  Jahrhundert  hatten  die  Gessler  die  Vog- 
teien  von  viererlei  Landschaften  der  Schweiz  inne,  im  Freiamte, 
im  Eigenamte  und  Frickthal,  sämmtlich  des  Aargau's,  sodann  im 
Grüninger  Amte,  des  Kantons  Zürich;  im  Aargau,  ihrem  Geburts- 
lande, besassen  sie  mehrfache  Burgen,  unter  denen  die  zu  Brunegg 
heute  noch  in.  Stand  und  bewohnt  ist.  Gleichwohl  haben  weder 
jene  Landstriche,  noch  diese  Burgen  eine  die  Gessler  berührende 
Localsage  aufzuweisen,  ja  selbst  die  »Schweizersagen  aus  dem 
Aargau f  (1856),  eine  536  Nummern  haltende  Sammlung,  bringen 
den  Namen  Gessler  nur  einmal  und  auch  da  nur  unter  der  aus- 
drücklichen Bemerkung  zum  Vorschein,  dass  derselbe  hier  nicht 
etwa  aus  dem  Volksgedächtnisse,  sondern  aus  einer  bloss  gelehr- 
ten Voraussetzung  herstamme.  So  grundverschieden  erweist  sich 
schon  in  diesem  Einzelfalle  die  ungemachte  echte  Volkssage 
gegenüber  den  in  der  Schreibstube  zusammengestoppelten  Chro- 
nistenmärchen. Da  aber  jede  Behauptung,  die  gelten  soll,  ihre 
Probe  bestanden  haben  muss,  so  mögen  hier  die  zwei  einzigen 
Sagenreste  aus  dem  Aargau,  die  man  auf  die  Gessler  deuten 
könnte,  nachfolgen  und  jene  Deutung  selber  widerlegen. 

Am  Fusse  des  Bergschlosses  Brunegg  liegt  das  gleichnamige 
Dorf.  Soll  nun  anderes  Wetter  eintreten,  so  glauben  die  dortigen 
Leute  ein  anhaltendes  Getöse  droben  auf  dem  Berge  zu  ver- 
nehmen und  bezeichnen  dies  mit  der  Redensart,  der  Burgvogt 
reite  auf  seinem  Choli  (Rappen)  auf  die  Jagd.  Daran  knüpfen 
sie  folgende  Erzählung:  Als  der  Burgvogt  einst  im  strengsten 
Winter  mit  seiner  Kuppel  Hunde  und  einem  Tross  Knappen  auf 


480  II*    I^ic  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage. 

dem  Treibjagen  war  und  vor  Kälte  zu  erstarren  begann,  traf  er 
einen  armen  Holzhacker,  erschlug  ihn  und  wärmte  in  dessen  auf- 
geschnittnem  Leibe  seine  frierenden  Füsse.  Von  dem  Augenblicke 
an  brach  ein  grässlicher  Schneesturm  los,  der  sie  alle  zusammen 
verweht  und  begraben  haben  muss,  denn  ihrer  keiner  ist  mehr  in's 
Schloss  zurückgekommen.  Diejenige  Stelle,  wo  der  arme  Bauer 
starb,  kennt  man  noch;  denn  bis  dorthin  sprengt  der  jagende 
Reiter,  dort  hört  man  sein  weidmännisches  Hop-hop!  verhallen. 
Belesene  Leute  nennen  ihn  Gessler  und  meinen,  es  sei  derselbe, 
der  den  Teil  zwang,  aufs  eigne  Kind  zu  schiessen.  Schweizer- 
sagen aus  dem  Aargau  i,  No.  151. 

Diese  Erzählung  berührt  keinen  Gessler,  sondern  gehört  zu 
denen  vom  Wilden  Jäger,  welche  im  Aargau  einen  besonderen 
Sagenkreis  bilden  und  ihren  einzelnen  Schauplatz  auch  auf  der 
Brunegg  haben.  Das  Schloss  bildet  das  östliche  Ende  des  buchen- 
bewaldeten Kestenberges ,  am  westlichen  Ende  steht  das  andere 
Bergschloss  Wildegg.  »Zwischen  inne,  so  lautet  hier  die  wei- 
tere Erzählung  beim  Volke —  hat  ein  gespenstischer  Jäger 
seine  Weidbahn,  den  man  den  Wildhans  von  Wildegg 
nennt.  Er  hängt  seine  Hunde  an  die  Bäume,  um  sie  mit  Rie- 
men zu  hauen  oder  Hungers  sterben  zu  lassen,  so  oft  sie  die 
Fährte  verloren  haben.  Dann  hört  man  ihr  Gewinsel  bis  in's 
Dorf  Birr  herab.«  (Aargauer  Sagen,  ibid.  No.  57.)  Daraus  er- 
hellt, dass  der  ganze  Grat  des  langgestreckten  Kestenberges  vom 
östlichen  bis  zum  westlichen  Ende  die  Weidbahn  des  Wilden 
Jägers  ist  und  dass  dieser,  nach  den  beiden  entgegengesetzten 
Schlössern,  hier  der  Burgvogt  von  Brunegg  (ohne  Eigennamen), 
dorten  der  Wildhans  von  Wildegg  genannt  wird.  Doch  auf  der 
Brunegg  mischt  sich  noch  eine  andere,  überall  wiederholte  Rechts- 
sage mit  ein.  Dieselbe  Anklage,  welche  den  Brunegger  treffen 
soll,  ist  bekanntlich  im  französischen  Convent  in  jener  denkwür- 
digen Nacht  vom  4.  August  1789  gegen  einen  adeligen  Gutsherrn 
aus  der  Provence  erhoben  worden,  als  hätte  derselbe  auf  der 
Winterjagd  seine  frierenden  Füsse  im  aufgeschnittnen  Leibe  eines 
seiner  Jagdtreiber  gewärmt.  Der  französische  Jurist  Bouthor 
(Coutumes  locales  du  baillage  d^Amiens,  iSS4,  detix  vol) 
hat  aus  nordfranzösischen  Weisthümern  den  Beweis  von  der  Un-  j 
Wahrheit  solcher  feudalen  Rechtssitten  für  die  romanischen  Länder  ' 
geführt,  und  für  die  germanischen  hat  aus  noch  weiter  reichenden  ! 
Untersuchungen  unsrer  deutschen  Rechtsalterthümer  Jakob  Grimm  ! 


9*    Bertha  die  Bruneggerin.  x8l 

dasselbe  Ergebniss  herg^tellt:  das  alte  Recht,  blutig  in  seinem 
Buchstaben  und  milde  in  seiner  Anwendung,  hat  zu  solcherlei 
Sagen  häufig  Anlass  gegeben,  nirgend  aber  liegen  Beweise  vor, 
dass  solche  Justiz  wirklich  geübt  worden  wäre.  Gleichwohl  er- 
zählen eben  dasselbe  in  der  Schweiz  a)  die  Watländersage  vom 
Burgherrn  Brandis  auf  La  Moli^re  (Anton  Henne,  Schweizerblätter 
^833,  231);  b)  die  Seedorfer  Chronik  zu  Uri  von  der  Zürcher- 
äbtissin  Anastasia  von  Hohenklingen ;  c)  Ruoffs  Teilenspiel  legt 
es  dem  Samer  Landvogt  als  Drohung  in  den  Mund,  wie  dies  be- 
reits voraus  angeführt  steht  in  Abschnitt  VI,  Zwing- Uri.  Was 
also  die  Erzählung  vom  Brunegger  Burgvogt  enthält,  das  ist  erst- ' 
lieh  eine  Substanz  aus  den  Naturmythen  über  die  Wilde  Jagd: 
Sturm-  und  Gewitterphänomene ,  die  unter  dem  Bilde  eines  mit 
Weidmannsruf,  Hömerschall  und  Hundegebell  durch  die  Lüfte 
jagenden . winterlichen  Sturmgottes  sich  dem  Gehöre  abschildern; 
und  dazu  tritt  sodann  noch  eine  Rechtsmythe.  Die  Naturmythe 
will  als  solche  niemals  historisch  aufgefasst  sein ;  die  Rechtsmythe 
ist  von  solchem  Alter,  dass  sie  kaum  an  die  historische  Zeit 
heranreicht,  um  so  weniger  also  die  geschichtlichen  Gessler  mit- 
berühren kann.  Ohne  all6  Beziehung  aber,  sei's  zur  Geschichte 
der  Gessler,  sei's  zur  Sage,  steht  die  Erzählung  yom  Brunegger 
Schlossfräulein  da,  die  wir  erstmalig  im  Taschenbuch  der 
aargauer  historischen  Gesellschaft  von  1860  mitgetheilt  haben. 
Damit  gehen  wir  zu  dem  anderen  der  zwei  in  Frage  stehenden 
Sagenreste  über. 

Es  ist  bereits  auf  Seite  370  vorliegenden  Werkes  erzählt, 
wie  Junker  Wilhelm  Gessler  143 1  seine  Gemahlin  Anna  mehrere 
Wochen  in  einem  Kerker  auf  Brunegg  heimlich  gefangen  gehal- 
ten hatte  und  darüber  vor  dem  Gerichte  zu  Luzern  peinlich  be- 
straft worden  war.  Dieser  Fall  ist  erst  im  Jahre  1871  in  den 
Urkunden  des  luzerner  Archives  entdeckt  worden,  er  tritt  mit  un- 
serm  Buche  zum  erstenmale  in  die  Oeffentlichkeit  und  war  vorher 
auch  nicht  einmal  in  Andeutungen  oder  Muthmassungen  irgendwie 
historisch  angeregt  gewesen.  Uns  selbst  war  er  also  gleichfalls  noch 
unbekannt,  als  uns  vor  nun  vierzig  Jahren  nachfolgende  Erzählung 
zukam,  die  auf  der  Brunegg  spielt  und  einigermassen  an  den 
Gesslerischen  Eheskandal  erinnert.  Kaspar  Ha'chler  von  Lenz- 
burg war  seit  dem  Jahre  1837  Schlosswächter  auf  Brunegg  ge- 
wesen und  wurde  da  wegen  seines  Vorrathes  an  Schnurren,  Volks- 
liedern und  Einfällen  yon  den  Leuten,  die  das  Schloss  besuchten, 

Roch  holz,  Teil  und  Gessler.  3' 


482  II'    I^ie  Gessler  von  Bnmegg  in  Geschichte  und  Sage. 

gerne  angehört.  Sonderbares  wusste  er  vom  »Schlossfräulein« 
zu  berichten.  Wenn  ich  da,  sagte  er,  manchmal  des  Abends  für 
mich  allein  auf  der  Ofenbank  sitze,  so  lässt  sich  an  der  Stuben- 
wand gegenüber  eine  schöngestaltete  Frauenhand  sehen  in  sol- 
cher Bewegung,  als  wollte  sie  in  aufgespannte  Saiten  greifen. 
Und  dies  beabsichtigt  sie  auch,  denn  sogleich  dann  hört  man  leise, 
ferne  Töne,  ein-  und  mehrstimmig,  liederähnlich.  Dies  ist  jenes 
unglückliche  Fräulein,  das  hier  aus  unbekannten  Gründen  ver- 
schmachten musste.  Wir  haben  den  Ort  ihres  Todes  entdeckt, 
als  unser  Herr  (damaliger  Schlossbesitzer  war  der  1847  verstor- 
bene Obrist  Hünerwadel  von  Lenzburg)  ein  paar  Gemächer  im 
Thurme  herstellen  liess.  Damals  pflegten  nemlich  Vögel  in 
grosser  Anzahl  in  einer  Mauerlücke  zu  bauen,  der  man  bei  der 
Steilheit  des  Felsens  ausserhalb  nicht  wohl  beikommen  konnte. 
Als  man  darum  von  innen  her  aufbrach,  stiess  man  auf  ein  Ge- 
wölbe von  der  Grösse,  dass  ein  Mensch  eben  darin  sitzen  kann, 
ähnlich  den  Einmauerungszellen  in  Klöstern.  Es  war  jedoch 
ausser  dem  von  den  nistenden  Vögeln  angehäuften  Schutte  durch- 
aus leer.  So  weit  der  erzählende  Schlosswächter.  Einige  vor- 
urtheilslose  Leute,  denen  er  seine  Wahrnehmung  anvertraut  hatte, 
waren  eines  Abends  bei  ihm  zusammen  •  getroffen,  um  das  angeb- 
liche Saitenspiel  mitzuhören.  Es  liess  sich  allerdings  auch  jetzt 
ein  zu-  und  abnehmendes  Geräusche,  ein  unsicheres  Schwirren 
und  Tönen  vernehmen,  das  aus  der  Höhe  des  Thurmes  her  gegen 
die  Pächterwohnung  zu  kommen  schien.  Dies  war  aber  auch 
Alles,  von  einem  durch  Frauenhand  geschlagnen  Saitenspiel  er- 
hielt man  keine  entfernte  Vorstellung.  Man  einigte  sich  zuletzt 
in  der  Annahme,  dass  die  stets  bewegte  Bergluft  auf  dieser  von 
allen  Seiten  freien,  windbestrichnen  Felsenhöhe  sich  in  den  Oeff- 
nungen  des  damals  noch  leeren  Thurmgebäudes  fange  und  unter 
dem  Balkenwerk  des  Satteldaches  irgend  eine  Resonanz  finden 
müsse.  Die  ausgespannte  Frauenhand  betrachtete  man  als  eine 
unfreiwillige  Zuthat  aus  der  Ideenassociation  des  liederkundigen, 
einsam  lauschenden  Wächters.  Diese  Muthmassung  wird  durch 
die  ganz  moderne  Geschichte  eines  Festungsgefangnen  nahezu  be- 
stätigt. Auch  in  seiner  Kasematte  ertönten  des  Nachts  un- 
erklärbare Geigentöne ,  der  Aberglaube  schob  sie  auf  das  Violin- 
spiel eines  Unglücklichen,  der  hier  gefangen  gesessen  und  sich 
entleibt  hatte.  Bei  näherer  Untersuchung  bemerkte  man  in  dem 
Rauchfange   des   Ofens  jener    Kasematte    sechs  Eisenstäbe  ,über 


g.    Bertha  die  Bruneggerin.  483 

die  Oeffnung  genietet,  die  das  Entweichen  unmöglich  machten, 
hingegen  wenn  der  Wind  in  den  Kamin  hinabblies,  den  Dienst 
einer  Aeolsharfe  versahen.  Weiter  nach  oben  verengt  sich  jener 
Kamin  immer  mehr,  und  obschon  ihn  auch  dorten  ähnliche  Stäbe 
wiederholt  durchgittem,  tönen  sie  nicht,  weil  ihnen  hier  die  nöthige 
Resonanz  mangelt. 

Wo  eine  alte  Burg  ist,  dahin  pflegt  die  Romantik  ein  Burg- 
verliess  und  darein  einen  um  treuer  Liebe  willen  Gefangnen  zu 
versetzen.  Dies  ist  die  Entstehungsgeschichte  von  Bertha  der 
Bruneggerin.  Jn  Schillers  Personenverzeichniss  zum  Wilh.  Teil 
ist  sie  genannt  als  eine  reiche  Erbin,  deren  Güter  in  den  Wald- 
stätten liegen.  Dorten  sind  die  Rudenze  wohnhaft  (ein  seit  dem 
.14.  Jahrhundert  beurkundetes  unterwaldner  Landleutengeschlecht), 
einen  derselben  liebt  sie,  bekehrt  den  jungen  Edelmann  zu  ihren 
republikanischen  Sympathien  und  wird  darüber  vom  Landvogt 
^ssler  in  heimlichem  Gewahrsam  des  Samer  Schlosses  gehalten, 
ijedoch  die  Vogtsburg  wird  vom  Volke  erstürmt  und  angezündet, 
Bertha  aber  noch  rechtzeitig  aufgefunden  und  durch  Melchthal 
(«nd  Rudenz  gerettet: 

—    . —     —     —     Als  wir  das  Schloss, 
Vom  Feind  geleert,  nun«  freudig  angezündet, 
Da  stürzt  der  Diethelm,  Gesslers  Bub,  hervor 
Und  ruft,  dass  die  Bruneggerin  verbrenne, 
Hier  heimlich  eingeschlossen  auf  des  Vogts  Geheiss. 
Wir  trugen  sie  selbander  aus  den  Flamgien. 

Vielleicht  dass  aus  Schillers  Bertha  erst  Hächlers  Burgfräulein 
entstanden  ist,  alsdann  wäre  aus  der  Wesenlosigkeit  jener  auch 
die  Schattenhaftigkeit  dieser  genugsam  erklärt. 


31* 


. 


Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385. 


Mordnächte  heissen  in  der  deutschen  Städtegeschichte  jene 
zahlreichen  örtlichen  Parteikämpfe,  in  denen  die  untere  Klasse  der 
Bürgerschaft  mit  den  Handwerks-Innungen,  oder  diese  mit  dea 
rath^fähigen  Geschlechtem  um  die  Herrschaft  ringen  und  wob« 
die  Schwächeren  auf  eine  unverhoffte,  zuweilen  an's  Wunderbare 
grenzende  Weise  über  den  Stärkeren  Meister  werden.  Hiemit  ist 
alsdann  der  Streit  noch  keineswegs  beendigt.  Denn  die  unter-i 
liegenden  Geschlechter  verbünden  sich  mit  dem  auswärtigen  Adeü 
und  Klerus,  zetteln  im  Innern  Verschwörungen  an  und  unter»; 
nehmen,  auf  Beides  gestützt,  einen  wohlberechneten  bewaffnetenj 
Ueberfall.  Allein  das  Complot  wird  rechtzeitig  entdeckt,  der 
Handstreich  blutig  zurückgewiesen,  die  dreifache  Liga  der  Kleri- 
kalen, Feudalen  und  Stadtaristokraten  ist  gesprengt.  In  dem  be- 
freiten Orte  beginnt  das  Umwerfen  der  erblichen  Rathsstühle,  die 
Einführung  eines  ausgedehnteren  Wahlrechtes,  das  Emporkommen; 
des  dritten  Standes,  die  Bürgerschaft  lässt  diesen  Tag  des  Er-i 
folges  als  den  Beginn  ihrer  neuzeitlichen  Geschichte  in  den  städti- 
schen Annalen  verzeichnen.  Dies  in  Kürze  der  Umriss  aller  det 
Bürgertumulte,  die  man  Mordnächte  nennt.  Da  sie  gleichzeitig^ 
die  Communal  -  Satzungen  umgestalten,  so  sind  sie  in  Wahrheit 
der  Anfang  unsrer  erneuten  Gemeindeordnungen  und  Verfassungs-| 
revisionen,  und  insoferne  liegt  in  ihnen  für  die  Rechtsgeschichtd 
des  deutschen  Städtewesens  ein  lehrreiches  Material.  Ein  wenigeif 
dankbarer  Stoff  sind  sie  für  die  Spezialhistorie ,  die  doch  ihren 
Wissenstrieb  hier  am  ehesten  zu  befriedigen  wünscht;  denn  die 
bezüglichen  Urkunden  sind  häufig   verloren,    und  der  verworrene 


lo.    Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385.  aS^ 

Bericht  der  Ortschronisten  pflegt  über  einer  Unmasse  von  Neben- 
dingen gerade  die  Hauptpunkte  unerledigt  zu  lassen :  Anlass,  Zeit 
und  Verlauf  des  Ereignisses,  Namen  und  Motive  der  dabei  be- 
theiligten Personen.  Freilich  kann  auch  das  Gegentheil  hievon 
stattfinden;  der  einzelne  Chronist  lässt  sich  wirklich  auf  jenes 
Wie  und  Wann  ein,  jedoch  mit  so  aufdringlicher  Allwissenheit 
des  Kleinsten  und  Gemeinsten,  während  er  nicht  einmal  die  ört- 
lich wirksam  gewesnen  Motive  kennt,  sondern  sie  anderswoher  er- 
borgen muss,  und  unter  so  grellen  historischen  Unmöglichkeiten, 
dass  min  erst  der  begründete  Verdacht  entsteht,  sein  Jahrbuch  sei 
ein  Sagenbuch,  hier  liege  gar  nichts  Historisches  vor,  Alles  sei 
entweder  blosse  Entlehnung,  oder  nur  der  historische  Niederschlag 
einer  Mythe,  ein  geschichtlich  verkörperter  Ortsaberglaube.  Hält 
man  diese  Wahrnehmung  fest ,  so  kommt  dieselbe  vorerst  dem 
Charakter  der  einzelnen  Chronisten  zu  gut ;  denn  alsdann  erscheinen 
die  Letzteren  doch  nicht  alle  als  die  gegen  die  Wahrheit  gewissen- 
los sündigenden  Parteischriftsteller,  sondern  als  die  unter  der  noch 
fortwirkenden  Triebkraft  der  Sage  stehenden,  zwischen  Tradition 
'und  Geschichte  noch  nicht  unterscheidenden  Gemüther.  Und  von 
eben  dieser  Seite  aus  lässt  sich  ihren  Erzählungen  über  die  Mord- 
nächte nun  ein  Resultat  abgewinnen,  das  zwar  nicht  mehr  der 
Specialgeschichte,  wohl  aber  der  Sagenkunde  anheim  fällt.  Dies 
soll  im  Nachfolgenden  sich  erklären. 

Man  wird  in  der  chronikalen  Beschreibung  der  Mordnächte  stets 
'2weien  fix  wiederkehrenden  Hauptpunkten  begegnen  von  solcher 

IAehnlichkeit  unter  einander,  als  ob  hier  die  Annalisten  sich  gegen- 
seitig copirt  hätten.  Erstlich  dient  ihnen  die  gleiche  Gattung  von 
Märchen  oder  Ortsanekdote  zum  Mittelpunkte  der  Hauptbegebenheit ; 
'zweitens  berichten  sie,  zur  Bewahrheitung  dieses  Märchens,  von  der 
Stiftung  eines  zum  Gedächtnisse  jener  Begebenheit  örtlich  einge- 
setzten bürgerlich-kirchlichen  Doppelfestes.  Man  gestatte  hierüber 
ein  Beispiel.  Da  hat  ein  Betteljunge  den  Anschlag  der  gegen 
die  Stadt  Verbündeten  mitbelauscht,  wird  von  ihnen  ertappt  und 
muss  beschwören,  das  Geheimniss  keinem  Sterblichen  zu  ver- 
rathen.»  Darauf  wieder  losgelassen,  beichtet  er  es  sogleich  dem 
Ofen  auf  der  Bürgerzunftstube  (oder  dem  Feuerherd,  Kesselhaken, 
Tischmesser,  Trinkglase,  der  Thürsch welle).  Damit  ist  des  Fein- 
des »Losungswort«  entdeckt,  alle  Anwesenden  vernehmen's,  man 
eilt  in  die  Waffen ,  ein  gleichzeitig  losbrechendes  Kirchenwunder 
setzt   die    Angreifer  in  Schrecken  und  Verblendung,    der  Ueber- 


^86  n.   Die  Gessler  von  Brunegg  in  Geschichte  und  Sage, 

fall  wird  abgeschlagen,  die  Mitverschwomen  unter  der  Bürger- 
schaft und  dem  Ortsklerus  werden  verbannt  oder  hingerichtet,  die 
befreite  Stadt  stiftet  kirchliche  und  weltliche  Spendfeste,  verzeich- 
net sie  im  Raths-  und  Kirchenbuche  und  erweist  von  nun  an  aus 
dieser  Quelle  die  geschichtliche  Unbestreitbarkeit  des  Vorfalles. 
Dies  das  Schema,  nach  welchem  der  Bericht  über  die  Mordnächte 
durchschnittlich  gefasst  ist.  Es  wiederholt  sich  dasselbe  jedoch 
so  oft,  so  weithin  und  schon  so  lange,  dass  hier  die  sonst  mög- 
liche Annahme  blosser  Uebertragung  und  Entlehnung  nicht  mehr 
zureicht,  vielmehr  muss  auf  eine  den  oberdeutschen  Volksstäm- 
men gemeinsam  gewesene  Stammsage  zurück  geschlossen  werden. 
Den  Sinn  einer  Sage  schöpft  man  aus  ihren  Symbolen,  denjenigen 
der  vorliegenden  also  aus  diesen  und  aus  den  damit  verknüpften 
Festbräuchen.  Hier  führt  nun  schon  das  Miteinander  eines  kirch- 
lichen und  weltlichen ,  eines  gottesdienstlich  und  militärisch  zu- 
gleich begangenen  Festtages  auf  jene  frühe  Epoche  zurück,  da 
die  natürliche  Einheit  der  Kirch-  und  der^  Civilgemeinde  noch 
nicht  aufgehoben,  dem  Bürgerverstande  noch  nicht  zur  Unbegreif- 
lichkeit gemacht  gewesen  war.  Zugleich  muss  es  nicht  wenig 
auffallen,  dass  dieser  örtliche  Festtag  in  den  jetzt  politisch  ge- 
trennten Landschaften  und  [Orten  auf  die  gleiche  Jahreszeit,  oft 
sogar  auf  einen  und  denselben  Kalendertag  fällt,  und  dass  die  so 
bunten  Förmlichkeiten  der  Begehungsweise  aller  Orten  ebenfalls 
sich  gleichen  oder  doch  ehedem  geglichen  haben.  Diese  theils  j 
reckenhaften,  theils  altbäurischen  Masken,  die  unter  Fackelschein 
und  Trommelschlag  den  Ort  durchziehen  und  ein  räthselhaft  lau- 
tendes Losungswort  erschallen  lassen ;  das  stereotype  Scheingefecht 
zwischen  den  Geharnischten  und  der  Metzgerzunft,  oder  zwischen 
den  Pelzigen  und  den  Grünen,  den  Russigen  und  den  Weissen; 
alsdann  die  gewaltsame  Befreiung  der  in  der  Strohburg  gefangen 
gehaltenen  Königin  oder  Gräfin,  worauf  das  Räuberschloss  in 
Brand  gesteckt  und  die  eroberte  Beute  auf  der  Stelle  vertheilt 
und  verschmaust  wird :  Dies  und  Anderes  ist  die  gemilderte 
Wiederholung  eines  alten  Naturfestes  mit  seinen  Wald-Illumina- 
tionen, Höhenfeuern,  Waffentänzen  und  Opferschmäusen.^  Der 
heidnische.  Frühlingsgott  ist  dabei  nur  ganz  äusserlich  in  den 
Christenkedender  herüber  gerückt.  Wiederum  hat  Jener  seinen 
winterlichen  Gegner  bekämpft  und  erlegt  (den  der  Bettelbube 
hinter  dem  Ofen  verrathen  hat),  nun  zieht  der  Sieger  beim  Leuch- 
ten der  Scheiterhaufen  und  Fackeln  in  die  abermals  befreite  Land- 


10.    Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385.  aS7 

schafl   ein.     Das    dem    Kampfe   der   beiden  Jahresgewalten    zu- 
schauende Volk   giebt   den   Chorus  ab,   bricht    zum  Preise   des 
Ueberwinders    in    Mordiorufe    aus    und    nennt    in    der    Aus- 
drucksweise   seines   nach   Nächten  zählenden  Kalenders  diesen 
Sieg  über   den  winterlichen  Zwingherrn  übereinstimmend  Mord- 
nacht.   In  der  Benennung  der  Festfiguren  hingegen  wechselt  der 
Volksmund  vielfach,  je   nachdem  die  politischen  Schicksale   der 
Landschaften    verschiedenartige  gewesen   sind.     Bis    nach  Ober- 
deutschland   herauf  heisst    der   bekämpfte   Erbfeind   der    Türke, 
Hussite,  Schwede.     Specieller  benennt  ihn  die  Schweiz  nach  den 
mehrfachen  Eroberem   und  Feudalherren,    welche  das  Land  be- 
droht haben.     Im  Emmenthal   und  Entlebuch  ist   es  der  Gugler 
(unter  Ingueram  de  Coucy  1375);  in  üchtländisch  Freiburg,  in  Neu- 
chatel  und  Yverdun  ist's  der  Burgunder  (unter  Karl  dem  Kühnen) ; 
im  aargauer  Frickthale  ist*s  der  Schwede    (unter  Bernhard   von 
Weimar  1638);    in  Luzem  und  Wallenstatt   heisst  er  der  Oester- 
reicher   (unter  den  herzoglichen  Leopolden);    in   Rapperswil   der 
Landvogt  Gessler,   in  Rheinfelden  der  Bürgermeister  Gast,    beide 
gleichfalls  aus  der  vorder-österreichischen  Herrschaftsperiode.    Dass 
die    eben    genannten    Persönlichkeiten    einst    auch    als    typische 
Charaktermasken   beim  Feste   mit    vertreten   waren;    dass   diese 
Masken    dabei    feierlich    bekämpft,    verbrannt,    ertränkt,    prozes- 
sualisch hingerichtet  wurden,    worauf  die  Wende  im  bürgerlichen 
Jahre  eintrat,   die  Stubenarbeit   schloss  und  die  Feldarbeit  wieder 
begann,  Dies  und  Anderes  muss  weiterer  Ausfuhrung  an  anderem 
Orte  vorbehalten  bleiben.   Hier  genügt  die  anerkannte  Thatsache, 
dass  auch  diese  ständigen  Festmasken  ursprünglich  dem  allgemei- 
nen Naturmythus  angehört  hatten,  dass  sie  bei  dessen  Erblassen 
unter  historisch  entlehnten  Namen   in  die  Ortsgeschichte  herüber 
versetzt  und  derselben  nothdürftig  angepasst  wurden.     Geschicht- 
liches  war  also   ursprünglich   nicht  an  ihnen.     »Denn  die  volks- 
mässigen  Ansichten  der  Sage  von  menschlichen  Dingen  —  äussert 
übereinstimmend  Mone  (Gesch.  des  Heidenth.  2,  302),    haben  in 
der   Geschichte  nur  ihren  Haltungspunkt   und    ihre   Einkleidung, 
nicht  aber  ihren  Ursprung  und  Wesen.    Aller  Ursprung  der  Sage 
ist  religiös.     Ohne  Einsicht  in  diesen  Satz  ist  eine  Einsicht  in  die 
Sage  selbst  unmöglich.«     Oder  um  eben  dasselbe  mit  einem  der 
kühnsten  Worte  Schillers  auszudrücken: 

Was  sich  nie  und  nirgends  hat  begeben. 

Das  allein  veraltet  nie 


^gg  n.   Die  Gessler  von  Bnin^g  in  Geschichte  and  Sage. 

Jetzt  erst  wendet  sich  unsere  Darstellung  derjenigen  Sagen- 
gattung zu,  welche  ihre  wesentliche  Geltung  in  der  politischen 
Geschichte  suchen  hat  wollen;  und  es  ist  nun  zu  zeigen,  wie 
darüber  die  echte  Sage  zerstört,  die  politische  Geschichte  gründ- 
lich mitverfälscht  und  die  betreffende  Bevölkerung  zugleich  um 
eben  jenes  Bürgerfest  gebracht  wird,  welches  der  ungemachte 
Begleiter  des  unerdichteten  Volksglaubens  gewesen  ist.  Hiemit 
betreten  wir  das  engere  Gebiet  der  Ortsgeschichte  und  müssen 
also  für  unsem  speziellen  Zweck  weiter  ausholen. 

Die  beiden  Nachbarstädte  Zürich  und  Rapperswil  waren  zwei 
Rivalen,  die  sich  während  des  vierzehnten  Jahrhunderts  in  langen 
Fehden  bekämpften.  Erst  hatte  Graf  Hans  von  Habsburg-Laufen- 
burg, Herr  zu  Rapperswil  und  in  der  March,  am  24.  Februar 
1350  einen  Ueberfall  Zürichs  versucht,  den  man  daselbst  die 
Mordnacht  nennt,  und  war  dabei  unterlegen ;  alsdann  rächte  Zürich 
sich  mit  einem  Kriegszuge  gegen  Rapperswil,  wobei  Alt-Rappers- 
wil  verbrannt,  ja  später  sogar  gänzlich  zerstört  wurde.  Aus  die- 
ser grausamen  Gewaltthat  entsprang  hierauf  der  Krieg  Zürichs 
mit  dem  Hause  Habsburg-Oesterreich,  dem  Stammverwandten  und 
Lehensherrn  der  Rapperswiler  Grafen.  Er  endigte  nach  zwei- 
maliger Belagerung  Zürichs  unter  Herzog  Albrecht  II.  (dem  Lah- 
men) mit  einem  Vergleiche,  bei  welchem  jedoch  die  innem  Ur- 
sachen der  gegenseitigen  Ortszwistigkeiten  keineswegs  gehoben 
wurden.  Zürich  glaubte  seinen  Handel  beeinträchtigt  durch  die 
Zollrechte  und  Marktprivilegien  der  herzoglichen  Stadt,  das  an- 
grenzende Glamerland  erhob  seinerseits  dieselben  Beschwerden, 
beide  waren  nach  Gebietsausdehnung  am  Zürchersee  lüstern,  und 
so  einigten  sie  sich  in  dem  geheimen  Plane,  Rapperswil  durch 
einen  Handstreich  einzunehmen.  Zur  Ausfuhrung  war  der  nächste 
Rapperswiler  Jahrmarkt  festgesetzt,  der  auf  den  Thomastag  fiel. 
Hier  traten  die  Zürcher  in  beträchtlicher  Anzahl  als  Marktleute  auf, 
eine  andere  Abtheilung  lag  zu  Schiffe  im  Versteck  des  Sees  und 
sollte  sich  in  der  folgenden  Nacht  der  Ringmauer  nähern,  und 
die  Glamer  hatten  sich  nach  den  Dörfern  Hürden  und  Pfaffikon 
vorgeschlichen,  um  dann  bei  der  verabredeten  Besetzung  des 
städtischen  Wasserthores  schnell  bei  der  Hand  zu  sein.  Allein 
im  Momente  der  Ausführung  missrieth  Alles.  Denn  Ritter  Hein- 
rich Gessler,  zu  dieser  Zeit  Herzog  Leopolds  Landvogt  im  Amte 
Grüningen,  eilte  von  seinem  Grüninger  Burgsitze  der  bedrohten 
Stadt  rechtzeitig  zu  Hilfe  und  vereitelte  die  Ueberrumpelimg.   Die 


lo.    Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385.  480 

Bürgerschaft  ordnete  darauf  eine  jährliche  Kreuzfahrt  und  Spende 
an,  »darum,  dass  die  Feinde  auf  St.  Thomastag  1385  die  Stadt 
umsonst  wollten  überfallen  han«*),  der  Herzog  beklagte  sich 
über  solche  gegefti  Gott  und  Ehre  laufende  Rechtsverletzung  vor 
der  ganzen  Welt  und  rief  alle  Edeln,  die  ihm  aus  irgend  einer 
Rücksicht  Dienste  zu  thun  verpflichtet  waren,  auf,  ihm  diese  Un- 
that  rächen  zu  helfen.  Jedoch  auch  die  beiden  mitschuldigen 
Obrigkeiten  zu  Zürich  und  Glarus  wälzten  die  Verantwortlichkeit 
von  sich  ab  und  abermals  blieb  der  Austrag  des  Streites  ver- 
schoben. 

Dies  der  Sachverhalt.  Wie  aber  hat  die  gerettete  Stadt  den- 
selben nachmals  dargestellt,  als  sie  aus  österreichischem  Besitze 
in  eidgenössischen  übergegangen  war?  Sie  klagt  zu  zweien  ver- 
schiednen  Malen  ihren  Landvogt  und  Erretter  Gessler  einer  im 
Complotte  mit  den  Zürichern  gegen  sie  und  den  Herzog  verübten 
Verrätherei  an,  sie  macht  ihn  sogar  zum  Anstifter  der  Rappers- 
wiler  Mordnacht. 

Betrachten  wir  den  einen  Fall.  Bei  Gelegenheit  einer  Erneuerung 
aller  herzoglichen  Lehen  und  Sätze  in  den  Städten  und  Herrschaften 
der  österreichischen  Vorlande  war  im  Jahre  141 1  der  Ritter  Burkh. 
von  Mannsberg  als  Herzog  Friedrichs  Kammermeister  beauftragt 
worden,  besondere  Anfragen  an  die  Aemter  zu  stellen  und  deren 
Antworten  einzuberichten  darüber,  wie  sich  der  letztgewesene 
herzogliche  Vogt  in  seiner  Amtsführung  verhalten  habe.  Dabei 
beschwert  nun  die  Stadt  Rapperswil  sich,  dass  ihr  das  Marktrecht 
durch  Zürich  beeinträchtigt  und  dadurch  eine  Haupterwerbsquelle 
abgeschnitten  werde ;  dass  sie  nun  pfandweise  in  der  Zürcher 
Hand  gegeben  und  selbst  ihre  bis  dahin  herzoglich  gewesene  Um- 
gebung nun  zu  Feindseligkeiten  gegen  den  Ort  gestimmt  sei; 
dass  namentlich  der  Landvogt  Gessler  hiebei  ein  falsches  Spiel 
getrieben  habe.  Letzteres  wird  hierauf  durch  folgende  Angaben 
erhärtet:  »Als  der  Gessler  mit  unser  Herrschaft  kriegt,  do  schri- 
ben  wir  gen  Zürich,  dasz  Sy  den  Gessler  wlstind  (anweisen  soll- 
ten), daz  er  uns  sicher  seiti,  nach  des  Fridbriefs  Sag,  untz'an  ein 
Recht  (bis  zum  rechtlichen  Austrag  des  Handels).  Da  verschri- 
ben  Sy  uns,  Sy  weiten  ir  Best's  darum  tun  und  gabent  uns 
Antwurt,    da  wir  nicht  an  hattent  (eine  nichtssagende  Antwort). 


♦)    »Jahrzeitbuch,    S.  123.       Chronik    in    der    Stifts-Biblth.    zu 
St.  Gallen,  No.  645.«    J.  v.  Arx,  Gesch.  von  St.  Gall.  II,  86.  87. 


V 

490  ^'!  ^^  Gessler  von  Bniii^:g  in  Ckschichte  und  Sage. 

Und  do  wir  uns  nit  wisstent  vor  Jon  ze  hueten,  so  zöchet  uns 
der  Gessler  hinuss  (verlockte  uns  in's  Feld)  und  nament  (die 
Zürcher)  uns  unser  Vieh  vor  der  Statt,  und  also  stiessent  uns  die 
von  Zürich  ein  Hut  (legten  uns  einen  Hinterhalt)  und  weiten 
zwischen  uns  und  die  Statt  sin  komen  und  uns  lib  und  gut  ent- 
wert han,  an  absagen  (mitten  im  beschwomen  Frieden).  Item,  als 
der  Gessler  die  Vesti  Rapreschwil  inn  hat,  do  ward  er  Burger 
(ze)  Zürich,  daz  wir  es  nit  wissten,  und  hat  die  Vesti  heim- 
lich besetzet.  Do  hatten  die  von  Zürich  heimlich  den  iren 
gebotten,  daz  sy  zesamen  zugind,  und  weltin  Wir  und  die,  so 
unser  Herschaft  zu  uns  schickt,  die  Vesti  [die  Zürcher  Besatzung 
im  Schlosse  des  Ortes]  han  genomen  oder  genötet,  so  söltint  Sy 
mit  ganzer  macht  uns  überfallen  han,  etc.c  (Archiv  f.  Schweiz. 
Gesch.,  Bd.  6,  153.)  Der  Grund  dieser  Beschwerden  lag  nicht 
etwa  in  dem  angeschuldigten  Landvogte,  sondern  in  dem  herzog- 
lichen Herrn  selbst;  denn  seit  24.  Juli  1407  hatte  Herzog  Friedrich 
Veste,  Burg  und  Stadt  Rapperswil  auf  zehn  Jahre  um  8000  Gl. 
an  Zürich  versetzt  (Lichnowsky  V,  Regesten  No.  914  und  919) 
und  zwar  durch  die  Hand  seines  Vogtes  Gressler,  dem  er  diese 
Summe  längst  schuldig  geworden  war.  Dass  nun  Gessler  darauf- 
hin auf  die  folgenden  achtzehn  Jahre  sich  in  Zürich  verburgrech- 
tete  und  dadurch  sein  ausgelegtes  Kapital  hinter  dem  Rechts- 
schutze  jener  Stadt  sicherte,  darin  glaubten  die  guten  Rappers- 
wiler  einen  Abfall  von  des  Herzogs  Sache  zu  sehen  und  legten 
Gesslem  als  dem  Zürcher  Neubürger  das  zur  Last,  was  sie  von 
den  eroberungssüchtigen  Zürchem  zu  erdulden  hatten.*)  Diesel- 
ben Vorwürfe,  welche  hier  dem  Ritter  Hermann  Gessler,  dem 
Sohne,  galten,  waren  indess  schon  25  Jahre  früher  zu  Rapperswil 
dem  dortigen  Vogte  Heinrich  Gessler,   dem   Vater,    gemacht 


•)  Der  Einbürgerungsvertrag  Hermann  Gesslers  mit  der  Stadt.  Zürich  ist  vom 
17.  August  1406,  liegt  im  Züricher  Staatsarchiv  (Abthl.  Grüningen,  Bündel  3» 
No.  22)  und  ist  ausdrücklich  geschlossen  auf  Grundlage  des  bereits  geltenden 
Friedens:  »so  min  herschaft  von  Oesterrich  vnd  die  von  Zürich 
letz'  mit  enandern  hant  oder  noch  fürbas  mit  enander  machtin.« 
Trotzdem  erlaubt  sich  Tschudi  i,  633  folgende  Verdächtigung:  Diss  i4o6ten 
Jares  ward  Herr  Hermann  Gessler,  Ritter,  Vogt  ze  Rapperswyl,  so  der  Herrschaft 
Oesterrich  Rat  vnd  Diener  was,  Burgere  ze  Zürich,  hinderrucks  derselben  Herr- 
schaft, wann  er  sprach,  die  Herrschaft  solt  Im  gross  Gut  gelten  vnd  gab  Im  nützit, 
als  ouch  war  was.  Diser  Gessler  hat  die  Herrschaft  Grüningen  inne,  mit  dero 
Er  sin  Burger-Recht  gen  Zürich  uifnam. 


lO»    Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385.  ^qi 

und  dorten  gleichfalls  geglaubt  worden.    Wir  müssen  daher  auch 
diesen  früheren  Fall  vorlegen. 

Die  Rapperswiler  Chronik,  geschrieben  vor  dem  Jahre  1443, 
nun  gedruckt  in  Band  VI  der  Zürcher  Antiquar.  Mittheill.,  ver- 
wechselt den  Hermann  Gessler  mit  dem  Heinrich,  den  Sohn 
mit  dem  Vater  (ein  auch  bei  Tschudi  stehender  Irrthum),  und  be- 
zeichnet letzteren  als  einen  im  Einverständnisse  mit  den  Schwei- 
zern handelnden  elenden  Verräther  seines  Herzogs  und  des  her- 
zoglichen Ortes.  Die  Chronik  erzählt  dies  a.  a.  O.,  S.  235  also: 
Auf  St.  Thomasabend  1385  hatten  die  Züricher  mehrere  mit 
Harnischen  und  Streitäxten  gefüllte  Fässer  heimlich  nach  Rappers-  . 
wil  hinein  schaffen  lassen,  indess  ihre  Mannschaft  in  Schiffen 
hinter  der  Insel  Ufnau  im  See  verborgen  lag,  des  verabredeten 
Signals  gewärtig,  welches  vom  Schlosse  her  zum  Losbruch  ge- 
geben werden  sollte.  Inzwischen  aber  waren  die  Herren  von 
Landenberg,  zwanzig  Rosse  stark,  zufällig  in  die  Stadt  eingeritten 
und  hatten  den  Rath  zusammen  berufen  lassen,  um  ihm  ein  Rechts- 
anliegen vorzutragen.  Als  nun  die  etlichen  mit  eingeschlichnen 
Feinde  den  Klang  der  Rathsglocke  zur  Unzeit  erschallen  hörten, 
hielten  sie  das  Geheimniss  für  entdeckt  [und  machten  sich  so 
schnell  aus  dem  Orte  wieder  hinaus,  dass  auch  diesem  die 
drohende  Gefahr  gänzlich  verborgen  geblieben  sein  würde,  wenn 
nicht  spielende  Kinder  an  jene  Fässer  gerathen  wären  und  durch 
die  Spundlöcher  die  ,darin  verpackten  Waffen  entdeckt  hätten. 
Zum  Gedächtnisse  an  diese  glücklich  abgewendete  »Mordnacht« 
stiftete  sodann  die  Bürgerschaft  eine  jährliche  Kornspende,  ver- 
bunden mit  einem  kirchlichen  Bittgang.  Und  da  der  Landvogt 
(Heinrich)  Gessler  hierauf  befürchten  musste,  als  Mitschuldiger 
verrathen  zu  werden,  so  legte  er  bald  darnach  abermals  Bewaff- 
nete in's  Versteck  des  Sees,  welche  auf  das  gegebene  Zeichen 
anrücken,  durch  einen  geheimen  Schlossgang  eingelassen  werden 
und  sich  der  Stadt  bemächtigen  sollten.  Allein  während  er  hier 
gerade  abwesend  und  zu  Grüningen  war,  meldete  seine  eigne 
Frau,  »denn  sie  war  fromm  und  guten  Geschlechtes«,  dem  Rathe 
den  Mordanschlag,  und  so  verblieb  der  Ort  wiederum  den 
Herzogen. 

Die  Gunst  des  Zufalls  will  es  ater,  dass  das  alte  Jahrzeit- 
buch der  Kirche  Rapperswil,  das  noch  vor  jener  Chronik  datirt, 
auf  uns  gekommen  ist;  in  demselben  steht  nun  das  gerade  Gegen- 


AQ2  ^^*    ^^^  Gessler  von  Branegg  in  Geschichte  «nd  Sagcfe 

theil.  Rickenmann*)  hat  daraus  folgenden  (nur  irrig  unter  das 
Jahr  1386  angesetzten)  Eintrag  mitgetheilt :  »Es  ist  ze  wüssen, 
dass  die  Ret  und  die  Burger  diser  statt  hand  gesetzt  zu  ewiger 
Ordnung  VI  viertel  kernen,  dass  man  die  jerlich  von  gemeiner 
statt  geben  sol  armen  lüten  zu  einer  spend  uf  sant  Thomas  tag, 
und  sol  man  uf  denselben  tag  ein  Creuzgang  han.  Das  istuf- 
gesetzt  von  des  mordes  wegen,  als  die  Eidgnossen 
die  statt  mortlich  woltend  überfallen  han  an  sant 
Thomas  tag,  20.  Decembris.«  Die  Eidgenossen  selbst  also 
sind  die  Unternehmer  des  Attentats,  allein  nun  fragt  es  sich  erst, 
ob  nicht  etwa  ihr  damaliger  Miteidgenosse  Gessler  den  Frevel 
mitunterstützt  habe.  Letzteres  behauptet  die  Rapperswiler  Chronik, 
das  Jahrzeitbuch  lässt  sich  auf  keine  Widerlegung  ein;  wie  soll 
man  hier  zur  Wahrheit  gelangen  ?  Dies  war  schon  Jahrhunderte 
vor  uns  in  der  gleichen  Angelegenheit  die  Frage  für  einen  unbe- 
fangenen deutschen  Geschichtsforscher  gewesen ,  er  hat  sie  nicht 
etwa  umgangen  oder  mit  einer  Phrase  dahingestellt  sein  lassen, 
sondern  trotz  damals  noch  unzulänglicher  Mittel  im  Drange  des 
Wahrheitseifers  wirklich  gelöst.  Dies  ist  der  treffliche  Gerardus 
de  Roo,  Archivar  Erzherzog  Ferdinands  zu  Innsbruck,  f  1590. 
In  seinen  Annalen  hat  er  das  widerspruchsvolle  Märchengewebe 
der  Chronisten  durchschaut  und  folgendermassen  darüber  sich 
ausgesprochen**) :  »Es  wird  aus  meiner  Darstellung  der  schweizeri- 
schen Begebenheiten  zu  ersehen  sein,  dass  ich,  frei  von  politischer 
Leidenschaftlichkeit,  dieselben  so  aufrichtig  und  redlich  erzähle, 
als  ob  Alles  von  einem  Schweizer  selbst  geschrieben  wäre.  Mein 
Stil  steht  aller  Heuchelei  so  ferne,  dass  hier  keiner  einzelnen 
Person  anders  Erwähnung  geschieht,  als  in  so  weit  ihre  Hand- 
lungen mit  den  allgemeinen  Begebenheiten  zusammenhängen.  Da 
man  aber  heutigen  Tags  die  Schweizerchronik  von  Stumpf  allent- 
halben liest  und  breitdrischt,  worin  die  angeblich  von  Oesterreich 
verübten  Handstreiche  so  weitläufig  erzählt  stehen,  so  will  ich  be- 
züglich der  vorliegenden  sogenannten  Rapperswiler  Mordnacht 
hier    eine   weit  ältere,    bisher  noch  nicht  benützte  schweizerische 


*)  Regesten  der  Stadt  Rapperswil,  No.  33,  in  Bd.  I  von  Mohrs  Regesten  der 
Schweiz.  Archive.   • 

**)  Annales  Rerum  belli  domique  ab  Austriacis  Habsburgicae  Gentis  Principibus 
a  Rudolphe  I.  usq.  ad  Carolum  V,  gestarum  etc.  Oeniponti,  1592.  Vergleiche 
die  Epistola  dedicatoria  und  im  Texte  S.   129. 


10.    Die  Mordnacht  zu  Rapperswil  1385.  aq^ 

Quelle  anfuhren  und  alsdann  den  geneigten  Leser  entscheiden 
lassen,  ob  in  Anstiftung  solcher,  sonst  den  Oesterreichern  allein 
zugeschriebnen  Gewaltthätigkeiten  die  Schweizer  etwa  sich  gespart 
haben.«  Roo  theilt  hierauf  das  letzt  erwähnte  Unternehmen 
Zürichs  gegen  Rapperswil  so  mit,  wie  er  es  bei  seinem  Gewährs- 
mann findet,  dieser  aber  ist  kein  anderer  als  der  Zürcher  Schult- 
heiss  selbst,  Ritter  Eberhard  Mülner,  dessen  schweizer  Jahrbuch 
von  1 336  bis  1 386  reicht  und  von  der  Zürch.  Antiq.  Gesellschaft 
seit  1844  herausgegeben  worden  ist.  Schultheiss  Mülner  erzählt, 
wie  Zürich  und  Glarus  sich  verbünden,  1385  von  Pfäffikon  aus 
die  Ueberrumpelung  Rapperswils  versuchen  und  wie  dann  Jedes  der 
Beiden,  so  gut  es  kann,  schleunig  wieder  abzieht,  weil  von  Grü- 
ningen her  »Heinrich«  Gessler  dem  Städtlein  zu  Hilfe  kommt^ 
»der  des  herzogen  raut  was  (Principis  Consiliarius).^ 
Und  eben  diese  Rettung  durch  den  Landvogt  ist  es, 
fährt  Schultheiss  Mülner  fort,  welche  zu  Rapperswil  mit 
einem  allgemeinen  Gottesdienste  und  mit  Brod-  und 
Weinspenden   seither  jährlich   gefeiert  wird. 

Damit  hat  sich  jene  Rappers wiler  Stadtchronik  um  das  einzige 
Verdienst  gebracht,  das  sie  haben  konnte,  um  den  Ruf  der  Ehr- 
lichkeit. Damit  hat  auch  die  schweizerische  Stadt  Rappers- 
wil, nachdem  sie  sich  durch  einen  Landvogt  Gessler  von  den  Eid- 
genossen befreit  sehen  musste  und  die  dem  Landvogt  zugescho- 
bene Mordnacht  nicht  länger  aufrecht  halten  konnte,  sich  veran- 
lasst gefühlt,  ihr  altbürgerliches  Triumphfest  bescheidentlich  in 
eine  Stille  Messe ,  und  die  frühere  allgemeine  Brod-  und  Wein- 
spende in  eine  Spitalstiftung  umzuwandeln.  Jährlich  am  letzten 
Fasnachts-Donnerstag  wird  hier  Backwerk  unter  die  Klinder  aus- 
geworfen. Leu,  Helvet.  Lexikon,  Supplement  V,  24.  Ja  damit 
könnte  es  den  Leser  unsrer  Abhandlung  sogar  bedünken,  als  ob 
diese  letztere  selbst  hier  in  ein  ähnliches  Schicksal  gerathe,  da  sie 
nach  so  weit  ausgreifenden  Vorbereitungen  auch  nur  dieses  nega- 
tive winzige  Ende  erreicht. 

Um  so  besser,  wenn  dieser  Gedanke  nun  sich  aufnöthigt, 
denn  gerade  hierin  läge  die  richtige  Wirkung,  welche  der  Vor- 
trag zu  machen  beabsichtigt.  Ein  geschichtlicher  Einzelfall  dient 
ihm  dazu,  nachfolgende  Sätze  zur  allgemeinen  Erkenntniss  zu 
bringen.  Die  Sage  steht  vor  der  Geschichte,  ihre  Gestalten  und 
Geschichten  sind  nicht  Abbilder  der  Historie,  sondern  Sinnbilder 


494  II-    I^ic  Gessler  von  Bnin^g  in  Geschichte  und  Sage. 

des  Naturlebens,  göttlich  verehrte,  religiös  gefeierte  Symbole.  So 
oft  man  der  Sage  das  Historische  beimengt,  stösst  sie  es  als 
etwas  Profanes,  als  einen  falschen  Ueberfluss  wieder  aus.  Dies 
ist  und  bleibt  der  Grund,  warum  die  Rapperswiler  Chronistön- 
fabel  antiquirt  ist,  und  warum  ebenso  alle  übrigen  Versuche  der 
Schweizerchronisten,  die  historischen  Gessler  mit  der  Tellensage 
zu  verschwistem,  misslungen  sind. 


Pierer'sche  Hofbuchdruckerei.    Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenburg. 


^  u. 


!